5,99 €
2,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 5,99 €
Drei Siegel. Eine Liebe zwischen Licht und Schatten
Als Nuriya dem gefürchteten Vampirkrieger Kieran in die Hände fällt, scheint ihr Schicksal besiegelt. Doch Kieran ist nicht nur der dunkelste unter den Vampiren – sondern auch der Einzige, der sie retten kann. Ein uralter Pakt zwingt sie, gemeinsam drei magische Siegel zu brechen. Jeder Bruch kostet Kraft, Vertrauen – und ein Stück ihres Herzens.
Doch dann wird Nuriya entführt und Kieran muss alles riskieren, um sie zu retten. Während sich die Grenzen zwischen Licht und Schatten auflösen, entfesselt sich eine Magie, die nicht nur ihre Völker, sondern auch sie selbst zerstören könnte.
Wenn das Licht die Dunkelheit berührt, kann alles enden – oder neu beginnen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
Willkommen
Drei Schwestern
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Dort, wo die Sterne Schatten tragen
Willkommen im Buchcafé
Rechtliches usw.
Über die Autorin
Aus Worten gewoben – aus Licht und Dunkel geboren.
✷
Schön, dass du hier bist.
Ich wünsche dir eine zauberhafte Zeit mit Nuriyas und Kirans Geschichte.
. . ○ ☽ ❊ ☾ ○ . .
Dieser Roman ist 2006 im U-Books Verlag erschienen (Originalausgabe) und 2009 bei LYX.
Zum Haus meiner Eltern gehörte eine von Rosen umrankte Terrasse. Drinnen empfingen mich hohe, lichte Räume, das Parkett knarrte leise, poliert mit Bienenwachs, dessen warmer Hauch sich mit der Magie meiner Kindheit verband.
Früh lernte ich, die Gedanken anderer zu lesen, und oft tauchten die wunderlichsten Gestalten aus der Anderwelt auf, um mit mir zu spielen oder irgendeinen Schabernack zu treiben.
Hinter dem Haus lag der Kräutergarten. Da die Beete von einer niedrigen Buchsbaumhecke eingefasst waren, glich er einem duftenden Labyrinth. Seit ich denken kann, halfen wir Mädchen bei dessen Pflege – und lernten auf diese Weise nebenher alles über Blumen, Kräuter und Heilpflanzen.
Wie schön unsere Mutter aussah, wenn sie mit zerzauster Frisur und erdverkrusteten Händen aus dem Garten kam und ein wenig atemlos ihren Erntekorb auf dem gescheuerten Küchentisch abstellte! Manchmal gesellte sich dann auch Vater zu uns. Er drehte Mutter mit Entschiedenheit zu sich herum, küsste sie und nahm uns auf seine starken Arme, während er rief: »Ich liebe meine wunderschönen Frauen!« Doch das geschah – in einem anderen Leben.
Mit Magie habe ich mich seit dem Tod meiner Eltern nicht mehr befasst. Letztlich hat sie ihnen nicht geholfen. Im Gegenteil, ich bin sogar überzeugt: Sie war der eigentliche Grund dafür, dass sie so früh sterben mussten.
Meine magischen Talente empfinde ich seither als Fluch. Viele Menschen fühlen sich ausgesprochen unwohl in meiner Gesellschaft. Sie spüren, dass ich anders bin, und meiden mich. Tante Jill, die sich um uns Kinder kümmerte, sagte zwar, das müsse nicht so sein. Ich müsse einfach nur lernen, meine Kräfte zu beherrschen. Zur Außenseiterin hätte ich mich doch ganz allein gemacht.
Meine Schwestern habe das Problem nicht. Estelle wirkt stark, selbstbewusst und klug. Ich denke, sie hat ihre Magie einigermaßen gut im Griff. Gefragt habe ich sie nie danach. Selena liebt die Natur und ganz besonders Tiere. Keine Ahnung, wie die Viecher immer wieder zu ihr finden. Ständig tauchen schwanzlose Katzen, einäugige Köter und flügellahme Vögel bei ihr auf. Und sie nimmt sich dann dieser armen Kreaturen an, pflegt sie liebevoll mit Hilfe merkwürdiger, selbst gebrauter Kräutertränke und entlässt sie schließlich wieder in die Freiheit. Manchmal beneide ich sie um die stille Zufriedenheit, die beide in sich zu tragen scheinen.
Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass sie noch zu klein waren, um den Verlust der Eltern damals wirklich zu begreifen. Sie schienen einfach so weiterzuleben wie bisher – und das nahm ich ihnen übel. Wir haben uns seit jenem furchtbaren Tag nicht mehr gut verstanden, und dann war ich froh, als ich wegen meines Studiums endlich in eine andere Stadt ziehen konnte.
Selena ist bei Jill geblieben und hilft ihr, den kleinen Buchladen zu führen. Estelle lebt zurzeit in Paris. Manchmal schreibt sie mir eine E-Mail. Sie scheint glücklich zu sein.
Es ist traurig, aber ich fürchte, das Einzige, was uns Schwestern verbindet, ist unser Musikgeschmack. Ich finde, die Zwillinge sehen sensationell gut aus, wenn sie abends in einen der Szene-Clubs in unserer Heimatstadt gehen. Tante Jill beklagt sich schon seit Jahren über diese, wie sie es nennt, morbiden Neigungen – und verlangt von mir, ich solle ein Vorbild für die beiden sein und endlich ein wenig Farbe in mein Leben lassen. Aber was soll ich machen? Schwarz passt zu meiner Grundstimmung.
Als der Anruf von Tante Jill kam, war Nuriya auf alles gefasst. Bereits seit Tagen quälte sie das ungute Gefühl, etwas Außergewöhnliches werde geschehen. Und so war sie enttäuscht, als ihre Tante sich zunächst wie üblich nach ihrem Befinden erkundigte, um dann vorsichtig zu fragen: »Nuriya, willst du uns nicht wieder mal besuchen? Du warst schon so lange nicht mehr hier!«
»Tantchen! Was soll ich diesmal für dich tun? Einladungen zum Jahresfest schreiben, deinen Computer reparieren oder dir bei der Inventur helfen?«
»Nichts von alledem!«
»Bist du krank? Deine Stimme klingt so eigenartig!«
Jill räusperte sich. »Du weißt, ich träume schon lange davon, eine Reise zu den magischen Orten dieser Erde zu machen.«
»Und jetzt hast du im Lotto gewonnen und willst gemeinsam mit dem ganzen Hexenzirkel verreisen?« Es war eine plötzliche Eingebung gewesen, der sie mit dieser Frage folgte. Der Gedanke schien ihr aber so absurd, dass sie lachen musste.
»Nuriya, wie wundervoll! Ich wusste, dass du eines Tages zur Magie zurückfinden würdest. Selena wird ausgesprochen glücklich sein, wenn du ihr hilfst, den Buchladen während meiner Abwesenheit zu beaufsichtigen.«
Waren ihre Fähigkeiten so stark geworden, dass sie jetzt sogar über das Telefon funktionierten? Oder hatte da vielleicht ein kleiner Zauber ihrer Schwestern nachgeholfen? Sie spürte Panik in sich aufsteigen.
»Ich hab doch gar keine Ahnung von all diesem Esoterik-Kram!« Selbst in ihren eigenen Ohren klang sie jetzt etwas schrill.
Tante Jill ignorierte die abfällige Bemerkung. »Du musst einfach nur gelegentlich nach dem Rechten schauen. Für alles andere ist Selena zuständig. Ich habe schon mit ihr gesprochen. Du wirst sehen ...«, fügte sie zuversichtlich hinzu, »alles wird gut!«
»Wenn du meinst«, entgegnete sie schwach. Aber darauf antwortete ihr nur noch das Freizeichen.
Nach dem Telefonat joggte sie zu ihrem Lieblingsplatz am Fluss. Die Parkbank lag versteckt und schmiegte sich an eine alte Eibe. Der Baum war wunderbar kräftig und von hier aus bot sich ein atemberaubender Blick über das breite, träge dahinfließende Gewässer. Aber das wussten nur wenige.
Die Beine hochgezogen und das Kinn auf die Knie gestützt, beobachtete sie eine Gruppe Enten dabei, wie sie hungrig gründelten, immer auf der Hut, den eleganten, aber aggressiven Schwänen nicht ins Gehege zu kommen. Die Enten waren ihre Freunde, und sie vergaß nie, ihnen ein wenig Futter mitzubringen.
