Whispers and Moonlight – Dort, wo Sterne Schatten tragen - Jeanine Krock - E-Book

Whispers and Moonlight – Dort, wo Sterne Schatten tragen E-Book

Jeanine Krock

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Beschreibung

Sie kennt deine geheimsten Träume …

Die Feentochter Estelle besitzt die seltene Gabe der Empathie, sie kennt die geheimsten Träume der Menschen. Eine zufällige Berührung reicht aus, um sie in ein Fegefeuer der Gefühle zu stürzen. Bis sie dem charmanten Elf Julen begegnet – ihn kann sie nicht spüren und deshalb könnte er der perfekte Mann sein, wäre da nicht der undurchsichtige Asher: Der Vampir vereint alles in sich, was sie ablehnt und zieht sie doch magisch an.
Zu dritt machen sie sich auf die Suche nach einem mysteriösen Buch, das ihr zeigen soll, wie sie ihre Gabe beherrschen kann. Auf ihrer Reise von Edinburgh über Dublin und Paris bis in den verwunschenen Feenwald Brocéliande mitten in der Bretagne gerät sie in den Strudel von Leidenschaften und muss sich entscheiden: Elf oder Vampir?


Doch einer scheint ein falsches Spiel mit ihr zu treiben …

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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WHISPERS AND MOONLIGHT

DORT, WO STERNE SCHATTEN TRAGEN

JEANINE KROCK

INHALT

Willkommen

Sorbonne Université, Paris

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Wie Funken auf schimmerndem Glas

Willkommen im Buchcafé

Rechtliches usw.

Über die Autorin

Aus Worten gewoben – aus Licht und Dunkel geboren.

Schön, dass du hier bist. Ich wünsche dir eine zauberhafte Reise durch meine magische Welt.

. . ○ ☽ ❊ ☾ ○ . .

Dieser Roman ist 2008 im U-Books Verlag als „Die Sternseherin“ erschienen (deutschsprachige Originalausgabe) und 2010 bei LYX.

SORBONNE UNIVERSITÉ, PARIS

Mit einem Tuch tupfte sich der Redner den Schweiß von der Stirn und nahm einen großen Schluck aus seinem Wasserglas, bevor er weitersprach:

»Die nachtaktive Spezies, die ich Ihnen heute vorstellen möchte, gehört gemeinhin in das Reich der Fabeln und Mythen. Anonyme Wohnsilos oder verlassene Gebäude bieten ideale Brutbedingungen für diese Kreaturen, die nur oberflächlich mit uns Menschen verwandt sind. Sie leben mitten unter uns und finden besonders in Städten ausgezeichnete Lebensbedingungen vor. Die Kriminalstatistiken der Metropolen weltweit weisen eine erstaunliche Zahl unerklärlicher Todesfälle auf. Wir gehen davon aus, dass diese Prädatoren einen beträchtlichen Anteil daran haben. Sie sind, wie alle Raubtiere, in ihrem Jagdverhalten äußerst effizient, besitzen einen ausgeprägten Überlebenswillen – und sie nähren sich von menschlichem Blut! Trotz ihres kryptischen Verhaltens ist es unserem Team gelungen, eines ihrer Männchen zu fangen. Als wir es in seiner Höhle aufstöberten, zeigte es Symptome weitgehender physiologischer Erschöpfung und nur schwaches Defensivverhalten.

Wir haben während der letzten Monate verschiedene Untersuchungen durchgeführt und können nun mit hoher Wahrscheinlichkeit annehmen, dass das kaum älter als zwanzig Jahre wirkende Männchen ein effektives physiologisches Alter von über vierzig Jahren aufweist. Der Alterungsprozess wird offenbar durch chemische Vorgänge in seinem Blut verlangsamt. Wir haben Grund zur Annahme, dass dieser Vorgang in Ausnahmefällen sogar völlig zum Stillstand kommt.

Das nächste Experiment zeigte eine weitere bemerkenswerte Fähigkeit, die für die Humanmedizin der Zukunft von großer Bedeutung sein könnte. Aus Sicherheitsgründen wurde das Objekt einige Tage vor dem Versuch nicht gefüttert und in einem videoüberwachten Raum gehalten. Es wirkte zwar erwartungsgemäß geschwächt, aber dennoch weit vitaler als ein Homo sapiens in einer vergleichbaren Situation.«

Die nächste Projektion zeigte eine abgemagerte, regungslose Gestalt auf einem Metalltisch, mit in die Platte eingelassenen Haltebändern an Händen und Füßen. Das handverlesene Publikum reagierte verhalten, als ein Videofilm begann, auf dem offenbar derselbe Mann vergeblich versuchte, sich zu befreien.

»Sehen Sie, wie sich dieses junge Männchen wehrt? Aus gutem Grund – gleich wird der Laborassistent einen seiner Finger amputieren. Wenig später können wir dann beobachten, wie es in einen todesähnlichen Schlaf fällt, in dem es über keinerlei nachweisbare Vitalfunktionen mehr verfügt.«

Die folgenden zwölf Stunden stellte der Film im Zeitraffer dar.

»Bitte beachten Sie, was nun passiert: Der Finger wächst vollständig nach!«

Ein Raunen ging durch die kleine Zuschauergruppe, vereinzelt hörte man leises Lachen. Zum Schluss wurde zwar höflich applaudiert, doch die meisten verließen kopfschüttelnd den Raum. Ihnen war deutlich anzusehen, dass sie nichts von alledem glaubten. Nur einer klatschte weiter, während er die Treppe des Auditoriums hinabschritt.

»Eine hervorragende Arbeit!«

Was anschließend hinter verschlossenen Türen zwischen dem Professor und einem gewissen Dr. Gralon besprochen wurde, der einen zweifelhaften Ruf als Lifestyle-Mediziner genoss, blieb geheim.

Eine Woche später entdeckten Spaziergänger den Professor auf einer Parkbank. Sein Kopf lag, säuberlich abgetrennt, neben dem Rumpf – von Blut keine Spur.

1

EIN NEUER ANFANG

Estelle versuchte, sich die Bestellungen der neu angekommenen Gäste zu merken, ohne dabei all die anderen überflüssigen Informationen aufzunehmen, die sie in Menschenansammlungen dieser Art immer empfing. Sie hatte gerade einen vielversprechenden Job verloren, und wenn sie ihre Miete am Ende des Monats bezahlen wollte, war sie darauf angewiesen, dass ihr Chef sie nicht vor Ende der Probezeit wieder hinauswarf.

Rasch räumte sie die Teller von einem Tisch und hob lächelnd die freie Hand, um einem Gast zu signalisieren, dass sie ihn gesehen hatte. Da stieß jemand an den Geschirrstapel, den sie in der anderen Hand balancierte. Verzweifelt bemühte sie sich, das Gleichgewicht zu halten, denn für jedes zerbrochene Stück mussten die Kellner selbst aufkommen. Und Estelles Bilanz der vergangenen Arbeitstage fiel nicht gerade zu ihren Gunsten aus.

Sie sah auf und blickte einen älteren Gast an, der schon ansetzte, sich zu entschuldigen, als sich ein roter Schleier über ihre Augen legte und ihr das Porzellan endgültig aus den kraftlosen Fingern glitt.

Nicht jetzt!, flehte sie lautlos. Aber die Visionen richteten sich nicht nach ihren Wünschen, sondern kamen und gingen, wie es ihnen gefiel. Und in letzter Zeit kamen sie immer häufiger.

Sie schwankte – und von irgendwoher erschien eine Hand und fasste ihren Ellenbogen, um sie zu stabilisieren. Nichts an Estelle war stabil: nicht ihre schmale Gestalt und noch viel weniger ihre Psyche.

Der Mann vor ihr stand auf einmal nicht mehr im Bistro, sondern spazierte am Ufer der Seine entlang. Estelle stand am Wegesrand, doch er nahm sie gar nicht wahr. Plötzlich trat jemand aus der Dunkelheit.

Der Neuankömmling war von kräftiger Statur, Estelle konnte sein Gesicht nicht erkennen, fühlte aber die dunkle Essenz seines Seins, als lege sich eine giftige Wolke über ihre Lungen. Sie stieß eine Warnung aus, doch der Spaziergänger schien sie nicht zu hören. Er sah auch den Angreifer nicht, der auf einmal ein Schwert in der Hand hielt. Im Schein der Laternen glänzte es gefährlich – und was nun folgte, spielte sich in Zeitlupe vor den Augen der heimlichen Beobachterin ab. Die Klinge sauste durch die Luft und trennte dem Passanten mit einem scharfen Schnitt den Kopf von den Schultern. Dabei hörte sie ein knirschendes Geräusch, das Estelle niemals vergessen würde. Entsetzt schlug sie die Hände vors Gesicht.

»Mademoiselle!« Jemand fasste sie grob an der Schulter, und im ersten Augenblick dachte sie, der Mörder wäre nun hinter ihr her. Sie schrie. Es war, als schmelze die hauchfeine Membran zwischen zwei bizarren Welten, und ihre Vision war vorüber. Statt in die Augen eines kaltblütigen Mörders blickte sie direkt in das wütende Gesicht des Oberkellners. Jean-Marc war damit beschäftigt, ihre zu Klauen gebogenen Finger zu lösen, die sich in den Arm des Gastes krallten.

Estelle hätte sich einfach wegführen lassen sollen, aber stattdessen gab sie ihrem Entsetzen einen Namen. »Nehmen Sie nicht den Heimweg durch den Park!« Ihr Griff lockerte sich, aber sie sprach mit eindringlicher Stimme weiter. »Etwas Schreckliches wird passieren!«

Ehe der Mann antworten konnte, zerrte ihr Chef sie durch das gesamte Restaurant hinter sich her, bis sich eine Tür mit der Aufschrift »Défense d’entrer« – Betreten verboten – hinter ihnen schloss.

