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Hallie und ihre chaotische Familie muss man einfach lieben! Ein berührend-witziger Roman über Liebe, Gefühlschaos und Erwachsenwerden für Fans von Jenny Han, Kelly Oram und »The Kissing Booth«
»Jetzt reckt er das Kinn wieder in die Höhe und sieht mich aus unergründlich blauen Augen an. Sie sind wie das Meer in der glitzernden Sommersonne. Hübsch anzusehen, aber trotzdem bedrohlich und viel zu tief, um darin nicht zu ertrinken. Und ich ertrinke.«
Ihre Eltern trennen sich, die beste Freundin ist ausgerechnet mit ihrem Bruder zusammen und ihr Freund betrügt sie: Hallies Leben steht gerade kopf. Kein Wunder, dass sie sich geschworen hat, nie wieder ihr Herz an jemanden zu verlieren. Blöderweise gibt es da noch Nolan: Der gutaussehende, aber abweisende Austauschschüler ihres Bruders schläft nun im Zimmer nebenan und irgendwie gelingt es ihm, Hallies Herz höher schlagen zu lassen. Und als wäre das noch nicht genug Gefühlschaos, tauchen plötzlich mysteriöse Liebesbriefe in ihrem Spind auf, die Hallie an dem Pakt, den sie mit ihrem Herz geschlossen hat, langsam zweifeln lassen ...
»Aufwühlend, schockierend, frech und manchmal auch Grenzen überschreitend [...]. Eine Enemies-to-Lover-Geschichte, die es in sich hat.« ((der-duft-von-buechern-und-kaffee.com))
Wattpad verbindet eine Gemeinschaft von rund 90 Millionen Leser:innen und Autor:innen durch die Macht der Geschichte und ist damit weltweit die größte Social Reading-Plattform. Bei Wattpad@Piper erscheinen nun die größten Erfolge in überarbeiteter Version als Buch und als E-Book: Stoffe, die bereits hunderttausende von Leser:innen begeistert haben, durch ihren besonderen Stil beeindrucken und sich mit den Themen beschäftigen, die junge Leser:innen wirklich bewegen!
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Veröffentlichungsjahr: 2023
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Bei »When I Broke Up With Love« handelt es sich um eine überarbeitete Version des erstmals auf Wattpad.com von fabi_lily ab 2019 unter dem Titel »Vielleicht morgen, Herz« veröffentlichten Textes.
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© 2019 by Fabienne Lily. The author is represented by Wattpad WEBTOON Studios.
© Piper Verlag GmbH, München 2023
Redaktion: Julia Feldbaum
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt
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Cover & Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Epilog
Danksagung
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Mein ganzes Leben befindet sich in einem braunen Pappkarton. Zusammengefaltet, gestapelt oder zerknüllt.
Die gelben Chucks, die Mom mir zu meinem sechzehnten Geburtstag geschenkt hat, liegen unter einem Stapel meiner Lieblingsbücher, deren Seiten zum Teil vom vielen Lesen abgewetzt und eingerissen sind. Darüber befindet sich lieblos die Jeansjacke, die ich von Dad als Trennungs-Trostgeschenk bekommen habe, und ein Haufen Postkarten, die sich in den letzten Jahren auf meinem Schreibtisch angesammelt haben. Ein Sammelsurium an Beweisstücken einer gescheiterten Ehe und ein Schreibtisch, der jetzt nicht mehr in meinem Zimmer steht.
Der Raum mit den leuchtend blauen Wänden, die ich mit dreizehn mal furchtbar cool gefunden habe, ist nicht mehr mein Zimmer, aber irgendwie ist er es doch. Ab dem heutigen Tag habe ich zwei Zuhause. Das bei Mom und das bei Dad. Haus Nummer eins ist dort, wo es meine Lieblingssnacks im Kühlschrank gibt, und das andere ist mein gelegentliches Wochenenddomizil mit dem riesigen Flachbildfernseher im Wohnzimmer und all den Erinnerungen überall.
Seufzend trete ich näher an das Fenster heran, vor dem ich so oft schlaflose Nächte damit verbracht habe, die funkelnden Sterne am Himmel zu beobachten, während ich unten aus dem Wohnzimmer meine Eltern rumbrüllen hörte, als würden sie sich gegenseitig die Köpfe einschlagen. Oder aber wenn genau das Gegenteil der Fall war und sie die Nächte dazu nutzten, sich in ihrem Schlafzimmer zu versöhnen. Aber das ist Schnee von gestern und definitiv nichts, worüber ich noch länger nachdenken will.
Draußen brennt die Sonne vom Himmel. Der Asphalt flimmert, und keine einzige Wolke ist zu sehen. Müsste ich nicht bei diesem doofen Umzug helfen, könnte ich jetzt entspannt mit Auden und meinem älteren Bruder Jamie am See liegen und in der Hitze schmoren.
Mom, die dabei ist, die letzten Kisten auf die Ladefläche ihres Geländewagens zu befördern, wischt sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Mein Bruder trägt gerade einen randvoll bepackten Wäschekorb voller Handtücher nach unten und stellt ihn auf dem Gehweg neben dem Wagen ab. Mom deutet mit dem Zeigefinger auf den Pick-up und dirigiert Jamie, wohin er welchen Karton und wo er welche Kiste abstellen soll. Mein Bruder lacht nur und räumt alles, wie sie es sich wünscht, auf den dreckbespritzten schwarzen Transporter. Von Waschanlagen hält Mom nicht viel. Schon allein deswegen nicht, weil man dafür zahlen muss.
»Hallie!«, brüllt meine Mutter von unten so laut, dass ich es durch das geschlossene Fenster hören kann. Ihr suchender Blick wandert die Hauswand entlang und richtet sich schließlich direkt auf mich. »Krieg deinen faulen Arsch hier runter, Schatz! Wir wollen los!« Obwohl sie versucht, ernst zu klingen, verrät sie ihr breites Grinsen.
Ich glaube, Mom ist die Einzige von uns dreien, die sich über den Umzug freut. Jamie und ich wissen beide nicht so recht, was wir davon halten sollen, und das, obwohl unser neues Haus bloß ein paar Blöcke weiter liegt. Eine allzu große Umstellung dürfte das Ganze also nicht werden.
»Ja!«, rufe ich, bezweifle aber, dass Mom mich hören kann. Mein Stimmorgan ist bei Weitem nicht so laut wie ihres. Ich drehe mich um, klemme mir den Karton unter den Arm und mache mich auf den Weg. Im Türrahmen bleibe ich noch mal stehen und sauge den Anblick in mich auf. Mein altes Bett, der gestreifte Teppich und mein Kleiderschrank sind die einzigen Möbelstücke, die sich noch im Zimmer befinden. Der Rest ist schon bei Mom.
»Tschüss, Zimmer. Ich werde dich vermissen«, murmle ich vor mich hin und verlasse mit einem wehmütigen Lächeln den Raum. Ich weiß, dass ich das Zimmer nicht zum letzten Mal gesehen habe und auch noch oft genug in meinem alten Bett schlafen werde, aber so wie vorher wird es trotzdem nie wieder sein.
Während ich die Treppe nach unten gehe, sauge ich jedes einzelne Knarzen der Holzstufen auf wie ein Schwamm das Wasser. Jamie und ich sind, als wir klein waren, oft in einem Wäschekorb die Treppe runtergerutscht, bevor Dad uns danach verarztet und Mom uns zum Trost wegen der Verletzungen heiße Schokolade gekocht hat. In der Küche haben wir vier uns jeden Abend zum Essen getroffen und oft so sehr gelacht, dass uns die Augen getränt und die Bäuche wehgetan haben. Aber das war lange vor Dads Beförderung und den Streitereien, die darauf folgten.
Von meinem Vater muss ich mich nicht verabschieden. Denn der hat sich für diese Woche extra Urlaub genommen und ist weggeflogen, damit er uns nicht dabei zusehen muss, wie wir unser gesamtes Hab und Gut aus dem Haus schleppen.
»Was hast du so lange da oben gemacht? Ist dein Handy mal wieder ins Klo gefallen?«, neckt mich Jamie, der schon im Hausflur auf mich wartet und mir den Karton bereitwillig abnimmt.
»Das ist bloß ein einziges Mal passiert, du Schwachkopf!«, maule ich, kann mir ein Lachen aber nicht verkneifen. Dieser Vorfall war wirklich zu dumm. Selbst für meine Verhältnisse.
»Hast du deine Justin-Bieber-Poster noch schnell unter dem Bett vorkramen müssen, oder was?«, spottet Jamie weiter, wofür ich ihm mit dem Ellenbogen spielerisch in die Seite knuffe.
Er stößt einen erstickten Laut aus und lässt den Karton mit meinen Sachen mit voller Absicht ein paar Zentimeter Richtung Erdboden fallen, bevor er die Kiste wieder auffängt. Mir bleibt das Herz stehen. »Ups!«, macht Jamie gespielt erschrocken, wofür er sich einen Klaps gegen den Oberarm einfängt.
