Wespen. Eine Versöhnung - Seirian Sumner - E-Book

Wespen. Eine Versöhnung E-Book

Seirian Sumner

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Beschreibung

Über die faszinierende Welt der Wespen


Wespen gelten als die Gangster der Insektenwelt, als geflügelte Mörder mit gewaltigen Stacheln, als biblische Strafe und Inspiration für Horrorfilme. Was hat zu diesem miserablen Image geführt? Und haben sie diesen Ruf verdient?

Die britische Entomologin und Verhaltensökologin Seirian Sumner hat jahrelang das Wesen der Wespen erforscht und bringt uns ihre Welt auf faszinierende Weise näher: Denn Wespen führen nicht nur ein hochentwickeltes (wie unterhaltsames) Sozialleben, sie sind auch natürliche Schädlingsbekämpfer; zum Beispiel gegen Raupen und Kleidermotten. Ohne ihre Bestäubung könnten wir keine Feigen ernten, mit ihrem Geruchssinn stellen sie jeden Spürhund in den Schatten, und Bestandteile ihres Gifts spielen bei der Bekämpfung von Krebszellen zunehmend eine Rolle.

Mit einem Wissen, das seinesgleichen sucht, öffnet uns Sumner die Augen für den tragisch verkannten Nutzen der Wespen, für ihren evolutionären Einfallsreichtum, ihre Vielfalt und Schönheit.


»Wären Sie eine Wespe, würden Sie sich Sumner als Botschafterin wünschen.«

The Guardian


»Eine witzige und wunderschön geschriebene Einladung in die Welt der Wespen.«

Dave Goulson, Autor des Bestsellers ›Und sie fliegt doch‹

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Seitenzahl: 542

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Die englische Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel Endless Forms bei William Collins, einem Imprint von HarperCollinsPublishers, UK.

© 2022 by Seirian Sumner © 2023 für die deutschsprachige Ausgabe by HarperCollins in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Covergestaltung von Designbüro Lübbeke Naumann Thoben GbR Coverabbildung von Look and Learn / Bridgeman Images |GRANGER - Historical Picture Archive / Alamy Stock Photo, Universal Images Group North America LLC / Alamy Stock Photo E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck ISBN E-Book 9783749950904www.harpercollins.de

Vorbemerkung der Autorin

Die Illustration auf dem Umschlag trägt den Titel »Die unzufriedene Wespe« und stammt aus dem Buch des schottischen Kinderbuchautors Robert Michael Ballantyne: Zwei Kätzchen auf Pilgerreise oder Die großen Schlachten und Siege des Lebens (1892).

In dem Bilderbuch schickt eine Katzenmutter ihre beiden Kätzchen auf eine abenteuerliche Monsterjagd. Die Monster verkörpern schlechte Launen und Angewohnheiten, in welche die Kätzchen verfallen, sobald sie auf die Monster treffen. Jedes von ihnen ist ein Gestaltwandler: Zunächst ähneln die Monster verschiedenen Tieren, doch sobald sie verletzt werden, verwandeln sie sich in ihre natürliche Gestalt zurück, in der sie besiegbar werden. Den Kätzchen kommt die schwierige Aufgabe zu, jedes einzelne Monster zu bezwingen. Erst, wenn sie das erreicht haben, sind sie um eine wertvolle Erfahrung reicher: Denn sie haben gelernt, den »großen Schlachten« des Lebens entgegenzutreten und ihre schlechten Launen und üblen Angewohnheiten in Schach zu halten. Die Wespe verkörpert das Monster der Unzufriedenheit und des Ärgers. Sobald sie ihr begegnen, werden die Kätzchen sehr reizbar. Um die Wespe zu besiegen, müssen die Kätzchen sie stets im Auge behalten, dabei aber immer fröhlich bleiben. Nur so entkommen sie ihren Stichen. Das ist kein schlechtes Motto für ein Buch, das uns mit den Wespen versöhnen will: Lasst uns diese Tiere nicht mit Ärger und Unzufriedenheit, sondern mit Spaß und Neugier betrachten. Vor allem aber: Lasst uns die Wespe nicht aus den Augen verlieren, um die unendliche Vielfalt ihrer Arten und Angewohnheiten stets bewundern zu können.

Widmung

Meinen Eltern, Frances und Graham, für ihre grenzenlose Liebe und Unterstützung

EINLEITUNG

»… und Bücher, die mir alles über die Wespe mitteilten, bloß nicht, warum es sie gibt.«

Dylan Thomas (1947)

Als ich drei Jahre alt war, lebte ich in einem verlassenen kleinen Dörfchen namens Cribyn im Westen von Wales. Auf der Karte ist es leicht zu übersehen. Aber damals war es meine ganze Welt.

Ich erinnere mich noch an den Garten. Es war ein sehr feuchter Garten – Wales eben. Vielleicht lag es an der Feuchtigkeit, vielleicht auch am Selbstgebrauten meines Vaters, das auf der Veranda vor sich hin blubberte, jedenfalls gab es in dem Garten viele Nacktschnecken. Um ehrlich zu sein, ist meine Erinnerung etwas vage, aber an die Schnecken erinnere ich mich genau, weil ich eines Tages eine davon aß. Meine Mutter war entsetzt. Schnecken, so erklärte sie mir, seien widerliche Kreaturen.

Manche Menschen streuen Salz auf die Schnecken, wenn sie ihre silbrigen Spuren auf der Terrasse oder auf dem Salat im Beet hinterlassen, ohne darüber nachzudenken, wozu die Natur sie eigentlich braucht oder was sie hinter den Kulissen für uns leisten. Menschen streuen auch diverse Chemikalien auf diverse Dinge in der Natur, die ihnen nicht gefallen. Mein kindliches Ich fragte sich, warum man nicht einfach die Dinge aß, die man aus der Natur loswerden wollte.

In diesem Buch geht es nicht um Schnecken. Ich habe heute eigentlich gar kein Interesse mehr an Schnecken. Aber möglicherweise liegt in jener Schnecke, die ich einst in einem verlassenen Dorf im schönen, feuchten Wales verspeiste, meine Faszination für Wespen begründet.

Menschen hassen Schnecken, genauso wie Spinnen, Würmer, Blutegel, Zecken. Und Wespen. Vielleicht erklärt der Zwischenfall mit der Schnecke also, warum sich mein Interesse an Schnecken direkt auf Vögel übertrug, ohne den Umweg über all die anderen Krabbeltierchen, die ich gelernt hatte zu verabscheuen. Dazu zählten auch Wespen. Die mochte ich gar nicht. Wenn eine Wespe angeflogen kam, fuchtelte ich wild mit meinen Händen herum, schrie, schlug nach ihr, rannte weg. Genau wie Sie es vielleicht tun. Seit Sie drei Jahre alt sind.

Dann lag ich eines Tages mit einem Wespennest über der Nase in einem malaysischen Regenwald auf dem Boden. Für meine Dissertation hatte ich jeder einzelnen Wespe Punkte aufgemalt, um sie voneinander unterscheiden zu können. Die so markierten Insekten hatte ich über mehrere Wochen beobachtet. Ich sah, wie sie auf die Welt kamen, wie sie um einen Platz in ihrer Gesellschaft rangen, wie einige selbst zur Mutterschaft aufstiegen und sich andere in ein Leben harter Arbeit fügten. Da war es geschehen: In meinem Staunen über ihr Verhalten begann meine Liebe zu den unbeliebtesten, rätselhaftesten aller Insekten – den Wespen.

25 Jahre später stelle ich immer noch Fragen über Wespen, wenn auch (bedauerlicherweise) meist von meinem Büro im University College London aus und nicht im tropischen Regenwald. Je weiter ich vordringe, desto mehr Fragen (und Wespen) entdecke ich: Warum gibt es so viele Arten? Warum sind Wespen in ihrer Form und Funktion so vielfältig? Wie gelingt es ihnen, andere Insekten so erfolgreich zu manipulieren? Warum sind die Gesellschaftsformen der Wespen derart hoch entwickelt, dass unsere eigenen dagegen eher an kindliches Rollenspiel erinnern? Warum machen wir uns die Funktion der Wespen als Schädlingsbekämpfer nicht besser zunutze?

Wenn ich fremden Menschen meine Arbeit erkläre, bekomme ich wiederum andere Fragen zurück: Warum sollte man sich überhaupt für Wespen interessieren? Was tun sie für uns? Warum erforschen Sie sie? Warum erforschen Sie nicht lieber etwas Nützliches … wie Bienen? Dann erkläre ich, dass Wespen natürliche Schädlingsbekämpfer sind, dass sie wahrscheinlich sogar noch artenreicher sind als Käfer, dass eine Welt ohne Wespen ebenso verheerend wäre wie eine Welt ohne Bienen, ohne Käfer, ohne Schmetterlinge. Meine neuen Bekannten drehen und winden sich, schuldbewusst wie eine Plastiktüte in einem Biomarkt. Doch als das »B«-Wort fällt, wittern sie ihre Chance und erzählen mir, wie toll sie Bienen finden. Endlich wieder ein sicheres Thema. Die Wespen sind vergessen, abgelegt wie eine Werbesendung, die man ungeöffnet zum Altpapier gibt, und meine Gegenüber sind erleichtert, dass die (Wespen-)Unterhaltung beendet ist.

Ich kann es ihnen nicht einmal verübeln. Bienen sind nett, süß und nützlich. Wir lieben sie, und das völlig zu Recht. Allerdings gibt es gerade mal 22000 Bienenarten und über 100000 Wespenarten. Dennoch ist es heutzutage fast unmöglich, durch einen Buchladen zu gehen, ohne auf irgendein schön gestaltetes Bienenbuch zu stoßen. Geschrieben von Journalisten, Wissenschaftsautoren oder Akademikern, findet sich für jeden Käufergeschmack etwas Passendes. Diese Bände sind ein Produkt des Mediensturms, der durch immer neue wissenschaftliche Erkenntnisse über die wichtige Rolle der Bienen, die kritische Lage ihrer Bestände und die wahrscheinlich katastrophalen Auswirkungen des Bienensterbens auf unsere Gesundheit, Nahrungsmittelsicherheit und Zufriedenheit ausgelöst wurde. Kein Wunder, dass Leser einen schier unersättlichen Appetit auf Bücher über diese liebenswerten, nützlichen Organismen haben.

