Whistleblower – Between Love and Truth - Kate Marchant - E-Book
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Whistleblower – Between Love and Truth E-Book

Kate Marchant

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Beschreibung

Wie viel bist du bereit aufzugeben, um das Richtige zu tun? – Die feministische Love-Story für Fans von Elle Kennedy Laurel wollte nie im Mittelpunkt stehen. Als Journalismusstudentin reicht es ihr völlig, für die Collegezeitung zu schreiben und sich auf die schönen Dinge im Leben zu konzentrieren: Freunde, Partys und Tacos. Aber als sie herausfindet, wie der beliebte Footballcoach ihrer Uni mit Frauen umgeht, weiß sie, dass sie die Wahrheit aufdecken muss. Auch wenn es bedeutet, dass sie ihren Ruf und ihre eigene Sicherheit riskiert. Und obwohl Bodie St. James, der Star-Quarterback mit einem Herzen aus Gold, sie vom Gegenteil überzeugen will. Laurel ahnt nicht, wie schwer es sein kann, sich zwischen ihren Gefühlen und dem, was richtig ist, zu entscheiden ... »Ich war echt begeistert. Ich habe auch ein paar Tränchen vergossen, was bei diesem Thema kein Wunder ist. Holt euch das Buch und urteilt selbst darüber. Ihr werdet es sicher nicht bereuen. Volle Kauf- und Leseempfehlung bekommt das Buch von mir.« – Rezensentin auf Vorablesen »Dieses Buch ist so gut, es hat Wattpad für mich verändert!« – Grace auf TikTok »Die Stärke dieses Buches liegt darin, hervorzuheben, wie wichtig es ist, für andere einzustehen, wenn wir die Möglichkeit dazu haben, denen eine Plattform zu bieten, die darum kämpfen, gehört zu werden.« – Kirkus Reviews »Marchant hat einen wunderbaren Roman geschrieben, der eine starke Heldin und Themen sozialer Gerechtigkeit zeigt. Der Humor der Geschichte unterhält, obwohl Themen wie Belästigung angesprochen werden, und sorgt für die Balance in dieser bedeutsamen Geschichte.« – Booklist »Die Charaktere mochte ich wirklich sehr, ich finde sie waren einfach alle total authentisch und nachvollziehbar. Also sie wurden einfach wirklich gut rüber gebracht, was es realistisch gemacht hat und einen mehr gefesselt hat; dadurch war ich richtig in der Story drin. Und natürlich hab ich sie auch echt lieb gewonnen, nicht nur Laurel und Bodie, sondern auch viele Nebencharaktere :) [...] Die Geschichte hat irgendwie eine unheimliche Power und die Botschaften die darin vermittelt werden sind sehr stark; es werden viele wichtige Themen behandelt, wie Gleichberechtigung, Sexismus und #MeToo, aber auch Rassismus und LGBTQ+ kommen nicht zu kurz. Es hat mich einfach richtig berührt und gepackt, ich war total in der Story drin und es gab einige Gänsehaut Momente.« ((Leserstimme auf Netgalley)) Wattpad verbindet eine Gemeinschaft von rund 90 Millionen Leser:innen und Autor:innen durch die Macht der Geschichte und ist damit weltweit die größte Social Reading-Plattform. Bei Wattpad@Piper erscheinen nun die größten Erfolge in überarbeiteter Version als Buch und als E-Book: Stoffe, die bereits hunderttausende von Leser:innen begeistert haben, durch ihren besonderen Stil beeindrucken und sich mit den Themen beschäftigen, die junge Leser:innen wirklich bewegen!

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Bei »Whistleblower – Between Love and Truth« handelt es sich um eine übersetzte Version des erstmals auf Wattpad.com von ToastedBagels unter dem Titel »Whistleblower« veröffentlichten Textes.

 

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, schreiben Sie uns unter Nennung des Titels »Whistleblower – Between Love and Truth« an [email protected], und wir empfehlen Ihnen gerne vergleichbare Bücher.

 

Deutsche Erstausgabe

© 2023 Katherine Marchant

© der deutschsprachigen Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2023

Übersetzung: Sybille Uplegger

Sprachredaktion: Michaela Retetzki

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München, nach einem Entwurf von Lesley Worrell

Covermotiv: JoyCrew/Shutterstock

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

 

 

 

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Triggerwarnung

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Danksagung

Inhaltswarnung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für meine Schwester Elizabeth.

Und für alle anderen, die am liebsten alles niederbrennen würden.

In diesem Buch sind Themen enthalten, die triggernd wirken können. Am Ende des Textes findet sich eine Aufzählung, die jedoch den Verlauf der Geschichte spoilern kann.

 

Wir wünschen ein bestmögliches Leseerlebnis.

1

Ich wünschte, ich könnte behaupten, es wäre das erste Mal gewesen, dass ich die Erledigung einer Aufgabe bis zum Tag der Abgabe aufgeschoben hatte, aber meine Eltern haben mich nicht zu einer Lügnerin erzogen. Es war die erste Semesterwoche. Hanna und ich hatten immer noch nicht die neue Wohnung eingerichtet, dafür war es mir irgendwie gelungen, bereits achtundfünfzig Dollar für Carne-asada-Tacos auszugeben und mich jeglicher akademischer Betätigung zu verweigern.

Heute Morgen war ich noch hoffnungsvoll gewesen. Ich hatte geglaubt, dass ich wieder mal mit meiner Verschleppungstaktik durchkommen und im allerletzten Moment noch siegreich die Ziellinie überqueren würde. Ich hatte den Regen nicht mit einkalkuliert.

Garland, Kalifornien (30.000 Einwohner während des Semesters, halb so viele im Sommer) lag eine Stunde östlich von Downtown Los Angeles. Wir waren an Trockenheit gewöhnt. Doch als ich endlich die Buchanan Library, die Hauptbibliothek auf dem Campus, erreichte, war ich von Kopf bis zu dem abblätternden Nagellack an meinen Zehen durchnässt. Ich trug ein leichtes Sommerkleid, in dem ich aussah wie ein Trottel. Ein sehr nasser Trottel noch dazu. Und während ich meinen USB-Stick in die Buchse eines uralten Druckers fummelte und sich unter mir auf dem Teppichboden, der die grünliche Farbe von Babykacke hatte, das Wasser in einer Pfütze sammelte, begann irgendwo in den Tiefen meines Rucksacks mein Handy zu vibrieren. Stöhnend stellte ich ihn auf dem Boden ab und begann mit der Suche. Realistisch betrachtet, konnte es nur eine von vier Personen sein: Andre Shepherd, Hanna Pham oder meine Eltern. Es war Hanna.