»Ich habe wahrlich genug von deinen Auftritten!«, schnauzte Jean-Marc und stieß sie von sich. Er fummelte in seiner Tasche und förderte ein paar Scheine zutage. »Hier, das sollte genügen! Ich will dich nie wieder sehen!«

Am nächsten Abend berichteten Sondersendungen in allen Fernsehprogrammen über den spektakulären Mord. Es war der zweite dieser Art, die Polizei stand vor einem Rätsel. Estelle musste sich das undeutliche Passfoto des Opfers gar nicht erst ansehen, um zu wissen, dass es der Mann aus dem Bistro war.

»Mich trifft keine Schuld«, versuchte sie sich zu beruhigen. Hatte sie nicht sogar ihren Job verloren, weil sie versucht hatte, ihn zu warnen?

Gerade wollte sie den Fernseher ausschalten, da erschien ihr eigenes Foto auf dem Bildschirm, und die Sprecherin verkündete, dass im Zusammenhang mit der Gewalttat nach einer Frau gesucht werde, die eine wichtige Zeugin sei.

Estelle war entsetzt. Sie ahnte, niemand würde ihr glauben, dass sie den Tod des Mannes zwar in einer Vision vorausgesehen, sonst aber nichts damit zu tun hatte. Sie sah schon die Gesichter der Polizisten vor sich. Entweder verhaftete man sie als Mitwisserin – oder, noch schlimmer, wies sie als psychisch gestört in eine Anstalt ein.

Ohne lange zu überlegen, griff sie zum Hörer und wählte die Nummer des einzigen Menschen, dem sie rückhaltlos vertraute. Doch anstelle ihrer Zwillingsschwester Selena meldete sich eine Männerstimme.

Der Vampir.

Ihre Hand schwebte schon über dem Display, um das Gespräch zu beenden, dann besann sie sich und sagte ohne Begrüßung: »Was tust du in unserem Haus? Hast du Selena etwa auch gebissen?« Das letzte Wort war kaum hörbar. Sie schloss kurz die Augen, um sich zu sammeln.

Sofort erschienen Bilder von Kreaturen, die in gebückter Haltung über dem leblosen Körper ihrer Schwester lauerten. Das Lachen, das ihre Frage beantwortete, holte Estelle aus ihrem Albtraum und hüllte sie in einen weichen Kokon aus Ruhe und tiefer Entspannung. Sie ließ sich auf ihr Sofa sinken und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Warum hatte sie zu Hause angerufen?

Plötzlich griff eine kühle Hand nach dem Handy und entwand es ihrem Griff.

Der lang anhaltende Ton, der signalisierte, dass die Verbindung abgebrochen war, verstummte – und für einen Augenblick hörte sie nur das Schlagen ihres eigenen Herzens.

Sie blickte auf. Der Vampir stand da und sah mit ausdruckslosem Gesicht auf Estelle herab. Hinter ihm materialisierte sich Nuriya, ihre ältere Schwester. Mit roten Locken, die wilder denn je um ihren Kopf züngelten, ähnelte sie eher einer Windsbraut als dem scheuen Mädchen, das sie einst gewesen war. Oder jemandem, der gerade dem Bett entstiegen ist, dachte Estelle mit einem Blick auf leicht geschwollene Lippen, hinter denen, wie sie wusste, scharfe Reißzähne verborgen waren.

Sie ertappte sich bei dem Wunsch, über ähnliche Kräfte zu verfügen wie die Vampirin. Damit ausgestattet wäre sie ganz gewiss nicht hier geblieben, wo sie den Launen des blutgierigen Duos hilflos ausgeliefert war.

»Selena geht es gut!« Nuriya, die eben noch gestanden hatte, saß plötzlich neben ihr.

Estelle hatte es noch nie gemocht, wenn jemand unaufgefordert ihre Gedanken las.

»Schwesterchen, was hast du nur getan?« Ein vertrauter Duft hüllte sie ein, der sie an bessere Zeiten erinnerte. Worte der Beruhigung flossen wie Seidentücher über ihre Seele, und sie entspannte sich schon – bis endlich ihr Überlebenswille erwachte und sie erstarren ließ.

Waren dies nicht die Worte eines Raubtiers in Menschengestalt, das versuchte, seine Beute in Sicherheit zu wiegen, bevor es den tödlichen Biss ansetzte? »Nein!«

Sofort verstummte die Schwester und rückte von ihr ab. »Um Himmels willen, hast du immer noch Angst vor mir?«

Sie klang verletzt, aber Estelle dachte: Welches Recht hat sie, beleidigt zu sein? Sie hat doch uns im Stich gelassen und ist schließlich nur nach Hause zurückgekehrt, um sich mit Kieran zu verheiraten … oder wie auch immer dies bei Vampiren genannt wurde.

Kieran hatte nie einen Hehl daraus gemacht, womit er seinen Lebensunterhalt bestritt: dem Jagen und Töten abtrünnig gewordener oder fehlgeleiteter magischer Wesen. Er war ein Vengador, ein Vollstrecker des magischen Rates. Und man munkelte, Nuriya unterstütze ihn dabei zuweilen überaus erfolgreich.

Estelle fragte sich deshalb nicht ohne Grund, ob sie selbst heute zur Strecke gebracht werden sollte. Denn schließlich stellte auch sie zweifellos eine Gefahr für die geheime Welt jenseits der menschlichen Vorstellungskraft dar, weil sie die Aufmerksamkeit der Sterblichen auf sich gelenkt hatte.

Sie zuckte zusammen, als Nuriya die Hand ausstreckte, um ihre Schulter zu berühren. Die Schwester seufzte und stand auf. »Kieran, erklär du es ihr!«

Der Vampir sah einen Augenblick lang so aus, als wolle er die Augen verdrehen. Dann war seine Miene wieder undurchdringlich.

»Warum du uns nicht rechtzeitig informiert hast, dass deine Kräfte außer Kontrolle geraten sind, wirst du mir später erklären. Jetzt müssen wir dich erst einmal in Sicherheit bringen.«

Estelle wollte protestieren, verstummte aber, als er die Hand hob und fortfuhr: »Keine Diskussionen! Mit deinen Eskapaden bringst du die Familie in Gefahr.«

Und während er erläuterte, was als Nächstes zu geschehen hatte, saß sie still da und überlegte, welche Familie er gemeint haben könnte. Vielleicht die magische Welt – oder seinen Clan geborener Vampire, die sich für die Elite der Blutsauger hielten? Oder etwa das, was von ihrer einst glücklichen Familie übrig geblieben war? Wohl kaum.

Die Tante, die sich nach dem tragischen Unfall der Eltern viele Jahre um die drei verwaisten Mädchen gekümmert hatte, war seit Monaten auf einem Selbstfindungstrip rund um den Globus – in Gesellschaft ihres gesamten »Hexenzirkels«, der, wie sich herausgestellt hatte, auch eine Lottospielgemeinschaft war und sechs Richtige getippt hatte. Selena kam ganz gut allein mit Tantchens Buchladen zurecht, den sie ohnehin schon seit einiger Zeit gemeinsam mit Estelle geführt hatte, während die schrullige Schwester ihrer Mutter mehr und mehr in ihren esoterischen Studien aufgegangen war.

Estelles Aufgaben übernahm nach ihrem Umzug nach Paris Selenas Freund. Ein netter Mann, dessen einziger Fehler es war, einmal im Monat ein dichtes Fell zu bekommen und den vollen Mond anzuheulen. Nuriya wirkte auch nicht besonders schutzbedürftig, wie sie dort stand und mit grün glitzernden Augen auf das schwarze Schaf der Familie herabblickte.

»Hast du mich verstanden?« Kieran schwieg einen Moment, aber nicht so, als warte er auf eine Antwort von ihr, sondern als lausche er auf etwas, was nur jemand wahrnehmen konnte, der über ein außerordentlich feines Gehör verfügte.

»Still, es kommt jemand!« Er nickte Nuriya zu, die Estelles Hand griff, sie erst auf die Füße und dann in ihre Arme zog.

Sie konnte sich nur noch wundern, wie kräftig der gut einen Kopf kleinere Rotschopf nach der Verwandlung geworden war, bevor ein merkwürdiger Schwindel alles Denken unmöglich machte.

Ewigkeiten später, so kam es ihr jedenfalls vor, ließ das Rauschen in ihren Ohren nach. Sie öffnete die Augen und erblickte direkt vor sich ihr Abbild, das wirkte, als wäre es aus Elfenbein und Ebenholz geschaffen.

Das Haar floss der jungen Frau bis zur zerbrechlich wirkenden, geschnürten Taille hinab. Wer aber genauer hinsah, erkannte, dass sie gerade erst dem Mädchenalter entwachsen sein konnte. Vielleicht lag es an dem schwarzen Gewand, das mehr von der exquisiten Figur zeigte, als es verhüllte, dass sie älter und erfahrener wirkte, oder an den dunkel geschminkten Lidern und dem vollen, roten Mund.

Es schien, als blicke sie aus silbern schimmernden Augen unmittelbar in Estelles Herz. Und das tat sie vermutlich auch, denn vor ihr stand ihre Zwillingsschwester, ihre andere Hälfte. Momentan auch die bessere, gewiss aber die besser aussehende, dachte Estelle. Sie wusste genau, dass ihr heller Teint heute fahl wirkte und dunkle Ringe unter den Augen von ihrer letzten Vision zeugten.

Selena tat einen Schritt vor – und der Bann war gebrochen: Sie fielen sich in die Arme, und für einen Augenblick schien aller Streit vergessen. Selenas Hand berührte ihre tränenfeuchten Wangen.