Im Gegensatz zu Bienen werden Wespen gerne als die Gangster der Insektenwelt dargestellt, als geflügelte Rowdys, Stoff für Horrorfilme, der »Stich« im Thrillerplot, Vollstreckerinnen biblischer Strafen. Shakespeare, ein Papst, Aristoteles, ja sogar Darwin – sie alle taten sich schwer, ein gutes Wort über Wespen zu verlieren, und stellten gar den Sinn ihrer Existenz infrage. Selbst Wissenschaftler sind dieser Kultur zum Opfer gefallen und meiden Wespen als Forschungsthema, trotz der endlosen Formenvielfalt dieser Lebewesen, die es noch zu erforschen gilt. Der Grund für unsere Abneigung gegen Wespen liegt wohl darin, dass sie stechen 1 , dass sie gerne auch mehrmals stechen 2 und dass sie allem Anschein nach in der Natur keinen Zweck erfüllen.

Für die meisten Leute sind Wespen das Yin (Schattenseite), die Bienen hingegen das Yang (Sonnenseite). Diese Analogie aus der chinesischen Philosophie ist in vielerlei Hinsicht passend. Sie spiegelt unsere Gefühle gegenüber Wespen (negativ) und Bienen (positiv) wider. Sie verdeutlicht, wie nützlich uns Wespen (überhaupt nicht nützlich) und Bienen (sehr nützlich) erscheinen. Und sie bildet die komplementären Rollen von Bienen (als Bestäuberinnen) und Wespen (als Räuberinnen) in Ökosystemen ab. Der Funktion der Wespen als Räuberinnen wurde bisher kaum Aufmerksamkeit geschenkt, was für mich einer der Gründe dafür war, dieses Buch zu schreiben. Wespen sind wichtig, in ökologischer wie wirtschaftlicher Hinsicht, und mit ihrem faszinierenden Sozialverhalten, ihrer Schönheit und Vielfalt und ihrer evolutionären Bedeutung als Vorfahren aller Bienen- und Ameisenarten haben sie ebenso viele »Sonnenseiten« wie die Biene.

Wespen tragen einen verborgenen Bedeutungsschatz für unsere eigene Kultur, unser Überleben, unsere Gesundheit und Zufriedenheit. Die »Geschichte der Biene« wurde von Wespen geschrieben. Und das noch bevor es Bienen überhaupt gab. Zudem waren es Wespen, die den Menschen zeigten, wie sie Papier herstellen konnten, auf dem das erste Buch über Bienen überhaupt geschrieben werden konnte. Dieses Buch soll die Waage ins Gleichgewicht bringen, den Wespen einen Platz an der Wertschätzungstafel der Natur bieten und den makabren Ekel, den Menschen gegenüber Wespen empfinden, in die Faszination verwandeln, die den Wespen zusteht.

Wenn Sie Bienen mögen, habe ich schlechte Nachrichten für Sie: Bienen sind schlichtweg Wespen, die vergessen haben, wie man jagt. Die »Urbiene« war eine solitäre Wespe, die zur Vegetarierin wurde, indem sie fleischliche durch pflanzliche Proteine – Pollen – ersetzte und damit die anhaltende evolutionäre Beziehung der Bienen zu den Pflanzen einleitete. Diese evolutionäre Ernährungsumstellung war jedoch nicht der Beginn der »Nützlichkeit«. Als Hauptregulator anderer Insekten- und Gliederfüßerpopulationen hatte sich der Vorfahre der »Urbiene« für die Umwelt bereits als ebenso nützlich erwiesen.

Wespen sind außerdem die Vorfahren der Ameisen; die erste Ameise war eine Wespe, die ihre Flügel verlor. Die heutigen solitären Raubwespen vermitteln uns einen Eindruck davon, wie die ursprünglichen Bienen und Ameisen ausgesehen haben. Wespen sind Zeitmaschinen, die uns die evolutionären Geheimnisse einer der komplexesten Spezies dieser Erde enthüllen. Neben den mindestens 100000 bekannten Wespenarten gibt es wahrscheinlich noch mehrere Millionen nicht beschriebener Arten, die nur darauf warten, systematisiert zu werden; dennoch wurde deren Vielfalt bisher weitgehend übersehen. Bei »Wespe« denkt die überwiegende Mehrheit von uns allein an die schwarz-gelb gestreiften Picknickplagen. Neue Daten und Techniken der Molekularbiologie (Genomsequenzierung), die es erlauben, evolutionäre Beziehungen (Phylogenesen) bis in die kleinsten Verästelungen zu entwirren, haben die Ermittlung von Arten revolutioniert. Dabei wird deutlich, dass Wespen es durchaus mit den Käfern aufnehmen können, nicht nur hinsichtlich der Anzahl ihrer Arten, sondern auch der Vielfalt ihrer Form und Funktion. Diese Wissenschaft lässt uns die Frage, welche Insekten auf der Erde nun wirklich das Sagen haben, erneut überdenken.

Was damals auf dem feuchten Waldboden eines malaysischen Regenwaldes meine Meinung über Wespen geändert hat, war das Drama in ihren Gesellschaften. Trotz ihres sehr kleinen Gehirns legen Wespen ein Seifenoper-Dasein an den Tag, das das unserer Fernsehserien in den Schatten stellt. Arbeitsteilung, Auflehnung und Überwachung, Monarchien, Führungsstreitigkeiten, Verwarnungen, Vermittler, Sozialparasiten, Bestatter … Kurz, eine Wespengesellschaft lässt nichts zu wünschen übrig. Diese Zitadellen sind Produkte der Evolution, und der Wunsch, das Wie und Warum ihrer Entwicklung zu verstehen, war bei meiner persönlichen Reise in die rätselhafte Welt der Wespen die treibende Kraft. Das Sozialverhalten der Wespen ist wirklich faszinierend, vielleicht weil es Parallelen zu unserem eigenen Sozialleben aufweist.

Die weithin bekannteste Bienenart ist die Westliche Honigbiene – Apis mellifera. Dank der jahrtausendelangen engen kulturellen Verbindung zwischen Mensch und Honigbiene haben wir ein gutes Verständnis von deren Verhalten und Lebensgeschichte und wissen, wie wir von ihrer »Nützlichkeit« als Bestäuber und Nährstofflieferant Gebrauch machen können. Wespen wurden dagegen in der Geschichte der Biologie eher stiefmütterlich behandelt, und unsere Kenntnis dieser erstaunlichen Wesen ist ziemlich kläglich. Ein gutes Beispiel dafür ist die Honigbiene der Wespenwelt – die Gemeine Wespe oder Vespula vulgaris –, zugleich die bekannteste aller Wespen und das meistgehasste Insekt der Welt. Vor gut 150 Jahren bemerkte Sir John Lubbock (1. Baron Avebury und Charles Darwins Nachbar), diese und ähnliche Wespenarten seien womöglich noch intelligenter als die Honigbiene. Erstaunlicherweise ist über die kognitiven Fähigkeiten von Wespen noch immer nicht viel bekannt, wahrscheinlich sind sie aber ebenso beeindruckend oder sogar noch beeindruckender als die der Bienen, denn ihre Beute ist schwieriger zu fangen. Die Erkenntnisse über das bemerkenswerte Sozialverhalten dieser Wespenarten werden Sie überraschen.

Der globale Wert der Bienen für die landwirtschaftliche Bestäubung liegt bei jährlich 350 Milliarden Dollar. Wie sieht es mit dem wirtschaftlichen Wert der Wespen aus? Man weiß es nicht. Sicher ist aber, dass Wespen gefräßige Räuber sind. Sie ernähren sich von verschiedensten (und sehr vielen) Insekten, darunter zahlreiche Arten, die als Schädlinge landwirtschaftliche Anbauflächen heimsuchen. Manche Wespen werden in ihrer Räuberfunktion bereits gewürdigt, so zum Beispiel parasitoide Wespen, die weltweit als biologische Schädlingsbekämpfer eingesetzt werden. Möglich, dass Sie sie bereits selbst einmal gekauft haben, um Ihr Haus von den gefürchteten Kleidermotten zu befreien.

Die Insekten aber, die von den meisten Menschen als Wespen erkannt werden – nämlich Beute jagende Wespen wie der Picknickstörenfried Vespula –, erhalten gegenwärtig keine Anerkennung für ihre schädlingskontrollierenden Fähigkeiten. Bislang wurde nicht wissenschaftlich berechnet, wie viele Tonnen von Insektenschädlingen durch Wespen aus den Agrarlandschaften beseitigt werden oder inwieweit Wespen eine wirtschaftlich tragbare Alternative zur chemischen Schädlingsbekämpfung sein könnten. Erst jetzt beginnen wir die ganze Bandbreite des Naturkapitals wertzuschätzen, das in der Artenvielfalt unserer Erde gebunden ist. Setzen Sie die Wespen frei, und Sie werden staunen, welches Potenzial sie als biologische Schädlingsbekämpfer einer chemikalienreduzierten, nachhaltigen globalen Landwirtschaft entfalten.

Einige der erstaunlichsten Geschichten der Evolution handeln von Wespen als Bestäubern. Man denke nur an die winzigen Feigenwespen, ohne die es die namensgebende köstliche Frucht nicht gäbe. Manche Orchideen ahmen (chemisch wie äußerlich) ein ziemlich reizvolles Wespenweibchen nach, das heißt, die Orchidee sieht nicht nur aus wie ein attraktives Weibchen, sie riecht auch so. Die Wespenmännchen taumeln heillos von Blüte zu Blüte und verteilen dabei, neben ihrem eigenen kostbaren Gut, die Orchideenpollen. Wieder andere Orchideen imitieren einen Duftstoff, wie ihn Pflanzen bei Raupenbefall freisetzen. Die gefräßigen Wespen erkennen das Signal und trudeln in der Hoffnung auf eine saftige Portion Proteine scharenweise ein, nur um dann gründlich enttäuscht und über und über mit Pollen bedeckt zu werden. Von diesen außergewöhnlichen Beispielen einmal abgesehen, ist die Wespenbestäubung ein ziemlich vernachlässigtes Thema. Und das, obwohl es eine ganze Unterfamilie von Wespen gibt, die sich ausschließlich von Pollen ernähren. Selbst ihr Name – »Honigwespe« – konnte das Interesse der Bestäubungsbiologen nicht vom Hauptaugenmerk auf Bienen, Fliegen und Schmetterlinge losreißen.

