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Eine ganz und gar unglaubliche Geschichte aus dem Harz
Die Illustratorin Nu hält es nirgendwo lange aus. Diesen Sommer jedoch will sie in aller Ruhe in einem Cottage mitten in der magischen Harzlandschaft genießen – direkt neben dem Hofcafé ihrer Lieblingstortenbäckerin Anna.
Für Nu die besten Voraussetzungen, um ungestört zu zeichnen, durch die Wälder zu streifen und dabei ihre recht wundersamen Fähigkeiten zu erforschen. Wären da nicht diese beiden unverschämt attraktiven Männer – und die aufregende Suche nach einem mysteriösen Fallensteller.
Gut, dass sie einen wortgewandten Hund an ihrer Seite hat. Und jede Menge Schokolade im Gepäck.
»Eine zauberhafte Welt und große Geheimnisse. »Ich liebe Magie und Schokolade!« –– Kristina Günak
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Drei Monate später …
Willkommen im Buchcafé
Über die Autorin
Eine Hexe zum Verlieben
Rechtliches usw.
Meine Bücher
Eine ganz und gar unglaubliche
Geschichte aus dem Harz
Die Originalausgabe des Romans »Magie und Schokolade« ist unter dem Pseudonym Juli Stern erschienen.
Vorsicht! Diese Geschichte kann Spuren von Hexerei aus dem Hause Elionore Brevent aka Eli enthalten. Eli ist Hexe und Heldin der wunderbar heiteren und beliebten Serie »Eine Hexe zum Verlieben«
Eine Hexe zum Verlieben
»Küss mich, Kater!« (Band 6)
Kristina Günak
Manchmal denkst du, es kann nicht schlimmer kommen – und dann ist garantiert auch noch die Schokolade alle. Heute ist so ein Tag, und deshalb sitze ich nicht am Schreibtisch, sondern im Café nebenan und esse morgens um halb zehn Schwarzwälder oder besser gesagt, Harzer Kirschtorte mit dicker Borkenschokolade und extra viel Sahne. Man kann durchaus sagen, dass Zucker eine magische Wirkung auf mich hat, nicht allerdings auf meinen Laptop. Das Ding hat den Geist aufgegeben, was früher oder später alle elektronischen Geräte in meiner Umgebung tun.
»Mausetot«, hat der Techniker vorhin am Telefon das Ableben seines Schutzbefohlenen verkündet und dabei, für diese Uhrzeit und überhaupt, unangemessen fröhlich geklungen. Kein Wunder, denn er verdient gut an mir.
»Immerhin, die Daten sind gerettet, hat er gesagt. Für das neue iPad habe ich zehn Prozent Stammkunden-Rabatt ausgehandelt. Nicht übel, oder?«
Das erwartete Lob bleibt aus, und ich frage etwas lauter: »Hörst du mir eigentlich zu?«
Tut sie nicht. Anna sieht durchs Fenster hinüber zum alten Waschhaus, in dem ich derzeit wohne. »Erwartest du Besuch?« Ihr Blick gleicht dem einer Wölfin auf der Pirsch.
Neugierig geworden stehe ich auf und schiebe die gepunktete Gardine zur Seite, um zu sehen, was ihren Jagdmodus angetriggert haben könnte, obwohl sie seit einem Jahr äußerst glücklich verheiratet ist.
Jetzt sehe ich es auch. Ein dunkelblauer Transporter mit rot leuchtender Aufschrift. »Der Klempner! Ich fasse es nicht, er ist tatsächlich gekommen.«
Die wirkliche Katastrophe war nämlich nicht der ruinierte Computer, sondern der Wassereinbruch, der über Nacht meine Küche in ein Paradies für Annas Laufenten verwandelt hat. Zufrieden schnatternd schaukelten sie auf den Wellen, die ich auf meinem Weg zum Haupthahn in der Speisekammer verursacht habe. Entsprechend panisch dürfte mein Anruf beim Installateur geklungen und zu dem Wunder geführt haben, das Anna immer noch mit leicht geöffnetem Mund betrachtet. Vor der Haustür steht ein leibhaftiger Handwerker, liest die Nachricht, die ich ihm dort hinterlassen habe, und dreht sich suchend um.
»Er sieht aus wie Thor.«
Mit einem entzückten Laut schüttelt meine Freundin ihre Schockstarre ab und streicht die Schürze glatt, unter der sich unübersehbar ein Babybauch wölbt.