»Dein Zimmer ist bereit.«

»Sie wird nicht hier bleiben!« Nuriyas Stimme zerstörte den kurzen Frieden. »Kieran kann zwar die Polizei für den Augenblick aufhalten, aber zu viele Menschen haben gehört, wie sie den Tod dieses Mannes vorausgesagt hat. Wir bräuchten eine ganze Armee, um die Erinnerung der Sterblichen zu manipulieren und die Sache ungeschehen zu machen. Ganz zu schweigen von den Unsterblichen, die womöglich auf sie aufmerksam geworden sind. Estelle wird vorerst bei uns bleiben, dort ist sie zurzeit am besten aufgehoben.«

Drei Wochen später war sich Nuriya ihrer Sache schon nicht mehr so sicher, denn bei dem Versuch, die immer wiederkehrenden Anfälle zu unterdrücken, wurde Estelle mit jedem Mal nervöser, aß kaum noch und magerte sichtlich ab.

»Ich hätte nie gedacht, dass es jemanden geben könnte, der starrköpfiger ist als du!« Kieran lehnte sich in die Kissen zurück. Er klang irritiert.

»Dass sie sich von dir nicht helfen lässt, kann ich ja noch verstehen, aber ich bin immerhin ihre Schwester!« Nuriya hatte die Fäuste in die Hüften gestemmt und blies ärgerlich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Und was zum Teufel habe ich ihr getan?«

»Nichts. Aber du bist ein Vampir. Und noch dazu ein Dunkelelf!«

»Stimmt, aber du etwa nicht?«

»Nicht so ganz. Die Feenkönigin hat mich offiziell zu einer Repräsentantin der Lichtelfen, ihres Volkes, erklärt. Schon vergessen?«

»Sag bloß, du willst auch noch bestreiten, eine Vampirin zu sein?«

»Vampir zweiter Klasse. Geschaffen, nicht geboren. Deine ›adligen‹ Verwandten würden mir das doch nur zu gerne unter die Nase reiben.«

»Das sollen sie mal versuchen!« Kieran runzelte die Stirn.

Nuriya, die sein ritterliches Verhalten zuweilen als Macho-Gehabe bezeichnete, hätte ihn dieses Mal am liebsten auf der Stelle dafür geküsst.

»Wie auch immer!«

Sie wusste nicht warum, aber eines war sicher: Ihre Schwester hatte sich die Ansichten des Feenvolks zu eigen gemacht, das eine Abneigung gegen seine entfernten Verwandten hegte – die bereits als Vampire geborenen Dunkelelfen. Die geschaffenen Vampire standen ebenfalls nicht hoch in ihrer Gunst. Genauer gesagt fiel ihr niemand ein, den Estelle mehr hassen könnte. Oder fürchten, wie es aussah.

»Sie hat eine Abneigung gegen jeden von uns«, sagte sie mit einem Seufzer.

Kieran bemühte sich, die Zufriedenheit zu verbergen, die sich wärmend in seiner Brust ausbreitete. Mit uns meinte sie auch sich selbst. Lange genug hatte es gedauert, bis seine geliebte, widerspenstige Gefährtin bereit gewesen war, ihr Schicksal anzunehmen.

Die Fältchen in seinen Augenwinkeln vertieften sich, und Nuriya schmolz beim Anblick ihres Kriegers dahin, der selten genug auch nur die Spur eines Lächelns zeigte. Daran würde sie noch arbeiten müssen. Vorerst belohnte sie ihn damit, ihre kämpferische Haltung aufzugeben. »Ehrlich, ich habe keine Ahnung, warum meine Schwester von Anfang an dermaßen feindselig auf unsere Verbindung reagiert hat. Soweit ich weiß, hatten die Zwillinge noch bis vor ein paar Monaten gar keine Ahnung, dass es überhaupt Vampire gibt. Wir wussten ohnehin viel zu wenig über unsere Natur.«

Ihre Gedanken kehrten in die Vergangenheit zurück. Die Eltern der Mädchen waren ein ungewöhnliches Paar gewesen, denn ihre Mutter stammte aus dem Feenreich. Sie war ein Lichtelf, eine Fee, die sich auf der Suche nach dem Glück in einen Sterblichen verliebt hatte, mit dem sie ihre drei Töchter gemeinsam aufzog, anstatt – wie es unter ihresgleichen nicht unüblich war – mit den Kindern ins Feenreich zurückzukehren.

Ein Schatten huschte über Nuriyas Gesicht, und Kieran streckte seinen Arm aus. Bereitwillig folgte sie der Einladung, kehrte ins Bett zurück und kuschelte sich an seine Schulter. Er war ihre Heimat, ihre Zuflucht.

Kieran streichelte ihre Hände, und die Trauer um den lange zurückliegenden Verlust verebbte allmählich. Auch nach Monaten des Zusammenlebens wurde sie nicht müde, das Spiel der harten Muskeln unter der weichen Haut zu bewundern. Liebevoll strich der Vampir seiner »kleinen Fee«, wie er sie in Gedanken immer noch nannte, über die Wange und flüsterte: »Mach dir keine Sorgen, ich finde schon eine Lösung.«

Und kaum war Nuriya am nächsten Abend zu einer Verabredung aufgebrochen, begann er, seine Pläne in die Tat umzusetzen.

»Estelle, öffne die Tür, ich muss mit dir reden!«

»Nein!«

»Du weißt doch, dass ich keine Einladung brauche, also mach auf, oder ich komme auch ohne dein Einverständnis herein.«

Estelle zitterte. Würde der Vampir die Abwesenheit ihrer Schwester nutzen, um sich endgültig seines Gastes zu entledigen? Denn darüber machte sie sich keine Illusionen: Kieran duldete sie nur äußerst widerwillig in seinem Haus. Er gab sich nicht einmal mehr die Mühe, seine Kräfte einzusetzen, um ihren Willen zu manipulieren. Und dennoch ging sie folgsam zur Tür und öffnete, denn es gab kein Entrinnen.

»Was willst du?«

Als Nächstes fand sie sich in einem Sessel des großzügigen Gästezimmers wieder. Ihr gegenüber hatte der Vampir Platz genommen, die Beine übergeschlagen, weit zurückgelehnt. Ein Bild vollkommener Entspannung. Estelle verschränkte ihre Hände fest ineinander, um nicht an den Nägeln zu knabbern – eine Angewohnheit, die sie in den letzten Monaten einfach nicht mehr hatte lassen können.

»Du möchtest mir nichts über deine Anfälle und Visionen erzählen?«, fragte er.

»Nein!«

»In Ordnung.« Er lenkte erstaunlich schnell ein. »Und über deine Schwestern?«

Estelle schwieg.

»Was ist mit dir los? Nuriya macht sich große Sorgen um dich, und ich mag es nicht, wenn sie traurig ist.«

Die Drohung hätte deutlicher nicht sein können. Sie versuchte, noch tiefer in ihrem Sessel zu verschwinden.

Plötzlich schnellte der Arm des Vampirs vor. Er griff Estelles Handgelenk, bevor ihre Zähne die blutigen Fingerkuppen weiter malträtieren konnten.

»Mädchen, du warst« – er blickte in ihre Augen – »nein, du bist immer noch eine Schönheit. Deine Familie, die Feenwelt – sie haben dir alle Freiheiten gelassen. Du hättest als Model Karriere machen oder ein brillantes Studium absolvieren können. Weißt du eigentlich, wie privilegiert du bist?«

Estelle schaute ihn emotionslos an, und er war sich nicht sicher, ob seine Worte sie überhaupt erreichten.

»Sieh doch in den Spiegel! So hungrig kann ein Vampir« – er betonte den Begriff absichtlich – »gar nicht sein, um dich in diesem Zustand beißen zu wollen.«

Estelle schloss ihre Augen.

»Zur Hölle, was ist dein Problem?«

Estelle schwieg. Vielleicht, weil sie hoffte, er würde irgendwann aufgeben und sie in Ruhe lassen – aber wer wie Kieran mehr als zehn Jahrhunderte durchlebt hatte, den machten ein paar Minuten Warten nicht nervös.

Schließlich antwortete sie kaum hörbar: »Ich kann es nicht sagen, sieh selbst!« Und sie öffnete ihm ihre Seele.

Er zögerte nicht, ihrer Einladung zu folgen. Was er sah, war verwirrend genug. Seine Schwägerin litt unter Visionen, deren wahrsagerische Qualität eine Feentochter unter normalen Umständen problemlos handhaben konnte. Aber als er sich tiefer auf ihre Gefühle einließ, spürte er gemeinsam mit Estelle die Bedrohlichkeit und das Grauen in ihrer Trance.

Kieran erkannte, dass es eines erfahrenen Therapeuten bedurfte, ihr den distanzierten Umgang mit den beunruhigenden Bildern in ihrem Kopf zu ermöglichen. Psychotherapie war aber wahrlich nicht sein Fachgebiet. Doch er kannte jemanden, dem er zutraute, Estelle zu helfen.

Und Hilfe brauchte diese Feentochter, denn sie schwand gewissermaßen unter seinem strengen Blick dahin.

»Möchtest du zu Selena ziehen?« Estelle schüttelte kaum merklich den Kopf. Kieran lächelte, obwohl er ahnte, dass sie einfühlsam genug war, zu erkennen, dass seine Freundlichkeit mehr Pflicht als Kür war. Wäre es nach ihm gegangen, hätte er sie auf den Mond geschossen.

»Also gut. Nach Paris kannst du nicht mehr zurück, aber ich habe da eine Idee!«

Tränen quollen unter ihren Lidern hervor. »Bitte geh, ich muss allein sein!«

Als sie die Augen endlich wieder öffnete, war der Vampir schon lange fort.