Die Tante hatte recht. Sie war schon seit Ewigkeiten fort. Nach dem Abitur waren ihre wenigen Bekannten in die Welt hinausgezogen, um zu studieren. Nuriya ebenfalls.
Die sozialen Kontakte beschränkten sich im Wesentlichen auf die morgendliche Begrüßung des Zeitungsverkäufers, die regelmäßigen Telefonate mit Tante Jill und – nun ja, auf die Enten. Mit Ausnahme einiger unerquicklicher Begegnungen war auch ihr Liebesleben praktisch nicht existent.
Mit anderen Worten: Hier hielt sie nichts. Was sprach dann eigentlich dagegen heimzukehren? Sie würde sich im Hause ihrer Eltern wohl fühlen, zumal sie dort noch immer ihr eigenes Zimmer besaß, das stets eine gemütliche Trutzburg gegen alles Schlechte und Beunruhigende gewesen war. Online arbeiten konnte sie nahezu überall. Und Selena war ja sowieso meistens im Laden. Hinzu kam eine gehörige Portion schlechten Gewissens. Tante Jill hatte ihr in der Vergangenheit als gute Freundin zur Seite gestanden und trotz ihrer Feindseligkeiten alles getan, um ihnen den schmerzlichen Verlust der Eltern etwas erträglicher zu machen. Also wurde es allmählich Zeit, dass sie sich revanchierte.
* * *
Die wenigen Passagiere des Abendflugs verteilten sich nach der Landung rasch in alle Himmelsrichtungen, das letzte Taxi zeigte Nuriya nur noch die Rücklichter – und Selena war nicht erschienen, um sie abzuholen. Tante Jill hatte ihre Weltreise so überstürzt organisiert, dass sie bereits abgereist war. Das fing ja gut an. Mit der Reisetasche unter dem Arm spurtete Nuriya zur Haltestelle und erreichte den abfahrbereiten Shuttlebus gerade noch rechtzeitig.
Am Morgen hatte sie der Nachmieterin die Schlüssel zu ihrem kleinen Appartement übergeben. Ihre wenigen Habseligkeiten waren bereits in der Vorwoche von einer Spedition abgeholt worden.
Beim Anblick der alten Fachwerkhäuser ihrer Heimatstadt, die sorgsam restauriert und eng aneinander gelehnt die Straßen säumten, spürte sie plötzlich das vertraute Flattern in der Magengegend – jenes untrügliche Gefühl, das sich immer dann einstellte, wenn außergewöhnliche Ereignisse ihre Schatten vorauswarfen.
Je näher sie ihrem Ziel kam, desto deutlicher wurden auch die Veränderungen, die dieses Viertel in ihrer Abwesenheit durchlaufen hatte. Frisch gepflanzte Bäume säumten die Straßen, parkende Autos waren in eine neu angelegte Tiefgarage verbannt worden. Die Bushaltestelle, an der sie ausstieg, war renoviert, zahlreiche neue Geschäfte und Cafés lockten die für diese Uhrzeit ungewöhnlich vielen Passanten. Kein Zweifel – diese Gegend war in Mode gekommen. Merkwürdigerweise gefiel ihr das gar nicht. Sie fühlte sich fremd, ihrer Jugenderinnerung beraubt, ausgeschlossen und seltsam einsam.
Bedrückt trottete sie an lachenden Menschen vorbei, bis sie endlich in die schmale Gasse einbog, wo das vertraute Holzschild mit der altmodischen Aufschrift »Thyme & Tomes« sie begrüßte. »Thymian und Folianten. Das sind ganz besondere alte Bücher«, hatte Tante Jill ihnen damals erklärt. Der Buchladen trug diesen Namen bereits, als sie ihn viele Jahre zuvor übernommen hatte.
Warmes Licht fiel von innen auf das Kopfsteinpflaster, und durch die einladenden Sprossenfenster konnte Nuriya teure Bildbände erkennen. Ein dezentes Hinweisschild über der Auslage versprach weitere Kostbarkeiten im Inneren und wies auf ein gut sortiertes Antiquariat hin. Das Thyme & Tomes wirkte heller, einladender, als sie es in Erinnerung hatte. Doch kaum hatte sie die drei ausgetretenen Stufen erklommen und das Geschäft betreten, schlug ihr der vertraute Duft von Weihrauch, Kräutern und altem Papier entgegen. Also hatte sich nicht alles verändert. Sie atmete tief durch, schloss kurz die Augen – und war zu Hause.
Selena war nicht zu sehen, und Nuriya erinnerte sich, dass ihre Schwester sich im Winter gern im hinteren Teil des Ladens aufhielt, wo ein verglaster Wintergarten an das Geschäft anschloss. Sie umrundete schnell die dicht gefüllten Büchertische – und fand sich unvermittelt als Zuhörerin einer literarischen Veranstaltung wieder. Mit ruhiger Stimme trug ihre sonst so zurückhaltende jüngere Schwester zarte Gedichte über die Magie der Liebe vor und wirkte dabei wie ein unirdisches Geschöpf aus einer anderen Welt.
Selena saß vor Regalen voller Kräuter an einem antiken Tischchen, direkt neben einem silbrig schimmernden Olivenbaum, und war, so umgeben von Pflanzen, offensichtlich ganz in ihrem Element. Sie strahlte eine Selbstsicherheit aus, wie Nuriya sie bislang nur von ihrer Zwillingsschwester Estelle kannte. Während sie noch überlegte, was diese augenfällige Veränderung verursacht haben mochte, glitt ihr Blick über das Publikum. Vor ihr hockten, wie Raben, mindestens dreißig Gothics, die dem Vortrag konzentriert lauschten.
Behutsam stellte sie ihre Reisetasche ab, verschränkte die Arme und lehnte sich an den Türrahmen. Das dabei verursachte Geräusch veranlasste eine Zuhörerin, sich mit tadelndem Blick nach ihr umzudrehen.
Kurz darauf endete die Lesung. Die Gäste applaudierten, einige verließen den Wintergarten, andere scharten sich noch um die kleine Bühne.
Selena.
Ohne es bewusst zu wollen, hatte sie ihrer Schwester einen Gedanken gesandt. Und mitten im Gespräch hob diese den Blick und sah sie an. Für einen Moment schien die Welt stillzustehen – als hätten zwei verwandte Seelen einander wiedergefunden. Magie tanzte um ihr nachtschwarzes Haar, und Selena schwebte mehr, als dass sie ging, auf Nuriya zu. Sie streckte beide Arme aus und sagte mit weicher Stimme:
»Willkommen zu Hause.«
»Weiß Tante Jill, dass du hier Gruftie-Lesungen abhältst?«
Eine Besucherin mit türkisfarbenen Zöpfen starrte sie verständnislos an.
»Die Veranstaltung ist beendet!«, fauchte Nuriya und beobachtete mit nicht geringem Vergnügen, wie die restlichen Gäste sich hastig entfernten. Als die Türglocke verklungen war, wandte sie sich wieder Selena zu. »Wir sprechen uns morgen. Um neun. Pünktlich!«
Dann schnappte sie sich ihre Tasche, stürmte hinaus und die Straßen entlang bis zum Haus ihrer Familie.
Das war nicht nett!
Sie wünschte sich nicht zum ersten Mal, dass diese Stimme endlich verstummen würde. Die Visionen, das plötzliche Eintauchen in die Gedanken anderer, die Magie – all das hatte sie in den letzten Jahren unterdrücken und fast vergessen können. Nur diese verdammte Wesenheit hörte nicht auf, ihr ungefragt Ratschläge zu erteilen. Sie begleitete sie, solange sie denken konnte – kritisierte, tröstete, spottete und war, allem Widerstand zum Trotz, immer da gewesen.
Wer bist du?, hatte sie als kleines Mädchen gefragt. Doch ausnahmsweise war die Stimme damals verstummt. So hatte Nuriya ihr kurzerhand den erstbesten Namen gegeben, der ihr einfiel: Ninsun.
Die Stimme schien einverstanden gewesen zu sein – sie hatte sich jedenfalls nie beschwert – und wich ihr seither nicht mehr von der Seite, so sehr Nuriya sich auch bemühte, sie zu ignorieren.
Du hättest sie nicht so beleidigen dürfen.
Aber hast du nicht gesehen? Selena benimmt sich, als wäre es ihr Laden!
Sie hasste es, mit Ninsun zu streiten. Diese verstand es immer, die Dinge so darzustellen, wie es ihr passte – und behielt obendrein meist recht.
