Werthers Welt - Johannes Saltzwedel - E-Book

Werthers Welt E-Book

Johannes Saltzwedel

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Beschreibung

Goethes Roman von den »Leiden des jungen Werthers« war ein Großereignis der deutschen und europäischen Literaturgeschichte. Worüber diskutierte die Lesewelt 1774, wen traf der eben 25-jährige Autor – und was passierte sonst in Europa und der Welt? Davon erzählt dieses Panorama: Tagesgenau, reich bebildert mit zeitgenössischen Porträts, ergänzt durch eine Galerie wichtiger oder kurioser Bücher aller Fachgebiete, die zugleich erschienen. Der Streifzug führt von Kapitän Cooks Antarktis-Fahrten über Operntriumphe in Paris bis zu den Hochstapeleien einer falschen Zarin; man erfährt von Turmfrisuren, Rokoko-Palästen, Sektierern und Erpressern, von fleißigen Kupferstechern und findigen Physikern, erlebt Professoren als Kurgäste und Monarchen bei der riskanten Pockenimpfung. Man hört vom ersten recycelten Papier, ja sogar einem elektrischen Telegraphen. Aber auch einige Anzeichen revolutionären Geistes sind schon zu spüren.

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Johannes Saltzwedel

Werthers Welt

Das Jahr 1774 in Bildern, Büchern und Geschichten

zu Klampen 2023

Inhalt

Vorbemerkung

Einleitung

1774 – Chronik und Dokumente

Januar

Februar

März

April

Mai

Juni

Juli

August

September

Oktober

November

Dezember

Hinweise

Namenregister

Die Wirkung dieses Büchleins war groß, ja ungeheuer, und vorzüglich deshalb, weil es genau in die rechte Zeit traf. Denn wie es nur eines geringen Zündkrauts bedarf, um eine gewaltige Mine zu entschläudern, so war auch die Explosion welche sich hierauf im Publicum ereignete, deshalb so mächtig, weil die junge Welt sich schon selbst untergraben hatte, und die Erschütterung deswegen so groß, weil ein Jeder mit seinen übertriebenen Forderungen, unbefriedigten Leidenschaften und eingebildeten Leiden zum Ausbruch kam. Man kann von dem Publicum nicht verlangen, daß es ein geistiges Werk geistig aufnehmen solle. Eigentlich ward nur der Inhalt, der Stoff beachtet, wie ich schon an meinen Freunden erfahren hatte, und daneben trat das alte Vorurtheil wieder ein, entspringend aus der Würde eines gedruckten Buchs, daß es nämlich einen didactischen Zweck haben müsse. Die wahre Darstellung aber hat keinen. Sie billigt nicht, sie tadelt nicht, sondern sie entwickelt die Gesinnungen und Handlungen in ihrer Folge und dadurch erleuchtet und belehrt sie.

Dichtung und Wahrheit

13.Buch

Vorbemerkung

Kaum je hat ein Erzählwerk so rasch, tief und dauerhaft gewirkt wie Die Leiden des jungen Werthers. Dem Autor wurde der Trubel darum bald unheimlich, sogar lästig. Aber er sah genau, daß seine geniale dichterische Seelenerkundung in eine Zeit gefallen war, für die große Umbrüche näher zu rücken schienen, in ein an Gegensätzen und Neuorientierungen überreiches Jahr. Dessen Erfahrungsganzes, die Lebens- und Geisteswelt des jungen Goethe wie seiner Zeitgenossen, soll hier sichtbar werden, bis in scheinbar provinzielle, manchmal auch entlegene Regionen. Selbstverständlich kann es nur bei Impressionen bleiben; aber wer ihnen eine Weile folgt, der mag aus den Ereignissen, Begegnungen und Äußerungen doch Leitmotive heraushören, ja die Konturen dieser Zeit zu spüren beginnen.

Der Streifzug durch das Geschehen folgt dem Kalender. Monatsweise werden dazwischen beachtliche, kuriose und symptomatische Bücher, auch ein paar Autographen vorgestellt; etliche Details sind neu ermittelt. Bilder der Epoche sollen Orte und Akteure anschaulich machen. Ausdruck und Schreibart halten sich fern von den Torheiten des momentanen Zeitgeistes. Quellennachweise waren nicht unterzubringen, aber alles ist nach Kräften überprüft. Biographische Daten und Kurzangaben suche man im Register.

Viele kenntnisreiche Freunde haben das Werden dieses kleinen Panoramas begleitet, über Jahre ermuntert und mit Nachfragen geholfen. Begonnen aus der bibliophilen Lust am Original, abgeschlossen aus kulturgeschichtlicher Neugier, möchte es 250 Jahre nach dem Erscheinen des Werther all jenen, die das deutsch-europäische Geistesleben in seinem unerschöpflichen Reichtum noch ehren und lieben, entdeckerische Freuden bereiten.

Hamburg, am 28. August 2023 J.S.

Einleitung

Wer die Gedankenwelt von 1774 verstehen möchte, tut gut daran, auf die Übergänge und Widersprüche des Zeitalters zu achten. Noch sind den Europäern bei all ihrem Unternehmungsgeist damals viele Winkel der Erde unbekannt: Erst nach 1770 wird zum Beispiel klar, daß Australien ein Kontinent ist. Noch behauptet sich der tief verwurzelte christliche Glaube als selbstverständliche Lebensmacht, allen Freigeistern und konfessionellen Spaltungen zum Trotz. Noch auch traut man der alten verwickelten Staatsund Reichsordnung, die im Westfälischen Frieden restituiert worden war. Aber das Gefüge zeigt Risse. Skeptische Vernunft sammelt sich von 1751 an in der Encyclopédie. Immer gründlicher werden Gesetze und Bausteine der Natur experimentell erkundet, auch industriell-ökonomisch in Dienst zu nehmen versucht; doch wer das – mit oder ohne Leibniz – optimistisch ausbaut, findet sein Vertrauen spätestens durch das Erdbeben von Lissabon 1755 heftig erschüttert. Auch die Staatsraison des sich aufgeklärt gebenden Absolutismus führt bei aller Öffnung für Theorien und allem Kolonisierungseifer keine harmonischere Welt herauf.

Die Umwälzung des europäischen Bündnissystems und der Ausbruch des Siebenjährigen Krieges 1756 zeigen, daß Machtinteressen, nicht Menschheitsträume die Politik bestimmen. Tausende müssen fallen und zweimal wird Berlin besetzt, bis Preußen mit knapper Not, Energie und Glück den status quo ante wahren kann; der eigentliche Sieger von «Deutschlands Peloponnesischem Krieg» (Hellmuth Rößler) mit seinen weltweiten Nebenkampfplätzen ist Großbritannien, das gegen Frankreich die Oberhand in Nordamerika und Indien, dazu endgültig die Hegemonie zur See erlangt. Mögen in Deutschland Publizisten den Tod fürs Vaterland, Teutschen Geist und Nationalstolz beschwören, mag die für alle Außenstehenden kuriose Kleinstaaterei nach überwundenen Kriegsgreueln manchmal auch rührend wirken – zum Beispiel wenn 1767 in Lessings Minna von Barnhelm die gewandte Sächsin den sturen preußischen Major gewinnt: Europas Bürger, die auf zivile Geselligkeit, wachsenden Anstand und geschmackliche Verfeinerung auch über Grenzen hinweg hofften, haben an der Sicherheit des Überkommenen zu zweifeln begonnen.

Frankreich ist, wie man weiß, nahezu bankrott, und wo sähe es in Europa besser aus? Drei Mißernten, von naßkalter Witterung verursacht, bringen 1770 bis 1773 Hunger und Empörung; selbst in Palermo wird der Vizekönig Giovanni Fogliani fortgejagt. Das Frühjahr 1774 ist trocken, der Herbst wieder naß und kalt. Weitblickend hat König Friedrich in Preußen seit dem Siebenjährigen Krieg den Anbau seltsamer Pflanzen mit Wurzelknollen gefördert, die anfangs, wie es heißt, «nicht einmal die Hunde» fressen mögen. Der Pharmazeut Antoine Parmentier empfiehlt 1773 in einem Examen chymique des pommes de terres nachdrücklich ihren Nährwert. Vorerst aber mögen sich weder Preußen noch Franzosen an das seltsame Lebensmittel gewöhnen.