»Du bist ein Trottel«, sage ich beleidigt und laufe hocherhobenen Hauptes nach draußen. »Außerdem hab ich nie Justin-Bieber-Poster gesammelt, sondern welche von Harry Styles. Pff! Und da war ich dreizehn, Doppel-Pff!«
»Die sehen doch eh alle gleich aus«, winkt Jamie ab und zieht die Mundwinkel noch weiter in die Höhe.
»Gar nicht! Und ey! Lieber besitze ich lebensgroße Poster von Harry Styles, als heimlich den Playboy unter meinem Bett zu verstecken.« Jetzt liegt es an mir, dämlich zu grinsen.
Jamie verlagert sofort das Gewicht meines Kartons auf einen Arm, zückt mit der freien Hand seinen Mittelfinger und hält ihn mir direkt vor die Nase.
Mom knallt die Luke der Ladefläche runter, dreht sich zu uns um und stemmt die Hände in die Hüften. Sie ist gerade noch schnell genug, um Jamies Mittelfinger zu bemerken. »Was habe ich euch beiden immer gesagt? Wir zeigen unseren Mittelfinger nur Leuten, die es verdient haben, und auf keinen Fall Familienmitgliedern!«
»Was ist mit Dad? Dem hast du neulich doch auch ’nen Wichser gezeigt«, wirft Jamie ein, schleudert meinen Karton schon fast über die Ladefläche des Pick-ups und dreht sich mit einem hämischen Lächeln zu Mom um. Bei der Art und Weise, wie er mit meinen Habseligkeiten umgeht, rutscht mir das Herz glatt noch mal in die Hose.
Meine Mutter seufzt. »Der ist bloß angeheiratet. Ich bin nicht mit ihm verwandt, also zählt das nicht. Und jetzt schwingt eure Hinterteile ins Auto, Babys.«
Unser neues Haus ist im Vergleich zum alten ein Witz. Es hat zwar zwei Stockwerke, aber bei Weitem nicht so große Zimmer. Ein graues leicht abgeflachtes Dach mit schmutzigen Ziegeln und eine Veranda mit weiß gestrichenem Holzgeländer sind die einzigen beiden Dinge, die es mit seinem Vorgänger gemeinsam hat. Es gab wohl irgendwann auch mal eine Scheune hinter dem Haus. Ja, gab.
Die dunkelroten Fenster und eine Haustür in derselben Farbe sehen total lächerlich aus. Genauso wie die Rosenbüsche im Garten, die bei Moms nicht vorhandenem grünem Daumen sowieso spätestens in einem Monat eingehen werden. Beim Aussteigen aus dem Pick-up verkneife ich mir dennoch jeglichen Kommentar und zwinge mich zu lächeln.
»Hallie!«, schreit urplötzlich jemand meinen Namen.
»O Gott!« Erschrocken presse ich eine Hand auf mein rasendes Herz und starre Auden Woods, die wie aus dem Nichts auf uns zujoggt, anklagend an. Ihr honigblondes Haar hat sie zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengebunden, und das geblümte Kleid flattert bei ihren schnellen Bewegungen wie eine Wolke hinter ihr her. Die schlichte Kreuzkette, die um ihren schlanken Hals baumelt, glitzert silbern im Sonnenlicht.
»Was machst du denn hier?«, frage ich sie erstaunt, als sie mit geröteten Wangen vor mir zum Stehen kommt und sich die Seite hält. Sport ist genauso wenig ihre Leidenschaft wie meine. »Gott, A! Nächstes Schuljahr solltest du echt öfter im Sportunterricht mitmachen und nicht immer behaupten, du hättest Krämpfe.«
»Sei … still«, presst sie keuchend hervor und nimmt einen tiefen Atemzug.
Im Hintergrund höre ich Mom, die Jamie verzweifelt zu erklären versucht, in welchen Raum er welchen Karton bringen soll. Hätte sie meinen Rat befolgt und die Kisten – wie ich meine – beschriftet, hätte sie dieses Problem jetzt gar nicht.
»Ich wollte nur meine beste Freundin besuchen, die jetzt endlich in derselben Straße wohnt wie ich«, meint Auden und strahlt mich bis über beide Ohren an. »Es ist so cool, dass ihr jetzt hier seid!«
»Jaaa«, mache ich gedehnt und will ihr gerade erklären, wie bescheuert ich den Umzug trotzdem finde, als Jamie von hinten auf uns zukommt, mich zur Seite schiebt, als wäre ich ein ekliges, gammeliges Thunfischsandwich, und Auden die Lippen auf den Mund drückt. Innerlich stöhne ich laut auf. Ich werde mich wohl nie daran gewöhnen, dass meine beste Freundin mit meinem Bruder zusammen ist und die beiden gelegentlich ihren Speichel miteinander tauschen. Ich zähle geistig bis zehn, bis ich mich lautstark räuspere und die beiden abrupt auseinanderfahren.
»Tut mir leid«, meint A und versucht sich an einem Lächeln. Ihr Gesicht hat fast dieselbe Farbe wie die gestrichenen Fensterläden des neuen Hauses.
»Gott im Himmel! Mach, dass die beiden nie wieder vor mir rummachen!«, flehe ich und sehe gequält nach oben in den blauen Spätsommerhimmel.
Jamie lacht, während Auden schnell die grüne Krone des Ahornbaums im Garten anvisiert. Zumindest ist es zwischen uns mittlerweile nicht mehr ganz so seltsam und peinlich wie am Anfang ihrer Beziehung vor zwei Jahren.
»Hey, Babe? Kommst du später mit uns zum Lagerfeuer?«, fragt Jamie Auden, die daraufhin mit den Achseln zuckt.
»Kommt drauf an, ob meine Eltern es erlauben«, sagt sie, woraufhin Jamie und ich die Luft anhalten und einen erschrockenen Blick miteinander wechseln. Das wars. Auden kommt nicht mit – Ende der Geschichte.
Als sie unsere Gesichter bemerkt, fängt sie an zu lachen. »Das war ein Witz! Ich bin doch nicht bescheuert. Ich hab ihnen erzählt, dass ich bei Hallie übernachte. Ich bin dabei.«
»Das ist toll, Auden«, mischt sich da Mom mit ironischem Unterton ein, die plötzlich wie ein Geist hinter uns aufgetaucht ist. O mein Gott. Sie tut es schon wieder! Gleich kommt irgendwas Peinliches.
»Du kannst dich jetzt aber gern nützlich machen und Hallie beim Auspacken helfen.« Die Art und Weise, wie sie meinen Namen ausspricht, schließt die Möglichkeit aus, dass A später eventuell im Zimmer meines Bruders verschwindet.
»Sehr gern, Mrs Carmichael!« Auden lächelt zuckersüß. Das Verrückte an der Sache ist, dass ihr Lächeln nicht mal fake ist. »Ihre Bluse ist mal wieder superstylish!«
Ich halte den Atem an, Jamie tut dasselbe, und Mom sieht Auden mit erstarrtem Gesichtsausdruck an, bevor sie laut auflacht.
»Netter Versuch, Schätzchen. Aber selbst wenn du dich bei mir einschleimst: Ich lasse dich trotzdem nicht bei meinem Sohn übernachten.« Mit diesen Worten wuschelt sie Jamie durch das dunkelbraune Haar, das sie uns beiden samt den Karamellaugen vererbt hat, schnappt sich eine Kiste und läuft triumphierend grinsend zur Haustür.
»Eigentlich war das mein voller Ernst«, sagt Auden und sieht zu Jamie auf, der gerade mit grimmiger Miene damit beschäftigt ist, seine Haare zu richten.
»Jemand sollte dringend mal wieder zum Friseur. Du siehst aus wie Big Foot«, ziehe ich ihn augenbrauenwackelnd auf und greife nach meinem Karton, der noch auf der Wagenladefläche steht.
Jamie zieht eine Grimasse und äfft meine Stimme nach, während ich begleitet von Auden die Stufen der Veranda hochsteige und das Haus betrete. Vorher wirft sie meinem Bruder noch schnell einen verknallten Blick zu.
»Ich freue mich so«, meint A, als wir in meinem Zimmer angekommen sind, ich den Karton zu dem Stapel mit den restlichen Kisten auf den Boden stelle und mich stöhnend aufs Bett fallen lasse. Auden lässt sich neben mich plumpsen und schaut sich neugierig um. Obwohl sie erst vor ein paar Tagen hier war und mir beim Streichen der Wände geholfen hat, sieht sie jetzt so aus, als bekäme sie mein neues Zimmer mit den eisblauen Wänden zum ersten Mal zu Gesicht. Der künstliche Geruch der Wandfarbe liegt immer noch in der aufgeheizten Luft. Abgesehen davon riecht es nach neuen Möbeln, die ebenfalls erst vor Kurzem aufgebaut worden sind.