Wenige Tage später lag ein Umschlag auf ihrem Nachttisch. Mit zitternden Händen riss sie ihn auf, Reiseunterlagen flatterten heraus. Der Begleitbrief stammte zu ihrem Erstaunen von Selena.

Liebste Schwester,

es schmerzt uns alle sehr zu sehen, wie unglücklich du bist. Deshalb haben wir uns entschlossen, dir einen Start in eine hoffentlich bessere Zukunft zu ermöglichen. Ich bete, dass du dich an deinem neuen Wohnort wohler fühlen wirst und deine Studien dort weiterführen kannst. Sie haben da einige ganz vorzügliche Bibliotheken, sagt man.

Estelle konnte das Lächeln in Selenas Stimme beinahe hören, als sie weiterlas.

Meine liebe Estelle, ich bitte dich, glaube nicht, dass wir dich loswerden wollen, sondern betrachte dies als eine Chance, deine Probleme in den Griff zu bekommen. Wenn du mich brauchst, bin ich immer für dich da!

Deine dich liebende Schwester

Selena

Darunter klebte eine Kreditkarte. Die Handschrift ihrer Zwillingsschwester wirkte fahrig. Estelle hätte schwören können, dass sich Tränenspuren auf dem ordentlich gefalteten Papier befanden.

Das Letzte, was sie wollte, war, dass auch noch Selena unglücklich wurde. Sie machte sich Vorwürfe – schließlich trug sie als die Erstgeborene auch Verantwortung für ihre kleine Schwester.

Aber dann gewann ihre Neugier die Oberhand, und sie blätterte die Unterlagen durch. Unter den Reisedokumenten fand sie die Immatrikulationsbescheinigung einer renommierten Universität und den Hinweis, dass sie am Zielbahnhof von ihrer neuen Mitbewohnerin abgeholt werden würde. Selena hatte neben einer zusätzlichen Wegbeschreibung die Broschüre eines Maklers beigefügt, auf der »Alternative« stand. So, als verstünde sie genau, wie sehr ihre Schwester es verabscheute, von anderen abhängig zu sein und nicht selbstbestimmt handeln zu können.

Im Nachhinein betrachtet war dies der ausschlaggebende Punkt für sie gewesen, das Angebot anzunehmen.

Ihr blieb wenig Zeit, ihre Sachen zusammenzupacken, und als sie wenig später das Telefon nahm, um ein Taxi zu bestellen, stand Kierans Limousine schon abfahrbereit vor der Tür.

Sie ärgerte sich darüber, dass der Vampir offenbar nicht einmal in Betracht gezogen hatte, sie könnte sein Angebot ausschlagen. Denn dass die Idee von ihm stammte, davon war Estelle überzeugt. Und einen Moment lang hielt sie inne, war versucht, umzukehren – einfach nur, um ihm einen Strich durch die Rechnung zu machen und zu beweisen, dass sie nicht so leicht zu manipulieren war. Um ihn weiter mit ihrer Anwesenheit zu nerven, bis er die Geduld verlor und sie rausschmiss.

Das würde ihrer verliebten Schwester endlich die Augen öffnen, mit welch einem Monster sie sich eingelassen hatte.

Doch die Freiheit lockte.

Der Chauffeur hielt ihr bereits die Wagentür auf und tippte sich höflich an die Mütze, die zu seiner dezenten Uniform gehörte. Sie erkannte, dass sie in dieser Welt des Luxus immer eine Fremde bleiben würde.

Und so nahm sie ihre Koffer und Taschen, stürmte die Treppen hinunter, bevor der Mann ihr entgegeneilen konnte, warf sich auf den Rücksitz des Wagens und zog die Tür hinter sich zu.

Als sie sich noch einmal umsah, schien es ihr, als starre das Haus kalt und abweisend zurück. Den Schal fest um die Schultern gewickelt, widerstand sie nur mühsam dem Wunsch, ihre Knie bis zum Kinn hochzuziehen und sich wie ein verängstigtes Tier in eine Ecke zu kauern.

Niemand war gekommen, sie zu verabschieden.

Doch das war ihr gerade recht, und während der Kies unter den Rädern knirschte, fühlte sie sich mit jedem Meter, den sie dem Tor entgegenrollten, freier.

»Heinrich, der Wagen bricht!«, murmelte sie und konnte fast schon durchatmen, als der Fahrer entgegnete: »Nein, Madame, der Wagen nicht, es ist ein Band von meinem Herzen, das da lag in großen Schmerzen, als Ihr in dem Brunnen saßt, …«

»… als Ihr ein Frosch wart«, beendete sie das Zitat aus dem Märchen Der Froschkönig.

Der Fahrer lächelte, und sie fragte sich, warum ein so netter und gebildeter Mann für Kieran arbeitete.

Nein, ein Frosch wollte sie bestimmt nicht sein – sondern die Chance nutzen, die ihr der Vampir geboten hatte, aus welchen Gründen auch immer. Fest entschlossen, ihre Kräfte in den Griff zu bekommen, freute sie sich auf ihre Zukunft.

2

EDINBURGH

Estelle, der sich jederzeit ungefragt die Gefühle und Zukunft ihres Gegenübers offenbaren konnten, sobald sie es berührte, wusste nicht, was sie am Ende ihrer weiten Reise erwartete. Als der Zug sein Ziel endlich erreicht hatte, raffte sie ihre Taschen zusammen und zerrte den Koffer hinter sich her. Einmal verhakte sich das schwarze Ungetüm, als wolle es lieber weiter in der Sicherheit zwischen zwei Sitzreihen verharren, dann rumpelte es über den Fuß einer Reisenden.

Sie drehte sich halb um, murmelte eine Entschuldigung und verschloss ihre Ohren vor dem ärgerlichen Protest, der ihr folgte. Nur raus. Gerade wollte sie die mit schmutzigem Blech verkleideten Stufen zum Bahnsteig hinabsteigen, da berührte eine Hand ihre Schulter, und die Stimme des Schaffners durchschnitt für Sekunden den lebenswichtigen Kokon, in den sie sich zurückgezogen hatte.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Auch ohne diese unwillkommene Berührung drangen die Gedanken des Mannes in sie ein. Sein Gesichtsausdruck zeigte deutlich genug, was er dachte: Wie dünn das arme Ding ist!

Es war noch nicht lange her, da hatten Männer ihre Schönheit gepriesen und Lust statt Mitleid beim ihrem Anblick empfunden. Die feenhafte Ausstrahlung und Modelmaße hatten ihr noch vor wenigen Wochen eine hübsche Wohnung in Paris und das Studium finanziert. Doch seitdem war viel passiert. Estelle kämpfte mit aller Kraft darum, das schützende Nichts wiederzufinden, das sie gerade noch umgeben hatte, und starrte dabei auf die haarige Pranke, die ihr Gepäck hielt. Männerhände. Warm. Zupackend. Ein wenig rau. Hände, die gemacht zu sein schienen, eine Frau festzuhalten, ihren Kopf grob zu drehen, bis der Hals frei lag, um Zähne hineinzuschlagen, in dem blutigen Fleisch zu wühlen wie ein Raubtier …

Lass mich gehen! Panik wallte in ihr auf. Woher kamen nur diese schrecklichen Bilder?

Der Mann ließ den Koffergriff los, als habe sich dieser plötzlich in eine giftige Schlange verwandelt. Estelles Lächeln zeigte nichts von dem Tumult, den die Begegnung in ihr ausgelöst hatte. Es glich einer kühlen Brise, und als der Schaffner sich abwandte, war sie bereits vergessen. Manchmal gehorchte die Magie ihr noch, leider wurden diese Momente aber immer seltener und verlangten ihr jedes Mal alles ab.

Auf dem Bahnsteig ging sie noch wenige Schritte, dann sackte sie von der Willensanstrengung erschöpft auf dem Koffer zusammen. Die Hände vor das Gesicht gehalten, hoffte Estelle, die Zeit würde stillstehen und ihr Frieden schenken. Und dann würde Mama kommen, ihre kleine Tochter in die Arme schließen, wie sie es früher immer getan hatte, wenn sich Estelle vor etwas gefürchtet hatte, und alles wäre wieder gut. Aber nichts war wie früher.

»Estelle?« Vor ihr stand eine junge Frau, kaum älter als sie selbst. Stupsnasig, mit weit auseinanderstehenden Augen, die sie jetzt besorgt anblickten. Die Lippen leuchteten tiefrot, und zum ersten Mal an diesem Tag musste Estelle lächeln, als sie sah, dass der asymmetrische Pagenkopf des Mädchens exakt im gleichen Ton gefärbt war wie ihr eigenes Haar. Kurz darauf folgte sie ihrer zukünftigen Mitbewohnerin, die sich als Manon vorgestellt hatte und nun auf abenteuerlichen Absätzen vor ihr zum Taxistand stöckelte.

Die Fahrt ins neue Zuhause dauerte nicht lange. Manon versuchte sich unterwegs als Fremdenführerin und kommentierte abwechselnd das Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer und das ihres Fahrers, der einen hörbaren Seufzer der Erleichterung ausstieß, als die beiden ungleichen Passagiere endlich ausgestiegen waren und bezahlt hatten. Danach rumpelte sein Taxi eilig über das Kopfsteinpflaster.