Maria Theresia im Kreis ihrer Kinder (Heinrich Friedrich Füger 1776)

In der Politik hoffen Traditionalisten auf Kontinuität. Einige Monarchen regieren seit Jahrzehnten: Louis XV., Friedrich II., Maria Theresia und Carl III. von Spanien. Auch George III., der Hannoveraner, und die Zarin Katharina II. aus dem Hause Anhalt-Zerbst scheinen Berechenbarkeit zu sichern. Aber lange wird das Ensemble nicht mehr durchhalten. In Neapel-Sizilien, dessen König Ferdinand III. erst 1767 volljährig geworden ist, kann man sich vorerst auf den greisen Premier Bernardo Tanucci verlassen. Florenz geriert sich unter Peter Leopold, dem jüngeren Bruder Josephs II., als Filiale habsburgischen Reformwillens. In Savoyen und Sardinien hat Carl Emanuel III. sein Haus so gut bestellt, daß der Erbe Anfang 1773 kaum Sorgen auslöst. Der Machtwechsel im von Rußland besiegten Konstantinopel Ende 1773 entlastet die Europäer vorerst. Aber was ist von Schwedens jungem König Gustav III. zu halten, der ein Jahr nach der Inthronisierung 1772 putschartig die Macht des Reichstags beschränkt hat? Und war es nur ein Mißgeschick, daß in Dänemark unter dem geisteskranken Christian VII. 1771 der Leibarzt Struensee die Königin schwängern konnte und freie Hand für radikale Reformen bekam, bis er ein Jahr später entmachtet und grausam hingerichtet wurde? In London erscheint 1774 eine Tirade gegen die Chains of Slavery unter despotischen Autokraten: Jean Paul Marats erstes politisches Buch, ein Vorbote der Revolution.

Auch in Deutschland herrschen noch ein paar Veteranen. Herzog Carl von Braunschweig, dienstälter sogar als sein doppelter Schwager Friedrich von Preußen, spart freilich nicht genug und muß 1773 die Geschäfte dem Sohn übertragen. Ähnlich lange sitzen der großzügige Carl Theodor in der Pfalz, der sprunghaft-eitle Despot Karl Eugen in Württemberg und der zähe «vielgeliebte» Max III. Joseph in Bayern auf dem Thron. Aber von der Selbstsicherheit der barocken Zeiten ist nur das Machtkalkül geblieben. Als sich Rußland, Preußen und Österreich 1772 je ein Stück Polens einverleiben, soll Maria Theresia die vertragsbrüchige Unmoral beweint, ja selbst die Zarin gezögert haben. Wie rührend – doch schon vor der Bestätigung durch den Reichstag im September 1773 schickt man neue Siedler nach Ostgalizien, Weißrußland und Polnisch-Livland, erst recht nach Westpreußen: Mehrung, ‹Peuplierung› und stetig verbesserte Nutzung des Landes ist für Physiokraten das A und O effizienter Staatswirtschaft.

Hinrichtung J. Fr. Struensees 1772 (zeitgenössischer anonymer Stich)

Nicht einmal Englands Pragmatiker können Moral und Politik versöhnen: Anstatt den erfolgreichen nordamerikanischen Kolonisten die Steuern und Zölle zu mildern, beginnt London ihnen zu drohen; Mitte Dezember 1773 entlädt sich der angestaute Unmut in der ‹Boston Tea Party›. Im Jahr darauf, nach weiteren Zwangsaktionen des Mutterlandes, wird der Kontinentalkongress von Philadelphia die Wende zur Selbstverwaltung einleiten.

Schlußblatt einer Bildfolge zur Aufhebung des Jesuitenordens von Johann Martin Will (1774)

Am meisten aber diskutiert man 1773 ein anderes Ereignis, das Carl Schmitt das erstaunlichste des Zeitalters nannte: Die Unterdrückung der Jesuiten durch den Papst selbst. Gut ein Jahrhundert nach Blaise Pascals Provinciales, in denen die Schliche jesuitischer Morallehren angeprangert worden waren, zählt der stolze Intellektuellen-Orden zwar über 22000 Mitglieder, die in 750 Kollegien mehr als 210 000 Schüler unterrichten. Dagegen hat eine europaweite Koalition des Mißtrauens erreicht, daß die Societas Jesu vielerorts verboten und enteignet worden ist: seit 1757 in Portugal und Brasilien, von 1761 bis 1766 schrittweise in Frankreich, 1767/68 in Spanien, Neapel-Sizilien und Parma. Trotzdem ist es ein Fanal, als der stark bedrängte Papst Clemens XIV. am 21. Juli 1773 die völlige Aufhebung proklamiert. Weit über den Orden hinaus ändern sich Lebensplanungen. Auch wenn Preußen die Weisung erst mit dem Dezember 1775 akzeptiert und Rußland nie: Europa hat einen Stabilitätsfaktor verloren, vor allem weil etliche Staaten, darunter Österreich, ihr bislang jesuitisch gestütztes Schulwesen nun neu organisieren müssen.

Unterdessen wächst rapide das Interesse an Reformpädagogik, die ein anderes, vernunftgeleitetes Miteinander jenseits von Standesgrenzen ausmalt. Zwar wird die in Rousseaus Emile (1762) vorgeführte Ideologie natürlicher› Erziehung vorerst nur unter empfindsamen Begüterten diskutiert, wo die Damen, vor allem in Hofnähe, gerade besonders künstlich hochgetürmte Frisuren tragen. Aber wer sich aufgeschlossen zeigen will, zollt Basedows Plädoyers für ein Lernen ohne Drill, Pestalozzis Experimenten in Ganzheitlichkeit oder Rochows Versuch eines Schulbuches, für Kinder der Landleute (1772) seinen Respekt. Adelungs Leipziger Wochenblatt für Kinder erscheint nur zwei Jahre, findet aber familientauglichere Nachfolger. Inmitten einer munteren, oft spielerisch lockeren Geselligkeit dringt so der Wunsch, Sitte und Gemeingeist von Grund auf neu zu denken, bis tief in die bürgerliche Welt, selbst wenn die Ideale von Natürlichkeit zuweilen sektiererhaft, subversiv und utopistisch ausarten.

Der Urheber der neuen theresianischen Schulordnung (J. D. Schleuen d.Ä. nach J. G. Reinitius, 1773)

Vom Weg zu ganzer Menschlichkeit erzählt auch Wielands Geschichte des Agathon, die 1766 und erneut 1773 in vier Bänden herauskommt. Darin blendet der schwäbische Pfarrerssohn, den man 1772 als Prinzenerzieher nach Weimar geholt hat, christliche Bezüge völlig aus; Handlung und philosophische Dialoge des Bildungsromans spielen vor antiker Kulisse. Das Werk hat Erfolg bei Kritikern; mehr Aufsehen erregt jedoch der altdeutsch-tragische «Selbsthelfer» im Drama Götz von Berlichingen, gerade weil Kenner über die shakespearisch wilden Szenenwechsel des jungen Goethe streiten. Noch deutlich mehr Leser – darunter mit Sicherheit viele Leserinnen – amüsiert indessen ein gutwilliger Prediger, den man, wohin er auch flieht, alsbald zum Ketzer erklärt: In seinem Sebaldus Nothanker entlarvt Friedrich Nicolai satirisch treffsicher die Haarspaltereien innerprotestantischer Richtungskämpfe. Solche literarischen Erfolge übertönen, daß Klopstock fast zur gleichen Zeit 1773 den Schlußband seines 1749 begonnenen hexametrischen Ungetüms Der Messias herausbringt; auch Boies Göttinger Musenalmanach für 1774 mit einer überaus repräsentativen Zusammenstellung von Gedichten und Autoren (→ 40) findet kein Massenpublikum.

Wissenschaftler brauchen das ohnehin nicht; für sie entscheidet die Sache. So begründet Abraham Gottlob Werner im Herbst 1773 mit dem Buch Von den äußerlichen Kennzeichen der Foßilien seinen legendären Ruf unter den Bergwissenschaftlern, und Johann Georg Vogel ediert das Grundwerk zur Wald-Bienenzucht, das der Lausitzer Pastor Adam Gottlob Schirach hinterlassen hat. Friedrich Eberhard Boysen, Oberhofprediger in Quedlinburg, bringt «auf Verlangen» seine längst fertige Übersetzung des Korans heraus – absichtlich gegen die nur ein Jahr zuvor erschienene erste deutsche Gesamtversion, worin die «türkische Bibel» als «Lügenbuch» dargestellt war. Einsicht fördern möchten nicht nur Frankreichs Enzyklopädisten; auch in Edinburgh hat eine «Society of Gentlemen» 1771 die erste Encyclopaedia Britannica in drei Bänden fertiggestellt. Besonders langen Atem beim Sammeln von Wissen beweist von 1773 an der Berliner Arzt Johann Georg Krünitz: Aus der Übersetzung einer neuen Encyclopédie économique formt er seit dem fünften Band (1775) ein eigenständiges Werk; 1796 wird er über Band 75 sterben, während der Arbeit am Artikel ‹Leiche›. Abgeschlossen ist der ‹Krünitz› erst 1858 in 242 Oktavbänden. Bis dahin bleibt der aufklärerische ‹Zedler› (1732–1754) mit seinen 68 Folianten das reichhaltigste allgemeine Nachschlagewerk in deutscher Sprache.