Auden legt nachdenklich den Zeigefinger an ihr Kinn. »Weißt du, was deinem Zimmer einen gemütlicheren Touch verpassen würde?«
»Wenn du jetzt wieder mit Grünzeug anfängst, dann …«
»Aber eine Monstera wäre echt toll hier drinnen und …«
»Nein!«
»Aber …«
»Du kannst gern mit mir tauschen und hier einziehen«, schlage ich vor und greife nach einem der vielen Zierkissen, die über meinem Kopf auf dem Bett liegen. Die einzigen Dekoartikel, die schon ausgepackt sind. »Wenn du mit meinem Bruder zusammenleben würdest, fändest du ihn gar nicht mehr so scharf. Glaub mir.«
»Hallie«, knurrt Auden und bewirft mich mit einem Stofftier, das letzte Woche nur knapp dem Haufen mit den Sachen, die ich zur Müllhalde gebracht habe, entgangen ist. Eine ausgewaschene Plüschkatze.
»Ja, ja«, sage ich grinsend. A hat ihr Gesicht zu mir gedreht und sieht mich aus ihren hellblauen Augen an. Die Lust, über ihre Beziehung mit meinem Bruder zu reden, vergeht mir, also wechsle ich prompt das Thema. »Ich hab keine Ahnung, warum wir ausgerechnet am letzten Wochenende der Sommerferien hier einziehen mussten.«
»Um für Extraspannung vor Schuljahresbeginn zu sorgen?«, mutmaßt Auden. »Eure Mom liebt doch dramatische Auftritte.«
»Ich würde es ihr sogar zutrauen. Vor allem, weil morgen dieser dämliche Schüleraustausch von Jamie losgeht. Ich glaube, Mom wollte nur heute hier einziehen, damit sie einen Vorwand hat, dass morgen definitiv alles fertig ausgepackt und aufgeräumt ist.«
»Hey!«, sagt Auden plötzlich und setzt sich kerzengerade auf. Ihr belustigter Blick von gerade eben ist wie weggeblasen und hat einer leicht panischen Miene Platz gemacht.
Stirnrunzelnd setze ich mich auf, schlinge die Arme um das lila glitzernde Kissen auf meinem Schoß und sehe sie erwartungsvoll an.
»Wenn morgen dieses Mädchen hier einzieht, verbietest du ihr, dass sie in Jamies Zimmer schläft, okay?«
Fast verschlucke ich mich vor lauter Lachen an meiner eigenen Spucke. Keuchend klopfe ich mir auf die Brust und starre Auden ungläubig an. »Was? Das ist deine größte Angst?«
»Was denn sonst?« Zumindest grinst sie jetzt wieder. »Vielleicht ist sie ja ein braun gebranntes Supermodel mit langen Beinen, Beachwaves und trainiertem Bauch?«
»Wenn das der Fall ist, kicke ich sie höchstpersönlich hier raus, damit ich kein schlechtes Gewissen haben muss, wenn ich den Kühlschrank öffne«, versichere ich ihr und schwinge mich auf die Beine. »Und jetzt hilf mir, meinen Kram auszupacken, bevor Mom mit dem Nudelholz reinkommt und uns den Allerwertesten versohlt. Oder schlimmer noch: uns nicht zur Party gehen lässt.«
Das Lagerfeuer findet wie immer am Green Lake statt – umringt von Bergen und hohen Bäumen. Die Wipfel verdecken das dunkelblaue Leuchten des Nachthimmels und der ersten Sterne fast vollständig und tauchen alles in tiefe Schatten.
Ich recke das Kinn, als Auden, Jamie und ich näher auf das lodernde Lagerfeuer zulaufen, das seinen Rauchgeruch überall in der Luft verteilt. Orangerote Funken stieben tanzend in Richtung Himmel und verursachen ein Knacken, das unter der dröhnenden Musik aus einer Anlage kaum zu hören ist. Überall stehen Schüler der Maple High herum, die tanzen, sich unterhalten oder sich einfach nur mit reingeschmuggeltem Bier betrinken. Die Stimmung ist ausgelassen, und das, obwohl übermorgen wieder die Hölle losbricht.
»Leute, sobald es später losgeht, verschwinde ich«, räumt Auden, die zwischen Jamie und mir hertrottet und seine Hand hält, mit gedämpfter Stimme ein und blickt sich um. Ihre Wangen werden allein schon bei dem Gedanken an das Ritual kreidebleich.
»Ach, komm schon«, sage ich. »Bis dahin ist es stockdunkel, und neunzig Prozent der Anwesenden sind – hoffentlich einschließlich meiner Wenigkeit – betrunken.« Manchmal verstehe ich echt nicht, wie man so verklemmt sein kann wie meine Freundin. Andererseits habe ich auch keine Ahnung, wie es ist, in einer streng katholischen Familie aufzuwachsen.
Auden holt tief Luft und schmiegt sich von der Seite enger an meinen Bruder. »Schön. Ich will das trotzdem nicht.«
»Es machen alle mit, Babe. Niemandem wird es auffallen«, sagt Jamie und drückt ihr einen zarten Kuss auf die Schläfe.
Das, wogegen A sich gerade sträubt, ist die alljährliche Tradition, die an der Maple High immer am letzten Samstag der Sommerferien für alle Highschool-Schüler ab der Mittelstufe am See durchgeführt wird. Um Mitternacht heißt es: Runter mit den Klamotten und rein in den See!
»Das ist doch gar nicht so schlimm«, sage ich und lächle Auden aufmunternd an.
Jamie schüttelt grinsend den Kopf, als Auden stur die Unterlippe zwischen die Zähne zieht. »Sagt der Schisser, der letztes Jahr selbst nicht mitgemacht und sich lieber hinter den Büschen versteckt hat!«, feixt Jamie.
Empört schnappe ich nach Luft und verschränke die Arme vor der Brust. »Na und? Da war ich auch noch vergeben und davor …«
»Dexter auf drei Uhr!«, unterbricht Auden mich plötzlich und rammt mir so heftig ihren Ellenbogen in die Rippen, dass ich wie ein kleines Kätzchen, dem jemand auf die Pfote getreten ist, aufquieke.
»Wenn man vom Teufel spricht«, schnaube ich und bleibe wie angewurzelt auf der Stelle stehen. Die Äste unter meinen Schuhsohlen knacken leise – so wie mein Herz, das gerade zersplittert. Im Schein des Feuers erkenne ich, wie eine Gruppe Jungs mit Bierflaschen oder blauen Pappbechern in den Händen am Seeufer entlangschlendert und immer näher in unsere Richtung kommt. Dexter geht rechts außen neben seinen beiden Freunden her, nippt an seinem Bier und fährt sich mit einer Hand und einem verwegenen Gesichtsausdruck durch das pechschwarze Haar.
Dexter … mein Ex-Freund.
Obwohl unsere Trennung mittlerweile schon über ein halbes Jahr her ist, spüre ich immer noch den dumpfen Stich in der Brust, wenn ich ihn ansehe. Von innen beiße ich mir so fest auf die Wange, dass es wehtut, und versuche, ruhig weiterzuatmen, ohne zu hyperventilieren.
»Der Pisser«, knurrt Jamie und spannt all seine Muskeln an. Sein Blick ist hart und liegt auf Dexter, als wollte er ihn mit seinem Gesichtsausdruck töten.
»Ist es falsch, wenn ich mir gerade wünsche, dass er direkt auf das Feuer zuläuft und anfängt zu brennen?«, überlege ich laut und werfe einen Blick auf Jamie und Auden.
Beide schütteln einstimmig den Kopf, wenden die Gesichter aber nicht von Dexter und seinen primitiven Freunden ab.
»Vielleicht haben wir Glück, und er ertrinkt später oder so«, meint Auden. »O Gott, Entschuldigung!« Panisch legt sie den Kopf in den Nacken, sieht nach oben zum Himmel, der sich immer schwärzer färbt, und setzt einen Blick auf, als würde sie in ihrem Kopf gerade das Vaterunser aufsagen. Vielleicht macht sie das sogar tatsächlich.
Ich lache und sehe dann zurück zu Dexter, der in genau dieser Sekunde an mir vorbeiläuft und mich dabei mit der Schulter streift. Dummerweise muss ich daraufhin laut nach Luft schnappen, sodass er seinen Schritt verlangsamt und irritiert über seine Schulter und damit direkt zu mir schaut. Als Dexter mich sieht, verhärtet sich sein Blick.
Wieso tut er gerade so, als wäre ich diejenige, die ihn auf dem Schulball im Chemiesaal betrogen hat?
Dexters Kiefer mahlt. Seine Wimpern werfen dunkle Schatten unter seine Augen und lassen seinen Blick dadurch nur noch bedrohlicher wirken. Obwohl ich mir Mühe gebe, ihn zu hassen, hängt ein klitzekleiner naiver, idiotischer Teil von meinem Herzen immer noch an ihm. Angestrengt versuche ich, ihn genauso eiskalt und vernichtend anzustarren wie er mich. Dass mir das nicht so gut gelingt, weiß ich, auch ohne mich selbst in einem Spiegel zu betrachten. Ich hatte für so was noch nie ein Talent.