Manon kicherte. »Puh, ist der froh, uns los zu sein.« Dann bemerkte sie, wie sich Estelle neugierig umschaute, so als schien sie nicht zu glauben, dass es in dieser Straße etwas anderes als Andenkenläden, Kneipen und Imbissbuden gab. »Die Touristen gehen einem manchmal auf die Nerven. Aber es gibt auch ein paar gute Pubs, in denen du fast nur Einheimische triffst. Dort hinten, wenn du die Straße runtergehst, haben wir sogar einen kleinen Supermarkt, dort kannst du alles Wichtige einkaufen. Den zeige ich dir aber später. Jetzt sollten wir erst mal deine Sachen in die Wohnung tragen.«

Sie lotste Estelle zwischen den Passanten hindurch in eine unscheinbare Gasse, die so schmal war, dass sie nicht nebeneinander hergehen konnten. Der Straßenlärm verebbte, und vor ihnen öffnete sich ein gepflasterter Innenhof. Die Häuser sahen alt aus, und als Estelle eine entsprechende Bemerkung machte, sagte Manon: »Einige stammen aus dem 18. Jahrhundert. Aber keine Angst. Inzwischen gibt es fließend Wasser, und niemand kippt mehr seinen Nachttopf aus dem Fenster.«

Ein Geräusch ertönte über ihren Köpfen, und Estelle blickte erschrocken durch die Zweige einer Platane, die bis zum dritten Stock hinaufreichten. Dort oben spiegelte sich nur das Licht in den Scheiben, keine Hausfrau drohte mit einem Schauer unangenehmer Flüssigkeiten oder Schlimmerem. Erleichtert nahm sie ihren Koffer wieder in die Hand. Auf der Bank unter dem Baum saß eine Mutter trotz der frischen Temperaturen in der Nachmittagssonne und las, während ihre Hand gedankenverloren ein Baby streichelte, das neben ihr in Kissen gebettet schlummerte. Ein Spatz beobachtete aus sicherer Entfernung die Szene. Vielleicht hoffte er auf ein paar Krümel aus der Packung, die offen neben der Frau lag. Und tatsächlich griff sie hinein und warf einen halben Keks in seine Richtung. Der Vogel stürzte sich auf die Beute und versuchte vergeblich, sie vor seinen Kameraden in Sicherheit zu bringen, die sich nun aus den Zweigen der Platane zu ihm herabwagten.

Estelle schien es, als käme sie nach Hause. Die Frau sah in ihre Richtung, blinzelte im hellen Licht und winkte herüber. Sie hob ebenfalls ihre Hand und grüßte schüchtern zurück. Manon wartete schon an einem Hauseingang. Gleich darauf wurde sie von der Dunkelheit, die im Inneren herrschte, verschluckt. Estelle folgte ihr hinein und eine steinerne Treppe hinauf, die sich Stufe für Stufe nach oben schraubte. Dabei vermied sie jeden Gedanken an die zahllosen Generationen, die diesen Weg vor ihr gegangen waren – zu groß war die Furcht vor einer neuen Vision.

»In welcher Etage wohnst du?«, fragte Estelle nach einer Weile und schaute durch eines der schmalen Fenster in den Hof hinab, um zu Atem zu kommen.

»Ganz oben. Es gibt hier sieben Ebenen. Genauer gesagt haben wir zwei Etagen, in die man über eine andere Treppe hinuntergelangt, und fünf oberirdische Stockwerke.«

»Hier hausen Menschen im Keller?«

»Nicht doch! Erinnerst du dich, als wir vorhin unterhalb der Altstadt entlanggefahren sind? Einige Häuser wurden aus Platzgründen direkt auf die Felskante gebaut, und so sind am Steilhang zwei halbe Etagen mit Blick ins Tal entstanden. Die Mieten sind dort relativ günstig, aber natürlich bleiben die oberen Wohnungen trotzdem weitaus begehrter. Du solltest einmal die unter uns sehen, sie wird gerade renoviert und soll danach wahrscheinlich verkauft werden. Ein Traum!« Sie lächelte. »Du wirst sehen, an die Treppen gewöhnst du dich schnell und der Blick ist phänomenal. An manchen Tagen sieht man sogar das Meer. Zugegeben, so schönes Wetter wie heute haben wir selten – aber doch häufiger, als böse Zungen behaupten.«

Am Ende der Treppe angekommen, schloss sie eine Tür auf und schob Estelle hinein.

»So, da wären wir. Es ist kein Palast, aber ich liebe diese Dachschrägen.«

Estelle hörte den Stolz in Manons Stimme und war gespannt auf das, was sie vorfinden würde. Vor ihnen öffnete sich ein Raum, der die deutliche Handschrift seiner farbverliebten Dekorateurin trug. Neben einem roten Plüschsofa stand ein grün bezogener Sessel, der sich gefährlich zur Seite lehnte – was kein Wunder war, denn eines der gedrechselten Beine fehlte und steckte nun in einer besonders scheußlichen Vase auf dem Kaminsims.

»Unser ›Salon‹«, verkündete Manon, ehe sie ein paar Kleidungsstücke vom Boden aufhob, die sie unter den Arm klemmte, bevor sie eine weitere Tür aufstieß.

»Und hier wohnst du.«

Estelle ahnte nichts Gutes, denn so originell Manons Behausung auch wirkte, ihr Geschmack war das nicht. Deshalb schaute sie umso überraschter, als sie ihr zukünftiges Zuhause betrat. Hier war alles in unterschiedlichen Weißtönen gehalten, und die unter hellem Lack glänzenden Holzdielen verliehen dem Raum eine Weite, die die geschätzten zwölf oder vierzehn Quadratmeter gewiss nicht hergaben. Sie strich beglückt über den abgenutzten Lack einer Kommode. Ihr Zimmer besaß dank der sparsamen Möblierung und den beiden Sprossenfenstern im Erker, durch die nichts als blauer Himmel und die Wolken zu sehen war, einen besonderen Charme. Der schlichte Kamin, der offenbar noch beheizt werden konnte, komplettierte das Bild. Estelle fühlte sich an ihr Elternhaus erinnert, in dem es jetzt, da nur noch Selena mit ihrem Freund dort lebte, ziemlich einsam sein musste.

»Gefällt es dir nicht?«, fragte Manon besorgt. »Ich finde es auch ein wenig blass, aber sie hat …« Ihre Fingerspitzen berührten kurz die Lippen, bevor sie schnell weitersprach: »Warte, bis du das hier siehst.«

Dann öffnete sie eine Terrassentür und schob Estelle auch dort hindurch, die sich unvermittelt in luftiger Höhe wiederfand.

Der Blick über die Stadt war wie versprochen fantastisch – und die Brise, die ihr Haar zerzauste, schmeckte nach Meer. Wenn sie ihre Augen zu schmalen Schlitzen zusammenkniff, konnte Estelle tatsächlich weit hinten, fast am Horizont, einen Streifen Wasser glitzern sehen. Ihre Hände griffen das eiserne Geländer etwas fester, und sie beugte sich vor, um hinabzuschauen. Bestimmt mehr als hundert Meter unter ihr lag der grüne Graben, der so tief war, dass er von Brücken überspannt wurde, um die beiden Stadtteile Edinburghs zu verbinden, deren natürliche Grenze der darin angelegte Park bildete. Schnell richtete sie sich wieder auf.

»Dort unten ist ein Jahrmarkt, sieh doch!«, sagte sie über die Schulter zu Manon, die kaum mehr als ihre Nasenspitze hinaushielt.

»Auf keinen Fall! Mir wird schon schlecht, wenn ich jemand anderen so dicht am Geländer stehen sehe. Komm wieder rein, ich zeig dir unsere Küche.«

Estelle zog die Terrassentür hinter sich zu und drehte sicherheitshalber den Schlüssel um, weil sie sonst sofort wieder aufsprang – und nicht aus Angst, dass jemand hereinkommen könnte. Dann blickte sie noch einmal durch die Scheiben. Es gab gerade genügend Platz für zwei Stühle, und sie fand es schade, dass es offenbar keine gemeinsamen Abende dort draußen geben würde. Aber jetzt, da der Winter vor der Tür stand, dürfte damit sowieso nicht zu rechnen sein. Manon war die einzige Menschenseele, die sie hier kannte, und daran würde sich wahrscheinlich nicht einmal bis zum nächsten Sommer etwas ändern. Dabei hatte sie ihr Familiennest verlassen, um genau dies zu tun: neue Leute kennenzulernen, frei zu sein. Es kam ihr vor, als wäre seitdem eine Ewigkeit vergangen.

Obwohl ihre Tante über beachtliche Kräuterkenntnisse verfügte und neben ganz normalen Büchern in ihrem Laden auch mit, wie sie es nannte, »Hexenwerk« gehandelt hatte, besaß sie als Sterbliche doch so gut wie keine magischen Fähigkeiten. Estelle dagegen hatte ihre außergewöhnliche Gabe schnell entdeckt: die Gedanken anderer zu lesen, sobald sie diese berührte. Bei Selena hatte sich dieses Talent nicht gezeigt, und um sie zu beschützen, hatte sie begonnen, die Jüngere mental immer mehr von der Außenwelt abzuschirmen. Nuriya, die älteste der drei Schwestern, hatte zunächst überhaupt nichts von ihrem Feenerbe hören wollen, denn sie hatte sich von den unsichtbaren Verwandten nach dem Tod der Eltern verraten und im Stich gelassen gefühlt. Gleich nach Beendigung der Schule zog sie fort. Selena begann mit der Zeit, sich gegen die Bevormundung aufzulehnen, und als Nuriya wider Erwarten nach Hause zurückkehren wollte, beschloss Estelle, ein Studium in Paris zu beginnen. Ihr war klar geworden, dass sie Abstand brauchte, und zudem hoffte sie, in der Ferne ihre seherischen Fähigkeiten, die in letzter Zeit schwer zu kontrollieren gewesen waren, wieder in den Griff zu bekommen.