Anfang 1774 bieten Europas Städte folgendes Bild: Nach den Weltzentren London, Konstantinopel (je etwa 750 000 Einwohner), Paris (400 000), Neapel (300 000) und Amsterdam (200000) folgen Metropolen wie Wien, St. Petersburg (180 000), Venedig und Rom (je etwa 140000), Lissabon, Madrid, Mailand, Berlin, Moskau (über 130 000) sowie Palermo (120 000). Aber auch in Lyon, Kopenhagen und Dublin wohnen schon fast 100 000 Menschen; Marseille, Rouen, Florenz, Genua, Sevilla, Barcelona und das schnell wachsende Hamburg kommen auf etwa 75 000. Großstädte mit 50– 60 000 Einwohnern sind Dresden, Danzig, Breslau, Prag, Königsberg, Gent, Brüssel, Antwerpen, Rotterdam, Lüttich, Nantes, Toulouse und Edinburgh, aber auch Granada und Cadiz. In Warschau, Straßburg, München, Frankfurt, Nürnberg, Stuttgart und Leipzig hingegen leben nur 30–40 000 Menschen. Allein am Hof von Versailles wimmeln bis zu 25 000 Personen, weit mehr als in den Schlössern Wiens. Die allermeisten Orte aber sind klein. Colmar hat damals erstaunliche 12 000 Einwohner, Weimar hingegen gerade etwa 6000, die überwiegend ärmlich hausen, kaum gepflasterte Straßen vorfinden und von der Obrigkeit angewiesen werden, daß man erst nach elf Uhr abends aus den Fenstern Nachtgeschirre ausleeren dürfe.

Karte der Reichskreise aus Basedows Elementarwerk, zeitgenössisch koloriert

Während in Frankreich der Zentralismus recht tief reicht, pochen in Deutschland gerade kleinere Grundherren auf ihre Sonderexistenz. Die weit über 300 mehr oder minder eigenständigen, häufig noch selbst in Untergebiete aufgeteilten Territorien, vom Herzogtum Kärnten bis zur nur 35 km2 großen Herrschaft Eglofs, vom Hochstift Lübeck bis zur Grafschaft von Isenburg-Büdingen-Wächtersbach, kann letztlich niemand mehr politisch überblicken – ein Dorado für findige Juristen. Im Wetzlarer Reichskammergericht sind etliche Prozesse schon über ein Jahrhundert anhängig. Immerhin gibt es seit alters Verwaltungsabsprachen innerhalb der zehn Reichskreise, erstaunlich verläßliche, regelmäßige Postverbindungen bis in weite Fernen, praktikable Reiseregeln und Leitwährungen. Freilich kommen nur wenige Menschen weiter herum; am ehesten noch als Soldaten. In Preußen werden pro Ehe durchschnittlich 4,5 Kinder geboren, aber da sehr viele früh sterben, erfüllt dieser Wert nicht einmal die Reproduktionsrate. Deshalb wirbt man seit Jahrzehnten um Einwanderer und Kolonisten. Friedrich der Große zum Beispiel finanziert 1774 mit 39 000 Talern die Trockenlegung des oberen Plönebruchs, um dort 150 Familien anzusiedeln. Ähnlich hat Österreich im Banat und in Kroatien agiert. In Spanien gibt es deutsche Siedler, und auch in Florenz geht man daran, die Maremmen zu entwässern, die als Malariaherd berüchtigt sind.

Neben besserer Landnutzung könnte moderne Industrie ein Staatswesen entscheidend stärken – das erkennen die meisten Regenten und planen gezielt ganze Ortsbezirke. Nur drei von vielen hundert möglichen Beispielen: In Neuwied hat man fleißige Herrnhuter angesiedelt; im nahen Bendorf ist ein Hüttenwerk in Betrieb. Und östlich von Höchst, vor den Toren Frankfurts, läßt der Fürstbischof von Mainz eine Neustadt für Gewerbe jedweder christlichen Konfession entwerfen.

Frontispiz zum Voyage a L’Isle de France (1773) von Bernardin de Saint-Pierre

Es kann engstirnig wirken, daß Theologen auch 1774 noch die Jesuitenfrage diskutieren oder zwischen Neologie und Pietismus um Orthodoxie feilschen: Ringsum wird das Verhältnis von Glauben und Wissen neu bestimmt. Entdecker wie Cook, Kerguelen, Forrest oder Bernardin de Saint-Pierre, der 1773 seine Reise nach Mauritius schildert, mehren die Weltkenntnis. Aber 1774 bringt auch Pierre Simon Laplace, Professor an der Pariser Militärschule, seine erste Abhandlung zur Wahrscheinlichkeitsrechnung heraus, die den Weg zur Normalverteilung weist. In Boston beginnt John Jeffries täglich das Wetter aufzuzeichnen. Auf dem Bergmassiv Schiehallion in den schottischen Highlands gelingt es dem britischen Hofastronomen Nevil Maskelyne und dem Mathematiker

Ein winziger Ausschnitt aus dem Atlas Tyroliensis, erschienen 1774 in Wien. Johann Ernst Mansfeld brachte diese Gesamtkarte Tirols im Maßstab 1 : 104 000 auf 20 Blättern heraus, für die Peter Anich und Blasius Hueber seit 1760 akribisch ihre Heimat vermessen hatten.

Charles Hutton, über höchst akribisch gemessene Lot-Ablenkungen Newtons Gravitationskonstante und so Masse und Dichte der Erde abzuschätzen, wobei Hutton nebenbei die Höhenlinien erfindet. Adam Smith schreibt in London – meist im ‹British Coffee House›, Cockspur Street – an seiner Wirtschaftstheorie, Kant in Königsberg an seiner Kritik der reinen Vernunft. Während in Paris der junge Abbé Duvoisin noch für das Wunder der Vision de Constantin plädiert, emendiert in Halle der Theologe Johann Jakob Griesbach an weit über 300 Stellen philologisch den Text des Neuen Testaments, und Edward Gibbon verfaßt sein Geschichtspanorama vom Niedergang Roms, den er mit auf das Christentum zurückführen wird.

Historische Forschung und Gedankenexperiment verbinden sich auf vielen Gebieten in der Suche nach Ursprüngen: Wie Jean Jacques Rousseau den natürlichen Menschen postuliert, so hofft man sammelnd und nachempfindend zum Beispiel dem Rätsel der Sprachentstehung auf die Spur zu kommen, zumal der Poesie als «Muttersprache des Menschengeschlechts» (Hamann). Neben Homer und Pindar weckt nach 1760 der angebliche gälische Barde Ossian europaweit Enthusiasmus unter jungen Literaten. Was Percy 1765 und Warton seit 1774 für England leisten, denkt der hellhörige Herder sogleich für die ganze europäische Lyrik, ja für die Weltliteratur weiter; die ersten Volkslieder, poetischer Widerhall und Nachbild des Menschheitsursprungs voll hieroglyphischer Weisheit, fänden sich in der biblischen Genesis-Erzählung, erklärt er 1774.

Poetische Ursprungssuche 1765: Percys Motto lautet «Durat opus vatum»

Tragen jede Kultur und jedes Volk – so ein Kerngedanke Herders – ihre Wahrheit in sich, ist es letztlich müßig, überhistorische ästhetische Grundsätze zu formulieren. Doch das Lehrgebäude der seit alters rhetorisch-affektiv organisierten Künste läßt sich nicht einfach durch vage Konzepte von Natürlichkeit, Genie und Leidenschaft neu begründen. Es ist symptomatisch, daß Johann Georg Sulzers Allgemeine Theorie der Schönen Künste (1771–1774) die Ganzheitlichkeit großer Werke und auch das Genie würdigt, aber Regeln, Anleitung und Könnerschaft nicht preisgeben mag. In Nürnberg huldigt der ‹Pegnesische Blumenorden› unter dem neuen Präses Johann Augustin Dietelmair weiter überkommenen Rezepten der Sprachartistik, während literarische Neuerer bei Shakespeare, Pindar und ‹Ossian› den Ausdruck der Leidenschaft finden.

