Werte Käfer und andere Gruselgeschichten - Maša Kolanović - E-Book

Werte Käfer und andere Gruselgeschichten E-Book

Maša Kolanović

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Beschreibung

Dubrovnik, das zur touristischen Kulisse erstarrt ist. Konsum, der jede Menschlichkeit ersetzt. Emotionen, die so nicht in der Werbung vorkommen. Der Alltag zwischen Handy-Knebelverträgen, Shopping mall und IKEA-Katalog. Maša Kolanovic erforscht die Abgründe zwischenmenschlicher Beziehungen in unserer kapitalistischen Gesellschaft. Kunstvoll und mit viel Humor, grotesk und realistisch zugleich – nicht umsonst spielen ihre Insekten-Metaphern auf Kafka an – erzählt sie von der engen Verflechtung von Leben und Tod. Die Protagonist*innen versuchen ihre Würde zu bewahren, während sie sich durch die Absurdität des Daseins kämpfen und manchmal die Kontrolle verlieren. Zwölf Geschichten, die Spuren hinterlassen – manchmal unheimlich und immer unheimlich gut.

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Maša Kolanović

Werte Käfer

und andere Gruselgeschichten

1. Auflage 2023© eta VerlagAlle Rechte vorbehalten

eta Verlag | Petya Lund Schönhauser Allee 2610435 Berlin www.eta-verlag.dekontakt @ eta-verlag.de

Lektorat: Anne Grunwald Titelfoto: Wikimedia Commons (Kreditkarten), Dreamstime / Cammeraydave (Kakerlake)

Gestaltung, Satz und Bildmontage: Stefan Müssigbrodt

Originaltitel: POŠTOVANI KUKCI i druge jezive priče, erschienen bei: Profil Knjiga, 2019

ISBN 978-3-949249-20-4

Maša Kolanović |

Werte Käferund andere Gruselgeschichten

Aus dem Kroatischen von Marie Alpermann

The European Commission's support for the production of this publication does not constitute an endorsement of the contents, which reflect the views only of the authors, and the Commission cannot be held responsible for any use which may be made of the information contained therein.

Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

Nika gewidmet, für ihren Mut und ihre Zärtlichkeit

Lebendig begraben

Der letzte Wunsch meiner Tante war, am Tag nach der Beerdigung dreimal angerufen zu werden. Und zwar auf dem Handy, das wir mit ihr zusammen vergraben sollten. Morgens, mittags und abends, so hatte sie es mit zittriger Handschrift auf einen Zettel geschrieben, der neben ihren persönlichen Sachen im Altersheim in Pile auf uns wartete. Mehr als vor dem Tod hatte sie sich davor gefürchtet, lebendig begraben zu werden, und sie war von dieser Angst im letzten Jahr, seit sie bettlägerig wurde, geradezu besessen. Angeblich war vor gut hundert Jahren eine entfernte Verwandte von ihr in Boninovo bei lebendigem Leib begraben worden, kurz nachdem das Bordell zum städtischen Friedhof umgewandelt worden war. Bei der nächsten Bestattung im selben Grab fand man den Sarg der Unglücklichen offen, ihre Kleider zerrissen, die Arm- und Beinknochen gebrochen, und deutete dies als erfolglosen Befreiungsversuch aus dem entsetzlichen Tod. Es gab allerdings auch eine andere Theorie, nämlich dass der Bestatter auf der Suche nach Gold, das gewöhnlich mit den Angehörigen aristokratischer Familien begraben wurde, doch tatsächlich unter größten Anstrengungen versucht hatte, die Verstorbene aus dem Sarg zu holen. Dieser Unglückliche wiederum versuchte nämlich verzweifelt, seine arme Familie vor dem Hunger zu retten. In den Siebzigern schrieb einer unserer Verwandten sogar einen Feuilletonartikel im Vjesnik darüber. Im Heim vor sich hin zu vegetieren und den eigenen Gedanken überlassen zu sein, ließ der Fantasie meiner Tante in dieser Richtung freien Lauf. Mein Bruder und ich blieben also nach der Beerdigung noch einen Tag in Dubrovnik, um ihr den letzten Wunsch zu erfüllen. Von der Dubrovniker Seite der Familie wollten wir niemanden bitten, diese Torheit auszuführen. Im Grunde hatte sich auch mein Bruder zunächst geweigert, doch dann war es mir gelungen ihn zu überreden, dass wir bleiben und ihren letzten Wunsch erfüllen, wie verrückt er auch sein mochte. Die Tante hatte keine eigenen Kinder, war nie verheiratet gewesen, und die übrigen Verwandten waren eher von der kalten Sorte, von der du nichts erwartest, die du um nichts bittest und zu der du lieber auf Distanz bleibst, selbst noch im Jenseits. Unsere Mutter war bereits dermaßen entkräftet, dass sie nicht mal zum Begräbnis ihrer Schwester kommen konnte. Außerdem schien Dubrovnik von Zagreb aus am Ende der Welt zu sein, irgendwo unter dem südlichen Wendekreis. Schon die letzten Jahre waren mein Bruder und ich die Einzigen aus der »nördlichen« Verwandtschaft, die einmal pro Jahr, manchmal auch seltener, zu Besuch kamen. Aus nördlicher Perspektive verging ein Jahr wie im Flug, während sich unsere Tante im selben Jahr voll und ganz auf ihren Verfall, der unerträglich langsam und unumkehrbar vonstattenging, konzentrieren konnte. Von einem Jahr aufs nächste passierte ein Haufen Veränderungen zum Schlechten. Krücken, Rollstuhl, Bettlägerigkeit. Zunächst ein kaputtes Knie, dann ein Schlaganfall und schließlich eine kaputte Hüfte, die sie vollends ans Bett fesselte – so sahen die Stadien ihres langsamen Aufgebens aus. Schon bei den ersten Beschwerden, die verglichen mit denen, die folgen sollten, harmlos wirkten, schien sie eine bedingungslose Kapitulation unterschrieben zu haben und sich seither ihrem Sturzflug in den Abgrund hinzugeben, bis dieser vor ein paar Tagen sein endgültiges Ende fand. Vor einem knappen Jahr, als wir sie das letzte Mal lebend sahen, lag sie unbeweglich im Bett, hager, regungslos, wahrscheinlich mit Medikamenten vollgepumpt, die den Alten im Heim gespritzt wurden, damit sie nicht jammern oder herumnörgeln. Weil sie ihre Zahnprothese nicht mehr trug, fielen ihre Lippen nach innen, so eingefallen erinnerte ihr Gesicht an eine getrocknete Feige. Sie verlor konstant an Gewicht. Sie aß wie eine Maus – teils vor Entkräftung, teils aus Niedergeschlagenheit, teils wegen der Medikamente, die jeden Lebensfunken erlöschen ließen –, gerade so viel, dass sie sich am Leben hielt. Die verkümmerten Muskeln und die schlaffe Haut ihrer Beine, in Windeln auf dem Bett ausgestreckt, sahen aus wie Hühnerflügel. Wir verstanden sie akustisch nicht mehr, doch sie redete ohnehin wirr. Nur ihre Augen sprühten beharrlich weiter letzte Funken, von ihnen ging eine unerträgliche Traurigkeit aus, die sich am Horizont, irgendwo über unseren Köpfen verlor. Ich brach regelmäßig in unkontrolliertes Weinen aus, wenn ich diesem Blick begegnete. Aber vielleicht weinte ich gar nicht ihretwegen. Wir waren schließlich weit weg, sie im Süden, wir im Norden, seit langem daran gewöhnt, ohneeinander zu leben. Ich weinte wegen dem, was ihr geschah und was auch uns – hilflosen, zerbrechlichen Wesen von kaum längerer Haltbarkeit als der Lebensdauer von Käfern – geschehen würde. Sie streckte mir dann jedes Mal ihre knochigen Finger mit den ungeschnittenen Nägeln entgegen. Und jedes Mal beunruhigte und ängstigte mich ihre Bewegung ein wenig. Sie erinnerte mich daran, wie unerträglich allein wir unter unseren Panzern bleiben.

Bei unseren letzten Treffen, als sie noch auf den Beinen, in ihrer Wohnung, ihrem Körper und in ihrem Element war, ganz sie selbst, beklagte sie sich in einem fort über die Stadt. Sie sprach es Stodtaus. Es gibt ja kein einzgen normalen Laden mehr in der Stodt. Ich kann nich mal mehr meine Armbanduhr reparieren lassen in der Stodt. Die Placa ist jetzt ein einzges Souvenirgeschäft. Gescheiten Peterli findest auch nirgends. Bloß mehr Arancini und Limuncello und Kotonjata in Zellophan mit Schleife, als ob wir Stodtleut davon leben täten. Blumen fürs Grab kriegst auch nirgends mehr. In der Stodt den Mantel kürzen oder den Rock enger machen lassen? Vergiss es. Cruiser landen hier bei uns, die sind größer als die ganze Stadt. Ich muss doch echt bis nach Gruž fahrn, ums Futter für die Katzen zu besorgen. Eine ganze Schar Katzen wurde von ihr durchgefüttert. Sie kamen regelmäßig auf ihren Balkon mit Blick auf die orthodoxe Kirche. Es war ein kleines Katzenparadies. Sie klagte oft über den Lärm unter ihrem Fenster, der bis fünf Uhr in der Früh anhielt. Und über das furchtbare Gedränge im Sommer. Wir nahmen ihr Murren nicht sonderlich ernst, schoben es teils auf ihren Charakter, teils auf die typische Verwöhntheit der Dubrovniker. Allerdings hatte sie tatsächlich bei unseren Spaziergängen über den Stradun vor mehr als fünf Jahren nur noch selten ihre Bekannten getroffen. Sie waren allmählich verschwunden. Und wenn sie doch einmal aufeinandertrafen, klagten sie darüber, wie sich die Stodt verändert hätte. Und dass man weg müsse aus der Stodt. Tatsächlich war das Wort Stodt auf der Straße immer seltener zu hören.