»Thor, der Typ mit dem Dauergewitter, oder dieser Schauspieler ... wie heißt der noch gleich?«
»Sei nicht albern. Der Gott ist garantiert uralt, ich meine natürlich Chris Hemsworth.« Anna spricht nun mit einem Gurren in der Kehle, das sie sonst nur für ihren Mann übrig hat, doch der ist auf Geschäftsreise, während eine Erscheinung durch die Tür hereinkommt und das Café zur niedlichen Puppenstube in Pastelltönen werden lässt.
Fasziniert sehe ich zu, wie er sich Zeit nimmt, jede von uns mit einem strahlenden Lächeln zu beschenken.
Kurz bleibt sein Blick an Anna hängen, dann sieht er zu mir, und ich lese in seinem Gesicht diesen Ausdruck, der mich nie unberührt lässt. Ganz gleich, wie sehr ich mich darum bemühe. Ja, ich bin sehr blass. Ja, mein Haar leuchtet wie Feuer, ob ich in der Sonne stehe oder nur vor einer Kerze. Ja, Ketchuprot ist meine natürliche Haarfarbe. Ich möchte aber betonen, dass ich noch nie auf einem Besen zum Brocken geflogen bin und das auch nicht tun werde, wie man mir im Zusammenhang mit meinem Äußeren gelegentlich vorschlägt. Dabei wäre es von hier aus per Luftlinie nur eine kurze Reise. Von Magie und Hexenzeugs verstehe ich nämlich überhaupt nichts, und weil mir diesbezügliche Kommentare ziemlich auf die Nerven gehen, besitze ich die wahrscheinlich größte Sammlung von Kopfbedeckungen diesseits der Alpen.
Allerdings hat mir das Hochwasser in meiner Küche die Morgenroutine durcheinandergebracht, deshalb sitze ich hier nun barhäuptig und warte auf eine entsprechende Bemerkung.
Zu Thors Gunsten muss ich sagen, er hat sich erstaunlich schnell wieder im Griff. Den Kommentar, der bestimmt schon auf seiner Zunge gelegen hat, schluckt er runter, lächelt charmant und lässt damit meinen aufkeimenden Groll dahinschmelzen.
»Sie sind Frau ...«
»Ich heiße Nu«, unterbreche ich ihn. Mein Nachname wird vollkommen anders ausgesprochen als geschrieben und stürzt die meisten Menschen in Verlegenheit. »Nett, dass du so schnell kommen konntest.«
Anna hebt beide Daumen hinter seinem Rücken, als er vor mir ihr Café verlässt. Sie ist der Auffassung, in meinem Leben fehle ein Mann, und tut deshalb so ziemlich alles, um mich zu verkuppeln. Nachdem es dem Dorf an tauglichen Singles mangelt, versucht sie, mein Interesse an allein reisenden Touristen zu wecken – mit mäßigem Erfolg. Letzten Monat hatte sie ein Auge auf einen Mann geworfen, der durchaus sympathisch war. Am Ende ist der Typ aber nur so freundlich gewesen, weil er ihren Hof billig kaufen wollte, um darin Luxusferienwohnungen einzurichten. Als sie abgelehnt hat, war er mit seiner blank polierten Limousine schneller verschwunden, als du »Nein, danke!«, sagen kannst.
Zwei Stunden später drehe ich Thors Visitenkarte zwischen den Fingern und überlege, ob ich sie behalten oder lieber wegwerfen soll. Thor, der eigentlich Florian heißt, hat sie mir zum Abschied mit einem einnehmenden Lächeln in die Hand gedrückt.
»Du kannst mich jederzeit anrufen, wenn du mich brauchst«, sagt er, und einen Augenblick denke ich, er will etwas hinzufügen, aber da klingelt sein Handy zum gefühlt hundertsten Mal, und er eilt so schnell davon, dass der niedlich geringelte Pelzanhänger an seinem Hosenbund im Wind tanzt. Ich mochte nicht fragen, hoffe aber, dass dafür kein Waschbär sterben musste.
Am Auto dreht er sich noch einmal um und hebt grüßend die Hand. Nett. Ich beschließe, die Karte aufzuheben, und lege sie ins Kästchen auf der Fensterbank, in dem ich alle wichtigen Adressen verwahre, weil einem Computer nicht zu trauen ist. Dabei lausche ich dem Echo des merkwürdigen Summens nach, das in Florians Gegenwart umso intensiver wurde, je näher er mir kam. Eigenartig, aber nicht unangenehm. Hormonsausen oder zeitweiliger Tinnitus, das ist hier die Frage. Herausfinden lässt sich das nur, wenn ich ihn wiedersehe.