Obgleich der Jesuit Antonio Eximeno in Rom und der Franziskaner-Konventuale Giambattista Martini in Bologna 1774 grundlegende Musiklehrbücher veröffentlichen, herrscht im Reich der Töne kein verbindlicher Zeitgeschmack. Am preußischen Hof konserviert man die artige Melodiosität des Frührokoko, während der 1768 dort entwichene C. P. E. Bach in Hamburg kühne Klangversuche wagen kann. Das tut in seinen Solosonaten auch Joseph Haydn. In Esterháza bietet er weniger harmonische Experimente, dafür aber Humor in sinfonischen Kabinettstücken wie dem ‹Schulmeister› oder ‹Il Distratto›. Im gewohnten Rhythmus bleibt der Opernbetrieb; allein Piccinnis venezianischer Schüler Pasquale Anfossi komponiert 1774 fünf Opern, davon eine für Wien und zwei für Rom, auch eine Finta Giardiniera. Neapel, London und kleinere Residenzen bieten, wenn es geht, pompöse Spektakel. In Paris dagegen triumphiert 1774 das Seelendrama Glucks. Allenthalben sinnt man auf sparsamere Formen, auch weil häufiger privat musiziert wird. Ernst Wilhelm Wolf, seit 1768 Weimars Hofkapellmeister, bringt 1774 auf eigene Kosten Sei sonate per il clavicembalo solo mit Widmung an die 35jährige, kompositorisch versierte Landesherrin Anna Amalia heraus. Mozart, der Ende 1773 sein erstes Klavierkonzert D-Dur K 175 fertiggestellt hat, zieht von Fall zu Fall die Register: Neben kontrapunktischen Messen für Salzburg schreibt er seine erste wichtige Symphonie (A-Dur, K 201) und die Chöre zu Geblers Thamos, König von Egypten, die er selbst als reife Leistung sieht, aber auch für München die mäßig originelle Oper La finta Giardiniera.

Die erste Manuskriptseite von Mozarts Musik zu Thamos

Noch beherrscht galantes Rokoko die bildende Kunst; so gibt unter den Illustratoren nach Gravelots Tod Charles Eisen den Ton an. In der Baukunst aber kontrastieren schon deutlich mehrere Stilarten. König Friedrichs Neues Palais in Potsdam (beendet 1769) gibt sich spätbarock, erst recht die Wallfahrtskirche von Vierzehnheiligen (geweiht 1772) – übrigens auch die von 1774 an errichtete neue königliche Bibliothek in Berlin, die Karl Lessing im November 1777 als «Kommode» verspotten wird. Das 1769 fertiggestellte Schloß Wörlitz folgt dagegen englisch-klassizistischen Vorbildern. Entschlossen hybrid zeigt sich das gotisierende Anwesen Strawberry Hill bei Twickenham, von dem sein stolzer Erfinder Horace Walpole 1774 auf eigener Presse eine Description in 106 Exemplaren drucken läßt. Und Patrick Brydones Reise durch Sicilien und Malta (London 1773, gleich verdeutscht von Georg Joachim Zollikofer) stellt sogar die bizarr manieristischen Dekorationen der Villa Palagonia in der Nähe von Palermo vor.

Schloß Wörlitz (Stich von Israel Salomon Probst, 1784)

Nicht nur stilistisch ist man für Wagnisse zu haben, auch im Laboratorium, ja am menschlichen Leibe. Während des Spätsommers 1774 impft der Landwirt Benjamin Jesty im englischen Dorset einige Familienmitglieder erstmals mit Kuhpocken. Das macht ihn zum Pionier, denn sonst praktiziert man bislang nur die gefährliche ‹Variolation› mit menschlichem Blatternsekret. Nach schwerer Erkrankung Maria Theresias 1767 und drei Todesfällen in der Familie sind vier Kaiserkinder so behandelt worden; zu gleicher Zeit hat sich Zarin Katharina dem Londoner Spezialisten Thomas Dimsdale anvertraut. Louis XVI. wird sich 1774 nach dem Pockentod seines Großvaters samt den Angehörigen ebenfalls impfen lassen.

Königliche Bibliothek in Berlin (Stich von Johann Friedrich Schleuen, um 1780)

Manchmal fast zu wenig besorgt um geistige Infektionen stellen Philosophen ihre Gedankenexperimente an. Der meiste Gesprächsstoff kommt wie bisher aus Frankreich, wo man mit den materialistischen und sensualistischen Konzepten von Holbach, Helvétius, Bonnet und anderen der Exaktheit zu huldigen meint. Nach den moralisch-ästhetischen Debatten früherer Jahrzehnte stellt die ‹Zweite Aufklärung› auf der Suche nach Begründungsstandards das Hergebrachte noch heftiger in Frage. Viele, denen braves Gottvertrauen nicht mehr genügt, versuchen es wieder mit dem alten Bild der Maschine – sicher auch, weil unentwegt neue Apparaturen entstehen.

Da kann man präzise Feinmechanik bewundern wie die Automaten der Uhrmacher Jaquet-Droz, die Konstruktionen des schwäbischen Pfarrers Hahn oder Johann Friedrich Ungers erst jetzt veröffentlichten, dann auch gebauten Mechanismus, um Tastenklänge aufzuzeichnen. Praktiker achten indes mehr auf industriell nutzbare Technik: In England laufen die ersten Spinnapparaturen, und James Watt treibt, von der rasch wachsenden Kohleförderung mit angeregt, die Entwicklung der Dampfmaschine voran. Auch in Frankreich setzt der Erfinder d’Auxiron auf Dampfkraft; allerdings sinkt sein Schiffs-Prototyp noch vor der Probefahrt, hinabgezogen wohl von der Ziegelschicht zur Isolierung des Kessels. In Genf konstruiert Le Sage 1774 den ersten elektrischen Telegraphen, bei dem über 24 Drähte ein Alphabet von Kügelchen aus Fruchtmark in Bewegung gesetzt wird. Künstlerisch sind neue Techniken ebenfalls gefragt: So gibt Richard Earlom die Skizzen des Liber veritatis von Claude Lorrain in einem virtuosen Zusammenspiel von Radierung und Mezzotinto wieder. Ende des Jahres führt dann Justus Claproth, ein Jurist in Göttingen, auch noch vor, wie man Altpapier von Druckerschwärze reinigen kann, um es erneut zu verwenden.

Skizze aus Claude Lorrains Liber Veritatis, Mezzotinto-Radierung von Richard Earlom

Das ist ein weitblickender Gedanke. Zwar können allenfalls 15 Prozent der Menschen lesen, aber selbst unter Stubenmädchen haben Romane und ‹Moralische Wochenschriften› in den vergangenen Jahrzehnten eine ‹Lese-revolution› ausgelöst. Tausende von Autoren schreiben; europaweit wird immer mehr gedruckt. Allein auf deutsch erscheinen 1774 über 1500 neue Werke; in Rußland, wo noch keine rabiaten Aufklärer Stimmung machen, wächst dank amtlicher Pressefreiheit die Menge des Publizierten besonders rasch. Nach dem Vorbild Voltaires, der virtuos die Zensoren narrt, bringen viele ihre Werke anonym oder unter gewitztem Pseudonym heraus.

Vom Schreiben leben kann indes kaum jemand, schon weil so gut wie kein Urheberrecht existiert. Immerhin macht Kursachsen Ende 1773 einen Anfang: Dort wird es erlaubt, Nachdrucke zu konfiszieren, falls ein klagender Buchhändler beweisen kann, «daß er das Verlags-Recht an dem Buche … von dem Schriftsteller redlicher Weise an sich gebracht habe». Der Göttinger Jurist Johann Stephan Pütter belegt 1774, daß der Nachdruck «ein sicheres Mittel» sei, «Gelehrsamkeit und Buchhandel zu ersticken». Das Piratentum blüht dennoch, begünstigt von der Kleinstaaterei, gerade in diesen Jahren auf, zumal für bellettristische Literatur. Die ersten Gesamtausgaben Goethes erscheinen von 1775 an bei Raubdruckern, die sich noch lange durch Tricks und Drohungen nicht einschüchtern lassen.

Kaum unter Nachdruckerei leiden Gelehrte. Seit dem Ende des Siebenjährigen Krieges kann die intellektuelle Welt in deutschen und europäischen Landen anderthalb nahezu störungsfreie Jahrzehnte genießen, in denen ein überschaubares, aber wachsendes Publikum vom hochspezialisierten Fachbeitrag bis zum populären Essay, von spekulativen und tendentiösen Schriften bis zum allgemeinverständlichen Handbuch reiche Möglichkeiten hat, seine Kenntnisse zu erweitern. Diese Aufklärung im guten Sinne zehrt von Lexikonautoren, Übersetzern, Zeitschriften, dem bald wuchernden Rezensionswesen und auch ein paar idealistischen Verlegern. Existierten Forschung und Gelehrsamkeit zu Beginn des Jahrhunderts vielfach in klösterlich-klerikaler Klause oder von Hofes Gnaden – noch Lessing bis zu seinem Ende 1781 im isolierten Wolfenbüttel –, gibt die neue gebildete Öffentlichkeit, wie etwa Justus Möser sie fördert, auch den originell Mitdenkenden am Rande eines Faches ihre Chance; vereinzelt entstehen echte Akademien enzyklopädischer Wissenschaft. Vorbild in Deutschland wird die erst 1737 gegründete Universität Göttingen, begünstigt von ihrer engen Verbindung nach Großbritannien, gesegnet mit vielen brillanten Fachleuten und dem neben Nicolais Allgemeiner Deutscher Bibliothek besten deutschen Rezensionsblatt, den Göttingischen gelehrten Anzeigen.