Eifersüchtig? Ninsuns Tonfall war eindeutig belustigt.
Nuriya ignorierte den Einwurf. Und wie sie aussieht! Sie vergrault doch die Kunden.
Ein Lachen wehte durch ihren Kopf. Ich hatte den Eindruck, dass für diese Uhrzeit ungewöhnlich viele Menschen dort waren.
Alles Verrückte!
Sei doch nicht so provinziell! Darf ich dich daran erinnern, wer selbst am liebsten in dunkle Farben gehüllt auf Unsichtbarkeit hofft?
Sie floh in ihr altes Zimmer, schlug die Tür hinter sich zu und atmete auf. Zu Hause! Wie bei jedem Besuch empfing sie der beruhigende Geruch ihrer Kindheit, und wenig später ließ sie sich, weit weniger aufgewühlt, in das frisch bezogene Bett sinken.
Sie war kurz davor einzuschlafen, als ein Schlüssel in der Haustür klapperte. Dann vernahm sie Schritte – leicht und vertraut – und das Knarren der alten Holztreppe.
»Nuriya? Bist du noch wach?«, fragte Selina leise.
Am nächsten Morgen war Selena fort – das spürte Nuriya sofort. Kein Wunder, es war bereits nach elf, und ihre Schwester stand sicher längst im Buchladen. Am Abend zuvor hatte sie nur so getan, als schliefe sie, um einem Gespräch aus dem Weg zu gehen. Selena hatte ihr eine gute Nacht gewünscht, und bald danach waren die Geräusche im Haus verklungen. Doch sie selbst hatte sich lange in den Laken gewälzt, den Blick an die Decke gerichtet und sich gefragt, weshalb sie ihre schlechte Laune ausgerechnet an ihr ausgelassen hatte.
Nach einer ausgiebigen Morgendusche schlüpfte sie in eine Jeans und das riesige Wohlfühlhemd, das sie in ihrer Tasche verstaut hatte. Wie gewohnt bändigte sie ihre widerspenstige, rote Mähne, indem sie sie zu einem festen Zopf flocht, und glitt auf Socken in die lichtdurchflutete Küche. Auf dem Tisch stand ein frischer Blumenstrauß, und auch der Kühlschrank war gut gefüllt. Mit einer großen Tasse Tee in der Hand wartete sie darauf, dass der Toaster endlich die knusprigen Scheiben ausspuckte, und linste dabei neugierig ins Arbeitszimmer.
Dort stand ihr alter Zeichentisch, ordentlich aufgebaut neben Jills Staffelei. Im ganzen Haus war kein Umzugskarton zu entdecken. Und ein Blick in den Kleiderschrank zeigte, dass sich dort bereits all ihre Kleidung befand – sorgfältig gefaltet, auf Bügeln aufgehängt. Da Tante Jill bereits vor Wochen abgereist war, konnte das nur Selenas Werk sein.
Welcher Teufel ist nur gestern in mich gefahren? Sie hatte Selena während der letzten Wochen, in denen sie ihre Wohnung aufgelöst hatte, mit dem Laden allein gelassen – und ihr nicht einmal mitgeteilt, wann genau sie ankommen würde. Kein Wunder also, dass ihre Schwester sie nicht abgeholt hatte. Beschämt biss sie in ihren Toast.
Nun fand sie das Haus gewohnt aufgeräumt und einladend vor – obwohl Selena sich anscheinend nicht nur um den Verkauf, sondern auch um Lesungen kümmerte. Und war es nicht sie selbst gewesen, die stets betont hatte, wie wichtig solche Veranstaltungen für Kundenbindung und Umsatz waren?
Ausnahmsweise schwieg Ninsun, aber Nuriya war auch so klar, was ihr magische Begleiterin sagen würde.
Ich muss mich entschuldigen.
Also raffte sie sich auf und machte sich auf den Weg zum Laden. Etwas beklommen öffnete sie die Tür – ein vertrautes Läuten begrüßte sie, hell und weich wie ein Glockenspiel. Es erinnerte sie an die Feengeschichten, die ihre Mutter ihnen beim Kochen erzählt hatte.
Nun bemerkte sie, dass sich mehr verändert hatte, als ihr gestern aufgefallen war. Die Wände waren frisch gestrichen, neue Strahler in die Decke eingelassen, deren Licht eine beinahe sonnige Atmosphäre schuf. Alles wirkte klarer, moderner – ohne dabei das besondere Ambiente der alten Räume zu zerstören. Auch das Sortiment hatte sich gewandelt: Statt verstaubter Ladenhüter stapelten sich nun hochwertige Bildbände in den Auslagen. Im hinteren Bereich des Geschäfts entdeckte sie eine Auswahl antiquarischer Fachbücher, sorgfältig kuratiert und ansprechend präsentiert.
Ein angrenzender, neu gestalteter Raum zeigte schließlich Tante Jills ursprüngliches Geschäft – genau so, wie Nuriya es in Erinnerung hatte. Unter der Decke hingen Bündel getrockneter Kräuter, in alten Regalen standen große und kleine Statuen finster blickender Gottheiten, Tarotkarten, Amulette, Pendel und gläserne Kugeln. In dieser Atmosphäre hatten sie sich als Kinder immer besonders wohl gefühlt. Das leichte Frösteln, das diese Szenerie auslöste, war ihnen vertraut. Die Vorstellung, was sich wohl in den unzähligen Gläsern und Krügen verbarg, hatte sie stets aufs Angenehmste gegruselt.
Die Trennung zwischen einem modernen Buchladen, der perfekt ins neue Viertel passte, und dem ursprünglichen Hexengeschäft war außerordentlich elegant gelöst. Tante Jill war dem Zeitgeist gefolgt, ohne ihre Leidenschaft aufzugeben. Nuriya war beeindruckt.
Als sie den Wintergarten betrat, in dem Selena am Abend zuvor gelesen hatte, sah sie ihre Schwester über einen Stapel Abrechnungen gebeugt. Gerade wollte sie sich räuspern, als Selena den Kopf hob, sie anlächelte und mit einer einladenden Geste auf den Sessel neben sich deutete.
»Ich bin gleich fertig. Möchtest du Tee?«
»Danke, ich mache mir selbst einen.«
Nuriya unterdrückte das erneute Aufwallen von Ärger – und riss sich zusammen. Was bildete sich Selena eigentlich ein, sie so mitleidig anzusehen?
Wenig später beobachtete sie sie über den Rand ihrer Tasse hinweg. Die Entspannung, die sie dabei empfand, lag vermutlich an einer von Jills speziellen Kräutermischungen. Viel Auswahl hatte sie ohnehin nicht gehabt – die Dose war ihr beim Öffnen des Schranks regelrecht in die Hände gefallen. Und da sie keine Lust auf magischen Schabernack wie explodierende Tassen oder kochendes Wasser auf dem Boden gehabt hatte, hatte sie sich gefügt. Nicht zu ihrem Schaden, wie sie zugeben musste.
In einen Sessel gekuschelt, genoss sie die Ruhe des Mittags und wartete, bis ihre Schwester mit ihrer Buchhaltung – oder was immer sie da tat – fertig wurde. Dieses neue Wesen, das ihr da gegenüber saß, schien alles zu besitzen, was ihr selbst gerade fehlte: Ruhe. Selbstbewusstsein. Und offenbar auch geschäftliches Geschick. Ganz zu schweigen von ihrem Aussehen: Das seidig fallende Haar, die schmale Figur, die grazilen Hände, die sich elegant über die Tastatur bewegten. Selbst das schwarze Kleid, das bei ihr selbst wie ein Trauersack gewirkt hätte, verlieh Selena etwas Erhabenes.
Als diese schließlich die Papiere beiseitelegte, fiel es Nuriya nicht mehr schwer, ihre Stimme freundlich klingen zu lassen. »Wir müssen reden.«
Selena blickte verwundert auf. »Ich glaube, zuerst sollte ich mich entschuldigen. Du konntest ja von der Lesung nichts wissen und warst sicher sehr überrascht.«
»Allerdings. Vielleicht mache ich mich erstmal mit den Veränderungen im Laden vertraut. Danach können wir einen Arbeitsplan aufstellen.«
Waffenstillstand.
* * *
»Heiliger Morgentau, Nuriya! Was ist denn das?«, rief Selena wenige Tage später, als sie in den Laden wirbelte und die alte Kiste im Antiquariat entdeckte.