Wir beerdigten sie im Familiengrab auf dem Boninovo ­Friedhof. Nur eine Handvoll Freundinnen und Freunde, ein paar Vertreter der Institution, in der sie gearbeitet hatte, und ein paar Verwandte kamen zusammen. Das Handy wurde mit ihr begraben, wie sie es gewünscht hatte. Nachdem wir zuvor das Guthaben erneuert und den Akku aufgeladen hatten. Die Sonne stand hoch am Himmel. Wie ein großes, glänzendes Loch verschlang sie das leere offene Meer in der Ferne.

Der Morgen nach der Beerdigung. Mein Bruder und ich saßen in ihrer Wohnung in der Altstadt. Eine schlaflose Nacht, in der ein Strom Menschen durch unseren Halbschlaf gezogen war, lag hinter uns. Nun saßen wir in der Wohnung, die ihre alte Besitzerin bereits vergessen hatte. Sie war lange nicht mehr darin gewesen. Alle möglichen Freunde von Freunden hatten hier eine Weile gelebt und die Habseligkeiten meiner Tante diskret in Schränke, Kartons und Säcke verstaut. Mein Bruder und ich würden sie ausräumen und irgendwo hinschaffen müssen, ebenfalls in ein Altersheim oder zur Caritas. Im Küchenbuffet lagen ein paar vertrocknete Teebeutel mit indischem Tee. In allen Ecken der Wohnung hatte sich der Staub abgesetzt. Spinnengewebe sammelte sich auf den Bildern von Booten und Galeeren, die sie so liebevoll gefertigt hatte, als sie noch gesund und munter gewesen war. Das Bücherregal breitete seine Arme vergeblich aus, um sie zu umarmen. Statt ihrer kamen bloß ein paar ihrer Habseligkeiten zurück, die wir aus dem Altersheim mitbrachten. Ihre Handtasche mit den Papieren, ein Schlafanzug, ein Bademantel, zwei Bücher mit kitschigem Einband von Autoren, deren Namen ich noch nie gehört hatte – wahrscheinlich hatte sie die mal geschenkt bekommen –,­ ein paar Ausgaben der Gloria, ein Heizlüfter. Wir legten sie neben der Couch auf den Boden, wo sie allerdings noch beunruhigender wirkten. Es war sowieso nicht mehr ihre Wohnung. Bereits in den frühen Neunzigern hatte sie sie einem reichen Verwandten aus Südamerika überlassen, damit er sie dem Staat abkaufte. Ein Verwandter, der unter dem südlichen Wendekreis lebte. Kurz bevor die Immobilien­preise in Dubrovnik durch die Decke gingen, hatte sie die Wohnung quasi zum Spottpreis hergegeben. Dann stieg ihr Wert um das Tausendfache. Das Kapital des reichen Verwandten aus Südamerika vermehrte sich noch ein wenig mehr und unsere Tante war bis zum Tod vertraglich abgesichert. Nun würden ihr Zimmer, ihre Küche, ihr Badezimmer und ihr Balkon bald zu einem Apartment umgebaut werden.

Wir mussten zum Friedhof und sie anrufen. Dreimal im Laufe des heutigen Tages. Mein Bruder war nervös, weil er für eine Firma noch etwas fertig programmieren und so schnell wie möglich irgendwo ans andere Ende der Welt schicken musste. Bis gestern eigentlich. Er fand die Idee, sie anzurufen, absurd. Wir hätten längst nach Zagreb aufbrechen und sie von der Autobahn aus anrufen können, wenn es schon unbedingt sein müsse. Im 21. Jahrhundert, dem Jahrhundert präziser Diagnosen, lebendig begraben zu werden, sei doch wissenschaftlich gesehen geradezu unmöglich. »Sie hat es aber so gewollt«, gab ich zurück. »Und außerdem, in dem unwahrscheinlichen Fall, dass sie doch lebendig begraben wurde, könnte sie sich gar nicht so leicht am Handy melden, sie hätte doch gar nicht genug Manövrierraum im Sarg, vielleicht würde sie nur schreien, kratzen und klopfen, damit wir sie hören, du weißt ja selbst, wie schwach sie war«, verteidigte ich ihren Wunsch, indem ich versuchte, technische Einzelheiten zu erklären und ihn zumindest ein kleines bisschen als berechtigt darzustellen. Mein Bruder verdrehte bloß die Augen und verließ auf der Suche nach WLAN fluchtartig die Wohnung. Also blieb die Erfüllung ihres letzten Wunsches an mir hängen. Einen Moment lang kam auch mir die ganze Sache völlig übergeschnappt vor. Wie eine Geschichte von Edgar Allan Poe. Doch was, wenn auch nur die kleinste Chance bestand, dass sie wirklich lebendig begraben war wie ihre Verwandte aus dem 19. Jahrhundert, neben der sie jetzt lag. Ich ging nach draußen, noch war es nicht zu heiß, und setzte mich in ein nahegelegenes Café auf dem Gundulić-Platz. Das ausgeschaltete Handy lag neben mir im Schatten. In seiner schwarzen Oberfläche spiegelte sich der Himmel. Just in dem Moment flog eine Taube über das tote Display. Ich sah sie diagonal über den Bildschirm fliegen und dann noch einmal weit oben am Himmel. Ich nahm das Smartphone und schaltete es ein, es verband sich sogleich automatisch mit dem WLAN. In Sekundenschnelle zapfte es die Adern der Stadt an und spuckte mir Informationen über die nahegelegenen Sehenswürdigkeiten aus: Visitors can take a walk along the city walls that surrounds the Old City. The walk takes a couple of hours and offers stunning views of the Dalmatia Coast and a bird’s eye view of the city. Lo­­vrijenac Fortress is one of the sights that can be seen from the wall, it is an impressive structure built on an outcropping rock. It is located just outside the Western wall of the Old Town and was featured in Game of Thrones.