Damit sei dieser knappe, lückenhafte Überblick abgebrochen. Was das Jahr 1774 an Seltsamem, Bewegendem, Einschneidendem, mitunter gar Epochalem brachte, das sollen die folgenden Seiten zeigen.

Johann Caspar Zehender: Schlittschuhläufer auf dem Main im Osten Frankfurts (Zeichnung von 1773)

Januar 1774

J.R. Schellenberg (Stich von Lips um 1776)

1 Sa In Weimar führt Abel Seylers Theatertruppe Lessings Emilia Galotti auf. Die Hauptrollen spielen Esther Charlotte Brandes und Konrad Ekhof. In London resümiert Dr. Samuel Johnson mißmutig das vergangene Jahr: «I doubt whether I have not rather impaired than increased my learning».

In Winterthur tritt der noch nicht 16jährige Johann Heinrich Lips aus Kloten, den Lavater bereits für die Physiognomik engagiert hat, seine einmonatige Ausbildung im Radieren bei Johann Rudolf Schellenberg an.

Giacomo Casanova kommt aus Görz wieder nach Triest; er quartiert sich in der ‹Locanda Grande› ein.

2 So Goethe fährt bei Frankfurt Schlittschuh, bis er ins Eis einbricht.

Aus Halberstadt schreibt der Literat Johann Wilhelm Ludwig Gleim nach Weimar an Christoph Martin Wieland, um dessen Groll über Wilhelm Heinses deutschen Petronius und einige freizügige Stanzen (in Heinses kommendem Buch Laidion) zu dämpfen. Auch Heinse selbst schreibt an Wieland entschuldigend, er sei «von brausender Jugend berauscht» gewesen.

3 Mo Goethe schreibt dem Quietisten Johann Friedrich von Fleischbein, der u. a. um Bücher der Madame Guyon gebeten hatte, nach Pyrmont. Er grüßt auch von seiner geistlichen Mentorin Susanna von Klettenberg.

Christian Felix Weiße in Leipzig informiert den befreundeten Literaten Carl Wilhelm Ramler in Berlin, daß Johann Jakob Engels Besprechung von Ramlers Oden in der von Weiße herausgegebenen Neuen Bibliothek der Schönen Künste nun «völlig abgedruckt» sei. Engel nimmt darin Ramler gegen den verstorbenen Philologen Christian Adolf Klotz in Schutz.

Der Maler Jean Honoré Fragonard und sein Gönner Pierre Jacques Bergeret, die sich seit dem 5. Dezember 1773 in Rom aufhalten, speisen wieder einmal bei Kardinal de Bernis, dem wichtigsten Franzosen im Vatikan. Abends geht es zur Oper ins Teatro Argentina.

4 Di Aus Berlin sendet der Zeichner und Kupferstecher Daniel Chodowiecki ein «schweres Pack mit physiognomischem Allerlei» an den Prediger und frommen Zeichendeuter Johann Caspar Lavater nach Zürich: 116 Porträts auf 114 Bogen. «Ob sie alle physiognomisch richtig sind, das kann ich nicht versprechen, aber die mehresten sind recht ähnlich.»

In Zarskoje Selo ist General Grigorij Potemkin zu Gast bei Zarin Katharina. Ende des Monats wird er ihr Liebhaber sein.

5 Mi Heinrich Wilhelm von Gerstenberg, Dichter und Literat, schreibt aus Kopenhagen an Goethe: Er hoffe, dessen Erfolg (mit dem Götz von Berlichingen) möge «in Deutschland ein Publikum von Deutschen wirken». In Erfurt wird das katholische ‹Emmericianische› Gymnasium eröffnet, gestiftet vom Landesherrn, dem Mainzer Fürstbischof Emmerich Joseph von Breidbach. Erster Direktor ist Christian Joseph Jagemann.

6 Do Der Bretone Yves Joseph de Kerguelen erreicht zum zweiten Mal nach 1772 eine Inselgruppe im Südindischen Ozean, die er nun für Frankreich in Besitz nimmt. Er hinterläßt eine Botschaft in einer Flasche. (James Cook wird sie 1776 finden und die Inseln nach Kerguelen benennen.)

Aus Darmstadt übersendet Johann Heinrich Merck, eben zum Kriegsrat ernannt, Markgräfin Caroline Louise von Baden «ein Kistgen mit Mineralien», das ihm Ludwig Heinrich von Nicolay, der Privatsekretär des Zarewitsch Pawel, in St. Petersburg für die Fürstin mitgegeben hatte.

In der Hauskapelle des Barnabiten-Kollegs St. Martin in Mistelbach, 40 Kilometer nördlich von Wien, kleidet Pater Eustachius Weiss nach der Vesper den 16jährigen Karl Leonhard Reinhold als Novizen ‹Don Pius› ein. Reinhold, der bisher Jesuitenschüler war, hatte seit November 1773 im Wiener Barnabiten-Kolleg St. Michael gelebt.

7 Fr Johann Caspar Lavater schreibt aus Zürich rhapsodisch an Goethe, den er persönlich noch nicht kennt: «O belebe mich, und tödte Meine Schwachheit; starker Goethe!»

In Lyon beginnen Jean Baptiste Willermoz und Louis Claude de Saint-Martin, der eben sein Buch Des erreurs et de la vérité beendet hat, Vorträge über Hochgrad-Freimaurerei und Theosophie zu halten (Leçons de Lyon, bis zum 23. Oktober 1776).

Im Wandsbecker Bothen bemerkt der Redakteur Matthias Claudius en passant: «Man spricht nun von einer Vermählung des Herzogs von Weimar mit der jüngsten Prinzeßin von Hessen-Darmstadt.»

Louis Claude de Saint-Martin (nach zeitgenössischer Zeichnung)

8 Sa Goethe fordert von dem Hainbündler Heinrich Christian Boie in Göttingen, der den Götz mit verbreitet hatte, für die «150 Ex. auf zweymal» Geld oder wenigstens Papier.

Gleim regt seinen Halberstädter Dichterkreis (Georg Jacobi, Klamer Schmidt, Heinse sowie Lehenssekretär Gleim, ein Neffe) an, «eine kleine Winterlustbarkeit» zu veranstalten: Jeder solle allmorgendlich ein Spottgedicht «über Critiker und Journalisten» in eine zirkulierende Büchse stecken; die Beiträge verlese man sonnabends «nach dem Concert» anonym und rate die Autoren. Das Spiel wird bis Ende 1778 fortgehen. Anfangs richten sich viele Pasquille gegen den Berliner Verleger Friedrich Nicolai («Nickel»), aber auch gegen Christoph Martin Wieland und dessen seit einem Jahr existierenden Deutschen, neuerdings Teutschen Merkur.

Von Tubac (Arizona) bricht Juan Bautista de Anza auf, um eine Passage nach Kalifornien zu suchen. Ihn begleiten 20 Soldaten, drei Padres und 11 Diener mit 140 Pferden, 35 Maultieren und 65 Rindern.

9 So Die 17jährige Maximiliane, Tochter des kurtrierischen Rats Georg Michael La Roche und seiner Frau Sophie, einer bekannten Schriftstellerin, heiratet in der Schloßkirche von Ehrenbreitstein den 38jährigen Frankfurter Kaufmann Peter Anton Brentano, mit dem sie in wenig glücklicher Ehe zwölf Kinder haben wird. Ein Trauzeuge ist Quirin Joseph d’Ester aus dem nahen Vallendar.

Wieland schreibt an Gleim, er mißbillige Wilhelm Heinses «Schwärmerei», auch «den muthwilligen Ton der Reue».

Jakob Philipp Hackert: Ausbruch des Vesuvs am 12. Januar 1774

In Paris stirbt Jacques François Blondel, ein bedeutender Architekturlehrer und Fachautor der 1772 zunächst abgeschlossenen Encyclopédie.

10 Mo Mecklenburg-Schwerins Geheime Räte empfehlen ihrem pietistischen Herzog Friedrich, daß sich sein Neffe und designierter Thronfolger Friedrich Franz mit Louise von Hessen-Darmstadt vermählen solle, die er 1773 auf ihrer Durchreise über Travemünde nach Rußland in Ludwigslust kennengelernt hatte. (Sie wird sich aber am 18. Dezember 1774 für Carl August von Sachsen-Weimar entscheiden.)