Ihre ungebrochen freundliche Art irritierte Nuriya nach wie vor. Sie war noch immer nicht dahintergekommen, was diese Veränderungen in der Ausstrahlung ihrer Schwester ausgelöst hatte.
Nuriya spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. »Du wirst es nicht glauben, aber in der Kiste sind Bücher«, entgegnete sie trocken. »Ich habe sie zu einem sehr guten Preis bekommen.«
Insgeheim machte sie sich Vorwürfe wegen des überstürzten Kaufs. Aber sie hatte einfach nicht Nein sagen können, als dieser alte, gebeugte Mann sie beinahe flehentlich gebeten hatte, die Bücher mitzunehmen. Immerhin hatte sie bei einem kurzen Blick in die Truhe ein paar abgegriffene Vampirromane entdeckt – ein Genre, für das sie eine heimliche Schwäche hegte. Keine besonders gute Entschuldigung für den überhöhten Preis, den sie gezahlt hatte. Allmählich dämmerte ihr, dass sie als Geschäftsführerin womöglich nicht die beste Besetzung war.
Doch das wollte sie sich selbst nicht eingestehen – und fauchte stattdessen: »Und im Übrigen möchte ich dich bitten, in Zukunft etwas unauffälliger gekleidet zur Arbeit zu erscheinen! Die Leute erschrecken sich ja, wenn sie dich sehen.«
Selena sah sie einen Moment lang wortlos an. Dann wandte sie sich der monatlichen Abrechnung zu – ohne ein Wort.
Nuriya wühlte gereizt in der Bücherkiste und bemühte sich, Ninsuns stumme Kommentare zu ignorieren, die wie kleine Stiche durch ihren Geist summten. Schließlich fand sie ein paar vielversprechende Titel, zog sie an sich und verließ mit gerunzelter Stirn den Laden.
Sie lief eine Weile ziellos durch die Straßen, bis ihr dämmerte, dass sie diesem ständigen Anflug von Gereiztheit dringend etwas entgegensetzen musste. Die Frage war nur: Was?
Kaum hatte sie den Entschluss gefasst, fand sie sich bereits auf dem Hof eines alten Fabrikgebäudes wieder – dort, wo Taos Schule untergebracht war. Tao war früher ihre Trainerin für asiatische Kampfkunst gewesen. Offensichtlich hatte ihr Unterbewusstsein längst entschieden, noch bevor ihr klar war, wonach sie überhaupt suchte.
Tao verzog keine Miene, doch in ihren Augen blitzte ein Hauch von Wiedersehensfreude auf, als sie Nuriya aufforderte, sich umzuziehen.
Und dann kämpfte sie. Verbissen, aber chancenlos. Zwar gelang es ihr in den meisten Fällen, Taos geschmeidigen Angriffen zu entgehen, doch sie fühlte sich unbeweglich, ungelenk – weit entfernt von der einstigen Leichtigkeit ihrer Bewegungen.
»Hast du alles vergessen?«, fragte Tao schließlich, als Nuriya nach einer halben Stunde erschöpft und hochrot auf der Matte lag und nach Luft rang.
»Sieht so aus«, antwortete sie mit schiefem Grinsen und schloss kurz die Augen.
»Du bist aus dem Gleichgewicht. Geh nach Hause. Mach deine Übungen. Ich erwarte dich morgen nach Sonnenuntergang zum Training.«
Die Pubs hatten längst geschlossen, und der Nebel kroch vom Fluss herüber in die Gassen der Altstadt. Da hörte er plötzlich einen schrillen Schrei. Der Jäger erstarrte, hob prüfend den Kopf und sog die kühle Nachtluft ein – als könne er die Angst des Opfers wittern.
Noch bevor die Frau ein zweites Mal um Hilfe rufen konnte, war Kieran bei ihr. Er packte ihren bulligen Angreifer am Hals und riss ihn zurück, als wäre er nicht mehr als ein lästiges Insekt.
»Lauf!«, befahl er mit harter Stimme. Erst nach einem Moment angstvoll starren Zögerns raffte sie ihre zerfetzte Bluse über der bloßen Brust zusammen und verschwand mit klappernden Absätzen in der Dunkelheit. Kieran sah ihr nach, bis ihn ein gurgelndes Geräusch an den Vergewaltiger erinnerte. Angeekelt ließ er ihn fallen.
Doch der Mann war zäh. Mit einem Fluch sprang er auf und versuchte, Kieran mit einem wuchtigen Hieb zu treffen.
Der fing den Schlag mit einer Hand ab. Lächelnd zerquetschte er langsam die Pranke des Angreifers, bis dieser wimmernd in die Knie ging. Dann packte Kieran ihn erneut am Kragen, zog ihn auf Augenhöhe zu sich hoch und starrte ihn drohend an. Er konnte nur ahnen, was der Mann in seinen Augen sah – etwas, das ihn augenblicklich jede Gegenwehr vergessen ließ. Mit Genugtuung registrierte Kieran, wie die Farbe aus dem Gesicht des Sterblichen wich.
Er spürte seine Reißzähne länger werden und zwang mit einer fast zärtlich wirkenden Handbewegung sein Opfer, den Kopf beiseite zu drehen. Er hatte seit Tagen nicht mehr gejagt, und so erregte ihn der nervöse Puls unter der bleichen Haut derart, dass er kaum unterscheiden konnte, ob es sein eigenes oder das Blut des Sterblichen war, dessen Rauschen alles andere übertönte.
Mit einem Fauchen grub er seine Zähne in das weiche Fleisch, begann gierig zu trinken und verlor sich im betörenden Strudel des Pulsschlags. Immer schneller schlug das Herz, immer panischer pumpte es köstliches Blut aus der klaffenden Wunde.
Mehr – noch mehr wollte Kieran trinken, sich in diesem verbotenen Moment reinen Glücks verlieren und darin endlich Vergessen finden – und sei es nur für einen Wimpernschlag der Ewigkeit. Doch viel zu bald floss weniger Blut. Der dröhnende Rhythmus verlangsamte sich und verstummte schließlich. Enttäuscht ließ Kieran den schlaffen Körper zu Boden sinken, lehnte sich leicht benommen an eine kalte Mauer und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Seit langer Zeit hatte er nicht mehr die Kontrolle verloren und auf diese Weise getötet. Dafür würde er sich verantworten müssen.
Ein finsteres Lachen erklang. Erst jetzt spürte er ihre Gegenwart. Sie waren zu fünft – und griffen sofort an. Den ersten Widersacher setzte Kieran mit einem präzisen Schlag außer Gefecht, den zweiten traf sein Stiefel so hart am Kinn, dass das hässliche Geräusch eines brechenden Genicks deutlich zu hören war.
Die drei übrigen Angreifer näherten sich gemeinsam. Ihre langen, vom Wind geblähten Ledermäntel ließen sie wie schmutzige Westernhelden wirken.
Und dann waren sie über ihm.
Kieran drehte sich herum, packte den Mann in der Mitte am langen Haar und schleuderte ihn in hohem Bogen gegen eine gemauerte Hauswand, wo er leblos zu Boden glitt.
Rasch wandte er sich den beiden verbliebenen Gegnern zu, bereit, sie ebenfalls unschädlich zu machen – doch da durchfuhr ihn ein glühender Blitz. Der Schmerz ließ ihn für einen Moment beinahe straucheln.
Ein scharf geschliffener Wurfstern steckte in seiner Schulter. Von ihm ging ein brennendes Gefühl aus, das sich wie Feuer durch seinen Körper fraß: Gift!
Seine Überraschung musste ihm für einen Moment im Gesicht gestanden haben, denn die Gegner lachten zufrieden und stürzten sich mit einem gemeinen Fauchen auf ihn – zweifellos in der Absicht, ihm den Todesstoß zu versetzen. Doch Kieran galt nicht ohne Grund als einer der besten Kämpfer unter den Vengadoren, jener sagenumwobenen Elitegruppe, die im Auftrag des Rates für die Einhaltung der Regeln sorgte.
Jahrhundertelanges Training erlaubte es ihm, den Schmerz in eine Energiequelle zu verwandeln. Er griff mit solcher Vehemenz nach den beiden, dass sich seine zu Klauen gebogenen Finger tief in das Fleisch ihrer Schultern bohrten. Das Splittern ihrer aneinanderprallenden Schädel hörte er kaum noch, als er mit den Schatten der Nacht verschmolz und seine Spuren hoffentlich so weit verwischte, dass die Angreifer ihm nicht mehr folgen konnten.