»Warum liegen lauter Müsliriegel auf dem Badezimmerfußboden rum?«, fragte sie anstelle einer Begrüßung.

»Tut mir leid. Mir ist die Schachtel gerissen. Ich hatte es eilig.«

»Bist du gerade in einer Vorlesung?«

»Nein, in der Bibliothek. Ich muss noch meinen Artikelvorschlag ausdrucken.«

Es war Donnerstagmorgen, und die Chefredakteurin der Unizeitung wollte bis zum Mittag eine Papierversion meines Textes im Fach auf ihrem Schreibtisch liegen haben. Wenn sie meint, dachte ich. Es war ein grauenhaftes Machwerk, ganz egal, in welchem Format ich es abgab.

Nun kam besagtes Machwerk mit einer ungefähren Geschwindigkeit von zwei Zeilen pro Stunde aus dem Drucker gekrochen.

»Obwohl – nein. Ich glaube, ich bin in der Hölle.«

»Aber wenigstens bist du fertig geworden«, meinte Hanna. »Das muss Ellison doch würdigen. Und du hast dein Bestes gegeben! Das ist alles, was zählt.«

Ich lachte bitter. »Als mein ›Bestes‹ würde ich diesen Wortsalat wirklich nicht bezeichnen.«

»Sei nicht so bescheiden, das ist ja ekelhaft.«

»Ich bin nicht bescheiden, Han. Das hier ist vielleicht das Schlechteste, was ich je geschrieben habe.« Und ich hatte auf der Mittelschule One-Direction-Fan-Fiction verfasst, die Latte lag also nicht besonders hoch. »Und weißt du, was? Ich ärgere mich über mich selbst. Die Story hatte so viel Potenzial. Ich hätte schon letzte Woche damit anfangen sollen …«

»Ja, aber du warst den halben Sommer in Mexico City. Ich finde, du hast dir nichts vorzuwerfen. Besuch bei der Familie ist wichtiger als irgendein oberflächlicher Artikel über das Footballteam.«

Nur dass bei mir am Ende eher eine Klatschkolumne herausgekommen war als ein Artikel. Ich hatte erst am Wochenende mit dem Brainstorming begonnen, nachdem Hanna und ich in unsere neue Wohnung umgezogen waren und ich schweren Herzens eingesehen hatte, dass die Uni ein unausweichliches Übel war, das mich noch zwei Jahre lang begleiten würde. Apropos: In viereinhalb Minuten fing meine Vorlesung an. Mein Text und ich würden zu spät kommen.

»Schieb die Müsliriegel einfach gegen die Badewanne, ich räume sie auf, wenn ich aus ›Einführung in die Welt der Peniswitze‹ zurück bin«, sagte ich zu Hanna.

So hatte Andre die Lehrveranstaltung getauft, die wir zusammen belegten. Sexualität des Menschen – von Studenten, die ihren Eltern den aktuellen Stundenplan durchgaben, auch gern mit dem Kürzel BIO 108 bezeichnet – genügte den Anforderungen für einen Schein in Naturwissenschaften, auch wenn der Anteil wissenschaftlicher Inhalte, abgesehen von der Anatomie der Sexualorgane, eher gering war. In der Vorlesung saßen hauptsächlich Studenten kurz vor dem Abschluss und Sportler, die sich ihre Lehrveranstaltungen vor allen anderen aussuchen durften. Aber ich hatte Glück gehabt (oder vielmehr: besonders gut aufgepasst) und noch einen Platz ergattert, als jemand weniger als vierundzwanzig Stunden vor dem ersten Vorlesungstag abgesprungen war.

»Keine Hektik«, sagte Hanna. »Ich sitze sowieso bis um drei in Figürlichem Zeichnen.«

»Viel Spaß mit den Penissen.«

»Dir auch.«

Ich steckte das Handy in die Tasche meines Kleids – der einzige Pluspunkt des ansonsten völlig nutzlosen Kleidungsstücks –, als plötzlich laute Schritte auf der Treppe zu hören waren.

Ein Mädchen mit Kopfhörern und einer dichten Mähne dunkler Locken kam um die Ecke gebogen. Ich kannte sie. Mehri Rajavi arbeitete auch beim Daily und war wie ich im fünften Semester. Ihren halblaut gemurmelten Flüchen nach zu urteilen, lief ihr Morgen ähnlich gut wie meiner.

»Hi, Mehri«, grüßte ich sie, als sie mit dem Finger auf eine der Tasten am benachbarten Kopierer einstach.

Sie sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Hey, Mädel«, erwiderte sie.

Sie erkannte mich nicht wieder. Halb so schlimm. Wir hatten ja nur diese eine Vorlesung über internationale Beziehungen zusammen gehabt. Und Einführung in die Sachliteratur. Und im ersten Jahr ein Seminar über Journalismus im Nahen Osten. Und dann war sie natürlich auch noch mit Hanna befreundet, weshalb ich sogar einmal zu ihrer Kunstausstellung mitgekommen war und eine geschlagene Stunde damit verbracht hatte, eine Ansammlung riesiger Blumenaquarelle zu betrachten, die wie weibliche Genitalien aussahen.

»Das hat man wohl davon, wenn man bis zur letzten Sekunde mit dem Ausdrucken wartet«, witzelte ich und versuchte das unangenehme Gefühl zu ignorieren, das sich einstellte, wenn jemand, dem man schon mehrmals begegnet war, nicht den Schimmer einer Ahnung hatte, wie man hieß.

»Ellison wird mir so was von die Hölle heiß machen.«

Mehri lächelte verkrampft. Es war ein Lächeln, das man einem Verwandten schenkt, wenn der gerade bei Tisch einen geschmacklosen politischen Witz gerissen hat und man nicht den Dritten Weltkrieg auslösen will. Ich tätschelte die Seite meines Druckers und flehte ihn im Stillen an, Gnade mit mir zu haben. Das dritte Blatt meines insgesamt vierseitigen Artikelvorschlags glitt ins Ausgabefach. Im selben Moment ging auf meinem Handy eine Textnachricht ein.

Sie war von Andre: Bist du unterwegs gestorben?

Schön wär’s!!!, antwortete ich.

Der Drucker hatte ein Einsehen mit mir und spuckte endlich die letzte Seite aus. Ich riss sie an mich, wobei ich aus Versehen eine Ecke umknickte. Normalerweise hätte ich mir die Zeit genommen, sie neu auszudrucken, aber da es sich bei dem Text in meinen Händen weiß Gott nicht um eine bahnbrechende journalistische Arbeit handelte, sparte ich mir die Mühe und lief stattdessen in meinen quietschenden Sandalen unbeholfen in Richtung Treppe.