Jetzt muss ich mich aber beeilen, um die vertrödelte Zeit aufzuholen. Nachher ziehen neue Gäste in Annas Gästeappartements ein, und ich habe versprochen, ihr beim Bettenmachen zu helfen, weil das mit ihrer Leibesfülle inzwischen zur akrobatischen Übung geworden ist. Anschließend ist Peggy an der Reihe. Annas Highlandpony heißt in Wirklichkeit Pegasus, aber der Name will nicht recht zu ihr passen. Ihre Beine sehen aus, als trüge sie dunkle Strümpfe zu sahnebonbonfarbenem Fell und langer, schokoladenbrauner Mähne. Aus oben genannten Gründen darf Anna nicht reiten, was wiederum schlecht für Peggys Figur ist. Deshalb wurde ich auserkoren, das Tier zu bewegen, obwohl meine Erfahrung auf diesem Gebiet eher bescheiden ist.
»Reiten hilft gegen Tortenpölsterchen«, war Annas Argument, und was soll man dagegen schon sagen?
Dabei kann ich eigentlich essen, was ich will, ohne mir Gedanken über meinen Taillenumfang machen zu müssen. Der ändert sich nie. Ganz gleich, wie lange ich hungere oder wie viel Schokolade ich in mich hineinstopfe. Über die Sache mit dem ergebnislosen Diätmachen kann man unter Freundinnen aber immer klagen und wird Leidensgenossinnen finden. Mein Schokoladenbonus hingegen ist nichts, was ich Personen anvertrauen möchte, die fest daran glauben, dass sie einen Kuchen nur anzusehen brauchen, um am nächsten Morgen kugelrund aufzuwachen.
Also tue ich so, als hätte mich Anna überzeugt. Es bleibt mir auch nichts anderes übrig, denn Peggy sieht mich unter langen Wimpern hervor an. Du hast es versprochen!
Das habe ich, und ich halte meine Versprechen. Immer. Deshalb gebe ich ungern welche, aber das Pferd tut mir leid, denn es dreht bald durch in seinem Paddock hinter dem Haus. Ihm fehlen die Ausflüge in die umliegenden Wälder.
Wir sind beide gern unterwegs, wobei es Peggy am Ende des Tages wieder in den heimischen Stall zieht, während ich gar nicht mehr mitzähle, wie oft ich schon umgezogen bin. Alles, was ich besitze, passt in mein Auto. Mehr brauche ich nicht. Den meisten Platz nehmen Zeichenstifte ein, gutes Papier und was man noch als Illustratorin benötigt. Arbeiten kann ich überall auf der Welt.
Es ist reiner Zufall, dass ich diesen Sommer in einem Dorf gelandet bin, das ich hier Blomrode nennen möchte, was so viel wie Blumendorf heißt. Und das passt gut, denn die Fenster der alten Holzhäuser sind mit üppig bepflanzten Blumenkästen geschmückt. Die Einheimischen sagen, dies wäre das Erbe ihrer Vorfahren, die einst als Bergleute aus den Alpen hierher gezogen sind. Blomrode liegt am Ende einer schmalen Straße mit mehr Schlaglöchern, als es Butterblumen auf den umliegenden Hochwiesen gibt, und mitten im Harz, dem sagenumwobenen norddeutschen Mittelgebirge, das vor bestimmt fünfzig Jahren in einen Dornröschenschlaf gefallen ist.
Wenn es nach mir ginge, bliebe dieser Zustand erhalten, obwohl ich Anna und ihrem Mann natürlich viel Erfolg mit dem Café »Kaffeestube« und der Pension wünsche, denn sie haben sich mit dem Umbau des alten Anwesens am Ortsrand ganz schön verschuldet, sagt Anna. Miete für mein Häuschen will sie trotzdem nicht annehmen. Für die Renovierung, die fällig wäre, um es an Feriengäste vermieten zu können, reicht momentan wohl das Geld nicht, und deshalb sitze ich in einer entkernten Kate, mit fließend Wasser, wie ich heute erlebt habe, aber ohne Strom. Den hole ich mir mithilfe einer Kabeltrommel aus Annas Stall. Eine moderne Heizung gibt es auch nicht. Wenn es wirklich mal frisch wird hier oben, mache ich in dem Holzofenherd Feuer, der das gesamte Häuschen wärmt, sobald man ihn ordentlich füttert.