Wie würden sich die guten Taten der Wespen am perlmuttschimmernden Himmelstor der Wirbellosen mit denen der Bienen, Käfer, Schmetterlinge oder gar Schnecken messen? Wespen sind in Form und Funktion sagenhaft zahllos und (wahrscheinlich) artenreicher als jede andere Tiergruppe. Ihr Verhalten ist geheimnistuerisch, überraschend und rätselhaft, ihre Gesellschaften sind ebenso wundersam wie die der allseits beliebten Honigbiene. Als Schädlingsbekämpfer, Bestäuber, Samenverbreiter und Hüter von Mikroorganismen fungieren Wespen als Ordner unserer Ökosysteme. Sie sorgen vielleicht für das üppige Mahl, das auf unsere Tische kommt, könnten zum Maßstab für die Gesundheit unseres Planeten werden und sind ein wandelnder Medizinschrank, der nur darauf wartet, entdeckt zu werden.

Meine Hoffnung ist, dass dieses Buch das Geheimnis der Wespen aufdeckt, dass es Sie Ihre Meinung über Wespen überdenken lässt, dass es Ihnen Gründe gibt, sie wertzuschätzen, und dass es diesen unentdeckten Schätzen der Natur ein neues Wappen verleiht. Mit der verwirrenden Einfachheit der Kindheit beschrieb der Dichter Dylan Thomas 1952 seine Erinnerungen an Weihnachtstage in Wales. Unter sinnlosen Geschenken von vermeintlicher Bedeutung fanden sich auch »Bücher, die mir alles über die Wespe mitteilten, bloß nicht, warum es sie gibt«.

Dies ist das Buch, das Ihnen erklären wird, warum Wespen – die rätselhaftesten aller Insekten – eine genauere Betrachtung verdienen.

EINS: Das Problem mit den Wespen

EINS

Das Problem mit den Wespen

»Nennt Ihr mich Wespe, fürchtet meinen Stachel!«

William ShakespeareDer Widerspenstigen Zähmung

Einleitung

Das Problem mit den Wespen sind die Menschen. Wir sind oft ziemlich unverständig. Das ist nicht per se unsere Schuld – es gibt einfach so viel zu lernen und zu verstehen auf diesem bunten, vielfältigen Planeten. Wir fällen aufgrund mangelnder Erfahrung oft vorschnelle Urteile. Im Grunde versuchen wir nur, diese komplizierte Welt zu durchschauen. Wir sind wissensdurstige Wesen. Aber Halbwissen ist gefährlich.

Denken Sie zum Beispiel an mein Erlebnis mit der Schnecke. Als ich drei Jahre alt war, brachte mir die Gesellschaft bei, dass Schnecken widerlich seien. Dieses negative soziale Konstrukt übertrug ich auf alle Wirbellosen.

Bis mich die Wespen retteten.

Teil 1 dieses Buches wird Sie vielleicht überraschen. Das hoffe ich jedenfalls. Ich möchte Sie bitten, ihn bis zum Ende durchzulesen, andernfalls wird Ihnen der Rest des Buches vielleicht zu unglaubwürdig erscheinen.

I

»Das ist jetzt wahrscheinlich das schrägste Telefonat deines Lebens«, sagte Amit. »Also, unter den zugenähten Augenlidern des Opfers soll es sich winden, krümmen und wölben. Und dann sollen große, grässliche Wespen daraus hervorbrechen!« Begeistert fuhr er fort: »Ist das überhaupt möglich? Mit welcher Wespenart? Und wie?«

Der Thrillerautor Amit Dhand war überrascht zu hören, dass es natürlich eine Wespe gab, die das konnte. Bei so vielen Arten musste sich die Evolution ja auch etwas Passendes für sein Szenario ausgedacht haben. Eine auf Spinnen spezialisierte Wegwespe zum Beispiel, aus der Familie der Pompilidae, und zwar wahrscheinlich eine der tropischen Arten, die in der Regel zu den größten zählen.

»Aber wie können sie unter dem verschlossenen Augenlid atmen?«, fragte er. »Wovon ernähren sie sich?« Amit klang besorgt. Skeptisch.

Einer heranwachsenden Wespe könnte das Auge als Nahrungsquelle dienen, erklärte ich. Wie bei ihrer natürlichen Proteinquelle – erbeuteten und gelähmten Spinnen – könnte die Wegwespe ihr Ei im Auge ablegen. Aus dem Ei schlüpft dann eine Larve, die sich vom Augengewebe ernähren könnte, bis sie sich (wie eine Raupe) verpuppt und schließlich als ausgewachsenes Tier schlüpft. Sollte Amits Lesern die Biologie der Wespe noch nicht dramatisch genug sein, hätte er vielleicht mit einem der volkstümlichen Namen der Wegwespe Erfolg – manche Arten wurden als »Kehlenabschnürer« oder »Pferdetöter« bezeichnet. Amit konnte kaum fassen, dass für seine grausige Erzählung eine solche Lösung bereitstand (wenn auch mit ein wenig künstlerischer Freiheit). Es war nicht Science-Fiction, wonach er verlangt hatte – es war Evolution.

Tatsächlich hätte sich Amit für seinen Thriller City of Sinners eine von etwa 5000 Wegwespenarten aussuchen können. Einige der tropischen Arten erreichen die Größe eines kleinen Vogels – das hubschrauberartige Brummen ihrer Flügel hört man schon von Weitem. Ihr Gift, das zu den stärksten Insektengiften überhaupt zählt, lähmt jede noch so große Vogelspinne. Mit ihrer Schnelligkeit, ihrem paralysierenden Gift und ihrem launischen Verhalten gelingt es ihnen, Spinnen vom Mehrfachen ihrer eigenen Größe zu fangen. Ein Stich genügt, und die Beute ist Wachs in den Mandibeln der Wespenmutter. Anschließend zerrt sie die Spinne in ein vorbereitetes Versteck und legt ein Ei auf ihr ab. Wenn sich die Wespenlarve schließlich durch ihre persönliche lebendige Vorratskammer futtert, ist das Muttertier längst wieder auf der Jagd, um weiteren Nachwuchs zu versorgen. Bei dieser militärischen Operation ist kein Raum für liebevolle Aufzucht.

Amit Dhand ist nicht der erste Schriftsteller, der sich unsere schaurige Faszination für das Verhalten der Wespen zunutze macht. In Dutzenden Romanen spielen sie eine Rolle. So setzte Agatha Christie in ihrer Kurzgeschichte »Das Wespennest« von 1928 Wespengift als Mordwaffe ein. Eric Frank Russells 1957 erschienener Science-Fiction-Roman Der Stich der Wespe spielt mit der Vorstellung, welche Panik und Zerstörung eine Wespe in einem geschlossenen Raum anrichten kann, um zu erzählen, wie es einem kleinen, unscheinbaren (menschlichen) Eindringling von der Erde gelingt, eine Zivilisation von Außerirdischen mit wohlplatzierten Stichen zu vernichten. Russells Buch wurde als Handbuch für Terroristen bezeichnet und weist erschreckende Parallelen zu den Angriffen auf Amerika vom 11. September auf, die sich mehr als 40 Jahre später ereigneten. Und schon Shakespeare mahnte im 16. Jahrhundert an, sich vor wespenartigem Verhalten in Acht zu nehmen.

Der Ausdruck von Furcht, Ekel und Schrecken, der uns in Gegenwart von Wespen überkommt, reicht sogar noch weiter zurück, bis hin zur ältesten Literatur. Vor fast 2500 Jahren verfasste Aristophanes, der »Urvater der Komödie«, sein Stück Die Wespen (422 v. Chr.), das als eine der größten Komödien aller Zeiten gilt. Der Titel bezieht sich auf die »wespengleiche« Gruppe der Richter, die in dem Stück als Chor fungiert und für Ärger sorgt, indem sie in der Gesellschaft die Sucht des Prozessierens verbreitet. Auch in der Religion spielen Wespen eine Rolle. In mindestens drei Büchern der Bibel schickt Gott Wespenschwärme aus, um die Ungläubigen zu strafen. Und es war nicht irgendeine Art von Wespe, die Er beschwor – es war immer die Hornisse. Dummerweise bewegen sich Hornissen selten im Schwarm – vielleicht hat Er sie mit den Honigbienen verwechselt. Auf biblischen Spuren wandelte auch Paul IV., der nur vier Jahre lang Papst war (von 1555 bis 1559), dennoch lange genug, um einen heiligen Hieb gegen Wespen auszuteilen: »Wut ist wie ein Stein, den man auf ein Wespennest wirft.« Damit ist zwar treffend beschrieben, was passiert, wenn man (versehentlich oder absichtlich) Steine auf Wespennester wirft, doch würde man dieselbe insektengetriebene Wut auslösen, wenn das Ziel ein Bienennest wäre.

In einer senegalesischen Schöpfungsgeschichte taucht die Wespe als die »Eva« der Tierwelt auf. Alle Tiere werden aufgefordert, den Blick abzuwenden, während sich Gott der weiteren Erschaffung der Welt widmet, nur die Wespe kann nicht widerstehen und erhascht einen verbotenen Blick. Um das Geschöpf zu bestrafen, schnürt Gott ihm die Taille ab: »Er drückte den Körper um die Mitte so eng zusammen, dass sie weder eine Schwangerschaft halten noch Nachwuchs hervorbringen konnte. Von da an war die Wespe verdammt, nie die Freuden der Geburt zu erfahren.«

Die »Wespentaille« ist tatsächlich ein wesentliches Merkmal, das die Wespe von ihren Cousinen, den Bienen, unterscheidet. Wie es weiter in der Geschichte heißt, verfügt die Wespe über »göttliches Wissen« und baut ein Nest, worin sie die wurmartigen Larven anderer Insekten deponiert, um ihren eigenen Nachwuchs zu ernähren. Dies beschreibt ziemlich genau den Lebenszyklus vieler solitärer Wespenarten, die in ihren Nestern einen Insektenvorrat anlegen, oft mit wurmartigen Raupen. Solitäre Faltenwespen etwa nisten gern an den Wänden von Lehmhütten im ländlichen Afrika, und die zitierte Schöpfungsgeschichte war offensichtlich von den Beobachtungen früher Insektenkundler geprägt.

Derartige literarische Referenzen – historische wie zeitgenössische – gründen auf unserer generischen kulturellen Angst vor Wespen und unserer stereotypisch (negativen) emotionalen Reaktion auf diese Insekten. Die Wespe steht schon lange als starke Metapher für eine böse, hinterhältige Person, die nichts Gutes im Schilde führt. Das verstärkt nicht nur das negative Image der Wespe, sondern bekräftigt auch falsche Annahmen über ihren Lebenszyklus und ihr Verhalten. Dieselbe tief sitzende kulturelle Empfindung hat sich auch auf die Kinoleinwand übertragen. Der Film Die Wespenfrau von 1959 setzt dem Ganzen aus kultureller wie auch aus wissenschaftlicher Sicht die Krone auf: Eine Frau nimmt eine Überdosis Anti-Aging-Mittel zu sich, das aus dem Gelée royale einer Wespenkönigin hergestellt wurde, und verwandelt sich über Nacht in ein mörderisches wespenartiges Wesen, das (überwiegend) Männer verschlingt.