»Viel Glück, Mehri!«, warf ich über die Schulter zurück. Ich wusste bereits, dass mich unsere Begegnung immer noch beschäftigen würde, wenn ich am Abend im Bett lag.

»Oh. Danke«, gab sie ein wenig verwundert zurück. »Hey, warte mal, hast du …«

Aber ich war bereits zu weit weg, um noch einmal umzukehren. Ich eilte die Treppe hinunter – wobei ich jederzeit damit rechnete, auszurutschen und der Länge nach hinzufliegen, was thematisch gut zu meinem Morgen gepasst hätte – und tröstete mich mit dem Wissen, dass Mehri unser kurzes Gespräch morgen früh höchstwahrscheinlich wieder vergessen hätte.

Ich war nun mal jemand, den man leicht vergaß. Ich versuchte diese Eigenschaft eher als nützlichen Partytrick statt als Charakterfehler zu betrachten.

Draußen vor der Bibliothek presste ich die Seiten meines Artikelvorschlags schützend an die Brust und rannte durch den Regen. Der von Bäumen gesäumte Fußweg, der einmal quer über den Campus führte, war übersät mit Pfützen und grün-weißem Konfetti von der Orientierungswoche der Erstsemester. Ein Großteil des Campus der Garland University bestand aus alten Backsteingebäuden, gepflasterten Wegen und gestutzten Rosensträuchern, aber ganz hinten am äußersten Rand gab es ein Trio moderner Ungetüme aus Stahl und Beton.

Das erste davon war die Bio-Fakultät. Ich stolperte in die Eingangshalle. Das Treppenhaus war abgesperrt und roch nach frischer Farbe, also nahm ich Kurs auf die Fahrstühle. Ich rutschte und schlitterte in meinen Sandalen und war atemloser, als nach der mäßigen körperlichen Anstrengung gerechtfertigt gewesen wäre.

Ich schlug mit der flachen Hand auf den Rufknopf, ehe ich abermals einen Blick auf mein Handy warf.

Prof ist schon da, hatte Andre vor zwei Minuten geschrieben. Und eine Minute später: Er geht die Anwesenheitsliste durch, beweg deinen Arsch.

Ich hinterließ eine Spur nasser Fußabdrücke, während ich ungeduldig auf und ab ging und meinen Nachnamen verfluchte, weil der Cates lautete und mit dem dritten Buchstaben des Alphabets begann.

Der Fahrstuhl lag etwas versteckt in einer kleinen dunklen Nische, in der jemand eine Kübelpflanze aufgestellt und eine Korkpinnwand an die Wand gehängt hatte, um nicht den Eindruck entstehen zu lassen, es handle sich um die Kulisse eines Horrorfilms. An der Pinnwand hingen lediglich zwei Anschläge: ein zerrissener Zettel, auf dem ein gebrauchter Futon zum Kauf angeboten wurde, und ein grünes Hochglanzplakat, das die Termine für die Heimspiele unserer Footballmannschaft bekanntgab. Auf dem Plakat waren drei Gesichter abgebildet. Rechts grinste Kyle Fogarty, unser Tight End mit dem blonden Undercut, lässig und voller Selbstbewusstsein in die Kamera. Auf der linken Seite sah man unseren Quarterback Bodie St. James, der mit erstaunlicher Präzision einen Football fünfzig Yards weit werfen und Gegner abschütteln konnte, die wie Kleiderschränke gebaut waren. Es war ein großartiges Foto von ihm. Er sah grimmig und Furcht einflößend aus wie ein Gladiator – obwohl seine Freunde ihn eher als süßen, harmlosen Hundewelpen beschrieben.

Bodie und ich hatten noch nie ein Wort miteinander gewechselt, aber er schien ein netter Kerl zu sein: stets höflich, respektvoll älteren Mitmenschen gegenüber, und er recycelte brav seine PET-Flaschen. Jemand, der nicht viel Aufheben von sich machte.

Zwischen Fogarty und St. James prangte das Porträt von Chefcoach Truman Vaughn, dem Vater von Garlands mehrere Millionen Dollar schwerem Football-Programm. Ich streckte ihm die Zunge heraus. Es war kein Geheimnis, dass Vaughn in den Neunzigerjahren wegen schwerer Alkoholprobleme in einer Entzugsklinik gewesen war. Sein Comeback hatte für eine Menge Aufsehen gesorgt. Er hatte den Präsidenten der Uni und den Hochschulrat erfolgreich davon überzeugt, dass er seine Sucht besiegt hatte und bereit war, sich fortan mit ganzer Energie dem Football zu widmen. Das war, wie sich herausgestellt hatte, ein großer Haufen Bullshit.

Der Artikelentwurf in meinen Händen enthielt mehrere Zeugenaussagen einer wilden Partynacht, auf der Vaughn während der Sommerferien gesichtet worden war. Es war die brisanteste Story, die ich je für den Daily vorgeschlagen hatte.

Anfangs hatte ich noch die Hoffnung gehegt, Ellison würde erkennen, wie sehr ich mich weiterentwickelt hatte, und mich für meine Risikobereitschaft belohnen. Doch mittlerweile machte ich mir keine Illusionen mehr. Der Artikel war ganz einfach schlecht, und ich setzte darauf, dass meine Chefredakteurin so viel damit zu tun haben würde, die wöchentlichen Einreichungen durchzugehen, dass sie bei meinem Text nicht einmal den Namen der Verfasserin registrieren, sondern ihn gleich in den Papierkorb werfen würde. Dann wird niemand je erfahren, dachte ich voller Bedauern, dass Vaughn in Bezug auf seine angeblich überwundene Alkoholkrankheit alle anlügt.

Der Fahrstuhl kündigte sein Kommen mit einem Ding! an, das in seiner Munterkeit beinahe schon etwas Schadenfrohes hatte. Ich sprang in die Kabine und seufzte vor Erleichterung, weil ich, wie Andre es so eloquent formuliert hatte, endlich meinen Arsch bewegte.

»Warte!«, rief jemand.

An jedem anderen Vormittag hätte ich es getan.

»Sorry, Kumpel«, murmelte ich halblaut.

Ich stand in der Ecke der Fahrstuhlkabine; wer auch immer da den Gang entlangkam, konnte also weder mich noch meine schuldbewusste Miene sehen, als ich die Taste zum Schließen der Türen betätigte. Doch noch ehe sie vollständig zugeglitten waren, tauchte ein Hand im Spalt auf. Eine sehr große Hand. Ich hatte gerade noch Zeit, die Finger vom Bedienfeld wegzuziehen, ehe sich die Türen wieder öffneten und ein Gesicht erschien, das ich keine zehn Sekunden zuvor schon einmal gesehen hatte.

Nasse Haare. Gerötete Wangen. Augen so dunkel wie Gewitterwolken.