Ich lenkte meinen Blick vom Display auf die reale Stadt. Eine alte Frau mit Stock und rechtwinklig gekrümmtem Rücken wackelte von einem Mülleimer zum nächsten und sammelte Plastikflaschen. Der Boden war übersät mit Brot- und Blätter­teigkrümeln. Ein Taubenschwarm setzte von der einen auf die andere Fassade über. Ihr Flügelschlagen vermischte sich mit dem frühmorgendlichen Summen der Stadt. Wegen der vielen Krümel war dieser Stadtteil ihr Eldorado, was auch bedeutete, dass er mit ihrer Kacke übersät war. Ein paar frische Flatschen zierten das ohnehin verdreckte Gundulić-Denkmal. Aus den Mülltonnen quollen ganze Plastikflaschen­wasserfälle vom gestrigen Abend. Und tatsächlich, auf dem Markt selbst waren deutlich weniger Stände mit frischem Obst und Gemüse. Die Souvenirs dominierten alles. Von einem lilafarbenen Stand in meiner Nähe strömte wellenartig, je nachdem, wie sich die Leute bewegten, intensiver Lavendelduft zu mir herüber. Eine ältere Frau erklärte einem Ausländer gestikulierend, wie er das Öl in der kleinen Flasche verwenden könne. Ihre Handbewegungen demonstrierten eine Kopfmassage bei schlimmen Kopfschmerzen. Die Tante hatte recht gehabt. Ich sollte jetzt losgehen und nachsehen, ob sie durch irgendeinen Zufall noch am Leben war. Auch wenn ich diese Möglichkeit nur theoretisch akzeptierte, eher wie im Feuilletonartikel jenes Verwandten. Also legte ich 50 Kuna für Kaffee und Wasser auf den Tisch.

Ich verlasse die Festungsanlage der Altstadt und steige langsam den schmalen gepflasterten Weg zum Friedhof hinauf. Die Menschen, die heute in Massen ins Zentrum strömen werden, sind noch nicht ganz wach. Ich gehe weiter nach oben. Komme am Altersheim vorbei, an dessen Tür noch immer ihre Todesanzeige hängt. Katzen liegen zusammengerollt neben einem Müllcontainer. Von Westen begleiten mich hohe Felsen, der Blick aufs offene Meer wird bloß von ein paar großen Agavenblüten gesäumt. Boninovo wurde schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Ort des Suizids bekannt. Auch einige Angehörige des Dubrovniker Adels entschlossen sich dazu, ihr Leben durch Suizid zu beenden. Der bekannteste Fall ist freilich der des Musikers Luka Sorkočević, der sich in einem Moment schwerer Depression am 11. September 1789 vom dritten Stock seines Palastes aus dem Fenster stürzte. Ich betrete den Friedhof. Über die Pflastersteine gestreuter Splitt knirscht unter meinen Füßen. Ich bleibe vor dem Familiengrab stehen, in dem meine Tante bestattet liegt, und ziehe das Smartphone aus der Tasche. Von der Grabplatte blickt mich ihr Bild an. Die übrigen Bilder sind längst abgefallen. Sie sieht so jung aus. Mein Handy hat sich auf dem Weg hierher allein aktualisiert und weiß, wo ich mich befinde. Jedenfalls annähernd. Es bittet um eine Bewertung für das Guesthouse Boninovo. Irgendwie schaffe ich es, die Flut der Updates und Werbeanzeigen wegzuklicken, die aufploppt, während ich im Adressbuch ihre Nummer suche. Tante. Anruf. Warten. Es klingelt. Aus meinem Handy ist das Signal zu hören, dass die Verbindung hergestellt wird, während aus der Erde ganz leise, fast unhörbar der Samsung-Klassiker Over the Horizon ertönt. Zum Glück ist keine Person in der Nähe und wird Zeuge dessen, was ich gerade tue. Jedenfalls keine lebende Person. Die Melodie beginnt ein paar Mal von vorne, dann verstummt sie. Der Teilnehmer antwortet nicht. Ich gehe. Ihr erster Wunsch ist erfüllt. Ich kann getrost in die Stadt zurückkehren. Eine höllische Hitze sitzt bereits in den Startlöchern, wird unsere Körper befallen und alle lebenswichtige Flüssigkeit aus ihnen saugen. Ich muss einfach den heutigen Tag überstehen und alles genau so erledigen, wie sie es gewollt hat. Damit keine Rechnung mit den Toten offenbleibt. Im Stadtteil Pile herrscht nun bereits Gedränge. Auf einmal werde ich mit touristischen Flyern wie mit Konfetti überschüttet. Game-of-Thrones-Touren, Kajaktouren, Private Tours, Konavle Valley and Sokoltown Tours, Fish, Drinks and Folk Music. Ein ganzer Ameisenhaufen will in die Nussschale. Duuu-brrrrrovnik! Duuu-brrrrrovnik! Fotos und Selfies werden geschossen, kurze Panoramavideos von Meer und Festungsmauer aufgenommen. In der Mitte der Brücke zum Pile-Tor ist ein Seil gespannt. Auf der rechten Seite betrete ich die Altstadt. Auf der linken verlassen sie Menschen wieder. Vor mir prangt ein Banner der OTP-Bank und eines von den Sommerspielen in Dubrovnik. Langsamen Schrittes treiben wir alle gemeinsam als riesiger Menschenstrom in die Stadt hinein. Vor dem Onofrio-Brunnen schreit und streicht ein Guslar seine tragischen Volksmelodien. Unter den Schritten der Menschen schmilzt die Stadt. Wie eine Eisscholle unter Pinguinen.