Goethe bittet als Anwalt des Dorfes Nieder-Erlenbach gegen Dörchelweiler um Fristverlängerung. Es geht um die Verpflichtung zu Heufuhren.

11 Di Benjamin Franklin, Vertreter von Massachusetts in London, wird vor dem Privy Council beschuldigt, durch ihn seien Briefe publik geworden, die Thomas Hutchinson, den Gouverneur von Massachusetts, diskreditieren. Konsterniert bittet Franklin um Vertagung auf den 29. Januar.

12 Mi Der Vesuv bricht aus. Jakob Philipp Hackert hält die Szene auf einem Gemälde fest.

In Rom besichtigen Fragonard und Bergeret die Peterskirche, die vatikanische Bibliothek und die Engelsburg.

In Göttingen beobachtet der Physikprofessor Georg Christoph Lichtenberg trotz strenger Kälte nachts den am 12. Oktober 1773 von Charles Messier entdeckten Kometen.

13 Do Goethe sendet dem jungen Bruder seiner Freundin Lotte, Hans Buff in Wetzlar, als «praemium virtutis et diligentiae» zwei Schaumünzen, darunter einen Frankfurter Heller.

In Ilsenburg stirbt mit 26 Jahren der vielversprechende Kritiker und Literat Ludwig August Unzer, dessen letztes Buch gerade erschienen ist (→ 36). Der Göttinger Hainbündler Johann Martin Miller schickt, wie erbeten, an seinen Bekannten, den Dichter Gottfried August Bürger, Amtmann in Gelliehausen, Geburtstagsverse für die Familie Leonhart in Niedeck. Bürger nennt am 19. Januar nur das erste Gedicht gut, «mutatis mutandis».

14 Fr Der junge Johannes Müller kündigt seine Professur des Griechischen am ‹Collegium Humanitatis› seiner Geburtsstadt Schaffhausen; er wird Hauslehrer bei Jacob Tronchin-Calandrini in Genf.

In diesen Tagen beginnt Goethe das Drama Claudine von Villa Bella. (Fertiggestellt wird es erst von April bis Juni 1775.)

15 Sa Goethe weist als Anwalt von Nieder-Erlenbach gegen Dörchelweiler nach, daß seine Mandanten nie zur Heufuhr nach Frankfurt verpflichtet gewesen seien. Als Verteidiger des Isaak Herz Bonn (Prozeßübernahme von seinem juristischen Mentor Hieronymus Peter Schlosser) macht er gegen Alexander Jacob Rindskopf eine Eingabe um verkaufte Wechsel.

Maximiliane Brentano zieht zu ihrem Ehemann in den Nürnberger Hof› nach Frankfurt; ihre Mutter Sophie La Roche begleitet sie. Goethe verkehrt in ihrem Kreis, zu dem auch der Dechant Dumeiz zählt. Merck reist nach Frankfurt, um das neue Paar zu besuchen.

Johann Gottfried Herder, Hofprediger und Konsistorialrat in Bückeburg, schreibt an Lavater in Zürich. Er empfiehlt Goethe – der sei ein «großer Zeichner» wie Johann Heinrich Füßli.

A.G. Kästner (PhFr 4: 375)

In Göttingen unterbreitet der Mathematiker Abraham Gotthelf Kästner der Sozietät der Wissenschaften die Angaben seines Kollegen Georg Christoph Lichtenberg zur scheinbaren Bahn des beobachteten Kometen.

In Paris wird Voltaires Tragödie Sophonisbe an der Comédie Française uraufgeführt. Das schon 1769 gedruckte Stück wird verlacht und ausgepfiffen, erlebt aber immerhin 14 Vorstellungen.

16 So In der Reimser Abtei Saint-Remi zerstört ein Großfeuer am frühen Morgen weite Teile der alten Konventsgebäude. Friedrich der Große schreibt an Voltaire. Mit ausgesuchter Höflichkeit zeigt er sich befremdet, daß er in dessen – ihm zugeeignetem – Poem Tactique Sticheleien lesen muß wie: «Je haïs tous les héros, depuis le grand Cyrus…Je m’enfuis loin d’eux tous, et je les donne au diable.» Friedrich erwidert: «Il y a eu des guerres depuis que le monde est monde, et il y en aura longtemps après que vous et moi aurons payé notre tribut à la nature.»

17 Mo Merck erwirbt in Darmstadt für 4200 Gulden das Haus der Majorswitwe von Hill am Mathildenplatz.

18 Di Im Schloß von Versailles stirbt Louis de Conflans, Marquis d’Armentières, Marschall von Frankreich, an einem Gehirnschlag.

Der 16jährige Prinz Carl August von Sachsen-Weimar wird zum «Rector Magnificentissimus» der Universität Jena ernannt.

19 Mi Im schottischen Dunfermline stirbt Thomas Gillespie, der als Geistlicher im Mai 1752 kirchlich relegiert worden war, aber weiter gepredigt und 1761 die «Relief Church» mitbegründet hatte. (Sie wird zur wichtigen Vorläuferin der presbyterianischen Freikirche von 1847.)

Marquise du Deffand in Paris schwärmt einer Bekannten, der Duchesse de Choiseul, von ihrem neuen Schoßhündchen Ton-ton vor. (Bald zur Plage geworden, wird das Tier sein Leben bei Horace Walpole in Strawberry Hill beschließen.)

20 Do Florian Leopold Gaßmann, Wiens Hofkapellmeister, stirbt. Nachfolger wird sein Schützling Antonio Salieri.

21 Fr In Konstantinopel stirbt um 12: 30 Uhr Sultan Mustafa III., ein Bewunderer Friedrichs des Großen. Ihm folgt sein Bruder Abdulhamid. Goethe trifft abends «im Conzert» Sophie La Roche.

22 Sa Goethe holt Maximiliane Brentano zum Schlittschuhlaufen ab; er leiht sich von seiner zuschauenden Mutter ihren roten, zobelverbrämten Samtrock und läuft damit, auf dem Kopf eine braune Pelzmütze, unter den Brückenbogen des vereisten Mains.

Amalie, zweite Tochter der Landgräfin Caroline von Hessen-Darmstadt, verlobt sich mit dem Erbprinzen Carl Ludwig von Baden.

Kriminalrat Theodor Gottlieb Hippel schreibt aus Königsberg an seinen Bekannten Johann George Scheffner: «Haben Sie den Götz von Berlichingen gelesen? Ein herrliches Stück. Empfindung, Kraft im Ausdruck! alles, nur keine Regel!»

23 So Merck reist aus Frankfurt zurück nach Darmstadt.

Gotthold Ephraim Lessing, Bibliothekar in Wolfenbüttel, bittet Herzog Carl um Vorauszahlung von drei Quartalen seines Gehalts.

24 Mo In Kanters Königsbergischen Zeitungen nennt Johann Georg Hamann den zweiten Teil von August Ludwig Schlözers Vorstellung einer Universalhistorie, der gegen Herder wütet, rundweg eine «Zahnbrecherey»; Schlözer sei der «Held seiner eigenen Dunciade» geworden.

In Braunschweig bringt Hofrat Johann Friedrich Unger, bis 1763 Bürgermeister Göttingens, den Entwurf

einer Maschine heraus, wodurch alles, was auf dem Clavier gespielet wird, sich von selber in Noten setzt. Unger hatte 1745 den Einfall gehabt und ihn 1752 der Berliner Akademie erläutert; der Mechaniker Gottfried Hohlfeld baute dann das Gerät. Die «Noten» sind Tintenstriche auf einer breiten Papierrolle.

Noten-Aufzeichnung durch Ungers Maschine (Tafel aus dem Buch)

In Berlin wird zu König Friedrichs Geburtstag von der Kochischen Gesellschaft Lessings Philotas uraufgeführt, außerdem Das Opfer der Nymphen, eine Oper von Johann Abraham Peter Schulz auf ein Libretto Ramlers.

25 Di In Marblehead bei Boston stürmen nach heftigen innerstädtischen Auseinandersetzungen etwa 20 verkleidete Bürger in den frühen Morgenstunden das Essex Hospital, die neuerbaute Pocken-Impfstation auf der Katzeninsel, und brennen sie nieder.

Goethe schickt eine Abschrift von Ein Veilchen auf der Wiese stand an seine Bekannte Lotte Jacobi, Stiefschwester von Georg und Fritz Jacobi.

Lavater schildert Goethe brieflich seine eheliche Harmonie.

26 Mi Der schwedische Botaniker Carl Peter Thunberg kehrt von seiner zweiten Expedition, die ihn durch Südafrika bis an den Sonntagsfluß brachte, wieder nach Kapstadt zurück.