Puta madre, dachte ich.

»Nach unten?«, fragte Bodie St. James.

Er sah kein bisschen so aus wie der Golden Retriever, als den seine Freunde ihn beschrieben. Er sah aus wie ein archaischer Krieger, der in der Lage wäre, mit bloßen Händen meinen Arm entzweizubrechen. Wobei: Ich hatte gerade versucht, ihm im Fahrstuhl vor der Nase wegzufahren, vielleicht war das also eher eine Projektion meinerseits.

»Willst du nach unten?«, wiederholte Bodie, als ich ihn nur verständnislos anglotzte.

Aus seinen kurzen braunen Haaren tropfte Regenwasser auf die breite Schulterpartie seiner mattschwarzen Nike-Jacke mit dem metallisch schimmernden Garland-Lions-Logo auf der rechten Brust. Die Uni spendierte dem Footballteam jede Saison neue Jacken. Das diesjährige Modell schien wasserdicht zu sein.

Ich nickte. »Untergeschoss.«

Aus der Nähe sieht er so groß aus, war der einzige Gedanke, den mein Gehirn zustande brachte, als er die Kabine betrat. Dann glitten die Türen zu, und wir waren von der Außenwelt abgeschnitten. Ich verspürte den Impuls, mich bei ihm zu entschuldigen – ihm zu erklären, weshalb ich so in Eile war. Aber die Lippen zusammenzupressen und mit gerunzelter Stirn auf mein Handy zu starren schien mir die angenehmere Alternative zu sein.

Der Aufzug begann seine Fahrt ins Untergeschoss. Das quälende Schweigen zwischen uns dauerte eine kleine Ewigkeit.

Dann ergriff Bodie unvermittelt das Wort. »Schönes Wetter heute, was?«

Es dauerte einen Moment, ehe mir klar wurde, dass er niemand anderen als mich gemeint haben konnte, und es daher angebracht wäre, den Kopf zu heben und in irgendeiner Weise auf seine Bemerkung zu reagieren. Ich fühlte mich nie so wirklich wohl, wenn mir jemand seine ungeteilte Aufmerksamkeit widmete, aber als ich nun Blickkontakt zu Bodie aufnahm, krampfte sich mein Magen so heftig zusammen, wie er es nicht mehr getan hatte, seit ich in der dritten Klasse gezwungen worden war, bei einer Talentshow aufzutreten.

O mein Gott, dachte ich. Er will Small Talk machen.

»Ja, traumhaft«, sagte ich, als wäre ich nicht klatschnass und viel zu dünn angezogen.

Einer von Bodies Mundwinkel zuckte. »Musst du jetzt schon eine Hausarbeit abgeben?«

»Das ist für die Unizeitung.«

»Du schreibst?«

»Nur wenn die Zeit drängt«, gab ich zurück.

Vielleicht wollte er bloß höflich sein, aber Bodie schmunzelte. Er hatte ein scharfkantiges, leicht mürrisch wirkendes Gesicht mit hohen Wangenknochen und einer spitzen Nase, aber ein offenes Lächeln. Er schien noch mehr sagen zu wollen, aber in dem Moment kam der Fahrstuhl mit einem Ruck zum Stehen. Das elektronische Display über der Tür zeigte ein B für Basement an.

Das Öffnen der Türen katapultierte mich zurück in die Realität.

»Sieh bloß zu, dass du trocken bleibst da draußen«, sagte ich und hörte mich erschreckenderweise fast so an wie meine Großmutter. Dann beeilte ich mich, den Schauplatz meiner zweiten missglückten sozialen Interaktion an diesem Vormittag hinter mir zu lassen. Doch es wurde nur noch schlimmer – viel schlimmer, denn neben dem nassen Quietschen meiner Sandalen hörte ich das Geräusch deutlich größerer Schritte hinter mir.

Bodie St. James und ich mussten in dieselbe Richtung.

Auf einmal merkte ich, wie sehr mir das Kleid an den Beinen klebte. Ich steuerte auf eine der zwei Doppeltüren zu, die zu meinem Hörsaal führten, und schlagartig wurde mir bewusst, dass ich sowohl zu spät als auch pitschnass einen Raum voller Menschen betreten musste. Alle würden mich anstarren. Ich blieb kurz stehen, um mir die feuchten Haare nach hinten zu streichen, und nestelte am Riemen meines Rucksacks herum. Und weil der Morgen doch noch grauenhafter werden konnte, als er schon war, hielt Bodie direkt neben mir an.

»Bist du auch in dieser Vorlesung?«

Ich nickte schicksalsergeben.

Bodie schmunzelte wie über einen Insiderwitz. »Na, dann komm«, sagte er verschwörerisch. »Wir gehen zusammen rein.«

Ehe ich etwas erwidern konnte, hatte er die Tür mit der Schulter aufgeschoben und marschierte mit dem Selbstbewusstsein eines Menschen, der entweder sehr dumm ist oder für sein Leben gern im Mittelpunkt steht, in den Saal. Ich zögerte einen Augenblick, ehe ich ihm mit eingezogenem Kopf und klopfendem Herzen folgte. Doch niemand schenkte mir Beachtung. Alle Augen ruhten auf Bodie.

Hinter dem Pult unten auf dem Podium stand unser Dozent vor zwei großen Bildschirmen und blickte von einem Stapel Unterlagen auf, in dem er geblättert hatte. Nick, der während der Einführungsveranstaltung am Dienstag darauf bestanden hatte, dass wir ihn ausschließlich mit seinem Vornamen ansprachen, war ein Mann, der großen Wert darauf legte, cool zu sein: Mitte dreißig, trug Sakkos über bedruckten T-Shirts und las Klassiker, aus denen er, damit man dies auch wusste, gern und oft zitierte. Auf der Spitze seiner Hakennase saß eine trendige Opabrille, und seine Haare waren gerade lang genug, um in einen stummeligen Pferdeschwanz zu passen.

Als er unseren Star-Quarterback erkannte, wurde seine strenge Miene ein wenig sanfter.

»Es tut mir total leid, Nick«, sagte Bodie zerknirscht. »Ich schwöre, ich bin den ganzen Weg hierher gerannt. Sind Sie schon die Anwesenheitsliste durchgegangen?«

Nick sortierte seine Unterlagen neu. »Machen Sie sich deswegen mal keinen Kopf, Bodie«, meinte er lächelnd, während er ein Häkchen hinter St. James’ Namen setzte. »Ich bin noch dabei, PowerPoint einzurichten. Streng genommen haben Sie nichts verpasst, deshalb trage ich Sie mal als anwesend ein. Schön, Sie in meiner Vorlesung zu haben – ich freue mich, dass es mit Ihrem Stundenplan noch geklappt hat.«

Es war, als würde man einem Magier dabei zusehen, wie er eine Taube aus dem Hut zauberte. Bodie musste nur sein bescheidenes, leicht selbstironisches Lächeln aufsetzen, und die Leute rissen sich praktisch darum, ihm einen Gefallen tun zu dürfen.