Sowohl Aufmachung als auch Handlung der Wespenfrau sind herrlich belanglos. Ihre Schöpfer hatten jedoch immerhin eine Vorstellung davon, welche Art Wespe ihr bezaubernder Filmstar verkörpern sollte (die Gemeine »Picknickwespe«), und waren sich offenbar im Klaren darüber, dass Erscheinungsform und Verhalten des Insekts durch dessen Sekrete und Nahrung beeinflusst werden können. Gelée royale (oft auch weniger galant als »Bienenmilch« bezeichnet) wird in den Drüsen der Arbeiterbienen produziert und im Anfangsstadium an die gesamte Brut, später jedoch nur an die älteren Larven verfüttert, die zu neuen Königinnen heranwachsen sollen. Es ist die geheime Zutat, die eine Honigbienenlarve auf den Weg zur Entwicklung als Königin (statt als Arbeiterin) führt. Eine spannende, von der Biologie inspirierte Idee für einen Film über eine Wespenfrau, deren Verhalten durch dieses magische Gelée beeinflusst wird.

Der Haken an der Sache ist, dass Wespen kein Gelée royale produzieren. Tatsächlich weiß man bisher sehr wenig über die Festlegung der Zugehörigkeit zur Königinnen- oder zur Arbeiterinnenkaste bei Wespen. Irgendetwas wird die verschiedenen Entwicklungswege auslösen, wahrscheinlich wie bei der Honigbiene ein Bestandteil der Nahrung, aber bisher hat niemand diesen Auslöser bestimmen können. Am ehesten mit Gelée royale vergleichbar ist bei Wespen eine im Hinterleib produzierte Substanz, wie sie bei den Stenogastrinae vorkommt, einer außergewöhnlichen Gruppe, die in Südostasien vorkommt. Es sind unglaublich zarte, sanftmütige Wesen, die man leicht mit Schwebfliegen verwechseln könnte, da sie sich genauso im Schwirrflug bewegen. Mit ihrer sehr langen und schlanken Wespentaille zählen sie zu den Supermodels unter den Wespen und haben (wie Supermodels) so ihre Eigenheiten, wozu unter anderem ihr Legeverhalten zählt.

»Normale« Wespen (wie Lang- und Kurzkopfwespen oder solitäre jagende Wespen) legen ihr Ei direkt in oder auf den gewählten Nährboden (etwa eine Spinne, eine Raupe oder den Boden einer Zelle). Nicht so die Stenogastrinae. Wenn das Weibchen bereit zur Eiablage ist, führt es in einer beeindruckenden Yoga-Bewegung seinen Hinterleib an die Mundpartie, wobei eine klebrige, gelatinöse Masse aus dem Unterleib tritt, die es mit den Mandibeln aufnimmt. Auf diesem Klecks wird in einer zweiten, gleichen Yoga-Bewegung (diesmal mit durchgedrücktem Stachel) das Ei abgelegt. Die »Ei und Klecks«-Einheit wird dann sorgfältig auf den Boden einer leeren Zelle geklebt.

Man weiß bisher nicht, was das Besondere an diesem Sekret der Hinterleibdrüse ist und warum sich das Brutverhalten dieser Wespenart so von dem der anderen unterscheidet, aber wahrscheinlich hat die Substanz einen gewissen Nährwert für die Brut und bildet eine sichere Ablagestelle für das kostbare Ei. Mit Blick auf die Gelée-royale-Idee wäre daher Die Bienenfrau der aus wissenschaftlicher Sicht passendere Titel gewesen, wenn auch ohne die ansprechende Alliteration (engl. The Wasp Woman) und im Widerspruch zu der Idee, dass sich die Hauptfigur in eine Menschenfresserin verwandelt (da Bienen strenge Vegetarier sind). Angesichts der verzerrten Darstellung, die Wespen in Literatur, Kunst und Film auferlegt wird, ist es also kein Wunder, dass ihnen die meisten Menschen äußerst feindselig begegnen.

© Universal Images Group North America LLC / Alamy Stock Photo

Filmplakat Die Wespenfrau (1959) – ein Anti-Aging-Mittel wird zum Horrortrip.

Die bekannteste literarische Erwähnung von Wespen findet sich wahrscheinlich in Iain Banks’ 1984 erschienenem Roman Die Wespenfabrik, worin es eigentlich gar nicht um Wespen geht, mit Ausnahme eines Abschnitts, in dem ein verstörter Teenager auf dem Dachboden im Haus seiner entfremdeten Familie eingesperrte Wespen quält. Obwohl Banks zu meinen Lieblingsautoren zählt, kann ich nicht unendlich viele Ausgaben von Die Wespenfabrik in meinem Bücherregal unterbringen – es ist eines dieser Bücher, die mir immer wieder geschenkt werden von Leuten, die sie selbst nicht gelesen haben, aber wissen, dass ich Wespen erforsche, und davon ausgehen, dass ich unbedingt eine Ausgabe davon haben sollte.

Die Wespenfabrik war Banks’ erster Roman und darauf ausgelegt, ihm Aufmerksamkeit zu verschaffen. Was auch gelang. Die Hauptfigur ist ein psychopathischer mehrfacher Mörder, ein Teenager namens Frank Cauldhame, der, ohne es zu wissen, transgender ist und auf einer entlegenen schottischen Insel, die lose auf der Isle of Islay basiert, seine Zeit mit rituellen Tiermorden verbringt. Das Buch ist schaurig fesselnd und gutes Lesefutter für jeden, der sich gern das ganze Spektrum gesellschaftlicher Abgründe gibt, aber eher enttäuschend, wenn man eigentlich etwas über Wespen erfahren wollte. Der Titel bezieht sich auf eine Insekten-Folterkammer, die Frank selbst gebaut und auf dem Dachboden versteckt hat. Er benutzt sie als eine Art Schicksalsinstrument für Wespen: ein russisches Roulette an Auswahlmöglichkeiten. Wie soll die Wespe heute sterben? Soll sie lebendig verbrannt, zerstampft oder in Urin ertränkt werden? Die Wespen sind eigentlich nur ein Nebenschauplatz der eigentlichen Handlung – eine von vielen abscheulichen Möglichkeiten für Franks Rache an seinem qualvollen und verstörtem Leben. Neben rituellen Tieropfern, Kindsmorden und einem vor Maden wimmelnden Babyhirn zählen die Folter und das vorzeitige Ende einiger Wespen wohl zu den weniger verstörenden Teilen dieses Buches.

Man stelle sich vor, Frank würde statt Wespen Bienen in seine Folterfabrik sperren, die armen, fleißigen Honigbienen von ihrem blumigen Tagewerk entführen und demselben grausigen Schicksal wie seine Wespen unterziehen. Aha! Schon überschlagen sich die Emotionen: »Die arme Biene! Was für ein böser, böser Junge!« Wie kommt es, dass Sie so viel Mitgefühl für Bienen, aber keines für Wespen haben? Vielleicht weil Sie wissen, wie nützlich und wichtig Bienen als Bestäuber sind. Oder vielleicht liegt es an unserer besonderen Beziehung zur Honigbiene, unserem liebsten domestizierten Insekt, das uns Honig liefert und dessen höfliches Sozialverhalten für uns nachvollziehbar ist.

Nach über 20 Jahren des Wespenstudiums hatte ich allmählich genug von dem allgemeinen Hass auf diese Insekten. Ich war sicher, dass es irgendwo noch mehr Leute wie mich geben musste, die den Nutzen der Wespen anerkannten und nicht einsahen, warum sie anders als Bienen behandelt werden sollten. Gemeinsam mit zwei weiteren Wespenfanatikern, Alessandro Cini und Georgia Law, überlegte ich mir einen Plan, um dahinterzukommen, worin die Abscheu gegen Wespen begründet lag. Wir machten uns die Macht des Internets zunutze, um auszuloten, wie die Öffentlichkeit auf Wespen und Bienen reagierte und wie es um das Verständnis der Rolle dieser Insekten in Ökosystemen bestellt war.

Für die Bienen sahen die Ergebnisse ziemlich gut aus. Auf einer Emotionsskala schätzten beinahe alle der 750 Befragten Bienen als sehr positiv ein und outeten sich damit als Bienenfans. Zur Beschreibung der Bienen wurden produktive, positive Begriffe wie »Honig«, »summen« und »Blumen« verwendet. Auch wurde ihr »Wert« für die Umwelt als Bestäuber sehr hoch eingeschätzt, ihr Beitrag als Räuber dagegen sehr niedrig. Ein erfreuliches Ergebnis, zeigt es doch, dass die Öffentlichkeit hervorragend darüber informiert ist, welche Aufgaben Bienen in der Natur übernehmen (und welche nicht).

Und wie stand es um die Wespen? Meine schlimmsten Befürchtungen wurden bestätigt. Die emotionale Reaktion auf Wespen war das genaue Gegenteil der Reaktion auf Bienen. Beinahe alle Teilnehmer gaben Wespen eine negative emotionale Bewertung. Durchweg wurde vor allem ein Wort zu ihrer Beschreibung gewählt: STECHEN! Besonders bedenklich war aber, dass die Leute absolut keine Ahnung hatten, welche Rolle Wespen in Ökosystemen spielen. Es war, als hätten unsere Befragten ihre Zahlen mit verbundenen Augen aus der Lostrommel gezogen: Ihre Bewertung der Wespen als Räuber wie auch als Bestäuber war völlig willkürlich.

Nun ergab alles Sinn. Die emotionale Reaktion auf Wespen war negativ, weil Wespen stechen und als für die Umwelt nutzlos wahrgenommen werden. Natürlich stechen auch Bienen, was ebenfalls aus dem Datenmaterial hervorging: »Stechen« war einer der häufigsten Begriffe zur Beschreibung von Bienen. Aber Bienen werden gemocht, obwohl sie stechen, wegen ihrer guten Dienste für die Umwelt – als Bestäuber. Ein bisschen Schmerz ist zu ertragen, wenn sich dahinter ein Nutzen verbirgt. Bienen wurden außerdem generell wertgeschätzt, unabhängig davon, wie sehr sich die Befragten für die Natur interessierten. Wespen dagegen wurden eher geschätzt von Befragten, die allgemein ein großes Interesse an der Natur hatten.