Während des Handwerkereinsatzes hat Anna das strubbelige Pferd geputzt und gesattelt. »Ich bin schwanger, nicht krank«, sagt sie, als ich den Mund öffne, um ihr zum tausendsten Mal zu sagen, dass sie sich nicht überanstrengen soll.
Zur Strafe muss ich mir noch einmal sämtliche Verhaltensregeln anhören: »Bleib auf befahrbaren Waldwegen. Folge auf keinen Fall den schmalen Trampelpfaden, die führen über kurz oder lang durch unwegsames Gelände, und dann findet man nicht mehr raus.« Schließlich lässt sie die Zügel los und tritt einen Schritt zurück. »Im Zweifel verlass dich auf Peggy. Sie kennt sich aus.«
Stimmt. Jetzt los! Das Tier nickt und tänzelt neben mir aus dem Stall. Im Hof lässt es mich dann aber problemlos aufsteigen.
»Vergiss nicht, nachzugurten«, ruft mir Anna hinterher. »Die kleine Zicke hat sich schon wieder aufgebläht.«
Wer ist hier die Zicke? Aufgebläht! Pah! Hat sie in letzter Zeit überhaupt mal in den Spiegel geguckt? Peggy dreht ihrer Besitzerin das prachtvolle Hinterteil zu und verlässt mit langen Schritten den Hof.
»Sie ist nicht fett, sondern schwanger, und selbst wenn sie es wäre: Bodyshaming ist fies«, sage ich streng. »Wohin wollen wir eigentlich?«
Feenwald, höre ich Peggys sanft klingende Stimme in meinem Kopf. Jedenfalls glaube ich, dass sie es ist, die mit mir spricht. Wer sonst?
Hör bitte auf, am Zaumzeug zu reißen. Mit einer Kopfbewegung zieht sie mir die Zügel aus den Händen, bis sie locker durchhängen, beschleunigt und wechselt in einen weichen Trab.
Als Peggy wiehert und ohne Vorwarnung losgaloppiert, lehne ich mich vor, um Halt in der dichten Mähne zu finden. Nach kurzer Zeit gelingt es mir, mich ihren Bewegungen anzupassen, um nicht aus dem Sattel zu rutschen, obwohl ich einen Steigbügel verloren habe.
Trab war für mich bisher die schnellste Gangart auf dem Pferderücken, und das Geruckel hat mir überhaupt nicht gefallen. Auch Peggy beschwerte sich hinterher über Verspannungen in den Schultern, und ich erzähle lieber nicht, was mir am nächsten Tag alles wehgetan hat. Doch das hier finde ich nach dem ersten Schreck wunderbar. Peggys Hufschlag auf dem gemähten Wiesenboden, ihr kraftvoller Körper, der mit weichen Bewegungen vorwärtsdrängt, und der Sommerwind in meinem Gesicht lösen in mir ein unerwartetes Glücksgefühl aus.
»Schneller!«, rufe ich leichtsinnig, und mir kommt es vor, als lache Peggy. Mit einem fröhlichen Sprung folgt sie der Aufforderung, und wir fliegen mit dem Wind um die Wette die Anhöhe hinauf, hinter der sich unser Ziel verbirgt: der Feenwald. Auf dem letzten Stück wird sie langsamer und bleibt schließlich stehen. Ihre Flanken heben und senken sich, und ich fühle mich glücklich, einem so großen Tier nahe zu sein und sein Vertrauen zu genießen. Während wir im Schatten eines riesigen Bergahorns allmählich wieder zu Atem kommen, nehme ich die Zügel auf und sehe über das Tal. Wie schön es hier ist. Menschenleer und friedvoll. Vor mir erstrecken sich sanft geschwungene, grüne Wiesen bis zum dunklen Saum der Fichtenwälder. Mittendrin glitzert der Blomenteich im Sonnenlicht. Die Idylle erscheint fast zu perfekt, um echt zu sein. Auf den Uferwiesen entdecke ich Torbens Schafherde und nicht weit davon entfernt den alten Bauwagen, in dem er während der Sommermonate lebt, um seine geliebten Tiere im Auge zu behalten und vor Raubzeug, wie er es nennt, zu beschützen.