»Vielen Dank, Nick«, sagte er strahlend. »Und ich freue mich auch, hier zu sein.«

Noch immer mit dem Blick zum Podium, streckte Bodie die Hand nach hinten aus und wackelte mit den Fingern.

Erst nach einer Sekunde begriff ich, dass er mich zu sich winkte. Ich stand noch oben bei den Türen, und aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, wie sich mehrere Studenten nach mir umdrehten, als ich zu ihm nach unten eilte. Als Nick mich sah, machte er ein missbilligendes Gesicht, und mir wurde klar, was Bodie bezweckt hatte. Nick konnte ihn nicht offen bevorzugen. Nicht vor einem voll besetzten Hörsaal. Er hatte Bodie als anwesend vermerkt, und dasselbe würde er nun wohl oder übel auch bei mir tun müssen.

»Hallo«, sagte er mit einem verkniffenen Lächeln. »Name?«

»Laurel Cates«, antwortete ich mit hoher Stimme. So klang ich immer, wenn ich versuchte, besonders höflich zu sein.

Nick blätterte in seiner Liste und setzte ein weiteres Häkchen.

»Diesmal lasse ich es Ihnen noch durchgehen.«

»Danke«, sagte ich überschwänglich.

Mit einem Nicken wandte sich Nick wieder seinem Laptop zu.

Ich drehte mich um und zuckte unwillkürlich zusammen, als ich die vollen Sitzreihen sah. So viele Menschen. Zugegeben, die meisten waren mit ihren Handys beschäftigt oder kritzelten auf ihren Schreibblöcken herum – aber trotzdem. Ich wandte mich an Bodie. Ich wollte mich bei ihm bedanken, auch wenn ich ein bisschen Angst hatte, dass mir aus Versehen eine Beleidigung oder etwas allzu Vertrauliches herausrutschen könnte. Doch ehe ich auch nur Gelegenheit hatte, den Mund aufzumachen, hakte er den Daumen unter den Schulterriemen seines Rucksacks und grinste mich wissend an.

»Na, bist du jetzt nicht froh, dass du mit dem Fahrstuhl gewartet hast?«, fragte er. Und dann zwinkerte er mir zu.

Die Geste war so charmant und liebenswert – ohne jede Bitterkeit oder unterschwellige Aggression –, dass ich fast den Triumph übersehen hätte, der in seinen Augen aufblitzte, ehe er kehrtmachte und die Stufen wieder hinaufging, um sich einen Platz zu suchen.

2

Es dauerte einen Moment, bis mir aufging, dass ich mit völlig verdatterter Miene vor annähernd hundert Studenten auf dem Podium stand.

Ich machte meinen Mund zu und ließ auf der Suche nach Andre den Blick durch den Saal schweifen. Er saß in der dritten Reihe von hinten, zwei Plätze vom Mittelgang entfernt, und hatte mir mit seinem Rucksack einen Platz frei gehalten. An seinen Haaren war er leicht zu erkennen – oben hoch mit einem Fade Cut an den Seiten und zwei rasierten Rennstreifen über den Ohren. Natürlich war es auch von Vorteil, dass er knapp eins fünfundneunzig groß war und die gleiche schwarze Nike-Jacke trug wie alle Footballspieler.

Er sah mich mit hochgezogener Augenbraue an, als ich die Stufen hinaufeilte und mit einem abgrundtiefen Seufzer neben ihn auf den Sitz schlüpfte. »Was hast du gemacht?«, zischte er mir zu. »Bist du hierher geschwommen?«

»Sehr witzig«, knurrte ich und zitterte ein wenig, als ich meinen Rucksack abnahm. Andre musste gemerkt haben, wie durcheinander ich war, denn er hielt den Mund und ließ mich in Ruhe auspacken. Ich knallte die losen Seiten meines Artikelvorschlags auf das winzige und völlig nutzlose Klapppult an meinem Stuhl, ehe ich mich gegen die Rückenlehne sinken ließ.

»Ist das dein Artikel?«, fragte Andre. »Ich dachte, den musstest du heute Morgen abgeben.«

»Ich gehe gleich nachher zur Studentenvereinigung. Das Ding in der Bibliothek auszudrucken war ein absoluter Albtraum.«

»Du solltest es mal in der Architektur-Bibliothek versuchen, da haben sie diesen Sommer neue Drucker bekommen. Richtig gute. Ich kann dich mit meiner Karte reinlassen.«

Stöhnend rieb ich mir über das Gesicht. Warum passierte mir das immer wieder? Wieso war ich nicht in der Lage, mit Aufgaben, die mir wichtig waren, rechtzeitig anzufangen – vorzugsweise vor dem Tag, an dem ich sie abgeben musste?

Unten auf dem Podium verband Nick seinen Laptop mit dem Beamer. Drei Reihen unter mir drängelte sich Bodie an den Beinen der Sitzenden vorbei, um zu seinen Mannschaftskameraden zu gelangen, die in einer Gruppe zusammensaßen.

»Heilige Scheiße«, sagte Kyle Fogarty. »Der Coach macht extra Druck auf den Prof, um dich in der Vorlesung unterzubringen, und du kommst zu spät? Starker Move.«

Bodie verzog das Gesicht, allerdings nur ganz kurz, sodass ich es fast nicht bemerkt hätte. »Das war keine Absicht«, erwiderte er. »Der Coach wollte mit mir frühstücken. Wir mussten die Strategie fürs nächste Wochenende besprechen.«

Ich war mir nicht sicher, weshalb es mich so überraschte, dass Vaughn Bodie einen Platz in einer bereits vollen Lehrveranstaltung besorgt hatte. Dass ein Footballspieler an der Garland University eine Vorzugsbehandlung genoss, war weiß Gott nichts Neues. Während der Daily nur schwarz-weiß erscheinen konnte, weil der Uni das Budget für einen Farbdruck fehlte, bekam das Footballteam in seinem nagelneuen Trainingszentrum Softeis und Massagen gratis. Jeden Herbst aufs Neue berauschte sich die Stadt Garland am Ruhm ihres Collegeteams und küsste der Mannschaft den kollektiven Arsch.

Die anderen Spieler begrüßten Bodie mit komplizierten Handschlag-Ritualen und Schulterklopfen. Ich beobachtete sie mit einer gewissen Faszination und zuckte zusammen, als Scott Quinton – ein Offensive Tackle, dessen Nacken so breit war wie der eines Seelöwen – Bodie dermaßen heftig auf den Rücken schlug, dass ich in meinem eigenen Arm einen Phantomschmerz spürte.