Könnte es sein, dass Leute nur deshalb so viel über Bienen wissen, weil sie ihnen auf Schritt und Tritt wenigstens indirekt begegnen? Bienen sind das ganze Jahr über in den Medien präsent, von »Rettet die Bienen«-Aktionen über »Bienen-Saatbomben für Ihren Garten!« oder »Mehr Blumen für die Bienen«. Das ist vielleicht auch der Grund dafür, dass es eine stärkere Nachfrage nach Informationen über Bienen als über Wespen gibt. So wurde in den letzten fünf Jahren im Internet sechsmal öfter nach Bienen als nach Wespen gesucht. Die meisten Suchanfragen über Wespen stammten von Leuten, die sie loswerden wollten. Wespen tauchen auch kaum in den Nachrichten auf – im Vereinigten Königreich machen sie allenfalls mal im Spätsommer Schlagzeilen, wenn es sonst nicht genug »echte Nachrichten« gibt. Der Großteil davon sind aber von der Klatschpresse gehypte Meldungen über »Killerwespen« und invasive Arten.

So ließ etwa 2004 in Europa die Ankunft der oft als »Asiatische Hornisse« bezeichneten Vespa velutina die Angst der Öffentlichkeit vor Wespen wieder aufflammen. Diese Art ist zwar etwas kleiner als die europäische Hornisse (Vespa crabro), aber ein ziemlich gefräßiger Jäger. Es gibt allen Grund zur Sorge, denn die Art breitet sich jährlich etwa 100 Kilometer weiter aus und macht Jagd auf heimische Bestäuber wie auch auf domestizierte Honigbienen. Die Berichterstattung über invasive Arten wie Vespa velutina ist wichtig, um die Wachsamkeit in der Bevölkerung zu erhöhen. Die Mithilfe mehrerer Millionen Bürger, die Augen und Ohren offen halten, ist für die Umweltbehörden bei der Kontrolle dieser Bioinvasoren unbezahlbar.

Leider wurden solche Meldungen allzu oft mit Angstmacherei und Falschinformationen gespickt – warum auch sollte eine Boulevardzeitung einen Artikel über »Killerwespen« mit dem Foto einer unauffälligen, eher kleinen, dunklen Hornisse bebildern (worum es sich zufälligerweise bei Vespa velutina handelt), wenn man stattdessen ein Foto von Vespa mandarinia nehmen kann – der größten Hornisse der Welt mit einer Flügelspanne von 7,5 Zentimetern und einem 6 Millimeter langen Stachel, mit dem sie einen Giftcocktail aus verschiedenen chemischen Verbindungen, darunter mehreren Nervengiften, verabreichen kann. Diese Hornisse fliegt 40 Stundenkilometer schnell und hat ein angemessen gruseliges, leuchtend gelbes Gesicht. Selbst ich hätte Bedenken, mich der Vespa mandarinia zu nähern (auch wenn es wohl 58 Stiche auf einmal bräuchte, um an den Nervengiften zu sterben). Aber, liebe Boulevardblätter, bleibt doch bitte bei den Fakten: Das ist nicht die Hornisse, die sich in Europa verbreitet (sondern in den USA, aber das ist eine andere Geschichte). Die von den Medien vermittelte Gegenüberstellung von Monsterwespe versus fleißige Biene ist nicht gerade hilfreich.

Es ist heute kaum zu glauben, aber vor einigen Jahrzehnten beherrschte eine tatsächlich beunruhigende Bienen-Meldung die Schlagzeilen. Der brasilianische Biologe Warwick Kerr hatte sich an der Züchtung einer Honigbienenart versucht, die mehr Honig produzieren und dem tropischen Klima besser gewachsen sein sollte. Dazu hatte er diverse europäische Unterarten der Westlichen Honigbiene (Apis mellifera) mit einer ihrer afrikanischen Unterarten, der Ostafrikanischen Hochlandbiene (Apis mellifera scutellata), gekreuzt. Das Unglück geschah, als mehrere Völker dieser afrikanisierten Hybride aus dem Forschungsapiarium im Bundesstaat São Paulo entkamen. Die Bienen verbreiteten sich rasant und kreuzten sich wiederum mit den lokalen Populationen der Westlichen Honigbiene. Das Resultat wurde als »Afrikanische Killerbiene« oder Afrikanisierte Honigbiene berühmt-berüchtigt.

Mittlerweile hat sich diese robuste Hybride in den tropischen Zonen der beiden Amerikas verbreitet. Die von Kerr geschaffene Art ist tatsächlich hochproduktiv – eine gute Nachricht für die Imker. Die Kehrseite ist, dass die friedfertige Westliche Honigbiene von der Hybride auskonkurriert wird, da diese nicht nur schlicht die bessere Pollensammlerin ist, sondern auch eine höhere Fortpflanzungsrate hat sowie eine stärkere Arbeitsmoral (sie fliegt auch bei Witterungsbedingungen zur Nahrungssuche aus, bei denen Apis mellifera im Bienenstock verharrt). Darüber hinaus ist sie aggressiver und hat eine höhere Schwarmtendenz, wodurch sie für Imker schwieriger zu handhaben ist und es leichter zu Todesfällen kommt. Das ist allerdings Schnee von gestern – mittlerweile haben die Imker ihre Arbeitsweise angepasst und bevorzugen die afrikanisierten Bienen gegenüber ihren westlichen Artgenossen aufgrund der höheren Produktivität. Seit den 1970er-Jahren hat sich viel verändert. Furchterregende Bienen-Meldungen verkaufen sich nicht mehr, Berichte über »brave Bienen« und »böse Wespen« dagegen umso besser.

Wir haben gelernt, Wespen zu hassen, weil es uns so beigebracht wurde, von unseren Eltern und Verwandten, von Lehrern, den Medien, in Literatur und Unterhaltung. Es ist nicht unsere Schuld – wir sind das Produkt unserer lokalen Kultur. Die Wissenschaft muss ihre teilweise Verantwortung dafür anerkennen. In den letzten 30 Jahren wurden dreimal mehr Forschungsarbeiten über Bienen veröffentlicht als über Wespen, und auf wissenschaftlichen Symposien übersteigt die Zahl der Vorträge über Bienen die über Wespen um das Vierfache. Der Fokus auf Bienen in der Forschung ist in den letzten Jahren immer extremer geworden, vorangetrieben durch große staatliche Investitionen in die Erforschung von Bestäubern, was wiederum auf unser Selbstinteresse zurückzuführen ist. In einer Welt ohne Bestäuber müssten wir hungern.

Die finanzielle Förderung kann jedoch nicht allein für die Vernachlässigung der Wespe in der Forschung verantwortlich gemacht werden. Selbst einige große Gelehrte haben subtil dafür gesorgt, dass man in der Wissenschaft Abstand zu ihnen nahm. Tatsächlich waren es die parasitären Schlupfwespen, die Charles Darwin dazu bewegten, die Allmächtigkeit Gottes und die Schöpfungsgeschichte zu hinterfragen. In einem Brief an den Botaniker Asa Gray schrieb er 1860: »Ich kann mich nicht davon überzeugen, dass ein gütiger und allmächtiger Gott die Ichneumonidae willentlich und mit der Absicht erschaffen haben soll, dass sie sich vom Inneren lebender Raupen ernähren.«

Selbst heutige Wespenforscher erkennen das gesellschaftliche Stigma an, das mit ihren Forschungsobjekten einhergeht. So hat etwa die amerikanische Biologin Mary Jane West-Eberhard ihr ganzes Leben dem Studium der Wespen gewidmet, sagt aber unumwunden, dass sie »Hausfrauen terrorisieren, Picknicks ruinieren und große oberirdische Nester bauen, die schnellfüßige, Steine werfende Jungen auf der ganzen Welt herausfordern«. Ihr Kollege William D. Hamilton, der uns die Grundlage für ein Verständnis der Evolution von Sozialität geliefert hat, räumte ein, dass »staatenbildende Wespen zu den unbeliebtesten Insekten zählen«. Und der neuseeländische Forscher Phil Lester, der sich in seinem Heimatland für die Kontrolle von (netterweise von den Briten eingeführten) invasiven Wespenarten einsetzt, hat den Wespenhass der Öffentlichkeit aufgegriffen und seinem Buch über die Insekten den Titel The Vulgar Wasp gegeben.

Wenn selbst die wissenschaftlichen Vertreter der Wespen sie kaum als etwas anderes als »vulgär« oder als die »Gangster« der Insektenwelt meinen beschreiben zu können, welche Hoffnung besteht dann noch für die Wespe? Was passiert in einer Welt ohne Wespen? Wir können es nicht mit Gewissheit sagen, da uns die Grundlagenforschung darüber fehlt, um zu bestimmen, was genau Wespen tun. Was wir aber wissen, ist, dass Wespen für funktionierende Ökosysteme und einen gesunden Planeten eine wichtige Rolle spielen. Wir wissen, dass sie Insekten jagen, die uns andernfalls eine Plage wären. In einer Welt ohne Wespen bräuchten wir höchstwahrscheinlich Unmengen an Pestiziden, um Schädlinge in Schach zu halten. Zumindest darin läge ein gutes Argument dafür, den Wespen wie auch den Bienen ihr Stechen nachzusehen.

Es ist an der Zeit, sich des Rätsels dieser schönen, vielfältigen und mysteriösen Wesen anzunehmen. Geben wir ihnen eine Chance, sich unserer Aufmerksamkeit als würdig zu erweisen.

II

»Dass […] aus so einfachem Anfange sich eine endlose Reihe der schönsten und wundervollsten Formen entwickelt hat und noch immer entwickelt.« Gerne stelle ich mir vor, dass Darwin die Schönheit und den Zauber der Wespen in seinem Garten bewundert hat, als er diese Schlusszeilen seines Hauptwerks Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl (1859) niederschrieb, des Buches, das unser Verständnis des Lebens auf der Erde revolutioniert hat. Es gibt viele Gruppen von Organismen, deren Formen als »endlos« bezeichnet werden könnten, aber die natürliche Selektion hat wohl vor allem mit den Wespen ihren Spaß gehabt, ihre Formen und Funktionen immer wieder geprüft und getestet, gestaltet und neu gestaltet, um eine atemberaubende Vielfalt hervorzubringen. Dieses Buch ist jedoch keine Wespen-Enzyklopädie – ich könnte unmöglich alle Arten abdecken. Genau genommen könnte das niemand, denn auf jede benannte Wespenart kommen wahrscheinlich an die zehn weitere, die noch nicht einmal entdeckt sind.