Die Mittagszeit hat begonnen. Auf dem Stradun locken Gastwirte die Menschen in ihre Lokale. Eine Cocktailbar neben der anderen, Irish Pubs, Wiener Kaffeehäuser, Italienische Cafés. Ein Mann fasst mich am Handgelenk und zieht mich vor ein Lokal. Schwach und verwirrt bleibe ich stehen. Er hat meine beiden Hände genommen und einen Tango mit mir zu tanzen begonnen, während er mir das Menü des Tages auf Englisch ins Ohr säuselt. Als ich ihm sage, ich sei von hier, lädt er mich mit slawonischem Akzent ins Restaurant ein und verspricht mir einen Rabatt für Locals. Ich setze mich allein an einen Tisch und bestelle aus der englischen Karte. Beobachte, wie er verschwitzt die Gäste anlockt. Unter seinen Achseln breiten sich zwei nasse Flecke aus. In der Straße arbeitet eine ganze Reihe solcher Mittagessen-Kuppler. Jeder ist bemüht, noch penetranter zu sein als die anderen und die Rivalen zu übertrumpfen. Vor mir erscheint ein Teller mit orangefarbenen Nudeln, darauf vier Miesmuscheln in schwarzen Sarkophagen. Ich zahle die Rechnung mit Rabatt und setze meinen Weg fort. Die Pflastersteine reflektieren Licht und Wärme. Tausende Menschen wollen auf die Festungsmauern klettern. Sie sind vorbereitet. Mit Hüten, Wasser und Selfiesticks ausgestattet. Mein Bruder geht nicht ans Telefon. Immer das Gleiche mit ihm. Er sieht alles hyperrational. Programmierhirn ohne Edgar Allan Poe. Es würde mich nicht wundern, wenn er jetzt sauer auf mich wäre, weil ich darauf bestanden habe, sie exakt so anzurufen, wie sie das wollte. Ich flüchte in den Schatten. Versuche einen kühlen Lufthauch zu finden. Dann muss ich an das Loch in der Stadtmauer nahe am Meer denken. Irgendwo dort müsste auch die Bar Buža sein, soweit ich weiß. Ich finde den Spalt hinter der Kathedrale, durch den die Leute tröpfeln. Ich überlasse mich den Schritten der anderen, die wissen, wohin sie gehen. Sie nutzen ihre Reiseführer und Smartphones. Ich habe noch Zeit für einen Kaffee vor meinem nächsten Friedhofsbesuch. Im Buža rennt der Kellner schwitzend zwischen lauter Körpern in Badesachen hin und her. Es gibt keinen freien Stuhl. Ich setze mich auf eine Betonfläche in den Felsen, auf der mit glänzend roter Farbe »private« steht. Ich werde mich einfach dumm stellen und so lange hier bleiben, bis mich jemand auffordert zu gehen. Ich starre aufs offene Meer. Die Leute in den Kajaks sind hartnäckig, sie nähern sich Lokrum, als wollten sie es umzingeln. Mein Handy vibriert und gibt den Ton für ein neues Update von sich. Es weiß immer mehr als ich und ist immer smarter als ich. A funny little island just a 15 minute boat ride from the old port in Dubrovnik. Gorgeous scenery and beaches! Tucked away in a quiet corner of the monastery is the Iron Throne! You can sit on it and have pictures with a nice little Game of Thrones exhibition to see all about the filming and you can locate scenes on the island. There’s also restaurant and a cafe. Would recommend for a visit and the Iron Throne is much better than the very poor replica you can sit on for a fee in a shop in Dubrovnik. Dann ploppt eine Bewertung fürs Buža auf: Everything is terribly overpriced and the service lackadaisical at best. Auch ich kann eine Bewertung abgeben, wenn ich möchte, doch erschlagen von der Hitze und vier Miesmuscheln mit Nudeln sitze ich bloß regungslos unter den bleichen, vertrockneten Palmzweigen, die als Sonnenschutz dienen sollen. Wohlriechende, eingeölte Körper springen von der Mauer ins Wasser. Was für eine verrückte Idee, die Tante im Grab anzurufen. Mein Bruder hatte recht. Wir hätten doch früher nach Zagreb aufbrechen sollen. Ich habe genug von dieser Stadt. Ich rufe ihn an. Er geht nicht ran. Ich merke, wie meine Nase läuft. Ich dränge mich durch das Getümmel. Ein kleiner Tropfen Rotze bahnt sich seinen Weg, als wäre es Winter. Wo bekomme ich jetzt nur Papiertaschentücher her? Ich laufe durch Seitengassen hinunter in Richtung Stradun. Der Tropfen bewegt sich langsam auf meine Lippen zu. Auf der Suche nach Taschentüchern durch die engen Gassen taumelnd, komme ich zum dritten Mal an einem piratenmäßig aufgezogenen Geschäft mit merkwürdigen Süßigkeiten vorbei. In den Souvenirläden verkaufen sie keine Papiertaschentücher. Nur Game-of-Thrones-Anhänger, T-Shirts und Figürchen. Meine Nase läuft unverbesserlich. Dann stoße ich auf einen Rumänen im Piratenkostüm, der ein paar Papageien, echte Aras, als Attraktion hält. Ein gelbroter Ara grinst mich an, während er auf seinem Stab nervös von links nach rechts läuft, er starrt mich durchdringend und abschätzig an, legt den Kopf schief. Als würde er über die leicht salzige Rotze lachen, die mir in den Mund rinnt. Endlich wische ich sie mir mit der bloßen Hand ab, wovon die Haare an meinem Unterarm golden glänzen. Sie hatte recht gehabt. Ein Tuch zum Naseputzen kriegst auch nirgends mehr. Die Altstadt kocht. Ich verlasse sie in der rechten Kolonne, will diesmal den Bus zum Friedhof nehmen. An der Bustür herrscht Gedränge. Der Fahrer hat nur die Vordertür geöffnet und kontrolliert jedes einzelne Ticket. Der Bus ist brechend voll. Ganz vorne sitzt ein Typ mittleren Alters mit einem Käppi. Muskelbepackt, krebsrotes Gesicht. Bequem breitbeinig hat er sich hingesetzt, nun thront sein Schritt auf dem vordersten Sitzplatz. Neben ihm steht eine ältere Frau mit Stock, eingequetscht zwischen Leuten. Sie würde sich gerne setzen. Er weigert sich jedoch aufzustehen, was er stolz unterstreicht. »Für dich steh ich doch nicht auf«, sagt er. Und lauter, er habe für sein Ticket bezahlt – im Gegensatz zu ihr, dieser Rentnerin, die nichts zahlt. Er sei Steuerzahler und dieser Sitzplatz sein gutes Recht. Sie sagt ihm, er solle sie nicht duzen. Er gibt zurück, sie sei eine Niete, ein Nichts für ihn. Ich steige aus. Gehe zu den Toten. Betrete den Friedhof, wo gerade eine Beerdigung zu Ende gegangen ist. Die Trauernden gehen langsam auseinander, auf einem Grab in der Ferne liegen jede Menge Kränze. Die Menschen wirken friedlich, versöhnt mit dem Tod der gerade verstorbenen Person. Ich warte, bis sie sich entfernt haben. Dann greife ich nach dem Telefon und rufe meine Tante an. Die Verbindung wird hergestellt. Die Nummer ist besetzt. Ich schaue mehrmals verdutzt aufs Handy. Ich habe doch nicht versehentlich jemand anderes angerufen? Nein, es ist die Nummer meiner Tante. Kurz darauf ruft mich mein Bruder an. Auch er ist völlig verdutzt, dass bei der Tante besetzt ist, gerade hat er sie angerufen. Wir haben es gleichzeitig versucht. Ich ziehe ihn auf, er sei vielleicht doch nicht ganz so rational, wie er immer tue. Er legt auf. Gleiches Prozedere noch einmal. Niemand hebt ab, Over the Horizon.