»Jungs sind so peinlich«, murmelte ich. »Tut das nicht weh?«

Andre blickte von seinem Laptop auf und bedachte mich mit einem vernichtenden Blick. »Du und Hanna zupft euch gegenseitig die Augenbrauen.«

»Stimmt«, räumte ich ein. »Solltest du nicht auch da unten sein? Beim Team?«

»Nee, deine Gesellschaft ist mir viel lieber«, sagte er, obwohl ich ahnte, dass es eher damit zu tun hatte, dass er nur in der B-Auswahl war und die Mannschaftskollegen weiter vorn zur Startaufstellung gehörten. »Außerdem brauche ich deinen Rat. Welcher Font sieht besser aus?«

Er richtete den Monitor seines Laptops so aus, dass ich seinen jüngsten Entwurf sehen konnte. Er war bunt, geometrisch und wunderschön wie alles, was Andre machte. Obendrüber standen die Worte Garland Black Student Union.

»Der zweite«, sagte ich, nachdem er sich durch mehrere Optionen geklickt hatte.

»Futura.« Andre gab ein nachdenkliches Brummen von sich. »Du magst es klassisch. Gefällt mir.«

»Nerd.«

Ich wusste nicht, wie Andre überhaupt Zeit zum Schlafen fand. Er war permanent auf Achse – im Studio, beim Footballtraining, auf Treffen der Black Student Union – und tauchte zu den seltsamsten Zeiten bei uns in der Wohnung auf, um die Küche zu durchstöbern und Frühstücksflocken oder Pistazien direkt aus der Packung zu essen, bis Hannas schwesterliche Instinkte zu stark wurden und sie ihm eine anständige Mahlzeit kochte. Man hätte ihn als Schnorrer bezeichnen können, aber das wäre nicht fair gewesen. Er verbrannte an einem Tag einfach nur mehr Kalorien als ich in einer ganzen Woche (noch ein Grund, weshalb ich wirklich aufhören musste, bei Pepito’s mit ihm Tacos um die Wette zu essen).

Abermals richtete ich meine Aufmerksamkeit auf die Footballspieler drei Reihen weiter unten, die immer noch ihre Kameradschaft zelebrierten. Fogarty mit seinem Undercut, der aussah wie ein verkappter Irokese – und den er nächstes Wochenende vermutlich wieder grün färben würde, so wie vor jedem Eröffnungsspiel –, war unfassbar laut, und die anderen ließen sich von seiner Energie anstecken. Sie lachten und riefen durcheinander, um sich Gehör zu verschaffen, bis irgendwann die Hälfte des Hörsaals über ihre Witze und Bemerkungen kicherte.

Dann allerdings tippte Bodie seinem Sitznachbarn auf die Schulter und legte einen Finger an die Lippen. Sein Lächeln war freundlich und kein bisschen autoritär, dennoch wurde die ganze Gruppe augenblicklich still.

»Und? Wie sieht St. James aus?«, raunte Andre mir zu.

»Ich bin nicht …«, begann ich, ehe ich schnaubte. »Ich habe bloß nachgedacht.«

Es war keinesfalls so, dass ich Bodie auf einmal toll fand. Ganz bestimmt nicht. Nur weil ein attraktiver weißer Junge mit einem charmanten Lächeln und dem Körper eines Olympioniken nett zu mir gewesen war, hieß das nicht, dass ich mich spontan in ihn verknallt hatte. Und wenn Fogartys Behauptung stimmte – wenn Coach Vaughn sich tatsächlich an Nick gewandt hatte, um Bodie einen Platz in einer der begehrtesten Vorlesungen der gesamten Uni zu verschaffen –, war das ein eklatantes Fehlverhalten, über das ich nicht einfach hinwegsehen konnte. Das Sahnehäubchen auf einer ganzen Torte von Privilegien. Insofern: nein. Ich war nicht in Bodie St. James verknallt. Es machte mir lediglich Freude, ihn anzusehen.

»Glaubst du, er weiß Bescheid?«, fragte ich Andre.

»Worüber?«

Ich tippte mit einem Finger auf die vier Seiten auf meinem Pult. Andre war der Erste, dem ich von meiner Idee für eine Story erzählt hatte. Jeder in Garland kannte die Geschichten über Vaughns Kampf gegen den Alkohol, deshalb war er nicht überrascht, sondern lediglich enttäuscht gewesen. Das hatte weniger damit zu tun, dass er Vaughn mochte (dieser war, um es mit Andres eigenen Worten zu sagen, »im Grunde ein ziemlich blöder Sack«), sondern weil die laufende Saison für Garland die beste des Jahrzehnts zu werden versprach.

»Darüber, dass der Coach wieder trinkt?«, fragte er. »Wahrscheinlich, aber ich werde bestimmt nicht derjenige sein, der ihn darauf anspricht. So eng bin ich nicht mit ihm.«

»Ich dachte, ihr redet miteinander.«

»Klar, manchmal. Er hat auch schon mit mir zusammen trainiert und mich einmal zum Mittagessen eingeladen. Aber er ist zu allen in der Mannschaft nett.«

»Verstehe«, murmelte ich.

Ich war in Betrachtungen von Bodies Kieferkontur versunken und überlegte gerade, dass er sich am Morgen frisch rasiert haben musste, weil seine Haut dort so sauber und glatt war, als plötzlich die Worte Kapitel 1: Evolution und sexuelle Anatomie in aufdringlichem Rot auf den beiden Bildschirmen erschienen. Prompt fingen alle an zu kichern. Dem guten Nick war offenbar nicht bewusst gewesen, dass er lauter Sportler in seiner Veranstaltung sitzen hatte, die mehr daran interessiert waren, Sexfilme zu sehen, als etwas über die Soziologie des Fetischs oder romantische Anziehung zu lernen. Seelenruhig begann er mit seinem Vortrag.

Ich seufzte und versuchte nicht mehr an den feuchten, zerknitterten Artikel auf meinem Klapppult zu denken.

 

Die Flut von Genitalien-Schaubildern wollte und wollte kein Ende nehmen. Als Nick endlich den Beamer ausschaltete, das Licht anmachte und uns ein schönes Wochenende wünschte – wenngleich kein zu schönes, da wir bis Dienstag eine Lektüreaufgabe bekommen hatten –, war ich die Erste, die von ihrem Platz aufsprang. Ich drückte mir meinen Collegeblock an die Brust, zwischen dessen Seiten ich die losen Blätter meines Artikelvorschlags gesteckt hatte, und trat rückwärts in den Mittelgang.