Hier bot sich nun ihre zweite Chance – und Estelle betete, dass die entspannte Atmosphäre, die sie bei ihrer Fahrt durch die Stadt zu spüren glaubte, dabei helfen würde. Immerhin besaß sie nun in diesem seltsamen Haus eine wunderbare Rückzugsmöglichkeit und mit Manon so etwas wie einen guten Geist in dunklen Tagen. Sie war überzeugt, dass ihre Schwestern zumindest bei der Vorbereitung des Zimmers ihre Hände im Spiel gehabt hatten. Die Wohnung roch nach frischer Farbe, und es schien, als habe erst kürzlich jemand alle Erinnerungen aus der Vergangenheit, die sonst in alten Häusern zu spüren waren, getilgt und in gutartige Schwingungen verwandelt. Selena besaß dieses Talent. Allerdings fragte sich Estelle, wie ihre Schwester dieses Wunder in so kurzer Zeit und von ihr gänzlich unbemerkt vollbracht haben konnte. Sie schaute Manon kritisch an: Sollte etwa ihre Vermieterin etwas damit zu tun haben? Aber das war absurd. Wäre sie ebenfalls eine Solasídhe, also die Tochter einer Lichtelfe, so hätte Estelle das gespürt. Schließlich gehörte eine außergewöhnliche Sensibilität zu ihren Talenten, auch wenn diese zurzeit etwas willkürlich mit ihr verfuhren.

Die Kücheneinrichtung, die Manon ihr nun präsentierte, unterschied sich im Stil wenig vom »Salon«. Aber auch hier würde sie sich wohlfühlen, befand Estelle nach einem Blick in die Runde, nachdem Manon sie auf einen Stuhl gedrückt und gezwungen hatte, den letzten Rest Tee mit ihr zu teilen.

»Leider bin ich zum Monatsende immer ein wenig klamm«, sagte sie nach einem großen Schluck aus der Tasse, die sie geschickt an dem Stummel festhielt, der vom Griff übrig geblieben war.

»Das ist kein Problem. Wenn du mir sagst, was fehlt, gehe ich einkaufen.«

Manon schien erleichtert. »Wir gehen natürlich zusammen, der Supermarkt liegt ein wenig versteckt. Ich gebe dir das Geld später zurück!«

»Nicht nötig, mein Schwager ist ein wahrer Blutsauger und dabei unanständig reich.« Estelle wedelte mit ihrer Kreditkarte. Ein wenig schämte sie sich, denn auf ihrem Konto lag kaum Selbstverdientes. Andererseits, dachte sie, wenn der Vampir schon versucht, mich zu bestechen, um mich loszuwerden, dann kann er ruhig auch ordentlich dafür bezahlen. Sie vermutete allerdings, dass ihre bescheidenen Einkäufe ihn nicht ernsthaft schädigten.

Wenig später versuchte sie, mit Manon Schritt zu halten, aber die Stufen verlangten nach Übung, um sie geschwind zu nehmen. Sie lachte. Das war eine Aufgabe, die sie bewältigen konnte – und zwar bald. Rasch holte sie auf, und fast gemeinsam erreichten die beiden jungen Frauen den Innenhof. Schon beim Betreten der schmalen Gasse schlug ihnen der Lärm der Straße entgegen. Draußen wurde es noch lebhafter, und Estelle rang um Fassung. Manon ergriff ihre Hand. Anstelle des erwarteten Schmerzes, den die Emotionen anderer in ihr auslösen konnten, fühlte sie sofort, wie ein ungewohnter Friede sie erfüllte. Die neue Freundin lächelte und führte Estelle zwischen Touristengruppen hindurch die Straße hinab.

Unterwegs machte sie einen Abstecher in einen Innenhof, der ähnlich dem ihren eine Oase der Ruhe in all dem Getöse war. Von oben blickte eine gemalte Figur in Robe und Perücke auf sie herab. Das Pub, dessen Eingang dieses Holzschild zierte, nannte sich Zum fröhlichen Richter. Eine Frau mit langer Schürze, die eben die Stufen aus dem Lokal heraufkam, grüßte freundlich und servierte dann an einem der kleinen Tische, die vor der Tür standen. Ihr Gast hob ebenfalls kurz das Kinn zum Gruß, machte sich aber dann über die stattliche Portion her, kaum dass sie vor ihm stand. Estelle stieg ein appetitlicher Duft in die Nase.

»Hierher verlaufen sich nicht allzu viele Touristen«, erklärte Manon, während sie den beiden zuwinkte. »Das Essen ist gut, viele Gäste wohnen in der Nachbarschaft, und – was ich besonders schätze – ich kann hier anschreiben!«

Augenscheinlich hat sie wirklich wenig Geld, dachte Estelle und wollte sich gerade nach ihrem Broterwerb erkundigen, da hatten sie schon ein Geschäft mit schmaler Fensterfront erreicht. Die indische Göttin Shiva thronte darin, umgeben von glitzernder Golddekoration, die im Luftzug eines Ventilators flatterte, und exotisch beschrifteten Verpackungen, deren Inhalt die meisten Kunden wahrscheinlich nur vage erahnen konnten.

Das war also der Supermarkt.

Manon schob sie in ein unglaubliches Durcheinander von Waren, die man auf engstem Raum bis hoch unter die Decke in zwei langen Gängen gestapelt hatte. Zielstrebig begann sie ihre Einkaufstour und bewies damit eine gewisse Ortskunde. Wann immer sie ihren Arm ausstreckte, um etwas vom Regal zu nehmen, eilte ein junger Mann herbei, stieg auf eine Leiter oder angelte mithilfe eines langen Holzstabs die gewünschten Artikel herunter und legte sie in ihr Körbchen, das wiederum ein Junge von etwa zehn Jahren – vermutlich der Bruder, denn die beiden besaßen die gleichen abstehenden Ohren – hinter ihnen herschleppte.

»Hier gibt es einfach alles«, erklärte Manon und flüsterte dann: »Leider ist das nicht ganz billig, deshalb kaufe ich alle zwei Wochen bei Tescos ein. Meist finde ich auch dort einen netten Mann, der mir die Einkäufe gegen eine Vergütung sogar bis in die Wohnung liefert. Und wenn nicht – ein Taxi tut es auch. Ich bin nämlich richtig kräftig, musst du wissen.«

Estelle schaute skeptisch auf die Oberarme ihrer neuen Freundin – muskulös wirkten die eigentlich nicht. Sie hätte vermutlich auch moralisch entrüstet sein sollen, denn es bestand kein Zweifel daran, dass Manon selten in die Verlegenheit kam, diese angebliche Stärke einsetzen zu müssen, weil sie offenbar gern und gekonnt flirtete. Und mit all ihrem Zwinkern und Blinzeln war auch ziemlich klar, was sie unter entsprechender Entlohnung verstand, aber ihre Lebensfreude war einfach ansteckend, und so kicherten die beiden gemeinsam und widersprachen nicht, als sich der junge Verkäufer tatsächlich anbot, ihre Besorgungen später persönlich zu liefern.

Die Frau an der Kasse nahm Estelles Kreditkarte zwar wortlos entgegen, schnaufte aber die ganze Zeit missbilligend. Sobald die Waren abgerechnet waren, raffte sie ihren Sari zusammen und eilte in den hinteren Bereich des Ladens. Sehr wahrscheinlich, um ihrem Sohn die Leviten zu lesen, weil er den Servicebegriff für gewisse Kundinnen allzu sehr ausdehnte.

»Dabei hat der Gute überhaupt keinen Gewinn davon, dass er unsere Einkäufe bis unters Dach hinaufträgt«, flüsterte Manon. »Das bildet sich der Kleine selbstverständlich nur ein – er ist ja fast noch ein Kind.«

Hätte Estelle in diesem Augenblick nicht ein Antiquariat entdeckt, wäre ihre Antwort sicherlich anders ausgefallen. Doch so lächelte sie nur und überquerte ungeachtet der hupenden Autos die Straße – und stoppte erst, als ihre Nase die trübe Schaufensterscheibe fast schon berührte.

»Himmel, ein Bücherwurm!« Manon hastete hinter ihr her. »Vergiss es, Baby! Da kriegst du eher in der Nationalbibliothek ein Buch geschenkt, als dass dir hier eines verkauft wird. Der Laden öffnet selten genug, aber ich kenne den verrückten Verkäufer, er trennt sich nie von einem seiner staubigen Exemplare. Und obwohl er ganz passabel aussieht, geht er niemals aus. Meine Freundin hat schon mehr als einmal versucht, ihn zum Tee einzuladen.«

Manon entdeckte das Funkeln in Estelles Augen. »Herzchen«, sagte sie mitleidig, »verzeih mir die Offenheit, aber wenn sie es nicht schafft, dann hast du bestimmt keine Chance!«

Und Estelle sah in ihrem Blick, was sie bisher nicht hatte wahrhaben wollen: Ihre einst wie Ebenholz glänzende Mähne hing wie ein mottenzerfressener Trauerflor um ihre knochigen Schultern, und jedes Opossum wäre angesichts dieser Augenringe depressiv geworden.

»Ich möchte nach Hause.«

Manon sah sie an. »Tut mir leid, das war nicht fair. Du hast eine anstrengende Reise hinter dir. Lass uns gehen.«

Wenig später sank Estelle erschöpft in ihr neues Bett. An der Grenze zum Schlaf tauchte ganz kurz die Frage aus ihrem Bewusstsein auf, warum sie sich sofort wie zu Hause fühlte. Wie viel Magie ist hier wirklich im Spiel? Doch bevor sie dieses Rätsel auflösen konnte, hatte der Schlaf schon – zum ersten Mal seit langer Zeit – mit Nachdruck von ihr Besitz ergriffen.