Ich verlasse den Friedhof und buche diesmal eine Fahrt per Uber. Eine junge Frau aus Osijek holt mich ab. Sie kommt jedes Wochenende nach Dubrovnik, um als Fahrerin zu jobben. Es lohne sich für sie und zu Hause sei es zu dieser Jahreszeit eh langweilig. Ansonsten arbeite sie als Buchhalterin. So könne sie an den Wochenenden eine Menge dazuverdienen. Und manchmal amüsiere sie sich auch. Ich muss meine Sachen holen und die Wohnung meiner Tante abschließen. Nach dem dritten Anruf werden mein Bruder und ich in den leeren, arbeitsamen Betonsommer in Zagreb zurückfahren. Ich schlage mich durch die Altstadt, die vor Leuten und Hitze nur so brodelt. Dann betrete ich die Wohnung. Bleibe vor dem Bücherregal stehen, nehme Stadtgeschichten von Nada Skatolini und Die Stadt im Spiegel von Mirko Kovač heraus. Wenn ich ein paar Bücher mitgehen lasse, wird es der reiche Verwandte nicht mal merken. Wer weiß, was er mit ihnen anstellt, womöglich habe ich sie soeben gerettet. Ich nehme meinen Rucksack, die Sachen meiner Tante, die wir aus dem Altersheim mitgebracht haben, lasse ich auf dem Wohnzimmerboden verteilt liegen. Soll sich doch der Verwandte aus Amerika darum kümmern, soll er sie doch zur Caritas bringen oder persönlich an die Armen verteilen, soll er doch den Staub von den Schiffsminiaturen wischen – für sein bequem geerntetes Kapital kann er ruhig auch was tun. Ich gehe nach draußen und schlage mich durch die Gassen, über mir hängen ausgebreitete Laken an der Leine. In allen Nebenstraßen hängen ausgebreitete Laken, Handtücher und Badeanzüge zum Trocknen. Kein einziges Stück Kleidung oder Unterwäsche. Kein einziger Blumentopf mit einer Pflanze darin. Nur Bettlaken, die gewaschen werden und trocknen müssen, weil die alten Gäste abreisen und die neuen Gäste ankommen. Ferienwohnungen zu vermieten ist äußerst lukrativ. Das Kapital vermehrt sich. Wer weitsichtig genug war, profitiert jetzt. Wer hätte gedacht, dass diese im Zentrum verwundete Stadt einmal das touristische Ziel schlechthin werden würde. Nur Weitsichtige. Duuu-brrrrrovnik!, Walk of Fame, Cruiser-Abladestelle, Kulisse für Game of Thrones. Duuu-brrrrrovnik! Yes! Ich schaue mich zu allen Seiten nach einem bekannten Gesicht aus der Nachbarschaft um, um mich für immer von der Stadt meiner Tante zu verabschieden. Sehe aber bloß den Briefträger, der gerade eine Sendung in der Nachbarwohnung einwirft. Wir kennen uns nicht, trotzdem frage ich ihn nach den Leuten aus dem Haus. Weder Jelica noch Kate noch Anica noch Anton noch Niko leben mehr in der Stodt. Einem nach dem anderen ging die Hüfte kaputt und sie mussten auf einer Trage die Festungsmauern verlassen. Sie sind zu Käfern geworden, zu Kaputte-Hüfte-Bürgern. Haben sich die Hüften gebrochen, als wären sie trockene Äste, ihre Schlüssel wurden der kostümierten Wache am Pile-Tor überreicht. Gibt ja gar keine lebendigen Leut mehr in der Stodt. Scharen von Einwegmenschen tragen zum Wirtschaftswachstum Dubrovniks bei. Jeder ihrer Namen müsste in eine Platte auf dem Stradun eingraviert werden. Mit einem kleinen Meißel müssten die winzigen Buchstaben wie auf dem Walk of Fame eingehauen werden. Denn sie sind seine Zukunft. Nicht die Käfer mit ihren kaputten Hüften. Die müssen so effizient und schnell wie möglich aus der Stadt evakuiert werden. Hauptsache, sie sind nicht so dumm, Widerstand zu leisten. Hauptsache, sie bleiben diskret und machen keinen Aufstand. Schenkt all eure Aufmerksamkeit dem Kapital! Raus aus der Stodt, rein in die Ruhestätt! Bravo!