Zugegeben, Darwin hat beim Verfassen seiner Schlussbemerkungen vermutlich eher an Käfer gedacht. Die Artenvielfalt von Käfern ist wirklich bemerkenswert, ein wahres Wunder der Natur. Tatsächlich lautet ein bekanntes Zitat des britischen Evolutionsbiologen J. B. S. Haldane, ein intelligenter Schöpfer des Lebens müsse »eine außerordentliche Zuneigung zu Käfern« gehabt haben. Eine treffende Bemerkung in einer Zeit (den 1950ern), da sich in der Debatte zwischen Evolution und Religion die Evolution allmählich durchsetzte.

Wenn Gott wirklich alles Leben auf der Erde geschaffen hat, dann muss Er eine besondere Vorliebe für Käfer gehabt haben: Im Hinblick auf die beschriebenen Arten stellen sie mit 387000 Arten die zahlenmäßig größte Tiergruppe dar. Wenn man kryptische Arten (die wie andere Arten aussehen) und noch nicht entdeckte Arten dazuzählt, könnte es insgesamt etwa 1,5 Millionen Käferarten geben, meinen Forscher. Mit ihrem prächtig detailreichen bis absurden Äußeren zählen sie zu den optisch eindrucksvollsten Insekten. In Abwesenheit eines intelligenten Schöpfers könnte sich die Vielfalt der Käfer durch natürliche Selektion entwickelt haben, um das andere Geschlecht auf sich aufmerksam zu machen, hungrige Fressfeinde abzuschrecken oder sich zu tarnen.

Wegen ihrer außergewöhnlichen Erscheinung sind wir sehr wahrscheinlich so auf sie fixiert, dass wir öfter neue Käferarten finden und beschreiben als jede andere Insektenart. Menschen entdecken, sammeln und katalogisieren sie schon seit Jahrhunderten. Im 19. Jahrhundert etwa hätte jeder Naturkundler, der etwas auf sich hielt, stolz seine persönliche Käfersammlung vorgezeigt und sich aufgeregt mit Freunden darum gestritten, wer die größten, schillerndsten und sonderbarsten Exemplare besitzt. Durch unsere Bewunderung für Käfer haben wir unsere Insektenkenntnis unbeabsichtigt zu deren Gunsten verzerrt.

Wespen gehören zur Ordnung der Hautflügler, zu der auch Bienen und Ameisen zählen. Es gibt etwa 150000 beschriebene Arten von Hautflüglern. Davon machen Wespen über 80 Prozent aus, mit 80000 bis 100000 benannten Arten – beinahe fünfmal mehr, als es Bienenarten gibt, und über siebenmal mehr als Ameisen (deren Zahl bei etwa 13000 liegt). Trotzdem werden viel weniger Wespen gesehen und gemeldet. In vielen Teilen der Welt sind Sichtungen von Wespen dominiert von unserer Freundin, der schwarz-gelb gestreiften Picknickwespe, die uns so unangenehm bedrängt.

Natürlich sagt die Anzahl der beschriebenen Arten noch nichts darüber aus, wie viele es tatsächlichgibt. Zum Beispiel gibt es über eine Million beschriebener Insektenarten, aber die Gesamtzahl der Insektenarten auf unserem Planeten wird von Wissenschaftlern auf 5,5 Millionen geschätzt. Eines der großen Probleme bei der Artenzählung ist die geografische Verzerrung. Die am intensivsten beprobten Teile der Welt (wie zum Beispiel Nordamerika und Europa) haben oft die geringste Artenvielfalt. Man kann wohl davon ausgehen, dass es in jeder Insektenordnung ein Mehrfaches der aktuell angenommenen Artenzahl gibt, insbesondere bei den Hautflüglern 3 , deren Arten zu wahrscheinlich 60 bis 88 Prozent noch nicht beschrieben sind. Selbst die konservativsten Schätzungen gehen von 600000 bis 2,5 Millionen Hautflüglerarten aus. In gut beprobten Regionen wie gemäßigten Zonen und bestimmten tropischen Ökosystemen sind Hautflüglerarten den Käferarten bereits zahlenmäßig überlegen.

Die große Mehrheit der Hautflügler bilden die winzigen, wenig bekannten parasitoiden Wespen. Parasitoide sind Insekten, die ihre Eier in (Endoparasitoide) oder auf (Ektoparasitoide) anderen Organismen ablegen. Die hungrige Larve, die aus dem Ei schlüpft, ernährt sich dann von dem lebenden Wirt. Parasitoide sollten nicht verwechselt werden mit Parasiten, die nicht nur das Larvenstadium, sondern die gesamte Lebenszeit in oder auf ihrem Wirt verbringen. Manche parasitoide Wespen haben eine spezielle dornenartige Struktur auf der Oberseite des Kopfes, mit der sie sich aus ihrem Wirt heraussägen, wenn sie bereit zum Abflug sind. Dass sie ihre Opfer bei lebendigem Leib von innen heraus auffressen, mag gruselig wirken, aber der gefürchtete Stachel, wie ihn andere Wespen zur Schau stellen, fehlt den parasitoiden Arten. Stattdessen verfügen sie über einen Legebohrer (Ovipositor) zur Eiablage. Legebohrer sind unglaublich nützlich, erreicht das Insekt doch damit Stellen, an die es mit anderen Körperteilen nur im Traum gelangen würde. Sie können durch winzige Spalten in Baumstämmen, Unterholz oder Erde gesteckt werden, um zusammen mit einem Giftcocktail und kooperativen Viren ein kostbares Ei in einer nichts ahnenden Raupe oder Käferlarve abzulegen.

Wespen sind nicht die einzigen Parasitoide, aber bei Weitem die vielfältigsten, zahl- und artenreichsten. Sie sind außerdem unglaublich wichtig, da sie als Regulatoren anderer Insektenpopulationen eine entscheidende Rolle in Ökosystemen spielen. Es ist deshalb nicht überraschend, dass sie vom Menschen großflächig zur biologischen Schädlingsbekämpfung eingesetzt werden. In manchen Teilen der Welt werden diese Insekten in industriellem Maßstab gezüchtet, um anschließend in Mais- und Rohrzuckerfeldern ausgesetzt zu werden, wo sie sich Raupen und andere Schädlinge zur Eiablage suchen.

Es gibt mindestens 80000 beschriebene parasitoide Wespenarten, die meisten davon sind winzig. Die Zwergwespen (Mymaridae), deren kleinste Vertreter gerade mal 0,14 Millimeter messen, sind die kleinsten Insekten der Welt. Andere, wie die Schlupfwespen, können mehrere Zentimeter lang werden – doppelt so lang, wenn man den Legebohrer berücksichtigt. Für die Entdeckung neuer Arten spielt die Körpergröße durchaus eine Rolle. Man denke an die 4200 im Vereinigten Königreich entdeckten Käferarten (die womöglich am besten erforschte Käfergruppe der Welt). Die Durchschnittsgröße neu beschriebener britischer Käfer nahm von 1750 (dem Beginn der Aufzeichnungen) bis 1850 deutlich ab, da Entomologen eher die größeren Arten entdeckten, sammelten und beschrieben, bevor ihnen auch die kleineren Arten auffielen.

Dass die meisten parasitoiden Wespen so winzig sind, bedeutet für die Entdeckung ihrer Arten einen deutlichen Nachteil. Noch komplizierter wird es dadurch, dass es parasitoide Wespen gibt, die ihre Eier auf den Larven anderer parasitoider Wespen ablegen. Diese Hyperparasitoide (Parasitoide, die sich von anderen Parasitoiden ernähren) sind oft noch kleiner als ihr Wirt – sozusagen Mikrowespen. Sie stellen eine vierte Ebene im Nahrungsnetz dar: Die hyperparasitoide Wespe lebt von der parasitoiden Wespe, die ihrerseits von der Raupe lebt, welche sich wiederum von der Wirtspflanze ernährt. Solche mehrschichtigen trophischen Ketten sind mitunter unvorstellbar komplex, geradezu erschöpfend komplizierte Beispiele für die endlosen Formen von Wespen und den Pflanzen und Tieren, mit denen ihr Leben zusammenhängt.

Parasitoide zu finden, ist nur der erste Schritt; sie zu bestimmen, mindestens genauso schwierig. Bis vor Kurzem war weltweit nur eine Handvoll Wissenschaftler dazu in der Lage, welche die nötige Fachkenntnis bestimmter taxonomischer Eigenschaften mitbrachte – neue Arten konnten gar nicht so schnell bestimmt werden, wie sie entdeckt wurden. Doch bei jeder genaueren Betrachtung dieser Wesen finden Forscher viele neue Arten – vor allem seit dem Einsatz genetischer Marker, dank derer die Unterscheidung ähnlicher Arten kein derartiges Fachwissen mehr erfordert und kryptische Arten entdeckt und bestimmt werden können, was durch herkömmliche Methoden nicht möglich war. In der Folge ist die Zahl der benannten Arten parasitoider Wespen sprunghaft angestiegen. Es ist durchaus denkbar, dass tatsächlich Wespen die artenreichsten aller Insekten sind, was Haldanes Begeisterung für Käfer in eine staubige Ecke der Biodiversitätsforschung des 20. Jahrhunderts verbannt. Um zu verstehen, warum, muss man sich nur ein kleines Gebiet im zentralamerikanischen Regenwald und eine 34-jährige Studie über Raupen ansehen.

Die Área de Conservación de Guanacaste ist ein Nationalpark im Nordwesten von Costa Rica. Er ist etwa 1200 Quadratkilometer groß – ein wenig kleiner als Greater London – und ein Schutzgebiet mit diversen Habitaten und großem Artenreichtum. In den letzten 34 Jahren haben Wissenschaftler Tausende in diesem Schutzgebiet gesammelte Raupen herangezogen, aus denen wiederum Tausende parasitoide Wespen geschlüpft sind, die meisten davon unbestimmt. Mit der Untersuchung all dieser Wespen haben die Forscher alle Hände voll zu tun; um einen Anfang zu machen, haben sie sich zunächst auf eine einzelne Gattung der Brackwespe fokussiert, Apanteles, die in großem Maßstab gegen Raupenplagen eingesetzt wird und damit von wirtschaftlichem Interesse ist. Bis dahin waren in diesem Teil Mesoamerikas nur 19 Arten von Apanteles beschrieben worden. Von insgesamt 4100 einzelnen Wespen wurden nicht weniger als 186 neue Arten benannt; das sind beinahe zehnmal mehr Arten dieser Gattung als bisher bekannt. Man bedenke, es handelt sich um eine einzelne Wespengattung aus einer sehr kleinen Ecke der Welt.