»O hey, Hallie«, sagt Dexter nach gefühlt minutenlangem Schweigen mit angespannter Stimme und lässt seinen Blick für einen Augenblick über meinen Körper wandern. Ich trage eine schwarze Jeans, knallgelbe Chucks und ein T-Shirt.
»Dexter.« Ich nicke kalt und verknote die Arme vor der Brust. Ein Schutzmechanismus, um mein Herz vor dem spitzen Schwert zu schützen, das bei jedem seiner Worte immer näher auf meine Brust zurast. Aber es ist schon zu spät. Ich fühle mich bereits so, als würde jemand auf meinen Brustkorb einhacken.
»Ich wusste nicht, dass du auch hier sein wirst«, sagt er und reibt sich mit einer Hand über den Nacken. Wahrscheinlich ist ihm das, was er mir angetan hat, peinlich.
Die Wut brodelt in mir und bringt mein Blut zum Kochen. »Oh, und wenn du es gewusst hättest, wärst du nicht gekommen? Danke für den Hinweis! Nächstes Mal schreib ich dir einfach eine Nachricht, wenn ich irgendwo hinwill und keine Lust habe, deine Visage zu sehen.« Mit diesen Worten ist das Gespräch für mich beendet. Mehr hält mein gebrochenes Herz nicht aus. Schnell kehre ich ihm den Rücken zu, quetsche mich zwischen Auden und Jamie, die das Szenario die ganze Zeit stillschweigend beobachtet haben, und hake mich bei den beiden unter. Zielstrebig laufe ich auf das Lagerfeuer zu und führe uns damit weit genug von Dexter weg, um keinen Nervenzusammenbruch zu erleiden.
»Wie ich diesen Mistkerl hasse«, sagt Jamie und starrt am Feuer immer noch mit giftigem Blick zu meinem Ex, der in dieser Sekunde schon wieder vergessen zu haben scheint, dass ich überhaupt existiere. Dexter legt einen Arm um Eliza Fitzgerald – die Kapitänin des Mädchen-Volleyballteams – und flüstert ihr etwas ins Ohr, das sie zum Lachen bringt.
»Jaaa«, antworte ich lang gezogen. »Kann es nicht blitzen und ausgerechnet ihn treffen? Es reicht auch schon, wenn es nur ganz kurz ist.«
»Wir kommen für diese Mordgelüste so was von in die Hölle«, sagt Auden und streicht sich eine blonde Strähne hinters Ohr.
»Aww«, macht Jamie und drückt ihr einen kurzen Kuss auf die Lippen. »Ich werde schon dafür sorgen, dass auch die Hölle wie der Himmel für dich sein wird, Babe.« Damit küsst er Auden erneut – diesmal viel lauter und mit Zunge, sodass ich mich fragen muss, ob die beiden heute schon was gegessen haben oder ob sie lieber einander verschlingen wollen.
»Also, jetzt gerade wünsche ich mir doch lieber, ich würde brennen. Oder meine Augen, damit ich das nicht mehr mit ansehen muss«, meine ich trocken und lege den Kopf schief. »Ich geh mir jetzt was zu trinken holen, ihr Irren!«, verkünde ich laut. Beide heben, ohne sich gegenseitig abgesprochen zu haben und ohne hinzusehen, hinter dem Rücken des anderen die Hände und strecken ihre Daumen in die Höhe. »O Lord. Jetzt seid ihr schon zu siamesischen Zwillingen mutiert.«
Rückwärts und lachend entferne ich mich, will mich auf den Weg zu der improvisierten Bar machen, welche aus übereinandergestapelten Getränkekisten besteht, und lande prompt rücklings auf dem Boden. Mein verdammter Fuß ist gegen eine bescheuerte Wurzel gestoßen. Durch den Aufprall und den erstickten Laut, den ich von mir gegeben habe, als ich auf dem Hintern gelandet bin, lösen sich Jamie und Auden voneinander und sehen zu mir nach unten. Als sie mir dabei zuschauen, wie ich mich aufrapple und mir den Dreck von der Hose klopfe, können sie sich – so wie alle anderen Zeugen meines Sturzflugs – kaum mehr vor Lachen halten.
»Ladies and Gentlemen, meine kleine Schwester aka ›Miss zu blöd zum Laufen‹«, prustet Jamie, klatscht in die Hände und kommt mit wenigen langen Schritten auf mich zu. Seine Augen scannen meinen Körper im Schnelldurchlauf nach Verletzungen ab. Als er sich vergewissert hat, dass ich unversehrt bin, lacht er seelenruhig weiter.
»Was ist denn hier los?« Plötzlich taucht Reeve Langford – Jamies bester, aber hirnloser Freund – hinter meinem Bruder auf und klopft ihm auf die Schulter.
Jamie lacht immer noch, als er ihm antwortet: »Hallie ist heute irgendwie mit dem falschen Fuß aufgestanden.«
»Und ich scheue mich nicht davor, dir mit diesem Fuß einen Tritt in die Eier zu verpassen«, antworte ich mit einem engelsgleichen Lächeln auf den Lippen, das Auden zum Schmunzeln bringt.
Sofort verengt Jamie die Augen zu schmalen Schlitzen und befeuert seine Freundin mit einem warnenden Blick. »Ey, wessen Freundin bist du eigentlich?«, will er wissen.
Auden zuckt die Achseln und deutet auf mich. »Also, ihre war ich zuerst.«
»Versteh ich nicht«, mischt sich Reeve ein und zwinkert mir mit einem fetten Grinsen zu. »Das ist schließlich Hallie. Ich würde nicht mal für eine Million Dollar mit ihr befreundet sein wollen.«
Wie ich ihn verabscheue! Seit ich denken kann, muss ich Reeve mittlerweile schon ertragen. Jamie und er waren schon die besten Kumpels, als den beiden Hosenscheißern noch Sabber aus dem Mund gelaufen ist. Dadurch dass Jamie mit meiner besten Freundin zusammen ist, hängt er ständig mit uns ab und Reeve als sein lästiges Anhängsel dadurch auch.
»Grund Nummer vierhundertachtunddreißig, wieso du keine Freundin hast«, sage ich an Reeve gewandt und lächle ihn smart an.
»Wenn ich mich recht erinnere, bin ich nicht der Einzige von uns, der Single ist. Da war doch irgendwas …« Nachdenklich legt er sich eine Hand ans Kinn und tut so, als müsste er über etwas schwer grübeln. Dann hebt er den ausgestreckten Zeigefinger und stößt hervor: »Ahh! Richtig! Du bist es ja auch!«
»Leute, ich brauche dringend ein Bier.« Jamie drängt sich zwischen uns und legt jeweils Reeve und mir eine Hand auf die Schulter, bevor wir uns wie wilde Löwen anfallen können.
»Guter Plan«, sagt Reeve und grinst schelmisch. »Schließlich muss ich deine Schwester später noch nackt sehen.«
Wow! Danke, Reeve. Augenrollend sehe ich ihn an und versuche, dabei nicht allzu angefressen auszusehen. Bin ich so unattraktiv oder er einfach bescheuert?
»Wenn du sie anstarrst, kastriere ich dich«, knurrt Jamie und schiebt uns beide in Richtung Bar. Da Reeve der Einzige von uns vieren ist, der zumindest ansatzweise beliebt ist, werden wir von sämtlichen Schülern um uns herum angestarrt. Während Jamie in gar keinem und Auden und ich im Kunstklub sind, zählt Reeve als Mitglied des Basketballteams der Schule fast schon zur Elite.
Besonders sexy macht ihn sein Posten im Team für mich aber nicht. Er sieht mit seinen braunen Haaren, den markanten Gesichtszügen und den dunkelbraunen Augen zwar schon recht gut aus, aber sein Charakter macht all das sofort wieder wett, wenn er auch nur eine Sekunde lang den Mund aufmacht.
»Ein Bier für mich und einen Kindersekt für die Lady hier.«
Bämm!! Da hätten wir es wieder. Vernichtend funkle ich Reeve von der Seite an.
»Du weißt schon, dass ich nur ein Jahr jünger bin als du, oder?«, hake ich mit in die Stirn gezogenen Brauen nach. »Genau genommen darfst du also genauso wenig Alkohol trinken wie ich.«
»Im Gegensatz zu dir sehe ich aber nicht aus wie zwölf«, kontert Reeve und nimmt dem armen Kerl, der den ganzen Abend lang den Barkeeper spielen darf, die bestellte Flasche Bier ab. Aus seiner Hosentasche zieht er ein Feuerzeug, mit dem er den Deckel der Glasflasche löst. Er lässt ihn achtlos ins Gras fallen.
An Audens gequälter Miene erkenne ich sofort, dass ihr umweltbewusstes Herz in zwei Hälften bricht. »Ich nehme auch ein Bier«, sage ich an den Kerl gewandt, woraufhin er mir bereitwillig eine Flasche überreicht.