27 Do John Wilkinson, Metallfabrikant in Bersham südöstlich von Wrexham im nördlichen Wales, erwirbt das englische Patent Nr. 1063 auf «eine neue Methode, eiserne Geschütze oder Kanonen zu gießen und zu bohren». Sie bringt James Watt und Matthew Boulton, die von Mai 1774 an in Birmingham Dampfmaschinen konstruieren, erheblich voran.

Herder reist auf drei Tage nach Hannover, um sich bei dem Minister von Bremer als Kandidat für eine Professur der Theologie in Göttingen vorzustellen. Er lernt in diesen Tagen Johann Georg Zimmermann kennen.

In Salzburg feiert Mozart seinen achtzehnten Geburtstag.

In diesen Tagen erscheint in Frankfurt die zweite rechtmäßige Auflage des Götz von Berlichingen (→ 54).

28 Fr Der junge Sprachforscher William Jones wird des Geldes wegen Barrister am Londoner Middle Temple, wo er seit 1770 die Rechte studiert hat. Eben sind seine 1766–1769 geschriebenen Poeseos Asiaticae commentariorum libri sex erschienen (→ 76), die ihm sogleich europaweiten Ruf als Orientalist eintragen.

29 Sa Friedrich Schiller, Militär-Eleve an der Stuttgarter Karlsschule, soll schriftlich die Frage seines Herzogs beantworten: «Wer unter Euch ist der Geringste?» Er legt sich – wie andere – in lateinischen Distichen («Dux Serenissime!») auf den Mitschüler Karl Kempff fest.

Benjamin Franklin wird – in Gegenwart Edmund Burkes und anderer Freunde – vor dem Londoner Privy Council vom Kronanwalt Alexander Wedderburn über eine Stunde lang abgekanzelt und verliert das Amt des ‹Postmaster›. Fortan streitet er für die Unabhängigkeit der Kolonien.

Am Karneval von Neapel nehmen mehr als 50 Engländer teil, auch der Gründer Britisch-Indiens, Robert Lord Clive. Daheim wegen Veruntreuung verurteilt, nimmt der kränkelnde Mann zu viel Opium zu sich. Im Hoftheater gibt man eine Neufassung von Glucks Orfeo ed Euridice (1762), um zwei Arien ergänzt von dem Dilettanten Diego Naselli. Abbé Fernando Galiani besucht erstmals wieder einen Ball, gewandet im Domino.

Marie Antoinette (J. Fr. Janinet, 1777)

30 So Auf dem Pariser Opernball freundet sich die maskierte Dauphine Marie Antoinette mit dem auf seiner Grand Tour anwesenden schwedischen Grafen Hans Axel von Fersen an, ohne daß er ihre Identität errät. (1791 wird er die Flucht des Königspaars nach Varennes mit organisieren.)

In Versailles stirbt nachts Jean Pierre Guignon (Giovanni Pietro Ghignone), bis 1750 letztes Haupt der ‹Fiedlerzunft› (Roi des ménétriers). In Wien stirbt Franz Seraph Tuma, der 1742–1768 Kapellmeister der Kaiserinwitwe gewesen war, ein Schüler von Johann Joseph Fux.

31 Mo Johann Heinrich Voß, Student in Göttingen, schreibt an «Ernestinchen» Boie in Flensburg. Er fragt: «Werd’ ich denn jemals das Glück haben, Sie zu sehn?»

Sophie La Roche reist von Frankfurt heim nach Ehrenbreitstein.

Um «11 heures et ½ du Soir» gratuliert Wilhelmine Luise von HessenDarmstadt, die seit 1773 als ‹Natalia Alexejewna› mit dem Zarewitsch Pawel Petrowitsch verheiratet ist, ihrer Schwester Amalie zur Verlobung mit dem Kronprinzen von Baden: «Vous verrez dans une année d’ici qu’il n’y a rien de si heureux que de trouver dans son mari son meilleur ami et de pouvoir avoir en lui toute confiance.»

Dr. Wassermanns Wörterfluten

Johann Christoph Adelung (Stich von Geyser nach Graff, um 1785)

[Johann Christoph Adelung:] Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen. [Fünf Teile] Leipzig, verlegts Bernhard Christoph Breitkopf und Sohn, 1774. [bis 1786] 4 Bände mit (2), xvi, 64 S. und 1 Falttafel, 1840 Sp.; viii S., 1856 Sp.; (6) S., 1716 Sp.; (8) S., 1704 Sp., (4) S., 476 Spalten.

Nach dem Vorbild Italiens (1612) übte die Académie Française seit 1694 ein lexikalisches Wächteramt aus; in England wurde Dr. Samuel Johnsons Dictionary (1755) maßstäblich. Im zersplitterten Deutschland hatten Schottel (1663) und Stieler (1691) zwar Anfänge gemacht, aber System und Norm fehlten. Dem Pfarrerssohn Adelung, der nicht einmal akademische Würden trug, gelang die patriotische Herkulestat: Auf Anregung des weitblickenden Verlegers Breitkopf verwirklichte er von 1768 an, was der Leipziger Literaturpapst Johann Christoph Gottsched im Gefolge seiner Deutschen Sprachkunst (1748) geplant hatte. Bis auf die «ganz pöbelhafte» Ausdrucksweise sind alle Stilebenen berücksichtigt, auch Fremdwörter wie «Anarchie», «Barnabit» oder «Ekliptik» finden sich, und überraschend häufig gibt es Hinweise zur Etymologie. Neueste Dichtung hingegen kommt nicht vor, denn literarisch hielt Adelung an Gellert, Weiße und Hagedorn fest; als «Wegweiser» sah er sich gar in der Not, daß er für sein Ideal des meißnischen Deutsch «keinen classischen Schriftsteller im schärfsten Verstande» auswerten könne. Auch deshalb sind nur sporadisch Quellen genannt. Fast unmittelbar nach seinem vordatierten Erscheinen zur Michaelismesse 1773 galt das wuchtige Opus als Standardwerk; Goethe erwarb 1780 ein Exemplar. Zwar warnten die Xenien 1796 vor den Wörterfluten des «Dr. Wassermann», und der Sprachvirtuose Christoph Martin Wieland, von dem hier kein Vers zitiert ist, fand es schon ein wenig demütigend, «wie oft ich täglich diesen Hund nachschlage, aus Angst, ein undeutsches Wort zu schreiben». Aber das Ziel war erreicht: Alle fühlten sich in die Pflicht genommen; der monumentale Umfang des Werkes schlug zudem lange jede Konkurrenz aus dem Feld. Schon 1781 ließ der Spätaufklärer eine gründliche Sprachlehre folgen. Als Jacob Grimm 1854 sein Deutsches Wörterbuch einleitete, dessen Schlußband erst 1961 erscheinen sollte, blickte er in anerkennender Ausführlichkeit auf Adelungs bahnbrechende Fleißarbeit zurück: Sie sei ein «durchgearbeitetes und beharrlich ausgeführtes werk», bei dem «alles aus einem gusz und reiflich erwogen» war.

Adelung plante als Schlußteil des fünften Bandes noch ein Supplement, ließ dann aber von 1793 an gleich eine neue Gesamtauflage erscheinen. Das vorliegende Exemplar gehörte dem Benediktiner Amandus Hoecker, Bibliothekar im Kloster Oberaltaich; er hat sich auf dem Titel liebevoll in Druckbuchstaben unter dem Bärensignet von Breitkopf verewigt und vor den Titel auch ein lebendiges Porträt Adelungs geklebt, das Christian Gottlieb Geyser um 1785 nach einem Porträt von Anton Graff radierte.

Formbewußt und glaubensfern

[Ludwig August Unzer:] Nachrichten von den ältern erotischen Dichtern der Italiener. Hanover, in der Hofbuchhandlung bey den Gebrüdern Helwing, 1774. 142 S.