Doch eigentlich musste er sich darüber keine Sorgen machen. Die allmählich wieder zu sich kommenden Mitglieder der Vampirgang hatten bereits genug damit zu tun, ihre eigene Präsenz vor den Sterblichen zu verbergen, die inzwischen – von den Kampfgeräuschen angelockt – neugierig aus ihren Fenstern blickten.
In der Ferne heulte bereits eine Polizeisirene, als die vampirischen Soldaten, gehüllt in undurchdringliche Schatten, in ihr Quartier zurückgebracht wurden. Dort würden sie ihre Wunden versorgen können.
Nur ein sehr mächtiger Vampir verfügte über ausreichend magische Energie, um zwei verletzte Kameraden auf diese Weise in Sicherheit zu bringen. Doch Kieran hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Das Gift brannte wie die ewigen Feuer der Hölle in seinem Körper, während er in der Sicherheit seines Hauses Zuflucht suchte.
Donates! Wie wäre es mal wieder mit einem gemeinsamen Abend?
Kieran? Die Stimme des Freundes klang einen Augenblick lang verwundert. Dann perlte ein heiteres Lachen in seinen Gedanken. Wir kommen gern!
Erschöpft ließ Kieran den schmerzenden Kopf auf die Kissen seines Betts sinken. Es hatte ihn nahezu seine letzten Kräfte gekostet, um Hilfe zu rufen. Bevor er das Bewusstsein verlor, standen die beiden Vampire bereits vor ihm – weit konnten sie nicht gewesen sein.
Angelina gab einen erstickten Laut von sich, als sie Kieran auf dem breiten Bett in seinem riesigen Schlafzimmer liegen sah, und stürzte sofort zu dem Schwerverletzten. Sie streckte die Hand aus, um nach der gefährlichen Waffe in seiner Schulter zu greifen. Doch Donates stellte sich vor sie und sagte scharf: »Rühr ihn nicht an!«
Empört blickte sie zu ihrem Gefährten. »Er ist verletzt!«
»Das sehe ich auch. Aber der Shuriken ist vergiftet!«
»Shuriken?«
Donates hat recht. »Der Wurfstern …« Kieran war kaum noch zu verstehen, sein Atem ging rasselnd. »Es breitet sich rasend schnell aus«, flüsterte er.
»Du darfst nicht sprechen! Ich werde dich in Heiltrance versetzen und gemeinsam mit Donates versuchen, das Gift zu neutralisieren.« Beruhigend legte Angelina ihre kühle Hand auf seine glühende Stirn, und sofort schlossen sich Kierans Augen. Er stöhnte noch, dann war alles still.
»Wir haben nicht viel Zeit! Donates, zünde bitte die Kerzen an!«
Angelina hatte nach Kierans ungewöhnlicher Einladung sofort geahnt, dass etwas nicht stimmte. Sie hatte ihre Notfalltasche gepackt – samt ein paar gut gekühlten Beuteln besten Blutes. Die Kerzen verströmten ihren heilsamen Duft, und Angelina warf Donates einen fragenden Blick zu. Er nickte nur und sagte: »Wir gehen gemeinsam.«
»Das ist nicht möglich. Du musst hier bleiben, falls etwas schiefgeht.«
»Wir gehen gemeinsam oder gar nicht.«
»Bist du eifersüchtig? Liegt es daran, dass er ein Vengador ist?«
»Das ist doch albern!«, knurrte Donates. Angelina erkannte sofort, dass sie ins Schwarze getroffen hatte.
Er bekam diesen bestimmten Gesichtsausdruck, der ihr sagte, dass an ihm jetzt nicht zu rütteln war.
»Angel Darling, wir kennen dieses Gift nicht. Ich würde dich niemals einer solchen Gefahr aussetzen!« Er zögerte kurz, dann fügte er leise hinzu: »Nach einer derart aufwendigen Heilung wärst du auf besondere Weise mit Kieran verbunden. Du kennst mich gut genug, um zu wissen, dass mir das nicht gefallen kann. Entweder bekommt er uns zusammen – oder gar nicht.«
Kieran stöhnte leise.
»Wenn wir noch länger streiten, ist das Thema ohnehin erledigt!«, fuhr Angelina auf. Sie wollte nicht zugeben, dass Donates’ Sorge um sie einen Kloß in ihrem Hals auslöste. Wie konnte es sein, dass sie diesen Vampir auch nach zwanzig Jahren noch jeden Tag ein wenig mehr liebte? Sie räusperte sich. »Dann brauchen wir Nik. Er muss uns überwachen.«
Donates war einverstanden. Seine Konturen schimmerten wie flüssiges Silber, bevor er verschwand, um Nik zu holen. Allein hätte der deutlich jüngere Vampir den Weg durch das magische Gespinst, das Kierans Haus schützte, nie unversehrt gefunden. Einen solchen Zauber beherrschten nur die erfahrensten Vampire – und Kieran war zweifellos einer von ihnen. Selbst Donates’ Haut prickelte unangenehm, als er schließlich mit Nik zurückkehrte.
Nik schüttelte sich wie eine nasse Katze und fluchte: »Was für ein scheußlicher Zauber! So empfängt man doch keine Gäste!« Doch dann fiel sein Blick auf den leblos daliegenden Vampir. »Was ist denn mit dem passiert?«
»Er wurde vergiftet. Wir kennen das Gift nicht – deshalb werden wir gemeinsam versuchen, ihn zu heilen. Und … Nicholas: Niemand darf davon erfahren!«
Nik hob beschwichtigend die Hände und trat einen Schritt zurück. »Was glaubst du denn? Dass ich lebensmüde bin? Meine Lippen sind versiegelt!«
Er hatte nur vor wenigen Dingen Respekt. Der streng hierarchische Aufbau der verborgenen Vampirgesellschaft war ihm, einem Kind der Demokratie des 20. Jahrhunderts, zuwider. Aber er erkannte Macht, wenn er ihr begegnete – und Kieran war einer der furchteinflößendsten Vampire, die er je getroffen hatte. Insgeheim fragte er sich, warum ausgerechnet der lebenslustige Donates mit diesem düsteren Typen befreundet war, der vermutlich nur in einer Gruft lachte.
»Lasst uns anfangen.« Donates stimmte in den uralten rituellen Gesang Angelinas ein, bis die beiden vampirischen Heilkundigen vor Niks Augen zu einem einzigen Wesen aus purer Energie verschmolzen. Sichtbare Magie umhüllte den reglosen Körper Kierans und floss dann in ihn hinein, bis er von innen heraus in einem warmen Licht zu leuchten begann.
Sofort entdeckten sie die winzigen, virenähnlichen Mikroorganismen. Die grün glitzernden Eindringlinge waren nicht zu übersehen – und vermehrten sich rasend schnell. Angelina studierte ihre Struktur aufmerksam. Nachdem sie sie entschlüsselt hatte, begann sie – vereint mit Donates – das tödliche Gift mithilfe eines magischen Netzes vorsichtig einzufangen und schließlich zu neutralisieren.
Nik bewunderte die Arbeit seiner Freunde. Auch er besaß ein beachtliches Talent im Behandeln von Verletzungen – typisch für seine Familie, die unter den Vampiren als etwas Besonderes galt. Doch Angel – Angelina – trug ihren Kosenamen mit Recht. Trotz ihres vergleichsweise jungen Vampirdaseins hatte sie sich als magische Heilerin längst einen Namen gemacht. Ihr konnte er nicht annähernd das Wasser reichen.
Donates hatte sie anfangs gern liebevoll als seine Hexe bezeichnet – nicht ahnend, wie nah er damit der Wahrheit kam. Kurz nach ihrer Verwandlung war eine Fee erschienen und hatte erklärt, Angelina sei ihre Nichte und habe die magischen Talente ihrer Verwandtschaft geerbt.
Als Nik das erfahren hatte, war er zunächst skeptisch gewesen. Aber wenn es Vampire gab – und er selbst einer geworden war –, warum sollten dann nicht auch Feen existieren? Inzwischen wusste er, dass die magische Welt weit mehr zu bieten hatte. Es hatte sich herausgestellt, dass auch Angelinas Seelengefährte Donates über heilende Kräfte verfügte, und insgeheim vermutete Nik, dass sich unter dessen französischen Vorfahren ebenfalls die eine oder andere Fee verbarg.