Ratlos betrachte ich den Deckel, der fest mit der Flaschenöffnung verbunden ist. Ein Feuerzeug habe ich im Gegensatz zu Reeve nicht dabei, und einen Flaschenöffner scheint es hier auch nicht zu geben. Während Jamie sich und Auden etwas zu trinken bestellt, sieht mich Reeve mit hochgezogenen Mundwinkeln an.
»Na? Hat da jemand keine Ahnung, wie er seine Flasche aufmachen soll?«
»Na? Ist heute wieder Freigang bei den Vollidioten?«
»Haha.«
Genervt aufstöhnend, halte ich ihm die grüne Flasche hin. »Machst du sie mir bitte auf?« Meine Stimme ist ein einziges missmutiges Schnauben. Reeve lässt es sich nicht nehmen, triumphierend das Gesicht zu verziehen, als er nach der Flasche greift und sie mit seinem Feuerzeug öffnet.
»Danke«, presse ich hervor, als ich wieder nach der Bierflasche greifen will. Doch Reeve streckt genau in diesem Moment den Arm nach oben und bringt die Flasche für mich außer Reichweite. »Komm schon, lass den Mist.« Mit aller Mühe stelle ich mich auf die Zehenspitzen und schaffe es gerade so, mit den Fingernägeln den Boden der Flasche zu berühren. Reeve lacht leise auf und gibt schließlich doch nach.
Grummelnd entreiße ich ihm mein Bier und nehme einen großen Schluck. »Danke.«
»Zicke.«
»Redest du gerade von dir?« Standhaft sehe ich ihm in die Augen und liefere mir mit ihm ein Blickduell vom Feinsten. Das geht so lange gut, bis Auden nach meiner Hand greift und mich mit sich zum Lagerfeuer zieht, wo sie auf einem der Baumstämme Platz nimmt, die in Kreisform um das Feuer liegen. Ich mache dasselbe und kreuze die Beine übereinander. Sofort schlägt mir die Hitze der Flammen entgegen. Das Feuer knistert und knackt, während der beißende Rauch, der Richtung Himmel nach oben steigt, in meinen Augen ein unangenehmes Brennen auslöst.
»Was hast du nur immer mit Reeve?«, fragt Auden wohl mehr sich selbst als mich und trinkt einen Schluck Cola. Auf ihren Wangen zeichnen sich feine Grübchen ab, als sie mich schräg von der Seite anlächelt.
»Er hat angefangen. O Gott! Ich weiß doch auch nicht, warum ich mich immer von ihm provozieren lasse.« Ich stelle meine Flasche Bier auf dem Boden zwischen meinen Schuhen ab und vergrabe das Gesicht für einen Moment in meinen Händen. Gerade weiß ich echt nicht, ob ich lachen oder weinen soll.
»Er ist bescheuert.« Auden legt mir mitfühlend eine Hand auf den Oberschenkel und tätschelt mein Bein.
»Ja.«
»Der hat bloß schon zu lange keine mehr rumgekriegt, das ist alles.«
So etwas aus Audens Mund zu hören, bringt mich dazu, verdutzt den Kopf zu heben und sie mit einem halben tonlosen Lachen auf den Lippen anzusehen. »Jap.«
»Er sollte einfach mal seinen Mund halten.«
Zustimmend nicke ich. »Korrekt.«
»Du findest ihn heiß.«
»Ja.« Warte … Erschrocken schnappe ich nach Luft und schüttle heftig den Kopf. »Was? Nein! Finde ich nicht!«
Auden grinst und pikst mir mit ihrem spitzen puderrosa lackierten Fingernagel in die Seite. »Und ob du das tust.«
»Auden«, sage ich mit warnendem Unterton und hänge ein betontes »Nein!« hinterher, um der Aussage mehr Bedeutung zu verleihen.
Gerade als Auden etwas erwidern möchte, geht die Musik für einen Moment aus, und jemand ruft: »Okay, Leute! Es ist so weit! Zieht die Hosen runter!«
Allgemeines Kreischen und Gelächter bricht aus, als sich die Ersten ausziehen, ihre Klamotten irgendwohin pfeffern und grölend auf das Seeufer losrennen.
Auden sieht mich mit riesengroßen kugelrunden Augen an.
»Jetzt schon? So früh waren die doch noch nie dran, oder?«, sagt sie panisch und verdeckt die Brust mit ihren Armen, obwohl sie sich nicht wie die anderen Mädchen in unserer Nähe den BH vom Leib reißt und kreischend zum See stürmt.
Zustimmend schüttle ich den Kopf. Dieses Jahr sind sie tatsächlich früh dran – oder wir sind einfach zu spät gekommen. Schließlich hat Jamie, bevor wir losgefahren sind, eine Ewigkeit gebraucht, um in seinen Umzugskartons seinen Lieblingspulli zu finden.
»Machst du mit?«, frage ich Auden und blinzle sie flehentlich an. Suchend blickt sie sich um, vermutlich um meinen Bruder ausfindig zu machen. Doch ihre blauen Augen scheinen ihn in der angetrunkenen, splitternackten Meute nicht zu entdecken. Nur wenige stecken noch in ihren Klamotten: diejenigen, die kneifen und an die sich am Montag in der Schule jeder erinnern wird. Hier und heute fallen nicht die auf, die splitterfasernackt in den See hüpfen, sondern diejenigen, die es nicht tun. »Ich will nicht, dass uns in der Schule jeder auslacht, weil wir total prüde sind. Komm schon, nur fünf Minuten. Danach gehen wir sofort wieder raus und ziehen uns an.«
»Meine Eltern und die gesamte Kirchengemeinde werden mich töten, wenn das rauskommt«, stöhnt Auden genervt und öffnet mit unbehaglichem Gesicht die Knöpfe ihres Kleides. »Aber ich lasse so was von meine Unterwäsche an. Sollen die mich ruhig als prüde und verklemmt bezeichnen.«
Ich grinse in mich hinein, während ich aufspringe und mich aus meinen Chucks, Jeans und T-Shirt schäle. Zugegeben, die Tatsache, dass ich jetzt nur noch meine Unterwäsche trage und so vor der gesamten Oberstufe stehe, bringt meinen Magen zum Flattern. Aber da es alle tun und es dunkel ist, ist das Ganze gar nicht mehr so schlimm. Ich darf nur nicht zu lange darüber nachdenken, was ich gerade tue.
»Ich hoffe, derjenige, der sich diese Tradition ausgedacht hat, schmort dafür irgendwann mal in der Hölle«, murrt Auden und schlüpft aus den Ärmeln ihres Kleides, das daraufhin in einer fließenden Bewegung auf den Boden gleitet. »Das ist Gruppenzwang.«
Ich grinse breiter, hebe den Kleiderhaufen mit meinen Sachen auf und wende mich Auden zu. »Lass uns unsere Klamotten lieber hinter irgendeinem Busch verstecken. Letztes Jahr haben ein paar Idioten Jamies Sachen geklaut, während er im Wasser war. Ich wette, das war Reeve.«
»Du meinst letztes Jahr, als ich diese fiese Erkältung hatte?«, fragt Auden, nimmt ihr Blümchenkleid und folgt mir hinter einen knorrigen Baum. Jede von uns trägt noch ihre Unterwäsche, ansonsten nichts mehr. Im Hintergrund ist das Geräusch von spritzendem Wasser und Gelächter zu hören. Irgendetwas – oder irgendjemand – scheint laut platschend im See zu landen.
»Nö«, sage ich lachend. »Ich meine letztes Jahr, als du nur so getan hast, als wärst du krank.«
Eingeschnappt holt A aus und verpasst mir mit ihrer geballten Faust einen Knuff gegen den Oberarm. »Nur für fünf Minuten, ja?«
Zustimmend nicke ich und entledige mich meiner rosa Unterwäsche. Auden und ich tauschen einen langen Blick miteinander aus. Im Halbdunkel und im Schutz der Bäume ist kaum etwas zu erkennen. Kritisch wird es nur, sollten wir direkt am Lagerfeuer vorbeilaufen. Auden verdeckt angespannt mit ihren Armen das Nötigste und tritt nervös von einem Fuß auf den anderen. Das Einzige, das sie abgesehen von ihrer hautfarbenen Wäsche noch trägt, ist ihre filigrane Kreuzkette.
»Auf drei, ja?«, meine ich und halte ihr auffordernd die Hand hin. Mit peinlich berührter Miene nickt sie und nimmt zögerlich meine Hand. Sie sieht immer noch so aus, als wollte sie am liebsten im Erdboden versinken. Mein besänftigendes Lächeln scheint sie auch nicht zu beruhigen. »Eins.«
»Ich hasse dich, Carmichael.«
»Zwei.«
»Wirklich! Ich könnte dich erwürgen.«
»Drei«, rufe ich lachend und renne los.
Auden ziehe ich an ihrer Hand mit mir in Richtung See, wobei ich genau darauf achte, nicht durch den Schein des Lagerfeuers zu rennen. Schließlich habe ich noch ein paar Jährchen in der Highschool vor mir, und die will ich ohne noch mehr peinliche Momente über die Bühne bringen.