Unter den jungen Adepten des physiokratischen Freigeistes Jakob Mauvillon war der frühreife Ludwig August Unzer aus Wernigerode der kühnste. In ihrem 1771/72 gedruckten Briefwechsel Über den Werth einiger deutschen Dichter hatten beide den eben gestorbenen Gellert zur überschätzten «Puppe» erklärt; mit teils unverblümten Devisen auf deutsche Gelehrte, Dichter und Künstler legte Unzer 1772 nach. In wachsender Freundschaft zu dem Atheisten Heinrich Friedrich Diez schrieb er Zehn geistliche Gesänge (1773), in denen der Deismus sich noch tarnte, dann Vermächtnisse für Zweifler, worin er alle «künstlich zusammengekitteten Religionssysteme» ablehnte; auch sie wurden im Herbst 1773 anonym gedruckt. Vor allem aber wollte Unzer als Kritiker und gelehrter Poet wirken. Seine Neugier und Experimentierfreude waren grenzenlos: Über ein Trauerlied «im chinesischen Geschmack» schüttelten auch Freunde den Kopf. Selbst ein chinesisches Sonett schrieb Unzer; im Halberstädter Kreis um Gleim hatte er mit dem Petrarca-Kenner Klamer Schmidt anhand von Johann Nicolaus Meinhards Versuchen (1763/64) die Welt der frühen italienischen Liebesdichtung entdeckt. Die 31 Kurzporträts seines Büchleins, jedes mit einer beigefügten Stilprobe im Original, fassen in kennerischer Eleganz über hundert eng bedruckte Seiten aus dem zweiten Band von Crescimbenis grundlegender Istoria dell volgar poesia (1698/ 1730) zusammen; es folgt als Zeitpanorama ein Leben des Polizian nach Serassi (1747). Petrarca und Ariost werden gepriesen; zudem wirbt Unzer für die Form des Sonetts, die «Anmuth, Natur und Schicklichkeit», also reineren Seelenton erlaube. Fast eine lessingsche Rettung: Hatte Gottsched doch Sonette für poetischen «Unrat» erklärt und auch sein Gegenspieler Bodmer vom «Bette Prokrusts» gesprochen. Zwar lehnt Unzer wie Crescimbeni die hochbarocke Sinnklimperei ab, will aber zugleich den Anakreontikern um sich eine Lektion in formbewußter Ausdrucksstärke erteilen – visionär, nur zu früh. Nach Schmidts und Unzers Ansätzen konnte erst Gottfried August Bürger mit der Gattung Eindruck machen, als er 1789 gleich 17 amouröse, teils Petrarca nachempfundene Sonette drucken ließ. Das erlebte Unzer nicht mehr. Seit dem Ende seines Studiums litt er an Schwindsucht; schon Anfang 1773 empfand er sich als «eine baufällige Hütte». Am 19. Dezember 1773 traf Diez in Wernigerode ein letztes Mal den eben 25jährigen Freund. Sein beachtliches Überblicks-Werklein zur italienischen Liebesdichtung hat Unzer wohl noch gedruckt gesehen. Er starb am 13. Januar 1774, eine halbe Stunde vor Mitternacht, nachdem er allen christlichen Beistand «mit überlegenem Lächeln» verweigert hatte.

Pointen zur Tugend-Mode

[Theodor Gottlieb Hippel:] Ueber die Ehe. Ακούετε λεὼς, Σουσαρίων λέγει τάδε: / Κακὸν Γυναῖκες· ἀλλ’ ὅμως ὦ δημώται / ᾽Ουκ ἔςιν οἰκεῖν οἰκίαν ἄνευ κακοῦ. / Καὶ γὰρ τὸ γῆμαι, καὶ τὸ μὴ γῆμαι κακόν. Berlin, bey Christian Friedrich Voß 1774. viii, 230 S.

Sakrament oder «wechselseitiger Gebrauch» der Geschlechtsorgane mit legaler Sanktionierung (Kant), Wirtschaftseinheit oder Liebesbund: Um 1774 gab es sehr verschiedene Ansichten der Ehe. Juristen wie Ökonomen rieten, zur «Peuplierung» der Länder Heiratsschranken abzubauen. Dagegen heißt es hier: «Entvölkerung» beenden kann nur, wer «die Mode» durchschaut, «die man Tugend nennt». Neckisch pointiert, mit gelehrten Anspielungen und Rechtsformeln, dabei psychologisch hochsensibel und im zierlichen Rokoko-Seitenrahmen, plädiert der Autor für die Liebe als «Puls der Natur». Er erörtert meist dialogisch-keck das Für und Wider des Heiratens – ohne Zeigefinger, aber im Rahmen der Konvention: Der Mann regiert als «Seele über den Leib», sie soll «Frau sein wo er Herr ist». Der Verfasser mag das Konkubinat «kein Bubenstück» nennen, doch er schreibe «zur Ehre des Hauswesens», was bei Mädchen allerdings auch heißt: «Ihr sollt mit eurem Leibe die Natur preisen, und den Staat bereichern.» Wer mochte der Sammler dieser Einfälle und Zweifel sein? Unverheiratet sei er, hieß es im Buch nur. Lichtenberg dementierte alle Vermutungen nach Erscheinen der zweiten Auflage im Oktober 1775, Kant noch Ende 1796. Dabei hatte der junge Jean Paul schon 1781 mit feinem Ohr den Autor der Lebensläufe in aufsteigender Linie herausgehört. So war es: Hippel, vielseitig gebildet und 1773 in Königsberg zum Kriegsrat aufgestiegen, hatte jahrelang an dem Buch gearbeitet, viele private Erfahrungen reflektiert, wollte aber schon um der Karriere willen anonym bleiben. Die dritte und vierte Auflage seines hakenschlagenden Essays, doppelt so lang geworden und von Chodowiecki mit Titelkupfer und -vignette geziert, strich dann zeitgemäß auch die «Menschenrechte» der Damen heraus, obwohl Hippel, so spöttisch er formulierte, von Anfang an als «Vertheidiger der fraulichen Vorrechte» hatte gelten wollen.

Hippel (Stahlstich nach einer verlorenen Vorlage)

Das Buch kam, wie eine Briefnotiz Nicolais an Lavater nahelegt, schon deutlich vor der Ostermesse heraus. Sein Titelmotto, angeblich Verse des ältesten attischen Komödiendichters Susarion, findet sich bei Johannes Stobaios nach 400: Heiraten oder nicht, beides ist schlecht. Trotz einiger Setzfehler dürften gebildete Herren die eher misogyne griechische Sentenz erkannt haben. – Anfang 1775 erschien ein Heftchen von 16 Seiten, dessen Titel verblüffend ähnlich aussah: Versuch einer Sibylle über die Ehe. In diesem Bukett wohlgezielter Zitate konterkarierte Johann Georg Hamann, natürlich anonym, die Launigkeiten seines Bekannten Hippel, dessen Autorschaft er nicht ahnte, mit Bibelwucht und Buchhändlerscherz: Um des Staatsgötzen willen sollte man nicht heiraten, nur «um die älteste Maculatur des menschlichen Geschlechts fernerweit zu erfüllen» (ein Hieb auf Herders Älteste Urkunde des Menschengeschlechts, → 58). Das typisch verrätselte Werklein des selbst im Konkubinat lebenden Nachbarn war ein «Feuerstrahl der Selbsterkenntnis», aber auch eine verzögerte Gabe zur Hochzeit des Verlegers Johann Friedrich Hartknoch mit der Königsberger Kaufmannstochter Albertine Toussaint am 13. September 1774.

Piraterie unter Poeten

Almanach des Muses 1774. A Paris Chez Delalain Libraire Rue de la Comédie françoise [Dezember 1773]. (4), 233+(4), 4+(1) S.

Die Reihe der französischen Musenalmanache hatte Claude Sixte Sautreau de Marsy im Jahr 1765 begonnen; von 1766 an lieferte Michel Poisson die Kupfertitel. Bald war die taschentaugliche Sammlung aus Poesie und Notizen zum literarischen Leben fest etabliert. Durch Musikbeilagen noch attraktiver für die «Gens de Goût» in Adel und Bürgertum, hatten die Musenalmanache Erfolg in halb Europa. Der Jahrgang 1774 versammelt Tagesgrößen wie Dorat (immerhin mit Erstdrucken) und La Harpe, aber auch einige große Namen, darunter Voltaire und Diderot; im Vorwort werden die Leser erstmals dazu aufgefordert, ihre neuen Dichtungen beim Verleger einzureichen.

Schon 1769 verabredete Heinrich Christian Boie mit dem erst 1766 nach Göttingen berufenenen Verleger Johann Christian Dieterich eine entsprechende deutsche Blütenlese bekannter Dichter von Michael Denis bis hin zu Boies Gothaer Freund Friedrich Wilhelm Gotter, samt zwölf Monatskupfern von Johann Wilhelm Meil. Aber vier Wochen vor deren Erscheinen brachte der damals in Leipzig tätige Literat Christian Heinrich Schmid einen Almanach der deutschen Musen auf das Jahr 1770 heraus, ein Piratenprodukt, das zum Teil aus entwendeten Druckfahnen gespeist war. Dagegen konnte sich Boie nur wehren, indem er fortan fast ausschließlich neue Texte brachte. Sein fünfter und letzter Almanach auf das Jahr 1774, den man für 16 Groschen bekam, sollte poetisch Epoche machen: Neben den Hainbündlern und ihrem Helden Klopstock traten Claudius, Herder, Merck und Goethe auf; C. P.E. Bach und Gluck lieferten Vertonungen. Unter den Dichtungen, die zwischen Liebeständelei, Epigramm und teutschem Bardiet abwechseln, ragt Bürgers Schauerballade Lenore