Vielleicht ist sie ausgerechnet Ende Juli gestorben, weil sie uns beweisen wollte, wovon sie immer wieder erzählt hatte, nämlich was aus der Stodt geworden war. Und wir dachten immer, sie nörgele eben, um unsere Aufmerksamkeit auf sich da unten unter dem südlichen Wendekreis zu lenken. Ich blicke mich um und begreife, wie sehr sie im Recht war. Und vielleicht noch immer ist. Vielleicht liegt sie lebendig begraben auf dem Boninovo-Friedhof. Ich muss mich beeilen. Vielleicht ist sie gerade in diesem Moment zu Bewusstsein gekommen, ringt nach Luft, schlägt mit ihren Hühnerflügeln an den Sarg und diese brechen, weil sie an der rauen Spanplatte hängen bleiben. Vielleicht öffnet sie ihren zahnlosen Mund und schreit, doch niemand kann ihr Gebrabbel hören. Panisch rufe ich meinen Bruder an. Will ihm sagen, wie sehr sie im Recht war. Er geht nicht ran. Ich setze meinen Rucksack auf und renne in Richtung Friedhof. Drängle mich an den Leuten vorbei und werde verwundert angesehen. Ich renne, bis mir das Wasser aus den Ohren dringt. Komme am Bahnhof vorbei. An der Bustür herrscht wieder Gedränge. Keine Zeit, mich anzustellen. Mein Handy wird gleich abschmieren, ich kann nicht mal mehr ein Uber bestellen. Was, wenn sie gerade jetzt in grauenhafter Angst erwacht ist? Panisch schiebe ich die Leute beiseite. Beladen wie ein Esel komme ich am Altersheim vorbei. Dort sitzen die Käfer in ihren Rollstühlen. Ihre Hüften sind gerade rechtzeitig kaputtgegangen, um einem weiteren Sommer in der Stodt zu entkommen. Sie starren mich verwundert an. Ich renne bergauf, in die entgegengesetzte Richtung der Menschenmenge. Der Rucksack drückt, aber ich gebe nicht auf, ich muss noch ein bisschen durchhalten. Die Halterung fürs Trinken hat sich gelöst, aber ich habe keine Zeit, der Plastikflasche, die jetzt wie wild Richtung Stadt rollt, hinterherzulaufen. Immer weiter unten höre ich sie poltern. Jemand wird sie schon aufsammeln und das Pfand einlösen. Ich renne weiter. So schnell mich meine Beine tragen. Im Westen erstreckt sich das endlose Meer. Ich bin mein Lebtag noch nicht so schnell gerannt. Außer Atem erreiche ich den Friedhof. Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Ich werfe den Rucksack auf den Boden. Hole panisch mein Handy hevor und lasse es mit vier Prozent Akku läuten. Auf einmal klingt es, als würde ein Symphonieorchester Over the Horizon spielen. Eine hervorragende Live-Aufführung schallt über den ganzen Friedhof. Die Zypressen schwanken, verängstigte Schwalben fliegen im Kreis. Ich drehe mich verdutzt um. Plötzlich höre ich eine weibliche Stimme und das Konzert wird jäh unterbrochen: Ja, hallo? Ich bin gerade auf dem Friedhof, wollte Kate ein paar Blumen bringen, weil ichs gestern nicht zur Beerdigung geschafft hab. Mein Gott, grad wär ich fast lebendig begraben worden unter den Massen da in Pile.