»Hast du Lust auf Mittagessen, nachdem ich das hier abgegeben habe?«, fragte ich Andre über den Lärm der Gespräche und Reißverschlüsse hinweg, während alle ihre Sachen zusammenpackten.

»Was ist denn das für eine Frage? Natürlich habe ich Lust auf Mittagessen. Ich wollte mich mit Hanna am Art House treffen. Du kannst uns da abholen, wenn du fertig bist.«

»Bitte, sag jetzt nicht, dass ihr so früh mit dem Thirsty Thursday anfangt«, flehte ich.

»Blackout Thursday«, verbesserte Andre mich. »Und zum Vorglühen ist es nie zu früh. Sieh mich nicht so an! Wir spielen bloß eine Runde Beerpong. Entspann dich. Den Fireball-Whisky sparen wir uns für heute Abend auf.«

Ich rümpfte die Nase und schüttelte mich vor Ekel. »Kennt euer Selbsthass denn keine Grenzen?«

»Geh endlich und gib deinen verdammten Artikel ab!« Andre scheuchte mich mit einer Handbewegung davon.

Bevor ich ging, gestattete ich mir noch einen letzten Blick auf Bodie St. James. Er verschränkte beim Aufstehen die Finger hinter dem Kopf, spreizte die Ellbogen ab und drückte den Rücken durch. Dann sagte er etwas zu Kyle Fogarty, das diesen zum Lachen brachte, ehe er sich seinen Rucksack über die Schulter schwang und auf den Gang hinaustrat. Er sah nicht in meine Richtung. Meine Enttäuschung darüber war vollkommen ungerechtfertigt. Ich hatte gewusst, dass er es nicht tun würde.

Draußen hatten sich die Regenwolken inzwischen so weit verzogen, dass einzelne Streifen goldenen Sonnenlichts durchschimmerten. Das sah zwar sehr malerisch aus, bedeutete aber, dass die Luft feucht und schwül geworden war. Meine dichten Haare hatten Feuchtigkeit noch nie gemocht. Sie knisterten förmlich, als ich mich auf den Weg über den Campus machte.

Die Studentenvereinigung war in einem riesigen hufeisenförmigen Gebäude am Ende eines quadratischen Hofs untergebracht. In der Mitte dieses Hofs stand ein gigantischer ovaler Springbrunnen, in dem die Mutigsten des Abschlussjahrgangs in ihrer letzten Woche nackt badeten. Auf diesem Teil des Campus herrschte immer viel Betrieb, selbst wenn das Gras nass und der Himmel grau war wie heute. Studenten saßen auf Badelaken auf dem Rasen und lernten, und zwei Jungs in Muscle-Shirts und Boardshorts warfen sich einen Football zu. Im Medienzentrum in der obersten Etage ging es zu wie in einem Bienenstock. Es roch nach abgestandenem Kaffee und warmer Druckertinte. Die Redaktion des Daily war in den letzten fünf Jahren nicht mehr modernisiert worden. Bestimmt waren die grellgelben Wände und allgegenwärtigen Sitzsäcke (aus denen permanent die Füllung herausrieselte) irgendwann mal das Neueste an Innendesign gewesen, aber inzwischen wirkten die Räumlichkeiten wie aus der Zeit gefallen. Wobei das offene Bürokonzept wirklich nicht schlecht war.

Zu jedem beliebigen Zeitpunkt hielten sich mindestens dreißig Personen im Medienzentrum auf, verteilt auf verschiedene Sitzecken und die Computertische. Einige von ihnen arbeiteten in Gruppen, andere starrten gedankenverloren auf die sonnenblumengelben Wände, während sie die Schaumstoffkügelchen der Beanbags zwischen den Fingern kneteten.

Ich entdeckte unsere Chefredakteurin sofort. Sie war schwer zu übersehen.

Ellison Michaels war über eins achtzig groß und bewegte sich mit der Autorität einer Dampfwalze. Sie hatte einen Thermobecher in der einen und einen Stapel Blätter in der anderen Hand. In ihrem Kielwasser folgte ein Student mit weit aufgerissenen Augen, AirPods in den Ohren und halbmondförmigen Schweißflecken unter den Achseln seines Garland-grünen Poloshirts.

AirPod-Boy redete sehr schnell. Ellison lauschte aufmerksam und nickte alle paar Sekunden, ohne ihn anzusehen. Wo immer sie hinging, drehte sich alles um sie. Sie war gleichzeitig wie ein schwarzes Loch – unbeweglich und beängstigend – und eine Supernova – gleißend hell und zu Explosionen gigantischen Ausmaßes fähig, die alles in der näheren Umgebung pulverisierten. Und ihre Frisur saß immer perfekt.

Die Leute erzählten jede Menge Mist über Ellison, weil sie so herrisch war, aber ich mochte sie. Zu Beginn meines Studiums, als ich meinen ersten Artikel für den Daily verfasst hatte, war sie mir als betreuende Redakteurin an die Seite gestellt worden. Ihre Rotstiftkorrekturen waren so vernichtend gewesen, dass ich an einem Tisch in der Studentenvereinigung in Tränen ausgebrochen war. An jenem Abend hatte ich meinen Laptop aufgeklappt, um das Hauptfach zu wechseln, dann jedoch innegehalten, als ich eine Mail vom damaligen Chefredakteur (ein Student kurz vor dem Abschluss, der danach zur Washington Post gegangen war) in meinem Postfach entdeckte. Er schrieb, Ellison habe ihm gesagt, dass ich enormes Potenzial besitze, und lud mich zu einer der internen Redaktionssitzungen der älteren Redakteure ein. Mit weit aufgerissenen Augen und Dauergrinsen im Gesicht hatte ich dagesessen. Außer mir waren keine Erstsemester dort gewesen.

Vielleicht war ich voreingenommen, aber ich fand Ellison Michaels ziemlich cool. Wenngleich sie durchaus etwas Bedrohliches hatte. Da war es kein tröstlicher Gedanke, dass ich einen mehr als dürftigen Artikelvorschlag in der Hand hielt, von dem ich genau wusste, dass sie ihn lesen würde.

Bring es einfach hinter dich. Im Slalom manövrierte ich zwischen den Sitzsäcken hindurch, um sie abzufangen. »Ellison?«

»Du bist spät dran«, sagte sie, ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten. Wie immer kam sie direkt zum Punkt. Weil sie nicht stehen blieb, hatte ich keine andere Wahl, als hinter ihr herzulaufen wie AirPod-Boy, dessen verkniffenes Gesicht mir verriet, dass ich ihn mitten im Satz unterbrochen hatte. Mein Griff um meinen Collegeblock wurde fester, während ich mir überlegte, was ich auf ihre Feststellung erwidern sollte.