»Wer soll denn deine Viecher fressen? Der Luchs etwa? Der traut sich doch gar nicht so weit aus dem Wald heraus«, hat ihn neulich der Postbote gefragt. Für die Leute im Dorf ist Torben immer noch ein Spinner, der so verrückt war, hierher zu kommen. Man hat sich längst daran gewöhnt, dass die hiesige Jugend genau den entgegengesetzten Weg geht, sie zieht es fast ohne Ausnahme in die Städte. Nach Braunschweig und Wolfsburg, wo es eben Jobs gibt, oder gleich nach Berlin, wo sie Freiheit suchen, die sie im Nest ihrer dörflichen Gemeinschaft vermisst haben. Woher Torben kommt, weiß niemand so genau. Das verbindet uns auf gewisse Weise. Ich mag den Eigenbrötler, obwohl ich kaum mehr als ein Dutzend Sätze mit ihm gewechselt habe.
Anna hat erzählt, irgendwann sei er einfach da gewesen und dem alten Schäfer zu Hand gegangen. Der habe ihm alles über das Schafehüten beigebracht, bevor er zwei Jahre später nach einer Herzoperation nicht mehr aufgewacht ist. Sie weiß solche Dinge, weil sie als Kind hier häufig ihre Ferien verbracht und sich mit Gleichaltrigen angefreundet hat. Das hat ihr, sagt sie, den Start mit ihrem Hof-Café und der Pension beträchtlich erleichtert. Sie mag zwar nicht als Einheimische wahrgenommen werden, dafür fehlen ihr mindestens drei Generationen mit Blomrode verbundener Vorfahren, aber man betrachtet sie auch nicht misstrauisch als Eindringling. Zumal der Waldhof Jobs für einige Leute bietet, die ansonsten keine Möglichkeit hätten, etwas dazuzuverdienen.
Von meinem Aussichtsplatz auf der Anhöhe kann ich auch das Dorf sehen. Den Ort, wie man hier sagt, denn man ist stolz auf das Prädikat Luftkurort. Früher gab es sogar eine Kurklinik, die seit Jahren leer und dem Verfall preisgegeben am Rübezahlstieg vor sich hin rottet. Sehen kann man die Ruine von hier aus nicht. Den Brocken dagegen schon. Heute scheint er zum Greifen nah, das eckige Hotelgebäude und die Sendemasten sind genau zu erkennen, sie glänzen im Sonnenlicht. Sehr viel häufiger aber hüllt sich der Berg in Wolken, geheimnisvoll und unnahbar. Ich war noch nie dort oben auf der flachen Kuppe, dem Sehnsuchtsort vieler Harzbesucher, die den höchsten Berg Norddeutschlands zu Fuß oder mit der alten Dampfeisenbahn erklimmen.
Festhalten! Ungefragt setzt sich das Pferd in Bewegung und reißt mich damit nicht nur aus den Gedanken, sondern auch beinahe aus dem Sattel.
Peggy hat Durst, und den gedenkt sie am Bach weiter unten zu stillen. Der Abstieg rund um den Oltestaan, einem Felshaufen, von dem niemand weiß, wer ihn an dieser Stelle aufgeschichtet hat, ist an einigen Stellen ziemlich steil, und so bemühe ich mich, ihr nicht durch falsche Gewichtsverlagerung noch zusätzlich Schwierigkeiten zu bereiten. Mein Angebot abzusteigen, lehnt sie ab. Offenbar hat ein schottisches Highlandpony auch seinen Stolz.
Am Bach verlasse ich aber doch den Sattel, um über die glatt gespülten Steine zu einer flachen Stelle zu gelangen, wo ich mit den Händen Wasser schöpfe. Libellen stehen in der Luft, als würden sie zusehen, wie ich mir mit dem Wasser Arme und Gesicht benetze.
Erfrischt erreichen wir bald darauf den Feenwald. Kühle empfängt uns unter den Bäumen. Vögel zwitschern, und nicht weit entfernt markiert ein Kuckuck sein Reich mit warnenden Rufen. Flirrendes Sonnenlicht, das einen Weg durchs hohe Blätterdach findet, verleiht dem Wald eine magische Stimmung. Kein Wunder, dass die Leute sich von sonderbaren Ereignissen erzählen, die sie hier an warmen Sommerabenden beobachtet haben wollen. Auf den Lichtungen tanze Feenvolk, heißt es, und so mancher, der die anmutigen Geschöpfe heimlich beobachten wollte, wurde in ihr unterirdisches Reich entführt.
Ich liebe solche Geschichten. Besonders, wenn sie die Bevölkerung davon abhalten, einen naturbelassenen Wald wie diesen zu roden. Wie immer, wenn ich hierherkomme, erfasst mich ein eigenartiges Gefühl von Geborgenheit. Dabei sind Wälder, da darf man sich nichts vormachen, ziemlich menschenfeindliche Orte, an denen man besser auf der Hut ist. Annas Warnung, die unbefestigten Waldwege zu meiden, fällt mir ein. Doch was soll schon passieren?