Nik – eigentlich Nicholas von Winterfeld – hatte den beiden viel zu verdanken. Unmittelbar nach seiner Verwandlung, die ein Unfall vor gut zwanzig Jahren ausgelöst hatte, war er in einen gefährlichen Machtkampf um die Freiheit der Kinder der Dunkelheit geraten. Fast hätte er dabei sein Leben verloren – und auch Sylvain, das Oberhaupt des Winterfeld-Clans, verdankte Angel und Donates seine schnelle Genesung.
Erst allmählich begann Nik zu begreifen, wie außergewöhnlich seine Stellung – und die seiner Blutsverwandten – innerhalb der vampirischen Gesellschaft war. Ein Mitglied der Winterfeld-Familie zu sein, bedeutete nicht nur Ansehen, sondern verlieh auch besondere Fähigkeiten.
Dazu gehörte das Reisen durch die Zwischenwelt. Doch, so gestand Nik sich ein, ganz hatte er dieses Konzept noch nicht verstanden. Donates hatte es ihm einmal so erklärt: »Stell dir eine Mischung aus Nirwana, Paradies und Walhalla vor – mit eingeschränkter Rückfahrkarte und kostspieligem Transit-Ticket.«
Tatsächlich nutzten die meisten magischen Wesen die Zwischenwelt vor allem für schnelle Ortswechsel. Besonders kräfteraubend war es, dabei Gegenstände oder gar andere Personen mitzunehmen. Solche Reisen blieben den Mächtigsten vorbehalten.
Da es dort jedoch keine Zeit gab, war die Gefahr groß, sich in ihren Weiten zu verlieren. In ihren Tiefen, so sagte man, lebten uralte Götter und furchterregende Dämonen.
Wer es verstand, die trennende Wand zwischen den Welten zu öffnen, den erwarteten zauberhafte Landschaften. Wiesen in sattem Grün erstreckten sich bis zu den Hügeln und Wäldern am Horizont. Das eigenartige Blau des Himmels spiegelte sich in klaren, plätschernden Bächen. Doch wer genauer hinsah, erkannte: Die Wiesen waren sumpfig und verschlangen jeden, der vom Pfad abkam. Die Flussbetten führten kein echtes Wasser, sondern Energie – sie nährten sich von den Reisenden, aber auch von den Schwachen dieser Welt. Den Mächtigen jedoch, die sie zu nutzen verstanden, verhießen sie noch größere Macht.
Nik wollte gar nicht wissen, zu welchem Preis.
Schon allein der Gedanke an das Gefühl der Hilflosigkeit, das ihn bei jeder Reise durch diese Dimension überkam, ließ ihn erschauern. Er beeilte sich stets, der Zwischenwelt so schnell wie möglich wieder zu entkommen. Doch es hätte ihn nicht gewundert, wenn Kieran – der jetzt so geschwächt vor ihm lag – zu denen gehörte, die die Energieadern jener Welt zu ihrem Vorteil nutzen konnten.
Er hoffte nur, dass dieser unheimliche Kerl seinen Freunden – oder besser: Blutsgeschwistern – niemals Schaden zufügen würde. Es war kaum auszudenken, was geschähe, wenn Sylvain davon erführe.
Besorgt warf er einen Blick zum Bett. Doch Kierans Aura zeigte keine Spur von Verunreinigung. Angelina und Donates schienen das Problem im Griff zu haben.
Nik musste schmunzeln, als er daran dachte, was für ein Rebell sein vampirischer Bruder noch vor zwanzig Jahren gewesen war. Er selbst hatte das nicht miterlebt – ebenso wenig wie Angelina –, denn auch er war erst damals verwandelt worden. Aber wenn auch nur ein Bruchteil dessen stimmte, was man sich über Donates’ frühere Untaten erzählte, dann hatte der blonde Einzelgänger in den letzten drei Jahrhunderten so ziemlich alles getan, um die Vampirgemeinschaft und den magischen Rat gegen sich aufzubringen.
Einen Enkel Liliths – jener Göttin der Kinder der Nacht – jedoch wies niemand ohne Weiteres in seine Schranken. Nicht zuletzt auch deshalb, weil keiner so genau wusste, über welche Kräfte der Winterfeld-Clan tatsächlich verfügte. Und dabei, so hatte der kluge Sylvain entschieden, sollte es auch bleiben.
Erst Angelina war es gelungen, den überheblichen Unruhestifter zu zähmen. Wahrscheinlich war es auch ihre Idee gewesen, die überschüssige Energie ihres Geliebten in geordnete Bahnen zu lenken und ihn als Vengador – als Agent und Vollstrecker des Rates – arbeiten zu lassen. Damals hatten sie Kieran kennengelernt, und der war Donates’ Tutor und Pate geworden. Schnell hatte Kieran ihr Potenzial erkannt und dafür gesorgt, dass man sie mit geheimem Wissen ausstattete – über Gifte und all das, was Vampiren gefährlich werden konnte.
Die Ausbildung zum Vengador dauerte normalerweise Jahrzehnte, mitunter sogar Jahrhunderte. Dank seines besonderen Erbes und der damit verbundenen Fähigkeiten durfte Donates jedoch von Anfang an mit Kieran zusammenarbeiten – eine Ausnahme, die seine Lehrzeit erheblich verkürzte.
Nik empfand eine gewisse Genugtuung darüber, dass er mit seinem unguten Gefühl gegenüber Kieran nicht allein war. Er war bislang nur wenigen geborenen Vampiren begegnet, denn sie galten nicht ohne Grund als unberechenbare Einzelgänger. Aber nur Kieran besaß diese Aura tödlicher Kälte, die Nik jedes Mal eine Gänsehaut bescherte. Es war, als bestünde seine Seele aus Eis.
Sein Lachen klang stets zynisch, seine Absichten blieben undurchsichtig. Nik war nie auch nur in die Nähe gekommen, Kierans Gedanken zu lesen – nicht einmal jetzt, da er leblos auf seinem riesigen Bett lag.
Neugierig sah sich Nik im Raum um. Es war das erste Mal, dass er eines von Kierans Häusern von innen sah. Erstaunlich eigentlich, dass er überhaupt hineingelangt war – und er war sich keineswegs sicher, ob er es ohne Donates je wieder verlassen könnte.
Das Schlafzimmer war groß genug, um darin eine Drei-Zimmer-Wohnung unterzubringen. Natürlich gab es keine Fenster. Nik spürte, dass sie sich unter der Erde befanden. Der Raum wurde vom gewaltigen Bett dominiert. Gegenüber entdeckte er – und musste unwillkürlich grinsen – einen Plattenspieler samt Schallplatten. Auch er selbst hing sehr an seinen LPs und Singles aus den 1980er-Jahren und schwor, dass deren Klangqualität trotz gelegentlichen Knisterns besser war als alles andere. Über der bemerkenswerten Sammlung hing ein riesiger Bildschirm.
Er fand die Einrichtung überraschend geschmackvoll. Kieran erschien ihm plötzlich deutlich sympathischer. Kurz überlegte Nik, ob er sich den Rest des Hauses ansehen sollte, um herauszufinden, ob auch die übrigen Räume in diesem strengen, kühlen Stil gehalten waren. Aber eigentlich, dachte er achselzuckend, war das völlig egal – und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Bewohner.
Kierans Aussehen hatte sich deutlich gebessert. Seine Haut wirkte nicht mehr so beunruhigend grau – das Leuchten, das ihn umgeben hatte, war mittlerweile schwächer geworden. Nik war froh, heute eine Extraportion des besonders frischen Blutes getrunken zu haben.
Es ist wieder Blutspendesaison, dachte er trocken. Zweifellos würden Angelina und Donates nach der Heilung seine Unterstützung brauchen. Wo blieben sie nur?
Dann kehrten sie zurück. Die magische Energie entwich Kierans Körper, sammelte sich über ihm zu einer leuchtenden Kugel und teilte sich schließlich. Die beiden Heiler standen erschöpft vor dem Bett. Angel wirkte nahezu transparent. Als sie leicht schwankte, sprang Nik hinzu, öffnete mit einem zur Klaue gewordenen Finger seine Pulsader und bot ihr sein kräftiges Blut zur Stärkung an.
Donates griff zunächst zu einer mitgebrachten Blutkonserve, lehnte aber nicht ab, als Nik ihm den anderen Arm hinhielt. Nach ein paar Schlucken verschloss er die Wunde, indem er kurz mit der Zunge darüberfuhr, und ließ sich schwer in einen dunklen Ledersessel sinken. Angelina, inzwischen fast erholt, kuschelte sich in seine Arme.