Auden atmet schwer und grummelt leise vor sich hin, doch als wir im kühlen Wasser ankommen und ich sie an eine Stelle ziehe, an der uns das Wasser bis zu den Brüsten reicht, verstummt sie. Hektisch sieht sie sich nach allen Richtungen um. Ich tue es ihr entspannter gleich und beobachte eine Gruppe Seniors dabei, wie sie sich gegenseitig untertauchen und Wasser in die Gesichter spritzen. Der Anblick ringt mir ein kleines Lächeln ab, das allerdings nicht lange anhält, da sich plötzlich von hinten zwei Arme um meinen Oberkörper schlingen und mich näher in Richtung Grund drücken.
Erschrocken kreische ich auf und versuche, mich aus dem Klammergriff zu winden. Ich bin zu schwach, um den Mistkerl von mir zu schieben, was ihn laut zum Lachen bringt.
Warte mal! Dieses hämische Lachen würde ich überall erkennen.
»Reeve!«, fluche ich und fühle mich sofort unwohl, weil mir schlagartig klar wird, dass der nackte beste Freund meines Bruders mich, ebenfalls fast splitternackt, von hinten umarmt. »Lass mich sofort los!«
»Was bekomme ich dafür?«, fragt er grinsend.
»Das.« Ich ramme ihm, so gut ich es unter seinen muskelbepackten Armen kann, den Ellenbogen in den Bauch.
Er stöhnt kurz vor Überraschung auf, bis er sich wieder fängt und weiterlacht. »Komm schon. Sei doch froh, dass dich überhaupt mal ein Junge anfasst«, raunt er mir zu, wobei sein heißer Atem mein Ohr streift wie ein warmer Sommerwind.
Für diesen Spruch schmettere ich ihm glatt ein zweites Mal den Ellenbogen in die Rippen.
Auden, die die ganze Zeit vor uns gestanden und das Geschehen verfolgt hat, scheint nicht so recht zu wissen, wie sie mir helfen soll. Plötzlich geht ihr Blick scharf an uns vorbei.
»Reeve?!« Auf einmal schwimmt Jamie mit großen Zügen auf uns zu und bäumt sich vor uns auf. »Begrapschst du gerade meine Schwester?«
»Nein«, sagt Reeve schnell.
»Ja!«, werfe ich im selben Moment ein.
Empört schnaubend lässt er von mir ab, sodass es mir gelingt, einen gewissen Sicherheitsabstand zwischen uns aufzubauen.
»Hm«, meint Jamie und bedenkt seinen besten Freund mit einem warnenden Blick.
Reeve grinst schief und fährt sich mit einer Hand durchs dunkle Haar. Die Wassertropfen perlen von seiner gebräunten Haut ab, rinnen an seiner Brust hinab und landen im glänzenden Seewasser. Als er bemerkt, dass ich ihn direkt ansehe, zwinkert er und wirft mir arrogant einen Luftkuss zu. Ich verdrehe die Augen und drehe mich zu Auden. Doch in diesem Moment wird sie in Jamies Arme gezogen und drückt ihm schüchtern lächelnd einen Kuss auf die Lippen.
»Tja«, spottet Reeve und stellt sich direkt neben mich. Lässig verschränkt er die Arme vor der Brust und sieht herablassend zu mir nach unten.
Er kommt mir so nahe, dass sein Körper beinahe meinen berührt. »Reeve«, stöhne ich genervt und trete einige Schritte zurück, um ihn nicht mehr an meinem Arm oder meiner Hüfte spüren zu müssen. Dummerweise knalle ich dabei mit voller Wucht gegen einen nackten Rücken. Erschrocken fahre ich zusammen und blicke über meine Schulter.
»Pass doch auf!«, beschwert sich das angerempelte Mädchen. Sie kneift angesäuert die Augen zusammen und scheint abzuwägen, ob es vielleicht doch möglich ist, jemanden mit Blicken zu töten.
»Sorry«, sage ich und hebe entschuldigend die Arme. Gott, wie peinlich. Schnell drehe ich mich um und will zurück zu A, als ich auch schon gegen den nächsten nackten Körper stoße. Diesmal gegen den schlaksigen eines Kerls, der bei uns für die Schülerzeitung verantwortlich ist. Nervös beiße ich mir auf die Unterlippe.
»Hey!«, mault er, doch Zeit, mich bei ihm zu entschuldigen, bleibt mir nicht, da Reeve auch schon neben mir aufgetaucht ist, mich am Oberarm festhält und zurück zu meinem Bruder und meiner besten Freundin zieht.
»Bist du bescheuert?«, will er feixend wissen.
Ich bin mit der Situation immer noch so überfordert, dass ich bloß stammle: »Ja. Nein! Also nicht, dass ich wüsste.«
»Also, ich glaube schon«, meint Reeve und lässt mich erst dann wieder los, als sich Jamie räuspert.
Mein Bruder hat seine Arme mittlerweile um Auden geschlungen und aufgehört, sie aufzuessen. »Was hast du gemacht?«, fragt Jamie skeptisch und zieht eine Augenbraue nach oben.
»Ich …? Schwimmen«, erkläre ich und spüre noch in derselben Sekunde, wie Reeve mich feixend ansieht.
»Stimmt nicht. Sie wollte mal schauen, ob sie hier jemanden antatschen kann«, erklärt er und grinst mich triumphierend an.
»Genau«, antworte ich sarkastisch. »Denn in Anbetracht der Tatsache, dass du vor ein paar Minuten neben meinem eigenen Bruder ansonsten die einzige Option warst, wollte ich mir lieber jemand anderen suchen.«
»Oh, Hallie«, stößt Jamie aus.
Fragend drehe ich den Kopf in seine Richtung und sehe ihn irritiert an. Was war das denn jetzt?
»Könnt ihr wenigstens so tun, als wärt ihr erwachsen? Würdet ihr euch für mich vertragen?«
»Wieso?«, kommt es synchron aus Reeves und meinem Mund. Verdutzt sehen wir uns an und wechseln einen Blick, bis jeder von uns wieder in eine andere Richtung starrt.
»Weil ich nicht will, dass das neue Schuljahr wieder damit beginnt, dass ihr euch gegenseitig an die Gurgel geht«, eröffnet Jamie uns mit einer Stimme, als seien wir völlig verblödet. Dabei ist nur einer von uns beiden blöd, und das bin bestimmt nicht ich.
»Also, eigentlich fängt Reeve ja immer an«, ergreift Auden da Partei für mich, wofür ich sie in dieser Sekunde am liebsten abknutschen würde. Aber da ist noch Seewasser oder der Sabber von meinem Bruder an ihrem Mund, also muss ich passen.
»Was?«, macht Jamie verständnislos und sieht seine Freundin an, als hätte sie ihn geschlagen.
»Schatz«, seufzt sie und legt eine Hand an seine Wange. Flüchtig drückt sie ihm einen Kuss daneben. »Wie oft muss ich dir noch erklären, dass ich zuerst und viel länger Hallies beste als deine feste Freundin war? Wenn es hart auf hart kommt, halte ich zu ihr. Beste Freundinnen, weißt du?«
»Mhm«, macht mein Bruder unzufrieden.
Wie ein Honigkuchenpferd lächle ich sie an. Als ich erfahren habe, dass sich die beiden daten, war eine meiner größten Ängste, dass unsere Freundschaft damit Geschichte ist und sie mich vergessen wird. Aber so ist es glücklicherweise nie gekommen.
Um eine Eskalation zwischen den Turteltauben zu vermeiden, schnappe ich mir Audens Hand und ziehe sie schwungvoll durch das Wasser auf mich zu. Um uns herum wird immer noch wild mit Wasser gespritzt, gelacht und gegrölt. Bis jetzt hat so gut wie keiner den See wieder verlassen.
»Die fünf Minuten wären um, oder?«, sage ich an Auden gewandt. »Lass uns wieder rausgehen.«
Zustimmend nickt sie und schlingt die Arme schützend um ihren Oberkörper. »Ja. So langsam wird es kalt.«
»Wir kommen mit euch«, verkündet mein Bruder übereifrig.
Energisch schüttle ich den Kopf und werfe ihm einen Blick zu, der so viel bedeuten soll, wie: Schmink dir das ganz schnell wieder ab, wenn dir dein Leben lieb und teuer ist. »Vergiss es!«, füge ich dem Blick hinzu.
»Warum?«, bohrt er stutzig nach und runzelt die Stirn.
»Weil wir fast nackt sind, Jamie.«
»Ja und? Früher haben wir immer zusammen gebadet«, erwidert mein Bruder schulterzuckend und sieht mit einem Schmunzeln zwischen Auden, die beschämt nach unten auf die Wasseroberfläche starrt, und mir hin und her.