Unterschätzen wir die Anzahl parasitoider Wespenarten um den Faktor zehn? Wenn dem so ist, gäbe es weltweit über 800000 Arten von parasitoiden Wespen. Natürlich kann es sich dabei um eine Überschätzung handeln, denn die Área de Conservación de Guanacaste ist für ihre große Artenvielfalt bekannt. So beherbergt die Region etwa fünfmal mehr Käferarten als das gesamte Vereinigte Königreich, das eines der artenärmsten Länder der Welt ist. Doch selbst wenn man den Artenreichtum dieses kleinen Teils von Costa Rica auf das Fünffache einer beliebigen anderen Region der Welt schätzt, läge die voraussichtliche globale Anzahl parasitoider Wespenarten bei 160000 – mehr als alle beschriebenen Hautflügler zusammengenommen.

Wenn Sie noch immer nicht überzeugt sind, hilft vielleicht ein Exkurs in die Ökologie der Parasitoiden. Käfer zählen neben Raupen zu den beliebtesten Wirten der Wespenbrut. Angesichts der bekannten Vielfalt an Wirtskäfern und der Tatsache, dass verschiedene Wespenarten ein- und dieselbe Käferart parasitieren können (manche mit Larven, andere mit Eiern), wird davon ausgegangen, dass es wahrscheinlich zwei- bis dreimal mehr parasitoide Wespenarten gibt als Käferarten insgesamt. Vor diesen Studien nahm man an, dass parasitoide beinahe 80 Prozent aller beschriebenen Wespenarten ausmachen, aber durch Erkenntnisse wie diese steigt die Schätzung der Wespenvielfalt ins Unermessliche.

Wenn es einen intelligenten Schöpfer des Lebens auf der Erde gibt, hatte dieser ganz sicher eine außerordentliche Schwäche für parasitoide Wespen.

Meine Großmutter hat nie etwas weggeworfen. Sie hatte zwei Weltkriege miterlebt und wusste, wie wichtig es ist, Dinge wertzuschätzen, zu pflegen und in Ordnung zu halten, damit man sie bei Bedarf schnell finden kann. Besondere Sorgfalt legte sie bei Knöpfen an den Tag. Rustikale Holzknöpfe für Wollsachen, glatte Knöpfe für Hemden, unauffällige braune Knöpfe für Hosen, elegante Perlmuttknöpfe für die Sonntagskleider. Wenn ein Kleidungsstück hinüber war, trennte sie die Knöpfe sorgfältig ab und verstaute sie in dem Labyrinth ihres geheimnisvollen Nähschränkchens, in dem eine eigene geheime Ordnung herrschte. Jeder einzelne Knopf wurde, ganz gleich, wie spannend oder alltäglich seine Vergangenheit war, diesem Ritual unterzogen und respektvoll zu seinem nächsten knopfartigen Verwandten gelegt. Zu Hunderten klapperten sie gewichtig in ihren Schachteln, kostbare Spielereien der Disziplin meiner Großmutter.

Ihre Position und Gruppierung in dem Schränkchen waren von äußerster Wichtigkeit. Jede Schachtel war eine geschützte Enklave von Knöpfen gemeinsamer Schönheit, Form und Funktion, erzählte Geschichten von gemeinsamem vergangenem Nutzen und künftiger Hoffnung. Nebeneinander platzierte Schachteln beherbergten enge Beziehungen: Seidig-grüne Knöpfe sahen sich glatt-grauen Nachbarn gegenüber; Knöpfe in Blumentönen erröteten neben ihren babyblauen Verwandten. Die Ankunft eines neuen Knopfes, der zu keinem in den bestehenden Schachteln passen wollte, verursachte bei den Knöpfen wie auch bei meiner Großmutter unbehaglichen Aufruhr. An einem schlechten Tag war die Folge eine groß angelegte Umorganisation von Knöpfen und Schachteln. Als kleines Kind war ich ganz versessen auf die Knopfsammlung meiner Großmutter, aber ich hätte es nie gewagt, sie anzurühren. Diese Schachteln waren heilige Orte, angelegt mit der Ordnung und Präzision des phylogenetischen Baums eines Evolutionsbiologen. Nur Großmutter war zum Ordnen und Neuanordnen befugt.

Wenn die Knöpfe meiner Großmutter Wespen gewesen wären, hätte sie sicher den Verstand verloren. Nicht wegen der Wespen an sich, sondern weil sie solche Schwierigkeiten gehabt hätte, sie sinnvoll zu ordnen. Natürlich gibt es auch Knöpfe in unendlich vielen schönen und wunderbaren Formen, auf Wespen trifft das aber umso mehr zu, und ihre Merkmale und Beziehungen sind rätselhaft und kompliziert. Noch dazu werden neue Arten schneller entdeckt und beschrieben, als man einen neuen Knopf annähen kann, und manche davon haben unerwartete Eigenschaften, die die Wespenverwandtschaften so gründlich auf den Kopf stellen wie ein aus der Reihe fallender Knopf das Nähschränkchen meiner Großmutter.

Ein Knopf ist bloß ein Knopf (meine Großmutter würde widersprechen) und hat eine gerade mal 2000-jährige Geschichte. Wespen sind 280 Millionen Jahre älter als der älteste Knopf und vielfältiger und bunter als alle Kurzwaren der Welt zusammen. Tatsächlich ist der Begriff »Wespe« eine kläglich ungenaue Bezeichnung für eine derart gut sortierte Zusammenstellung von Insekten. Dass es so viele Wespenarten in solcher Vielfalt gibt, ist für den Evolutionsbiologen Fluch und Segen zugleich. Ein Fluch, da zu viele fehlende Daten zu vieler Arten zur Folge haben können, dass die Rekonstruktion ihrer Stammbäume falsch ist; ein Segen, da Wespen über biologische Innovationen verfügen, die keine andere Insektenordnung zu entwickeln gewagt hat. Deshalb ist der Wespenstammbaum für Wissenschaftler so wichtig und wird seit vielen Jahrzehnten heiß diskutiert.

Evolutionäre Stammbäume helfen uns zu verstehen, wann und warum sich eine Gruppe von Organismen und ihre interne Diversität entwickelt haben. Der phylogenetische Baum der Wespe erklärt, warum manche Wespen Parasiten sind, warum sich einige die Supermodeltaille angeeignet haben und warum manche ihren Eiablageapparat zum Vergiftungsinstrument (Stachel) umgewandelt haben. Er zeigt auf, wie sie mehrfach ihre Ernährung umgestellt, sich mit Pflanzen angefreundet und diese manipuliert haben, wie einige Gesellschaften bildeten und wieder andere ihre Flügel verloren und zu Ameisen wurden oder auf pflanzliche Nahrung umstiegen und zu Bienen wurden. Um all das zu wissen, brauchen wir eine genaue Karte des evolutionären Lebens der Wespe.

Um einen solchen Stammbaum des Lebens verschiedener Organismen zu rekonstruieren, hat man bis vor Kurzem artenübergreifend die Spur gemeinsamer – vor allem morphologischer – Merkmale zurückverfolgt. Durch die Methoden der DNA-Sequenzierung hat sich das geändert, da man nun die DNA verschiedener Arten auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin untersuchen kann. Arten, die aufgrund ihrer äußeren Erscheinung bislang zu einer Gruppe gezählt wurden, müssen nun, basierend auf einer Kombination aus gemeinsamer DNA und körperlicher Merkmale, gegebenenfalls neu zugeordnet werden. Dank der DNA-Sequenzierung schreitet unser Verständnis der Artenbeziehungen so schnell voran, dass die Evolutionsgeschichte der Hautflügler in den letzten Jahren mehrfach umgeschrieben werden musste. Doch nun ist ein guter Zeitpunkt, um der Evolutionsgeschichte der Wespen und ihrer Verwandten beizukommen. Auch wenn wir unser Detailverständnis durch das Hinzukommen weiterer Daten über neue Arten höchstwahrscheinlich weiterhin anpassen müssen, werden sich die grundlegenden Einsichten über die Entstehung und Evolution von Wespen und deren Verwandten wohl kaum mehr radikal verändern.

Und das hat der Wespenstammbaum über die endlosen Formen der Wespen enthüllt … 4

Aktuellen Schätzungen zufolge gibt es Insekten seit etwa 479 Millionen Jahren, womit sie die ältesten Landtiere sind. 130 Millionen Jahre später tauchten die holometabolen Insekten auf, deren Jugend- und Adultstadien durch Metamorphose getrennt sind (holometabol bedeutet »vollständige Veränderung«). Den Prozess, bei dem sich eine wurmartige hungrige Raupe (Larvenstadium) verpuppt (Puppenstadium), ihren Körper neu anordnet und als geflügelter wunderschöner Schmetterling schlüpft, kennt jedes Kind. Viele bekannte Insekten sind holometabol: die Diptera oder Zweiflügler (Fliegen), Lepidoptera (Schmetterlinge und Mücken), Coleoptera (Käfer), Trichoptera (Köcherfliegen) und Hymenoptera oder Hautflügler (Bienen, Wespen und Ameisen). Als vor schlappen 280 Millionen Jahren der erste Hautflügler daherkam, handelte es sich dabei um eine Wespe.

Diese Urwespe war Pflanzenfresser und ein ziemlich unelegantes, stachelloses Wesen. Das weiß man, weil ihre Nachfahren – die Pflanzenwespen – dieselben Eigenschaften haben (zumindest die meisten, denn eine kleine Familie bevorzugt Larven zur Eiablage). Wenn keine Fossilien vorliegen, können uns die heute lebenden Nachkommen ausgestorbener Arten einen Einblick in die Erscheinungsformen der evolutionären Vergangenheit liefern. Der Sammelbegriff für Pflanzenwespen (auch bekannt als Sägewespen) ist »Symphyta«. Der Name, der sich vom griechischen symphyton ableitet, bedeutet »zusammengewachsen« und bezieht sich auf die nicht vorhandene Wespentaille. Ebenso fehlt den Pflanzenwespen der wendige Flug und die harte, schützende Cuticula (Exo- oder Außenskelett) ihrer wespenartigeren Verwandten. Sie sind ohne Frage die breitbäuchigen alten Jungfern der Wespenwelt: Stämmig, erbittert und praktisch veranlagt, schleppen sie an ihrem Hinterleib, dem Abdomen, einen klobigen Legebohrer mit sich herum, der zum Anschneiden der Pflanzen, in die sie ihre Eier ablegen, sägenartig geriffelt ist.