»Wir haben es geschafft«, flüsterte sie. »Aber es war das heimtückischste Gift, dem ich je begegnet bin.«
»Ja. Und es wird noch eine Weile dauern, bis Kieran vollständig genesen ist. Ich mache mir wirklich Sorgen, welche Nachwirkungen dieser Anschlag noch haben könnte. Wir haben es neutralisiert – die Rückstände wirken nun wie Antikörper, ähnlich einer Impfung, und schützen ihn vor einem erneuten Angriff. Vielleicht sollten wir, sobald er wieder bei Kräften ist, eine Blutprobe zur Untersuchung ins Labor bringen. Der Rat muss auf jeden Fall informiert werden«, ergänzte Donates.
Dann erhob er sich, Angel immer noch in seinen Armen, und sagte: »Ihr bleibt hier. Wir brauchen mehr Blutkonserven. Ich bin bald zurück.«
Angelina wandte sich Kieran zu und zog den Wurfstern, der nun keine Gefahr mehr darstellte, aus der klaffenden Wunde. Anschließend öffnete sie einen Beutel frischen Spenderblutes und hielt ihn an seine Lippen. Kaum hatte die Flüssigkeit sie benetzt, begann er zu trinken. Es folgten zwei weitere Beutel. Als Donates zurückkehrte, stärkten sich schließlich auch die drei Freunde mit dem nährenden Blut.
Kieran hasste es, jemanden um Hilfe zu bitten. In seinem langen Leben hatte er das stets vermieden, wann immer es möglich war. Doch das Gift der Angreifer hatte ihn so sehr geschwächt, dass er keine andere Wahl gesehen hatte, als Donates und dessen Gefährtin zu rufen. Mit ihrer außergewöhnlichen Gabe, ein Netz aus reiner Energie zu weben, waren sie die Einzigen, denen er zutraute, ihn zu retten.
Er war dankbar, dass sie keine Fragen gestellt hatten. Während ihre Magie ihn durchströmte, hatte er gespürt, wie entschlossen sie gemeinsam um sein Leben kämpften.
Wie oft schon hatte er darüber nachgedacht, seiner scheinbar endlosen Existenz ein Ende zu setzen. Doch von einer räudigen Straßenbande überfallen und vergiftet zu werden – so wollte er sicher nicht sterben.
Als er endlich wieder zu sich kam, beobachtete er, wie sich Angelina und Donates küssten. Ihre Nähe war zärtlich, ihre Verbindung tief. Mit einer gewissen Wehmut nahm Kieran wahr, wie Angelina sich an Donates schmiegte, ihre Beine um seinen Körper geschlungen. Ihre Bewegungen waren vertraut, voller Verlangen – und voller Liebe.
Er schätzte Donates sehr – als Krieger, als Gefährten in zahllosen Kämpfen. Gern war er während dessen anspruchsvoller Vengador-Ausbildung sein Tutor gewesen. Doch nun, in diesem Moment, verspürte er einen Stich. Nicht aus Eifersucht – sondern aus schmerzhafter Erkenntnis.
Er beneidete Donates darum, seine Seelenpartnerin gefunden zu haben. Wogegen Kierans eigenes Dasein in einem einzigen Grau versank.
Er selbst hatte keine Aussicht auf ein solches Glück. Noch bevor er das ganze Ausmaß seines Schicksals begriffen hatte, war seine einzige Chance auf Liebe bereits verloren gewesen. Damals – vor Jahrhunderten – war er instinktiv seiner Natur gefolgt, hatte sich in das vermutlich einzige magische Wesen der Region verliebt. Und sie zu der Seinen gemacht.
Kieran hätte gut daran getan, zu warten, bis er seiner wahren Seelengefährtin begegnete. Aber damals hatte ihm niemand die Regeln seiner Art erklärt, und so wusste er nicht, dass geborene Vampire sich in ihren ersten Lebensjahren kaum von gleichaltrigen Sterblichen unterschieden. Erst später, etwa um das dreißigste Lebensjahr, begann ihre Wandlung zu einem bluttrinkenden Wesen der Nacht. Doch unsterblich oder nicht – für alle galt: Sie durften sich nur ein einziges Mal binden. Und das für die Ewigkeit.
Als ein Findelkind, das er gewesen war, hatte er sich glücklich schätzen können, dass ihn die Familie eines angesehenen Schmieds im Königreich Dalriada aufgenommen und immer gut behandelt hatte.
Sein Laird, der Besitzer weiter Landstriche Dalriadas, die heute Argyll heißen und im westlichen Schottland liegen, erkannte seine Intelligenz und die kriegerischen Talente frühzeitig. Und obwohl der halbwüchsige Waisenjunge als Bastard von vielen Dorfbewohnern misstrauisch beäugt wurde, übertrug er ihm bald schon verschiedene Aufgaben. Anfangs waren es kleine Botengänge, aber als Kieran seine Zuverlässigkeit immer wieder unter Beweis stellte, sandte er ihn häufiger auch zu weiteren Reisen aus.
Eines Tages kehrte Kieran erschöpft aus Dunadd, einer der bedeutendsten Siedlungen des Reiches, heim. Es hatte seit Tagen geregnet, und mehrmals war er gezwungen gewesen, große Umwege zu reiten, um Kämpfern feindlicher Familien auszuweichen. Insgeheim verfluchte er den streitsüchtigen Chief, der seine Leute ständig ausschickte, um das Vieh anderer Clans zu rauben. Und wenn die Situation zu bedrohlich wurde, beauftragte er Kieran, die Wogen zu glätten.
Je näher er seinem Tal kam, desto freundlicher wurde das Wetter, und gegen Mittag brannte die Sonne so heiß auf ihn herab, dass er beschloss, ein Bad zu nehmen, bevor er an den Hof seines Herrn zurückkehrte. Behutsam schlich er durch den Wald. Zwar kannten nur wenige diesen versteckt gelegenen See, aber er wollte kein Risiko eingehen und womöglich von feindlichen Kriegern überrascht werden, während er hilflos und ohne Waffen im Wasser schwamm.
Der Anblick der verführerischen Nixe verzauberte ihn sofort. Erst sah er nur üppiges Haar, das wie ein kostbarer Teppich auf der Wasseroberfläche lag. Dann hörte er ein Plätschern, und als sie leise summend ans Ufer schritt, bot sich ihm ein unvergesslicher Anblick feenhafter Grazie.
Sein Puls raste, ein verwirrendes Ziehen in den Lenden ließ ihn beinahe laut aufstöhnen, und den Laut der Enttäuschung konnte er nur mit Mühe unterdrücken, als das Mädchen ihre Formen mit einem groben Leinenkittel verhüllte und das herrliche Haar zu einem festen Zopf flocht, den sie unter ihrer schlichten Haube verbarg.
Unbemerkt war er ihr bis zu der kleinen Kate neben der Kirche ihres Dorfes gefolgt. Hier wohnte der Priester. Kieran hasste den Mann, den er von seinen regelmäßigen Gottesdiensten in der Burg kannte. Seine betörende Wassernixe hieß, so erfuhr er später, Maire und stand – das wusste jeder hier in der Gegend – völlig unter dem Einfluss des Geistlichen, ihres streng gläubigen Vormunds. Sie war ebenfalls Waise und – genauso wie er selbst – vollkommen ahnungslos, was ihre wahre Herkunft betraf.
Der Priester, so erzählte man sich, hatte die Ehe seines geliebten Bruders mit einer Witwe, von der keiner so genau wusste, woher sie eigentlich stammte, nie akzeptiert. Doch Angus liebte seine junge Frau sehr und war der hübschen Stieftochter ein guter Vater.
Von Anfang an versuchte der missgünstige Geistliche, seine Schwägerin der Hexerei zu überführen, und als Maires Eltern bei dem Versuch, ihr Vieh vor einem Hochwasser zu retten, umkamen, war sein einziger Kommentar: »Das ist Gottes gerechte Strafe!«
Wohl nahm er die hübsche Nichte barmherzig in seinem Haus auf, doch befahl er ihr auch sofort, das lange Haar zu verbergen, weil es »des Teufels« sei. Er schlug sie täglich, um sie »Demut zu lehren«, und ließ sie schon als Kind so hart arbeiten, dass selbst die gläubigsten unter den Gefolgsleuten des neuen Gottes zu murren begannen. Doch niemand wagte es, dem Priester offen zu widersprechen – aus Furcht, selbst der Hexerei bezichtigt zu werden, wie es zuvor schon anderen ergangen war.