»Erstens war ich damals drei Jahre alt, und zweitens«, unverwandt drehe ich mich in Reeves Richtung und deute mit einem Kopfnicken auf ihn, »geht es hier nicht um dich, sondern um ihn.«
»Ich kann dich beruhigen«, versichert Reeve mir trocken und lächelt anschließend gespielt. »Ich hab in meinem Leben schon das ein oder andere nackte Mädchen gesehen.«
»Deine Mom zählt nicht«, werfe ich ein und beiße mir für diese Antwort von innen fest auf die Zunge. Verdammt, warum kann ich nie nachdenken, bevor ich solchen Stuss von mir gebe?
»Nicht meine Mom«, erwidert Reeve ruhig. »Deine Mom. Karen ist heiß.«
»O mein Gott!«, entfährt es mir. Heftig schüttle ich den Kopf. »A, lass uns gehen.«
»Ich gebe euch fünf Minuten Vorsprung«, ruft Jamie uns hinterher, während ich mir gefolgt von Auden einen Weg durch die herumstehenden Teenager im Wasser bahne und am Seeufer angekommen die Beine in die Hand nehme, um möglichst schnell hinter dem Baum zu verschwinden, an dem wir unsere Klamotten gelassen haben.
Nachdem wir uns einigermaßen abgetrocknet und vollständig angezogen haben, gehen Auden und ich zurück zum Lagerfeuer, holen uns etwas zu trinken und hocken uns auf einen der Baumstämme, was mit nasser Unterwäsche nicht gerade angenehm ist. Das Feuer knistert, und die Musik ist wieder eingeschaltet. Beinahe muss ich bei dem schlechten Musikgeschmack des DJs brechen. Charts. Igitt. Die sind nur in Ordnung, wenn Harry oder Taylor laufen.
»Wie heißt dieses Mädchen eigentlich, das morgen zu euch kommt?«, will Auden da wissen, nippt an ihrer Coladose und greift nach einer Tüte Marshmallows, die jemand zu meinem Glück wohl vergessen hat. Ich warte, bis sie sich einen genommen hat, ehe ich auch so ein Ding aus der Tüte ziehe und es mir gierig in den Mund schiebe. Zufrieden seufze ich. Es geht nichts über Marshmallows – und damit meine ich die kalten, nicht die warme weiße Pampe, zu der sie werden, wenn man sie ins Feuer hält.
Fieberhaft denke ich nach und versuche, mich daran zu erinnern, was Jamie neulich erzählt hat. Dass er sich bereit erklärt hat, einen Austauschschüler aufzunehmen, ist schon ein Jahr her, und damals bestand die Möglichkeit, dass wir heute woanders wohnen, noch gar nicht. Es war irgendwas mit K. Kate, Katy, Kenny … »Kelly, glaube ich.«
»Kelly also«, murmelt Auden und kaut nachdenklich auf ihrem Marshmallow herum. Mit den Fingern fasst sie nach dem Anhänger ihrer Kette und zwirbelt ihn mechanisch zwischen ihrem Daumen und Zeigefinger. »Warte, sie wird doch nicht in seinem Zimmer schlafen, oder?« Flehentlich sieht sie mich an und lässt den silbernen Kreuzanhänger sinken.
»Ne«, meine ich und schiebe mir ein weiteres Marshmallow in den Mund. »Mom meint, sie könnte auf der Couch im Wohnzimmer schlafen, und Kelly bekommt, solange sie da ist, ihr Zimmer. Ich weiß nicht, ob sie das wirklich ein Schuljahr lang durchziehen will.«
»Sobald sie sich in Jamies Zimmer verirrt, schreibst du mir, okay?« Mit einem bittenden Blick sieht Auden mir dabei zu, wie ich wie ein Ferkel – oder eine unelegante Kuh – auf meinem Marshmallow herumkaue und den Bissen mit einem Schluck Flaschenbier runterspüle. »Ich will alles wissen.«
»Klar«, versichere ich ihr, greife nach einem weiteren Marshmallow und will ihn mir gerade in den Mund schieben, als ihn mir jemand von der Seite aus der Hand reißt und sich mit einem Stock bewaffnet neben mich setzt.
»Danke«, sagt Jamie amüsiert, steckt mein Marshmallow auf die Spitze des Steckens und durchbohrt dabei nicht nur die Süßigkeit, sondern auch mein Herz. Wie kann er ein Marshmallow nur so foltern und gleichzeitig mein Bruder sein?
»Wo hast du denn Reeve gelassen? In Blödhausen?«, frage ich spöttisch, weil ich seinen besten Freund nirgends entdecken kann. In Anbetracht der Tatsache, dass die beiden sonst immer den Schatten des jeweils anderen bilden, ein Wunder.
»Wieso interessiert dich, wo Reeve steckt?«, hakt Jamie nach und hält den Stock mit dem süß duftenden Marshmallow in die züngelnden Flammen. Eine seiner Augenbrauen ist nach oben gezogen.
»Tut es doch gar nicht«, protestiere ich und kippe mir noch mehr Bier in den Rachen. Wenn das so weitergeht, brauche ich gleich Nachschub.
»Du hast doch gerade nach ihm gefragt.« Irritiert legt mein Bruder die Stirn in Falten.
Während ich noch nach einer Erklärung suche, wieso ich nach dem Volltrottel gefragt habe, kommen auf einmal ein oberkörperfreier Dexter und seine Kumpels zum Lagerfeuer. Sie unterhalten sich miteinander und lassen sich lachend auf den Baumstamm mir gegenüber fallen. Dexters Brust glänzt feucht, und seine Haarspitzen kringeln sich vom Wasser. Durch den orangeroten Schein des Feuers und zwischen den tanzenden Flammen kann ich erkennen, dass er direkt zu mir herübersieht. So selbstbewusst wie nur möglich greife ich nach meiner Flasche, ohne den Blick auch nur eine Sekunde von meinem Ex-Freund abzuwenden. Dexter beobachtet mich bei jeder noch so kleinen Bewegung. Ich will noch einen Schluck trinken, doch dann entgleitet mir die Flasche plötzlich, und ihr gesamter Inhalt verteilt sich auf meinem Schoß. Sofort dringt der abgestandene Biergeruch in meine Nase. Die Flüssigkeit fühlt sich kalt auf meinen Beinen an. Angewidert atme ich ein.
»Oje«, sagt Auden und springt bereits alarmiert auf, um mir zu helfen, als ich von der gegenüberliegenden Seite des Feuers lautes Gefeixe höre. Dexter lacht mich aus, und seine Freunde tun es ihm allesamt gleich.
»Na warte, dem werd ich’s jetzt zeigen«, knurrt Jamie. Angriffslustig schiebt er sich bereits die Ärmel seines Hoodies zurück.
Ich halte ihn am Arm fest und schüttle den Kopf. »Lass es. Können wir jetzt bitte einfach nach Hause fahren? Mir ist die Lust auf Party gerade so was von vergangen.«
Jamie scheint von meinem Vorschlag nicht begeistert zu sein. Dennoch holt er tief Luft und knurrt: »Gehen wir.«
»War das Schild wirklich nötig?«, frage ich am nächsten Morgen und sehe zweifelnd zu Mom, die ein riesengroßes selbst gebasteltes Plakat in ihren Händen hält, auf dem mit schwarzem Filzstift Herzlich willkommen, Kelly! geschrieben steht. Wir befinden uns am fünfundvierzig Minuten entfernten Huntsville International Airport und warten darauf, dass der Flieger von Jamies Austauschpartnerin endlich in Alabama landet. Jamie hat die ganze Zeit nichts Besseres zu tun, als sein Handy zu malträtieren, während Mom die vorbeilaufenden Touristen beobachtet und hin und wieder das Gesicht verzieht, wenn schon wieder jemand mit Cowboystiefeln und -hut an uns vorbeiläuft. Oder mit Sweet Home Alabama-Shirt.
Mom hat mich gezwungen, dabei zu sein, obwohl ich sie heute Morgen beim Frühstück angebettelt hatte, dass ich zu Hause bleiben darf. »Du kommst mit. Schließlich wollen wir, dass Kelly sich hier bei uns wohlfühlt. Das funktioniert am besten, wenn du dich gleich mit ihr anfreundest«, hat sie mir eingetrichtert. Ich bin mir sicher, dass das bloß Taktik war und sie mir in Wahrheit nur eine neue, nicht religiöse beste Freundin wünscht. Ich kann doch nicht planen, ob Kelly und ich uns anfreunden. Vielleicht verstehen wir uns nicht mal.
Immerhin hat Jamie Reeve nicht mitgeschleppt. Der hätte mir zusätzlich zu Moms guter Laune und ihren spöttischen Bemerkungen über die Outfits der Leute am Flughafen den Rest gegeben.
»Ich muss pinkeln«, verkündet Jamie unnötigerweise und steckt sein Handy in die Hosentasche.
»Nein, musst du nicht«, zischt Mom warnend. »Du behältst deinen Arsch hier bei uns. Schließlich kommt jeden Moment deine Austauschpartnerin.« Ihre grünbraunen Augen blitzen meinen Bruder vernichtend an, und das, obwohl ihr Mund zu einem Schmunzeln verzogen ist.