Doch es ist nicht so, als wären die Pflanzenwespen bei der Evolution außen vor geblieben. Diese rundlichen Wespen haben sich schnell diversifiziert und sind heute mit mindestens 8000 Arten vertreten, und zwar, ungewöhnlich für Insekten, hyperdivers in gemäßigten Zonen. Zu ihnen zählt die emblematische Riesenholzwespe, ein monströses, 20 Millimeter langes Getier, das die schwarz-gelben Streifen einer Hornisse nachahmt, wobei den Weibchen ein stachelähnlicher Legebohrer unanständig aus dem Abdomen ragt. Pflanzenwespen können nicht stechen – der Legebohrer hat sich bei nur einer anderen Wespengruppe zum Stachel entwickelt, 25 Millionen Jahre nach dem Erscheinen der Urpflanzenwespe. Die adulten Weibchen werden in der Regel nur ein bis zwei Wochen alt und legen ihre Eier nicht in Lebewesen, sondern in Pflanzen ab. Ihre Larven sind leicht zu verwechseln mit Schmetterlings- oder Mottenraupen und oft auffällig gefärbt, um neugierige Fressfeinde vor ihren reizenden Sekreten zu warnen. Die mobilen raupenähnlichen Larven futtern sich über mehrere Monate durch ihre Wirtspflanze hindurch, bis die Metamorphose einsetzt.

Der älteste lebende Vertreter der Pflanzenwespe ist vermutlich eine Xyelidae-Wespe, eine relativ artenarme Familie, von der jedoch das älteste Fossil eines Hautflüglers stammt, aus dem Zeitalter der Dinosaurier vor etwa 245 Millionen Jahren. Die heutigen Pflanzenwespen werden als »lebende Fossilien« gesehen, da sie sich seit ihrer Entstehung offenbar kaum verändert haben. Damit liefern sie uns einen Blick in die Vergangenheit und die Lebensgeschichte der ursprünglichen Wespen. Xyelidae legen ihre Eier in Kiefernzapfen, die Larven ernähren sich anschließend von Blättern, Knospen oder jungen Trieben. Wenn sich die Larve satt gefressen hat, lässt sie sich zu Boden fallen und legt sich eine kleine Zelle zum Überwintern an. Angesichts der Vielfalt und Vielzahl dieser Pflanzenfresser ist es nicht verwunderlich, dass sie gelegentlich wirtschaftlichen und ökologischen Schaden in Wäldern anrichten. Die Urwespe war (und ist nach wie vor) ein ökologisch und evolutionär erfolgreiches Wesen von Bestand.

Vor rund 240 Millionen Jahren kamen einige Wespen auf den Fleischgeschmack, was ein Artbildungsereignis von gewaltigem Umfang ausgelöst und all die anderen Wespenarten hervorgebracht hat. Die letzte vegetarische Wespe ähnelte wahrscheinlich der heutigen Rübsen-Blattwespe, Athalia rosae – ein nicht besonders einnehmendes orangefarbenes Insekt mit unschönem Buckel, das nur ein Blattwespen-Experte nicht als Fliege verkennen würde. Ausgehend von diesem quasimodoesken Vorfahren, gab es unter den Wespen zwei Anläufe, sich zu Fleischfressern zu entwickeln. Zum einen bei den Orussidae, einer Familie der Blattwespen. Die Orussidae bekommt man nicht oft zu Gesicht. Die blinden, beinlosen Larven verbringen ihre gesamte Lebenszeit in totem Holz, wo ihre bevorzugte Beute – holzbewohnende Käfer – lebt. Wie bei allen fleischfressenden Wespen sind die Tiere nur im Larvenstadium Karnivoren. Das adulte Muttertier sucht unter der toten Baumrinde nach Wirtskäferlarven, indem es die Vibrationen im Holz erspürt, setzt also im Grunde Echoortung in einem festen Medium ein. Mit ihrem sägeartigen Legeapparat bohrt es sich durch die Pflanze und legt ein längliches, gekrümmtes Ei direkt auf der Käferlarve ab. Sobald die Pflanzenwespenlarve schlüpft, ernährt sie sich von ihrer lebendigen Mahlzeit, bis sie sich schließlich als adultes Tier aus der Pflanze herausnagt.

Diese parasitären Pflanzenwespen, die in hölzernen Kinderstuben mit ihren stummen Opfern verborgen leben, wurden bisher von der Wissenschaft weitgehend vernachlässigt. Es ist nicht schwer, sich die Umstände vorzustellen, unter denen eine Umstellung von pflanzlicher Nahrung auf Insekten stattgefunden haben könnte. Es wäre vollkommen verständlich, wenn eine vegetarische Pflanzenwespenlarve versehentlich ein Insekt anknabbert, das nun einmal ihre Wirtspflanze bewohnt. Die Entwicklung einer Möglichkeit zur Verwertung dieser stickstoffreichen Nahrungsquelle anstelle von Pflanzen wäre evolutionär nur ein Katzensprung.

Indem sie ihre vegetarischen Gewohnheiten ablegten, haben diese parasitären Pflanzenwespen auch ihr Sinnessystem heruntergefahren. Sie haben ein Gen verloren, welches das Sehvermögen betrifft. In dunklen hölzernen Kinderstuben, in die sich kein Sonnenlicht verirrt, das wahrgenommen werden muss oder eine Reaktion erfordert, ist Sehen überbewertet. Auch einige Gene zur Erkennung chemischer Stoffe und Gerüche haben die Pflanzenwespen eingebüßt. Während vegetarische Pflanzenwespen ihre Wirtspflanzen am Geruch erkennen, finden parasitäre Pflanzenwespen ihre Beute anhand von Vibrationen. Interessanterweise hatte die Ernährungsumstellung von Pflanze zu Tier jedoch keine Umstellung des Verdauungsapparats zur Folge. Das ist erstaunlich, denn die Verdauung stickstoffreicher tierischer Nahrung anstelle stickstoffarmer Pflanzen sollte auf genetischer Ebene eigentlich ein ordentliches Maß an Innovation erfordern. Wissenschaftler gehen davon aus, dass die vielfältigen Nahrungsquellen adulter vegetarischer Pflanzenwespen – darunter Nektar, Pollen und Pflanzenmaterial – bereits ein komplexes Repertoire an Stoffwechselprozessen erfordert haben, welche bei der Transition zur Karnivorie leicht kooptiert werden konnten.

Die Evolution der Karnivorie bei parasitären Pflanzenwespen war minimal. Sie sind die Einsiedlermönche unter den Hautflüglern und machen heute nur ein Prozent aller Pflanzenwespenarten aus. Ein ruhiges Leben in einer dunklen, modernden Zelle, mit nur einem Wirt zur Gesellschaft, lädt wohl nicht gerade zu evolutionären Sprüngen und Innovationen ein.

In einem evolutionären Paralleluniversum der Pflanzenwespen wurde noch eine weitere Gruppe zu Fleischfressern – die parasitoiden Wespen, und diese haben sich als besonders erfolgreich herausgestellt. Sie sind die Nachfahren eines einzigen pflanzenbewohnenden Insekts, das vor etwa 247 Millionen Jahren am Übergang vom Perm zur Trias gelebt hat. Bereits wenige Millionen Jahre später begannen sich die parasitären Wespen zu diversifizieren, zufälligerweise zur selben Zeit, da sich auch deren Wirtsfamilien (Lepidoptera, Diptera) allmählich stark verbreiteten. Heute kommt auf jede Raupen-, Fliegen- und Käferart wohl mindestens eine parasitäre Wespenart, die sie sich zunutze macht. Doch ein Appetit auf verschiedene Fleischarten kann nicht der einzige Auslöser der starken Radiation (Auffächerung) parasitoider Wespen und deren Verwandten gewesen sein, andernfalls hätten sich parasitoide Pflanzenwespen mit Sicherheit ebenso erfolgreich diversifiziert.

Tatsächlich lief es etwas anders ab.

Der Erfolg der parasitoiden Wespe lässt sich am besten anhand der evolutionären Erfindung der Wespentaille erklären. Die viel beneidete Korsett-Silhouette bildete sich vor etwa 240 Millionen Jahren, als das erste Abdominalsegment, das Propodeum, mit dem Thorax (dem Brustteil) zu einer länglichen Taille verwuchs, die als Mesosoma bezeichnet wird. Die Funktion der Wespentaille geht jedoch über eine elegante Erscheinung hinaus. Indem man sich von der plumpen Breitbäuchigkeit der Pflanzenwespen verabschiedet hat, gewann der Hinterleib der Wespen an Beweglichkeit. Der mit dem Legebohrer ausgestattete Unterleib konnte nun sowohl nach oben als auch nach unten eingeklappt werden, was es der Wespe ermöglichte, damit selbst an schwer erreichbare Stellen zu gelangen. Vor diesem höchst wendigen, mit akrobatischer Bravour eingesetzten Apparat konnte sich keine Beute mehr verstecken. Gelenkige Körper mit überlangen Legebohrern wurden in den Erfolgsjahren der parasitoiden Wespe der letzte Schrei. Indem sich die Wespen darauf anpassten, jede erdenkliche Beute an allen möglichen Stellen zu erreichen, kam es neben der Tendenz zur Miniaturisierung des gesamten Körpers und zum Endoparasitoidismus (Eiablage im Wirt statt auf dem Wirt) zu einer regelrechten Explosion an Artbildungsereignissen.

All das ging einher mit einer enormen Diversifizierung anderer Insekten und damit einem reichhaltigen Angebot an potenzieller Beute. Parasitoide Wespen entwickelten einen stärkeren Geruchssinn und die Fähigkeit, Vibrationen genauer wahrzunehmen, wodurch Muttertiere eine immer größere Vielfalt an Beute an immer mehr Stellen aufspüren konnten. Der Legebohrer wurde optimiert, um mit dem Ei auch ein Gift verabreichen zu können, das die Beute lähmt und als lebendige Vorratskammer für den Wespennachwuchs gefügiger macht. Viele endoparasitoide Wespen haben außerdem eine besondere Beziehung zu einem Virus entwickelt, das sie zusammen mit Ei und Gift in die Wirtsraupe injizieren. Das Virus unterdrückt das Immunsystem des Wirts und erhöht dadurch die Überlebenschancen und die Qualität der sich entwickelnden Wespenlarve. Diese Wespen-Virus-Beziehung ist so eng, dass sich ihre Genome vermischt haben und eine einzigartige Virusart entstanden ist. Das Virus verhindert nicht nur eine Immunreaktion der Raupe auf die parasitoide Larve, sondern verändert auch die Zusammensetzung des Raupenspeichels, um zusätzlich das Immunsystem der Pflanze, von der sich die Raupe ernährt, zu unterdrücken und so der Raupe zu einem schnelleren Wachstum und der Wespenlarve zu einem üppigeren Mahl zu verhelfen.