Kieran hörte kaum hin, als seine Freunde ihn vor einer Verbindung mit »der Verrückten aus dem Pfarrhaus« warnten. Er war bis über beide Ohren verliebt. Und schließlich erklärte sich der Laird bereit, die Verbindung zu gestatten.
Mit eisiger Miene und zweifellos beeindruckt von der großzügigen Mitgift, mit der Kieran ausgestattet war, stimmte der Priester der Hochzeit zu – nicht jedoch, ohne zu drohen: »Nur einem aufrichtigen Christenmenschen ist es gegeben, diese Tochter Satans zu beherrschen. Wenn du fehlst, versagst du auch vor Gott!«
Maire war keine glückliche Braut, sie ließ sich mit ausdrucksloser Miene von ihrem Bräutigam zum Altar führen. Zweifellos erwartete sie keine Besserung ihres Schicksals, jetzt, da sie einem der gefürchtetsten Krieger des Clans gehören würde.
Es tat ihm weh, aber er war sicher, dass Maire bald erkennen würde, wie sehr er sie liebte und verehrte.
So vielversprechend und verlockend ihr Körper auch sein mochte, so ernüchternd war bereits die Hochzeitsnacht. Die junge Braut kniete die ganze Nacht lang vor dem Ehebett und betete den Rosenkranz. Keine guten Worte halfen – und wollte Kieran sie auch nur sanft berühren, um ihr die Angst zu nehmen, zuckte sie jedes Mal zurück.
Schließlich gab er auf. Kieran zog unter dem entsetzten Blick seiner Braut den scharfen Dolch hervor, ohne den er nie zu Bett ging. Maire öffnete den Mund zu einem stummen Schrei. Glaubte sie etwa, er wollte sie mit Gewalt gefügig machen?
Er packte den Dolch, schnitt sich selbst in die Handfläche und benetzte das saubere Leinentuch mit seinem eigenen Blut, um den Vollzug der Ehe vorzutäuschen. Danach verließ er wortlos die Hütte und verbrachte den Rest der Nacht auf dem heiligen Hügel. Dort fand der junge Krieger stets die Ruhe und Konzentration, die er für seine Aufgaben brauchte. Und auch dieses Mal schenkten ihm die heiligen Steine Trost und Hoffnung.
Zufrieden betrachteten die Nachbarn am nächsten Morgen den blutigen Fleck auf dem Hochzeitsbett. Der Priester aber zischte: »Hure!«, als Maire am folgenden Sonntag zur Messe in die kleine Kirche ging. Kieran hätte ihm am liebsten den verächtlichen Ausdruck aus dem Gesicht geprügelt.
Maire kehrte wie versteinert in ihr neues Zuhause zurück und weigerte sich fortan, in die Kirche zu gehen. Das ständige Beten behielt sie jedoch bei. Ihrem Ehemann war das recht, obwohl er wusste, dass es bereits Gerüchte gab, er sei nicht in der Lage, seine Frau zu zähmen.
Kierans Ziehmutter beobachtete diese Entwicklung besorgt. Sie hatte ihn eindringlich vor dieser Verbindung gewarnt. Nicht nur, weil sie zu jenen gehörte, die insgeheim noch der alten Religion folgten – sie ahnte wohl auch, dass das Mädchen nicht zu ihrem heißblütigen, sinnlichen Zögling passte. Doch sie mochte Maire. Aus Sorge um deren Sicherheit schenkte sie ihr einen scharfen Dolch aus der Schmiede ihres Mannes, den Maire fortan stets bei sich trug und auch im Haushalt verwendete.
Monatelang versuchte Kieran geduldig, ihr Vertrauen zu gewinnen. Wann immer er nachts die Hand nach ihr ausstreckte, sei es auch nur, um über ihr seidiges Haar zu streichen, schrak sie entsetzt vor ihm zurück. Seine Brüder lachten, als er sich ihnen anvertraute, und rieten ihm mit derbem Ton, er solle sich das Weib mit Gewalt nehmen – sie würde schon lernen, Gefallen daran zu finden.
Kieran würde sich nie verzeihen, dass er diesem Rat schließlich folgte. Nie würde er den Anblick weit aufgerissener Augen und bebender Lippen vergessen, die bleich zu ihrem Gott beteten. Maire ertrug seine Zärtlichkeit still und regungslos, bis er sein Vorhaben beschämt aufgab. Das war kein eheliches Glück – das war eine Qual. Er schwor sich, sie nie wieder anzurühren.
Die Monate vergingen. Maire schuf ein sauberes, gemütliches Heim und versorgte ihn, wie es einer guten Frau anstand. Kierans anfängliche Verliebtheit war zwar längst verflogen, doch er behandelte sie stets mit Respekt.
Allmählich gewann sie so viel Vertrauen, dass sie nicht mehr bei jeder plötzlichen Bewegung zusammenzuckte. Im folgenden Winter ließ sie es sogar zu, dass er sie im Bett an sich zog, um sie in kalten Nächten zu wärmen.
Eines Tages – sie bereitete gerade einen Hasen zu – schnitt sie sich an ihrem Dolch. Die Wunde begann heftig zu bluten. Kieran hatte festgestellt, dass seine eigenen Wunden schneller heilten, wenn er sie mit seinem Speichel benetzte. Also nahm er behutsam ihren verletzten Finger in den Mund. Maire ließ es geschehen.
Der Geschmack ihres Blutes erregte ihn. Instinktiv begann er zu saugen, bis Maire schließlich die Hand fortzog und hinter ihrem Rücken versteckte. Sie wich jedoch nicht zurück. In ihrem Blick lag ein Funke Leidenschaft, den er mit wachsender Verwirrung auch in sich selbst spürte. Behutsam schloss er sie in die Arme. Und als sie sich an seinen Körper schmiegte, wagte er, sie zu küssen. Sie erwiderte seine Zärtlichkeit zögerlich – und bald darauf machte er sie unwiderruflich zu der Seinen.
Vorsichtig schöpfte Kieran neue Hoffnung. Sie kamen sich näher, und Maire gewöhnte sich daran, ihm vom Hügel oberhalb des Hofes entgegenzugehen, wenn er von seinen Reisen heimkehrte. Er wunderte sich, woher sie Tag und Stunde seiner Rückkehr so genau kannte – freute sich jedoch über jedes Zeichen wachsender Vertrautheit.
Und dann begannen ihre Albträume. Kieran zwang sich – wie so oft –, die Gespenster seiner Vergangenheit zu verdrängen. Er wollte sich nicht an Maires schreckliches Ende erinnern.
* * *
Sein müder Blick fiel auf die beiden Retter in seinem Schlafzimmer, die völlig selbstvergessen Zärtlichkeiten austauschten. Bei aller Dankbarkeit – das musste nicht sein!
Er stand auf und räusperte sich: »Dies ist mein Schlafzimmer!«
Angel und Donates fuhren auseinander, und Nik, der beeindruckt die historische Plattensammlung des Vengadors studiert hatte, täuschte rasch einen Hustenreiz vor, um seine Belustigung zu verbergen. Sofort traf ihn Kierans kalter Blick.
»Was tut er hier?«
»Nicholas gehört zur Familie. Ohne ihn hätten wir dir nicht helfen können!« Donates’ Stimme klang nicht weniger scharf als die seines Lehrers.
»Ich denke, es ist besser, wenn ihr jetzt geht!« Die drei folgten seiner Aufforderung sofort.
Angelina lächelte, als ein warmes Ich danke euch! durch ihren Kopf wehte, bevor sie aus der Zwischenwelt in ihr eigenes Haus zurückkehrten.
»Dieser Bastard!«, knurrte Donates und schlug mit der Faust wütend auf einen Kaminsims, der sofort in tausend Teile zersplitterte.
»Sylvain dürfte es nicht schätzen, wenn du seine Inneneinrichtung zerschlägst.« Angelina grinste und legte ihm ihre Hand beruhigend auf die Schulter. »Du weißt doch, was passiert, wenn sich mehrere Alpha-Vampire zu lange in einem Raum aufhalten. In seinem geschwächten Zustand traut Kieran seiner Selbstdisziplin vermutlich nicht ausreichend, um euch länger in seiner Nähe zu dulden.«
»Du tust ja gerade so, als seien wir wilde Tiere!«, knurrte Nik.