Ich muss mir das Lachen verkneifen und drehe schnell meinen Kopf von den beiden weg, damit es keiner mitbekommt.
»Gott, Mom! Willst du mir jetzt ernsthaft verbieten, pissen zu gehen?«, höre ich Jamie verständnislos fragen.
»Jap«, bestätigt Mom. Aus dem Klang ihrer Stimme kann ich deutlich raushören, wie breit sie grinst. »Du könntest Weltmeister im Schnellpinkeln sein, und ich würde dich trotzdem nicht gehen lassen. Das ist unhöflich. Stell dir vor, das Mädchen kommt völlig fertig vom Flug und neugierig auf ihre Austauschfamilie hier an, und ihr Gastbruder ist nicht da. Was macht das denn für einen Eindruck?«
»Mom! Ich bin ein Mensch. Menschen müssen aufs Klo.«
Dämlich grinsend, lasse ich den Blick durch den Flughafen wandern und sehe wie gebannt hinter die Absperrung, die uns von den kommenden Fluggästen und dem Gate trennt. Neben uns stehen noch ein paar andere Personen. Alle scheinen jemanden begrüßen zu wollen. Im Gegensatz zu uns haben sie – bis auf einen Mann im Smoking mit einem riesigen Strauß Rosen in der Hand – keine peinlichen Plakate dabei. Einen Moment zu lange bleibt mein Blick auf dem Kerl im Anzug und seinem dämlichen Blumenstrauß hängen. Fast sagt mein Frühstück noch mal »Guten Morgen!«. Eigentlich will ich jetzt nicht an Dexter denken, doch die Rosen erinnern mich ganz von selbst an den Valentinstagsball Anfang dieses Jahres in der Schule. Als Dexter mich von zu Hause abgeholt hat, hat er mir auch Rosen mitgebracht. Ob er da schon gewusst hat, dass er mich Stunden später betrügen wird, und sich nur einschleimen wollte?
Bevor ich wieder in ein Loch fallen kann, lenkt etwas anderes meine Aufmerksamkeit auf sich. Vom Gate kommen die ersten Passagiere in unsere Richtung geschlendert. Zuerst läuft eine Familie – Mutter, Vater und zwei kleine Kinder – auf uns zu und schließlich an uns vorbei. Mein Herz macht einen freudigen Satz. Gleich bin ich endlich erlöst und kann den Rest des Sonntags im Bett chillen!
»Leute!« Aufgeregt werfe ich einen Blick auf Mom und Jamie, die beide plötzlich ganz still geworden sind und neugierig die Hälse recken, um besser nach Kelly Ausschau halten zu können.
»Hm?«, macht Jamie, ohne den Blick von dem Schwarm Menschen zu nehmen.
Ich frage mich, ob er hofft, Kelly sei ein australisches Bikinimodel, und wünsche mir zugleich, dass er das nicht denkt. Schließlich ist er mit meiner besten Freundin zusammen. Wenn er Auden verletzt oder betrügt, werde ich ihn windelweich prügeln. Auden ist herzensgut und sollte nicht denselben Mist durchmachen müssen wie ich. Andererseits traue ich Jamie so was auch gar nicht zu.
»Woher wissen wir eigentlich, welche von denen Kelly ist?«, frage ich und zeige mit einem Kopfnicken auf eine Gruppe Mädchen, die hysterisch lachend die riesige Halle betritt.
»Tja«, macht Mom mit einem triumphierenden Unterton. »Gott sei Dank hat jemand von uns ein Schild gebastelt, was?«
Innerlich verdrehe ich die Augen, während Jamie aufstöhnt. Ich wende meinen Blick wieder suchend den kommenden Menschen zu. So langsam bin ich doch etwas nervös. Schließlich wird für ein ganzes Schuljahr ein wildfremdes Mädchen aus Australien bei uns wohnen, und das, obwohl wir uns im neuen Haus selbst noch gar nicht richtig eingelebt haben. Was, wenn sie eine richtige Zicke ist? Oder schlimmer: Wenn sie das Ben & Jerry’s aus dem Gefrierfach wegfuttert?
Besorgt beobachte ich die letzten Fluggäste: eine Frau mittleren Alters in einem kanariengelben Kleid, ein blondes Mädchen und einen Junge mit einer schwarzen Beanie, der ungefähr in Jamies Alter ist und sich fahrig durch das unter der Mütze herausragende Haar streicht.
Die Frau im gelben Outfit sieht sich um, als würde sie etwas suchen. In dem Moment, als ihre Augen den Mann mit den Rosen ausfindig machen, stößt sie ein erfreutes Quieken aus und stürmt auf klatschenden Flip-Flop-Sohlen auf ihn zu, um ihn abzuknutschen.
Stöhnend rolle ich die Augen und muss erstaunt feststellen, dass der Typ mit den braunen Locken, der Mütze und dem ernsten Gesicht gerade genau dasselbe tut. Das blonde Mädchen neben ihm muss Kelly sein. Ihr Blick wandert aufmerksam durch den Flughafen. Im Hintergrund ist das Geräusch rollender Koffer zu hören. Der Geruch von Sonnencreme liegt in der Luft und vermischt sich mit dem von diversen Parfümsorten aus dem Duty-free-Shop in unserer Nähe.
»Komm zu uns, Kelly!«, ruft Mom ihr herzlich lächelnd zu und winkt sie zu uns heran. Sowohl der Junge als auch das Mädchen sehen verwirrt zu uns rüber. Im Gesicht des Mädchens steht ein fettes Fragezeichen geschrieben. Ihr Blick landet auf dem Willkommensplakat in den Händen meiner Mutter. Der Ausdruck in ihren Augen wird panisch. Hektisch umklammert sie den Träger ihrer roten Handtasche, verlässt den abgesperrten Bereich und entfernt sich im Laufschritt von uns, als hätte sie Angst, wir könnten sie uns schnappen, um sie später auf dem Mädchenhandel anzubieten.
Mom, Jamie und ich tauschen einen kurzen Blick miteinander. Moms Arm, in dem sie das bemalte Plakat hält, sinkt entgeistert in Richtung Boden. Ihre Miene ist genauso verständnislos wie meine.
»Hä?«, spricht Jamie das aus, was wir uns wohl gerade alle denken.
»Ich finde es ja sehr nett, dass Sie sich extra die Mühe gemacht haben … ein Schild für mich zu basteln«, kommt es plötzlich abschätzig von jemandem mit australischem Akzent hinter meinem Rücken. Stirnrunzelnd wirble ich herum und sehe dem Jungen direkt in die türkisblauen Augen. Sein stechender Blick trifft mich mit voller Wucht. »Aber nächstes Mal sollten Sie dann vielleicht auch meinen Vornamen auf das Plakat schreiben.« Ein genervter Ausdruck huscht über sein Gesicht.
»Was?«, platzt es aus Jamie heraus.
»Hey, ich bin Nolan.« Als der Junge uns auffordernd die Hand entgegenstreckt, schimmern im Licht sämtliche silberne Ringe. »Nolan Kelly.«
Was?
Ich bin zu geschockt, um mich zu bewegen, geschweige denn zu atmen oder zu sprechen. Mein Mund ist zu einem überraschten O geformt. Jamie starrt Nolan ungläubig an und fährt sich peinlich berührt durch das dunkelbraune Haar. Ja, schäm dich nur für deine Dummheit und deine nicht vorhandene Fähigkeit, E-Mails richtig zu lesen, du Spaten! Und, Mom: Hör auf, Papierkram zu unterschreiben, den du nicht gelesen hast!
Mom ist die Erste, die aus ihrer Trance erwacht und sich lautstark räuspert. Ihr Blick fällt auf Nolans noch immer ausgestreckte Hand. Hell lacht sie auf, ignoriert die Geste und schließt ihn unverwandt in ihre Arme. Nolans Blick ist zum Brüllen. Er verzieht das Gesicht und sieht dabei so aus, als wollte er Mom am liebsten ein Messer in den Rücken rammen, damit sie ihn endlich wieder loslässt.
»Herzlich willkommen in Alabama, Noah. Ich bin Karen Carmichael, Jamies und Hallies Mom. Da du ja bei uns einziehst, kannst du mich auch gern Karen nennen«, zwitschert Mom und lässt langsam wieder von Nolan ab. »Entschuldige bitte das Missverständnis. Wir dachten, dass wir eine Austauschschülerin bekommen.«
Mir klappt automatisch die Kinnlade nach unten. Ich bin mir nicht sicher, worüber ich mehr geschockt sein soll: darüber, dass Mom den Kerl zum zweiten Mal innerhalb der letzten fünf Minuten falsch angesprochen hat, oder darüber, dass sie ihm das Du angeboten hat und Auden in den letzten sechs Jahren noch nicht.
»Klar, mach ich. Aber nur wenn Sie sich meinen Namen merken und mich Nolan nennen«, sagt der Typ und zwinkert meiner Mutter zu, deren Lächeln daraufhin ein wenig verrutscht. Jetzt sieht sie so aus, als wollte sie ihm ein Messer in den Rücken stoßen.