Revolution

Wie alt er eigentlich geworden war, merkte sie erst, als ihm das neue Smartphone in die Hand gedrückt wurde. Es war eins dieser nagelneuen, glänzenden Samsungs, die bei einem Vertrags­abschluss zum Spottpreis zu bekommen waren. Eines trägen Nachmittags hatten Vertreter bei ihrem Vater Sturm geklingelt und ihm an der Haustür ein Angebot für Mobilfunk unterbreitet; verschlafen unterschrieb er einen Vertrag, zu dem er das Smartphone praktisch geschenkt dazubekam. Zuvor hatte er ein gewöhnliches, sozusagen dummes Nokia mit Tasten und Prepaid-Guthaben besessen.

Als sie das neue Handy abholten, erklärte ihm ein Verkäufer hinter der Space-Theke noch einmal die Vorteile des neuen Revolution-Tarifs und die Besonderheiten des Smartphones, dessen eigentlicher Preis ganze 3500 Kuna betragen hätte, wohingegen er es für, sage und schreibe, einen einzigen Kuna bekäme. Während der Verkäufer den Vertrag stempelte, der ihren Vater auf fatale Weise für zwei Jahre binden sollte, rollte dieser eine Kuna durch Lidijas Gedanken. Der Verkäufer unterbreitete ihm noch ein paar weitere Vorteilsangebote, zum Beispiel ein Tablet, das er für nur 200 Kuna die nächsten zehn Monate abbezahlen könne, oder aber ein Paket aus Internet, Fernsehen und Festnetztelefonie zum halben Preis im Vergleich zum vorherigen und zwar die ersten drei Monate ohne eine einzige Lipa Mehrkosten, und obendrein könne er noch ein Festnetztelefon für unglaubliche 9 Kuna erstehen. Lidija winkte bloß desinteressiert ab. Ihr Vater stimmte ihr ohne Widerspruch zu. Nach Mutters Tod lebte er ohnehin auf Autopilot. Ihre Mutter war diejenige gewesen, die mit ihren Vorwürfen und Sticheleien gleich einer Wespe dem Leben die scharfe Würze gegeben hatte. Seit sie sie beerdigt hatten, vergingen seine Tage monoton und verschmolzen zu einer langen Kette aus Leere. Die Sache mit dem Smartphone war eine der wenigen, für die er überhaupt irgendein Interesse oder Initiative zeigte. Das neue Handy, dachte sie, könnte für etwas Lebendigkeit sorgen und die ängstliche Beklemmung vertreiben, die sich heimlich um ihn herum ausbreitete wie Schimmel. Von allen Seiten starrten sie die schwarzen Schafe von TELE2 an, vielfach geklont auf Dutzenden großen und kleinen Bildschirmen, Hunderten Plakaten und Flyern. Hinter ihnen hatte sich eine lange Schlange gebildet. Es waren die gleichen Leute, mit denen sie auf der Post, beim Finanzamt oder für ein neues Monatsticket anstanden, die gleichen Leute, mit denen sie mit ihrer Mutter vor mehr als fünf Jahren in den Warteräumen onkologischer Ambulanzen gesessen hatten. Eine solche Szenografie verlieh all diesen zerknautschten, blassen, von Kriegen, Krankheit und Transition müden Menschen ein neues Äußeres mit viel Neon. Sie verließen das Geschäft, in der Reklametüte schaukelte ihr neues Baby, ein Android.