Vom weichen Boden gedämpft, ist Peggys Hufschlag weniger zu hören als zu spüren. Schritt für Schritt sucht sie sich ihren Weg zwischen Felsbrocken und durch die Blaubeeren hindurch, die leider noch nicht reif sind. Felsen liegen mitten auf dem Pfad, der an einen ausgetrockneten Bachlauf erinnert. Die Steine bilden hier und da natürliche Dolmen. Man sagt auch, dass Zwerge die Eingänge zu ihrem Reich hinter Heidelbeerbüschen verbergen. Kein Wunder, dass es im Harz so viele Geschichten über sie gibt, denn an Blaubeerbüschen hat es keinen Mangel. Auf einmal wünsche ich mir, lange genug hierzubleiben, um die prallen Früchte im Spätsommer gemeinsam mit Anna für ihre wunderbaren Torten zu pflücken.
Das Einzige, was ich jetzt noch höre, ist das Knarren des Sattelzeugs und hier und da mal das Stakkato eines Spechts auf Futtersuche. Dann verstummt auch das Klopfen, und ich nehme Peggys Zügel auf.
»Irgendwas stimmt hier nicht«, sage ich leise, als sie mitten in der Bewegung erstarrt. Ich kann ihre Angst sofort spüren. »Wenn du wegrennst, brechen wir uns alle Knochen. Bleib ganz ruhig«, raune ich ihr weit über ihren Hals gebeugt in die Ohren, die sie wechselweise nach vorn richtet, wo verborgen von Felsbrocken etwas lauert, und nach hinten, wohin sie fliehen möchte. Aber nicht mit mir.
Behutsam lasse ich mich hinabgleiten und verknote die Zügel, damit sie sich nicht verheddern kann. Kaum hörbar wispere ich ihr zu: »Ruhig, du Gute. Lass mich jetzt nicht im Stich.« Furchtsam weicht sie ein paar Schritte zurück, bleibt dann aber stehen. Den Kopf hoch erhoben, die Augen weit geöffnet, sodass ich das Weiße darin sehen kann. Der Wald ist ganz still. Nicht einmal den Atem des Windes in den Wipfeln höre ich.
Es riecht nach Magie. Keine Ahnung, woher dieser Gedanke kommt. Amüsiert schüttele ich den Kopf und gehe auf die Felsen zu, die ein Riese auf seiner Wanderung verloren haben muss. Der moosige Stein gibt mir Halt, als ich mich mit der flachen Hand daran abstütze, um über knorrige Wurzeln zu klettern. Zwischendurch bleibe ich stehen, versuche, den fliegenden Herzschlag zu überhören, und sende meine Gedanken in die Stille vor mir. Ein Lebewesen. Nein, zwei. Oder täusche ich mich? Eins zumindest kann ich nun deutlich spüren. Es ist in Not. Mit wenigen Schritten habe ich den Felsen umrundet und pralle zurück. Einen kurzen Augenblick fühle ich mich von Dunkelheit eingehüllt, die sich aber so schnell wieder zurückzieht, wie sie über mich gekommen ist. Fast, als hätte ich das Wesen, ich bin sicher, dass es eine gefährliche Kreatur ist, als hätte ich es ebenfalls erschreckt oder zumindest überrascht. Darüber kann ich mir aber nun keine Gedanken machen. Vor mir sitzt ein lebendiges Tier in der Falle. Buchstäblich. Ich sehe viel Fell und ein blutiges Bein, das in den langen Zähnen eines Fangeisens steckt.
»O nein!« Vorsichtig nähere ich mich. Ein Hund. Er hebt den Kopf und sieht mich an. Der Schmerz in den dunklen Augen bricht mir beinahe das Herz.
»Ich hole dich da raus, aber du darfst mich nicht beißen, hörst du?«
Sein buschiger Schwanz zuckt, und er klopft damit ein paar Mal schwach auf den Boden. Danach sinkt er ins Laub und rührt sich nicht mehr.
Es ist gar nicht einfach, die Bügel mit ihren Zacken auseinanderzubiegen, ohne mich selbst in Gefahr zu bringen oder die Verletzung des Hunds noch zu verschlimmern. Doch das Tier hat Glück. Zusammen mit seiner Pfote ist ein daumendicker Zweig zwischen die Eisen geraten und verhindert, dass sie sich vollständig schließen. Das bringt mich auf eine Idee. Ich suche mir weitere Äste, um sie als Hebel zu verwenden. Mit äußerster Anstrengung gelingt es mir schließlich, die Falle Stück für Stück zu öffnen, bis der Hund befreit ist.