3

SPIEGELZAUBER UND STADTGEFLÜSTER

Als sie am nächsten Morgen in die Küche tappte, fand sie auf einer Tafel folgende Nachricht in Manons großzügiger Handschrift:

Frühstück ist im Kühlschrank. Treffe dich gegen acht beim Richter.

xxx Manon

Es dauerte einen Moment, bis ihr klar wurde, dass mit Richter das Pub vis-à-vis des interessanten Buchladens gemeint war. Beim Gedanken an das Antiquariat begann aus unerklärlichen Gründen ihr Herz schneller zu schlagen. Irgendetwas befand sich zwischen den alten Büchern, die sie durch die schmutzigen Scheiben in den Regalen gesehen hatte – und das rief nach ihr. Sie liebte Geheimnisse und nahm sich vor, diesem unbedingt bald auf den Grund zu gehen.

Eine andere Erinnerung an den gestrigen Abend trübte allerdings ihre Unternehmungslust. Sie hatte sich in den vergangenen Wochen gehen lassen, extrem abgenommen und sah inzwischen wirklich wie eine Vogelscheuche aus. Also würgte sie tapfer eine große Schüssel Müsli herunter und murmelte: »Bist du in Rom, tu’s den Römern gleich.« Der Kühlschrank gab zwar nicht alle Zutaten für ein Full Scottish Breakfast her, aber sie aß dick mit Marmelade bestrichenen Toast, was seltsam schmeckte – die Butter darunter war überraschend salzig. Um alles herunterzuspülen, braute sie sich einen Tee, dessen Farbe trotz Sahne eher an Kaffee erinnerte und der mit drei Stückchen Zucker deutlich zu süß war. Danach zog sie kurz in Erwägung, sich auch noch Rührei mit Speck und Würstchen zuzubereiten.

Man kann es auch übertreiben! War das ihr Magen gewesen, der diese Worte geknurrt hatte? Jedenfalls brauchte sie nach diesem reichhaltigen Frühstück unbedingt frische Luft – und so machte sie sich auf, ihre neue Heimat zu erkunden.

Das Wetter meinte es gut, und so früh waren mehr Straßenfeger mit ihren kleinen Wagen und Lieferanten unterwegs als Touristen. Kurz überlegte sie, hinauf zum Schloss zu gehen, fand dann aber, dass ihr die trutzige und – zumindest von außen betrachtet – architektonisch nicht besonders überzeugende Burg bestimmt nicht davonlaufen würde. Schließlich thronte sie schon seit vielen hundert Jahren über der Stadt. Also wandte sie sich nach links, schlenderte die Straße hinab, sah hier und da in die Schaufenster und entdeckte dabei sogar einen wunderbaren Schal, den sie sich später kaufen wollte.

Wie von Manon vorhergesagt, hatte der Buchladen nicht geöffnet. Estelle nahm sich einen Moment Zeit, um die Inschrift neben der Tür zu betrachten. Zwar verstand sie die eingeschnitzten Worte nicht, doch als sie ihre Hand darauflegte, fuhr sie wie vom Blitz getroffen zurück: ein Zauber! Jemand hatte den Eingang mit einem magischen Bann versehen, der es interessierten Kunden schwer machte, die drei Stufen hinabzugehen und den Laden zu betreten. Mit solchen Dingen wollte sie nichts zu tun haben, also warf sie einen letzten sehnsüchtigen Blick auf die Bücher in der Auslage, bevor sie weiterging.

Doch der Bann hatte eine Erinnerung in ihr geweckt.

Estelle hatte ähnliche Symbole schon einmal gesehen – in einem verborgenen Treppenaufgang, der zu den Privatgemächern eines Mannes führte, von dem man in Paris erzählte, er sei ein fanatischer Sammler geheimer Schriften. Damals war sie so weit gegangen, in seine Wohnung einzudringen. Natürlich war sie erwischt worden. Dass sie dem Wachmann das Bild in seinen Geist einpflanzen konnte, eine Katze – und keine erwachsene Frau – sei durch das angelehnte Fenster geschlüpft, erschien ihr heute noch wie ein Wunder. Voller Angst war sie geflohen. Tage später hatte sie die Zeitungen durchforstet, aber nirgendwo war eine Notiz über den Einbruch zu finden gewesen. Und so war diese peinliche Episode allmählich in Vergessenheit geraten – bis jetzt.

Manon hatte einen Stadtplan auf dem Küchentisch liegen lassen, in dem unter anderem die Universität, wichtige städtische Einrichtungen und – zu Estelles Entzücken – auch Bibliotheken und mehrere Buchhandlungen eingezeichnet waren. Ihre Begeisterung für Bücher habe manische Züge, hatte ihr Psychologieprofessor in Paris einmal behauptet. Aber das war ihr gleichgültig. Nur zwischen hohen Regalen, vollgestopft mit alten Bänden, den Geruch von Staub und brüchigem Leder in der Nase, konnte sie überhaupt noch entspannen. Obwohl das auf andere nicht so wirken mochte, denn ständig zog sie neue Bücher aus den Regalen, mit der Ahnung, dass sie auf der Suche war – nach etwas, das sie noch nicht benennen konnte.

Aber Estelle war überzeugt, dass sich das Objekt ihrer Sehnsucht zum richtigen Zeitpunkt zu erkennen geben würde. Bis dahin würde sie nicht müde werden, jede Buchhandlung, jedes Antiquariat und jede Bibliothek zu durchstreifen.

Schließlich führte sie ihre Wanderung in eine ebenso belebte Gegend mit vielen kleinen Läden, die allerdings wenig mit dem touristischen Angebot in ihrer Straße gemein hatten. Ein Schaufenster erregte Estelles Aufmerksamkeit, und kurz entschlossen ging sie hinein.

»Hallo, was kann ich für dich tun?«, wurde sie begrüßt.

»Oh, ich sehe schon!« Der etwa mit ihr gleichaltrige Mann trug neben einer abenteuerlichen Frisur einen Rock, was Estelle im ersten Moment irritierte – bis sie sich erinnerte, wo sie war, und sich gleich darauf eine Spur zu spießig schalt, weil sie seinen Anblick so komisch fand. Eigentlich sah er sogar ganz sexy aus, und sie versuchte, einen weiteren Blick auf seine Waden zu erhaschen, während er mit deutlich kummervollem Gesichtsausdruck ihre Frisur betrachtete. Männer sollten wohlgeformte Beine haben, fand sie. Und an diesen hier war nichts auszusetzen.

»Da muss man was tun! Gut, dass du zu uns gekommen bist«, verkündete das Objekt ihrer Bewunderung schließlich laut über die ohrenbetäubende Musik hinweg und schob sie in einen Ledersessel, dessen Farbe Estelle an geronnenes Blut erinnerte. Da widmete sie sich doch lieber weiter den körperlichen Vorzügen des Friseurs.

Bevor sie ihn jedoch genauer betrachten konnte, hing ihr Kopf bereits rücklings über einem Waschbecken, und sie genoss anstelle der Aussicht eine Kopfmassage. Auch nicht schlecht. Ihre Hand schlich sich zur Hosentasche und ertastete die Kreditkarte. Manon hatte gestern im Supermarkt große Augen gemacht, und erst da war Estelle die ungewöhnliche Farbe der polierten Plastikoberfläche aufgefallen: Sie war schwarz. Damit hätte sie vermutlich tatsächlich ein Schloss kaufen können – und sie besaß sogar noch eine zweite, burgunderfarbene Karte. Diese hatte sie am Abend beim Sortieren ihrer Reiseunterlagen entdeckt. Das kostbare Stück ruhte nun allerdings unter einer losen Bodendiele in ihrem Zimmer. Nicht auszudenken, wenn einem Taschendieb gleich beide Karten in die Hände fielen.

Bei allen Vorschlägen, die der Friseur ihr unterbreitete, nickte sie automatisch. Und als sie endlich wagte, ihre Augen zu öffnen, verstummte im selben Moment der Fön. Eine fremde Frau blickte sie aus dem Spiegel an. Zufrieden zupfte er eine Strähne zurecht. »Du siehst entzückend aus!«

Sie konnte ihm nur recht geben. Dies hier war eine neue, attraktive Estelle – immer noch viel zu dünn zwar, aber mit ausdrucksvollen Augen und einem Haarschnitt, der ihrem schmalen Gesicht schmeichelte. Sie bezahlte und ließ sich die Adressen einiger Modeläden geben, wo sie wenig später ohne die Spur eines schlechten Gewissens ausgiebig Beute machte, anschließend mit Tüten beladen im nächstgelegenen Café einkehrte, das zu einem eleganten Kaufhaus gehörte. Zum ersten Mal seit langer Zeit genoss sie wieder ein spätes Mittagessen – sogar ein Glas Chardonnay erlaubte sie sich zur Feier des Tages.

Als sie aufbrechen wollte, war das Wetter umgeschlagen. Estelle kaufte sich rasch noch eine eher traditionelle Outdoorjacke, die auch nicht eben billig war, und der Portier des Kaufhauses begleitete sie mit einem riesigen Schirm hinaus, wo er nach einem Taxi pfiff. Diese Aufmerksamkeit war ihr durchaus recht, denn der Himmel hing tief, es goss in Strömen, und den Blitzen nach zu urteilen, die über den Dächern zuckten, hätte man meinen können, die Götter nähmen ihr die Ausschweifungen übel.

»Gummistiefel wären auch nicht schlecht«, murmelte sie, während das Wasser ungehindert durch ihre neuen Sandaletten floss.

Gerade wollte Estelle das Taxi besteigen, da rempelte sie jemand an. Instinktiv versuchte sie, seine Absichten zu lesen, aber da war nichts. Er hätte ebenso gut gar nicht da sein können.