Er gibt ein herzzerreißendes Winseln von sich und versucht, meine Hände zu lecken.
So behutsam wie möglich berühre ich das blutige Bein. Es ist wie befürchtet gebrochen, aber zumindest scheint der Knochen nicht komplett zerschmettert zu sein. Ich spüre, wie meine Energie das Tier beruhig und die Schmerzen so weit lindert, dass ich das Bein mit meinem Halstuch notdürftig verbinden und stabilisieren kann, um es hochzuheben.
Peggy steht noch dort, wo ich sie zurückgelassen habe, und sieht mir entgegen. Die leichte Brise trägt ihren herben Geruch zu mir. Der Wind steht günstig für mich. Was hinter den Felsen geschehen ist, haben deshalb auch die feinsten Nüstern nicht wahrnehmen können. Doch als ich näher komme, riecht sie das Blut und tänzelt nervös rückwärts. Wer ist das?
»Jemand, der unsere Hilfe braucht«, sage ich leise und frage mich, wie ich aufsteigen soll, ohne meine Arme benutzen zu können. Jetzt dreht sich das verflixte Pferd auch noch um. »Wohin willst du?« Ich bemühe mich, nicht laut zu werden. Bei Fluchttieren ergibt das so gar keinen Sinn. Mein lockendes Zungenschnalzen bleibt leider erfolglos. Als ich schon überlege, wie ich den verletzten Hund allein in Sicherheit bringen kann, erkenne ich, was Peggy tut. Sie hat sich an ein paar kleinere Felsen gestellt, die mit viel Fantasie zur Treppe taugen, über die ich ihren Rücken erklimmen kann, was mir schließlich auch irgendwie gelingt, ohne den Hund dabei weiter in Gefahr zu bringen.
»Nach Hause«, sage ich leise oder denke es auch nur, und Peggy macht sich auf den Weg.
Als das Dorf in Sichtweite ist, atmen wir beide erleichtert auf.
Anna kommt uns schon entgegen. »Wo bleibt ihr denn? Ich habe mir Sorgen ...« Da entdeckt sie das Bündel in meinen Armen. »Wo hast du den denn aufgegabelt?« Behutsam nimmt sie mir den Hund ab, damit ich vom Pferd steigen kann. Anna hat ein großes Herz und zeigt keine Angst, obwohl das angebracht wäre, denn jedes verletzte Tier ist unberechenbar. Deshalb nehme ich ihr den leise winselnden Patienten sofort wieder ab, auch wenn meine Arme sich inzwischen wie Pudding anfühlen.
»Du bist ganz schön schwer!« Ich schätze, er wiegt mindestens zwölf Kilo. Das Fell wirkt gepflegt. Möglicherweise ein Ausreißer, der irgendwo schmerzlich vermisst wird. Auch ein Grund, den Tierarzt anzurufen, damit er nachsehen kann, ob er einen Chip trägt und registriert ist. Außerdem muss er den Bruch versorgen. Kleinere Verletzungen kann ich selbst in Ordnung bringen, aber diese überlasse ich lieber einem Profi.
Ein Krankenlager ist schnell gebaut, und so halte ich die blutige Pfote, bis Dr. Martens seine schwere Arzttasche auf den Tisch stellt und sich über die Patientin – inzwischen habe ich nachgesehen – beugt.
»Wen haben Sie denn dieses Mal gerettet?«, fragt er und krempelt die Ärmel auf.
Ich bin in seiner Praxis keine Unbekannte. Aus rätselhaften Gründen finden verletzte Tiere überall, wo ich bin, den Weg zu mir. Ich erzähle Dr. Martens die näheren Umstände und beobachte, wie sein Gesicht eine bemerkenswerte Rötung annimmt, als ich die Falle beschreibe.
»Eine Riesenschweinerei!«
Dermaßen wütend habe ich ihn noch nie erlebt.
»Soll ich da noch einmal hin reiten und sie holen?«
»Besser nicht, solche Leute sind zu allem fähig«, sagt er und zückt eine Spritze. »Schön brav, jetzt bekommst du erst mal ein Mittel gegen die Schmerzen. Könnten Sie das Tier bitte festhalten?«
Ich tue, was er mir sagt, und sofort hält Gretchen still. Nur ein leichtes Zittern erschüttert den kleinen Körper. Der Name ist mir in diesem Augenblick eingefallen und klingt so passend, als hätte sie ihn mir selbst genannt.