4

EIN SCHRITT NÄHER

Der Portier lieferte sich ein kurzes Gerangel mit einem blonden Mann, der sich zu ihr unter den großen Schirm drängen wollte. Nach ein paar leise gewechselten Worten wechselte der den Besitzer und ehe sie sich versah, saß sie im geräumigen Fond des altmodischen Taxis. Der Portier nannte dem Fahrer Estelles Adresse und rannte mit gesenktem Kopf durch den Regen zurück ins Trockene.

Sie blinzelte. Der unverschämt charmante Kerl, der sie eben noch beinahe umgerannt hätte, setze sich ihr gegenüber mit dem Rücken in Fahrtrichtung auf die Sitzbank. Er zog eine Augenbrauen hoch und schob ihre eleganten Einkauftaschen ein Stück beiseite, um seine langen Beine auszustrecken.

»Ganz schön mieses Wetter – darf ich mitfahren?«

»Sie wissen doch gar nicht, wohin ich will. Weshalb haben Sie sich nicht ein zweites Taxi gerufen?«, fragte Estelle irritiert.

»Egal, wohin du fährst – ich würde dich überall hin begleiten«, sagte er. »Ich bin klitschnass und dankbar für deine Großzügigkeit.« Dabei grinste er entschuldigend. Etwas an diesem Grinsen brachte sie zum Lachen. »Und falls du mir nicht traust, vielleicht hilft dir die Vorstellung, dass ich nicht viel gefährlicher bin als ein Goldfisch im Gartenteich.«

»Soso. Und was, wenn du ein Piranha im Goldfischkostüm bist?«

»Dann wäre ich zumindest ein seltener Anblick«, erwiderte er mit einem Funkeln in den Augen.

Während sich das Taxi durch den dichten Feierabendverkehr hinauf in die Altstadt kämpfte, war Estelle längst nicht sicher, ob sie diesem Fremden vertrauen sollte – doch er war charmant, witzig, sah blendend aus, und irgendetwas an seiner Anwesenheit beruhigte sie auf merkwürdige Weise.

Und trotzdem: Ich kann ihn nicht spüren. Normalerweise genügten ihr eine Berührung oder ein kurzer Blickkontakt, um zumindest einen Hauch der Gedanken und Gefühle ihres Gegenübers wahrzunehmen. Aber dieser Mann … nichts. Keine Aura. Kein Echo. Nur ein schwarzer Fleck, glatt wie Glas.

Vielleicht ein Elf, dachte sie. Oder ein Feenwesen, das gelernt hat, sich zu verbergen. Dass sie nichts fühlte, machte sie nervös. Nur bei ihrem Schwager Kieran war es ähnlich – und der war ein uralter Vampir.

Der Gedanke, dass auch dieser hier ein Wesen der Nacht sein könnte, ließ sie erschauern. Doch er hatte nichts Dunkles an sich. Kein Schatten. Kein Glimmen von Hunger. Nur Regen auf den Wimpern und ein Lächeln, das merkwürdige Dinge mit ihr anstellte.

Als sich ihre Blicke trafen, wurde ihr ganz schwindlig. Er beugte sich vor und sie spürte das Prickeln, das der Beginn von etwas sein konnte – oder ein Fehler, den man trotzdem nicht bereute. Einen Moment lang vergaß sie die Regeln. Ihre Augenlider senkten sich. Vielleicht … vielleicht küsst er mich jetzt.

»Da wären wir, Lass! Oder soll’s noch weitergehen für den Gentleman?«, rief der Fahrer über die Schulter.

Estelle blinzelte verwirrt. Sie bezahlte den Fahrer, raffte ihre Tüten zusammen und stieg aus, ohne sich noch einmal nach ihrem unbekannten Mitfahrer umzudrehen. Die Sonne war wieder hervorgebrochen und ließ die Pflastersteine schimmern, als hätte jemand Öl darüber gegossen. Der Regen war vorbei – fast wie verhext. Sie eilte die schmale Gasse hinab, die zu ihrem neuen Zuhause führte, als sie den gepflasterten Innenhof durchquerte, hörte sie Schritte hinter sich. Sie umfasste den Schlüssel in ihrer Tasche fester. An der Haustür drehte sich um – und wäre beinahe mit ihm zusammengestoßen, so dicht stand er hinter ihr. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.

Trotz der neuen Schuhe mit ihren zehn Zentimeter hohen Absätzen musste sie zu ihm aufsehen. Das kam selten vor. Seine Iriden waren gletscherblau. Geheimnisvoll. Schnell wich sie seinem wissenden Blick aus. Ein Fehler, denn jetzt sah sie auf diesen unglaublich sinnlichen Mund …

Verdammt, dachte sie. Wenn er mich jetzt küsst, schmelze ich dahin. Erhitzt lehnte sie sich an die kühle Hauswand, versuchte, das aufgewühlte Herz zu beruhigen – und hob dann langsam das Kinn, bereit, den Moment zuzulassen. Warum eigentlich nicht?

Der Fremde räusperte sich und trat einen Schritt zurück.

»Verrätst du mir deinen Namen?« Die Stimme klang rauer als im Taxi, aber angenehm tief, mit einem leichten Akzent, den sie nicht recht zuordnen konnte – irgendwo zwischen Skandinavien und den Highlands.

»Man sollte meinen, jemand, der sich ungefragt zu mir ins Taxi setzt, würde sich mir vorstellen. Wer bist du?«

»Touché.« Sein Lächeln ließ ihre Knie weich werden. »Ich bin Julen. Jetzt du.«

Sie zögerte. Namen hatten Macht. Doch etwas an ihm wirkte ehrlich – oder einfach nur unverschämt charmant. »Estelle«, sagte sie schließlich.

Julen nickte anerkennend. »Passt perfekt zu dir.«

Diesmal war sie es, die lächelte. Und das Gefühl von Gefahr war plötzlich weit weg.

»Soll ich dir helfen, die Tüten hochzutragen?«, fragte Julen nach einer kurzen Pause, in der ihre Verlegenheit gewachsen war.

»Nein, ich …« Sie spürte, wie ihr Gesicht warm wurde. »So ist das nicht gemeint«, sagte er leise und legte ihr die Hand auf den Arm.

Estelle hielt den Atem an.

Was wird mich diesmal treffen? Welche Gefühle? Welche Erinnerungen? Doch wieder – nichts. Kein Strudel fremder Gedanken. Keine Bilder. Keine Angst. Nur seine Wärme, seine Stimme, seine Nähe. Und da war er wieder, der gefährliche Gedanke: Wenn ich ihn küssen würde … wäre da nur er. Keine seelischen Splitter. Keine überwältigenden Bilder. Nur Leidenschaft – hoffentlich. Verwundert blickte sie auf seine Hand.

Hastig zog er sie zurück. »Entschuldige. Ich wollte dich nicht belästigen.« Er bückte sich, hob ihre Tüten auf und reichte sie ihr. Auf einmal wirkte er verlegen. »Estelle … Ich, ich würde dich gern wiedersehen.«

Vielleicht war es die höfliche Verbeugung, die er damit andeutete, vielleicht der Moment, vielleicht einfach sie selbst – jedenfalls sagte Estelle: »Ich bin später im Pub verabredet. Wenn du Lust hast …« Sie nannte ihm den Namen, Uhrzeit und die Adresse und flüchtete dann rasch die Treppe hinauf.

Oben angekommen, atmete sie japsend durch, drehte den Schlüssel zweimal im Schloss und ließ sich rücklings auf ihr Bett fallen. Ich brauche eindeutig mehr Training. Mit Treppen. Und mit Männern.

Ein Blick auf die Uhr beruhigte sie. Noch genug Zeit. Eine Weile stand sie vor dem Spiegel, probierte Frisuren, Kleidung, Gesichtsausdrücke. Ihr Rock betonte die Beine, das T-Shirt zeigte gerade genug Dekolleté. Vielleicht verliebe ich mich gerade, dachte sie – und erschrak.

Sie verdrängte den Gedanken. Stattdessen streichelte sie über den weichen Stoff, über ihre Haut, die viel zu blass war. Ich will wieder leben, sagte sie sich. Nicht nur funktionieren. Nicht nur fliehen.

Dann griff sie zur Jacke und machte sich auf den Weg.

Estelle bog einmal falsch ab, stand vor einem Brunnen, lief zurück, orientierte sich an den Schildern und entdeckte schließlich das Pub. Der Lärm drang schon durch die Tür. Als sie eintrat, schlug ihr der Geruch nach Bier, Frittiertem und Menschen entgegen. Immerhin: kein Rauch. Ein fröstelnder Raucher draußen und der Jubel seiner Freunde beim Wiedereintritt verrieten ihr, dass drinnen Rauchverbot herrschte.

»Verdammt heißes Stück!«, rief jemand. Ein tätowierter Typ schob ihr einen Hocker zu.

Estelle ignorierte ihn.

Das wird anstrengend, dachte sie. Menschenmengen forderten sie immer – zu viele Gedanken, zu viele Emotionen. Sie spürte die Fantasien des Mannes, der sie eben angesprochen hatte. Nicht subtil. Und nicht freundlich.

Erleichtert entdeckte sie Manon in einer Ecke. Die winkte begeistert. »Du siehst umwerfend aus!«

Estelle wurde umarmt, vorgestellt, gelobt. Manon flüsterte: »Wenn sich das rumspricht, wird dein Friseur bald unbezahlbar!«

Während ihre Mitbewohnerin mit einem gewissen Ben zur Bar ging, ließ Estelle ihren Blick durch das Pub schweifen. Rustikale Einrichtung, ein rot karierter Teppich, dunkle Holzmöbel, verschüttetes Bier – alles wie erwartet. Einige Gäste sprachen in einem Dialekt, den sie kaum verstand. Mehrere Männer trugen Kilts, andere wirkten wie Touristen.

Dann verstummte das Gekicher eines Frauentischs. Die Tür war aufgegangen.