Nach zwanzig Minuten liegt sie sauber und ordentlich verbunden in ihrem provisorischen Körbchen, das ich schnell aus einem Pappkarton und zwei Fleecedecken konstruiert habe. Ich helfe dem Arzt dabei, das mobile Röntgengerät zu verstauen, und nehme die Medikamente entgegen, die er mir aus seiner fahrbaren Tierpraxis reicht. Sein eigener Hund sitzt auf dem Beifahrersitz. Er schielt gewaltig, deshalb bin ich mir nicht sicher, ob er uns ansieht oder die Eule beobachtet, die auf der Fichte vor der Kirche im Wind schaukelt.
Nun mach schon hinne! Du hältst uns vom Spazierengehen ab, knurrt er mich an.
»Du bist wirklich die missmutigste Töle, der ich je begegnet bin, Fuchshund«, sage ich entrüstet.
Der Tierarzt lacht. »Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Er hat das Temperament eines echten Rotschopfs.«Dann sieht er auf. »Entschuldigung, so habe ich das nicht gemeint.«
Seine verlegene Miene amüsiert mich. Ich habe schon schlimmere Kommentare zu meinem Aussehen zu hören bekommen. »Kein Problem«, sage ich lachend.
Der Fuchshund ist weniger freundlich. Pass auf, dass ich dich nicht beiße!
Als ich noch etwas zerstreut von diesem sonderbaren Gespräch in die Küche zurückkomme, schläft Gretchen. Die drei unverletzten Pfötchen zucken, und sie winselt leise. Wer hat eigentlich das Gerücht verbreitet, Tiere träumten nicht?
Es sind inzwischen zwei Wochen vergangen, seit ich Gretchen aus der Falle befreit habe. Dr. Martens ist im Urlaub und ahnt nicht, dass ich den Nachsorgetermin bei seiner Vertretung habe sausen lassen. Ich wüsste einfach nicht, wie ich ihre ungewöhnlich schnelle Heilung erklären sollte. Sogar das abrasierte Fell rund um die Wunde ist innerhalb kürzester Zeit nachgewachsen. Ich verstehe selbst nicht, wie das sein kann.
Gretchen interessiert sich nicht für Erklärungen. Sie springt herum, wenn es ans Füttern geht, und flitzt beim geringsten Anzeichen auf Besuch wie ein verrückt gewordener Wischmopp zur Haustür, um dort ausdauernd und leider auch sehr schrill zu bellen, als ginge es um ihr Leben. Das kurzbehoste Bein des Paketzustellers hat sie vorgestern nur knapp verfehlt und ich kann es ihm nicht verübeln, dass er meine Post in Zukunft lieber in der Kaffeestube nebenan abgeben möchte.
Gretchen hat eine willensstarke Persönlichkeit. »Wir werden noch viel üben müssen, wenn sie ein folgsamer Hund werden soll«, sage ich zu Anna, während ich eine Kugel Vanilleeis aus dem Glas mit kalter Trinkschokolade zu angeln versuche, ohne etwas davon auf den Tisch kleckern zu lassen. Wir sitzen auf der Streuobstwiese, die Tom gestern gemäht hat, um die neuen Tische und Stühle aufzustellen. Die Morgensonne ist erstaunlich warm, und um uns herum schneit es Blütenblätter. Die Ruhe vor dem Sturm. Wenn ich mich nicht irre, nahen dort die ersten Gäste.
»Ich wollte über dein Haus reden ...« Anna folgt meinem Blick und sieht die schnell näher kommende Gruppe Wanderer ebenfalls.
»Hoffentlich kriegen die Mädels das die Tage auch ohne mich hin.«
Damit meint sie vermutlich ihre Niederkunft und die Zeit danach. Der Geburtstermin steht zwar noch nicht an, aber es hat irgendwelche Komplikationen gegeben – fragt mich nicht, von solchen Dingen habe ich keine Ahnung! –, sie soll nicht mehr arbeiten und langweilt sich furchtbar. Deshalb hat Tom mich gebeten, regelmäßig nach ihr zu sehen. Vermutlich nicht, um seiner Frau die Zeit zu vertreiben, sondern um sie davon abzuhalten, sich zu überanstrengen, während er für seine Firma irgendwo in der Welt herumjettet. Ich öffne also den Mund, um ihr zum gefühlt hundertsten Mal zu versichern, dass ihre Mitarbeiterinnen sehr fähige Leute sind.