»Äh« war alles, was mir über die Lippen kam.

Ellison erwartete knallharten Investigativjournalismus. Etwas Kühnes am Puls der Zeit. Etwas, das ihrer ursprünglichen Einschätzung von mir als jemand mit großem Potenzial gerecht wurde. Stattdessen war ich im Begriff, einen Text einzureichen, der wenig mehr als Klatsch über den Cheftrainer des Footballteams enthielt. Sie würde die Kappe von ihrem Rotstift ziehen und ihn mir ins Auge rammen.

AirPod-Boy räusperte sich ungehalten. »Wie ich sagte«, fuhr er fort. »Präsident Sterling will einen Artikel über die Ehemaligen-Benefizveranstaltung dieses Wochenende haben. Es gibt mittags einen Empfang in der Buchanan Library, Campusführungen und Vorträge in der Cannon Hall.«

»Das soll ein Zweitsemester machen«, sagte Ellison. Dann an mich gewandt: »Hast du ihn dabei?«

Ich blätterte hektisch in meinem Collegeblock. »Ja! Ja, hier ist er. Aber ich dachte mir, es wäre vielleicht ganz gut, wenn ich erklären könnte, worauf ich mit dem Artikel hinauswill.«

Ellison nahm mir die vier Seiten aus der Hand, wobei sie die Knicke und die vom Regen verschmierten Druckbuchstaben ignorierte, und knallte sie zuoberst auf den Stapel, den sie im Arm hielt. Dann gebot sie mir mit einem erhobenen Zeigefinger zu schweigen und überflog die erste Seite. O Gott, sie würde den Text allen Ernstes in meinem Beisein lesen.

»Du arbeitest im Garland Country Club?«, fragte sie, ohne aufzublicken.

»Ja. Meistens kellnere ich, aber manchmal arbeite ich auch als Ballmädchen für …«

»Cheryl und Tori Lasseter, Jessica Kaufman und Diana Cabrera.«

Meine Lieblingskollegin und ich nannten sie immer die Real Housewives of Garland. Zu ihren Hobbys zählten gemeinsame Urlaubsreisen, Weißweinschorle und Tratsch über gemeinsame Bekannte beziehungsweise Ex-Männer, während sie sich mehr oder weniger freundschaftliche Tennismatches lieferten, die oft mit Tränen, Schimpftiraden und dem Versprechen endeten, es beim nächsten Mal nicht mehr ganz so verbissen angehen zu lassen.

»Sie sind Mitglieder dort«, sagte ich. »Sie haben mir erzählt, dass sie im August in San Diego waren und dort Truman Vaughn in einer noblen Bar gesehen haben.«

»Vaughn, den Chefcoach unseres Footballteams?«

Ich nickte.

»Er lud sie auf seine Yacht ein«, las Ellison mit hochgezogener Braue vor. »Sie gaben an, dass er sichtlich betrunken gewesen sei und nach Alkohol gerochen habe. Er spendierte ihnen eine Runde alkoholischer Getränke und bot ihnen dann an, mit auf sein Hotelzimmer im Alvarado Resort zu kommen.« Ellison hielt inne, blätterte um und runzelte die Stirn, als sie feststellte, dass die nächste Seite leer war. »Und? Sind sie mitgegangen oder nicht?«

»Nein. Sie sagten, sie seien stattdessen in einen Club gefahren, den sie unbedingt ausprobieren wollten. Diana – sie ist so was wie die Anführerin der Gruppe – hatte auf Yelp gelesen, dass es dort männliche Tänzer in Käfigen gibt, das war wohl das ausschlaggebende Argument. Aber Vaughn hat ihnen seine Nummer gegeben und gesagt, sie sollen ihm schreiben, falls sie es sich noch anders überlegen.«

»Das ist alles?«

»Mehr oder weniger, ja.«

Seufzend gab Ellison mir die zerknitterten Seiten zurück. »Das kann ich nicht drucken«, sagte sie.

»Ich kann mehr daraus machen.«

»Nimm es nicht persönlich, Laurel«, sagte sie. Ihre Miene wurde sanfter und sie lächelte freundlich, um meine Demütigung ein wenig abzumildern. »Ich kann keinen Artikel darüber bringen, dass Vaughn seinen Urlaub genießt. Nicht mit dem Geld der Uni. Genau deshalb haben wir einen Berater von der Fakultät, der den Artikel sofort abschmettern würde: Jemand muss uns daran hindern, dass wir vollends zu einem Boulevardblatt verkommen.«

»Aber findest du das nicht auch besorgniserregend? Ich meine, er war früher alkoholabhängig …«

»War«, betonte Ellison. »Das ist fast ein Jahrzehnt her. Wenn er im Urlaub ein bisschen was über den Durst getrunken hat, heißt das noch nicht, dass er rückfällig geworden ist. Und solange er das in seiner Freizeit tut und es keine negativen Auswirkungen auf seine Arbeit an der Uni hat, ist es geschmacklos, so was wie das hier zu veröffentlichen.«

»Das verstehe ich«, lenkte ich ein, »aber ich glaube wirklich, es steckt mehr dahinter …«

»Schreib mir so was wie das Feature über die Jungs, die den Taco-Stand in der Cerezo Street betreiben. Das war ein wirklich guter Artikel, Cates.«

Es war der Artikel, der sie davon überzeugt hatte, dass ich Potenzial besaß. Dass ich etwas zu sagen hatte.

AirPod-Boy räusperte sich abermals und hielt Ellison sein Smartphone-Display mit der Uhrzeit hin.

»Scheiße. Schon so spät? Ich muss zu einer Etatbesprechung. Hör zu, wenn du wirklich was über Vaughn schreiben willst, warum nimmst du dir nicht das Spiel nächstes Wochenende vor? Seine Stiftung will Sportausrüstung an mehrere Grundschulen in Orange County spenden. So was kannst du gut. Du hast ein Händchen dafür, Geschichten über Menschen zu erzählen – ihnen ins Herz zu sehen. Ich weiß, du würdest das ganz fantastisch machen. Kopf hoch, okay?«

Mit diesen Worten bog sie um die nächste Ecke und marschierte den Gang entlang zu ihrem Büro, während sich AirPod-Boy mit quietschenden Gummisohlen beeilte, Schritt zu halten.

3

An der Garland University gab es keine Studentenverbindungen, aber das hielt die Studierenden nicht davon ab, zu feiern, als würde am nächsten Tag die Welt untergehen. Es war der erste Donnerstag des Semesters, und das bedeutete, dass es am Rodeo – einer Straße wenige Blocks nördlich des Campus, die von zwölf viktorianischen Häusern gesäumt war, die allesamt an verschiedene studentische Interessengruppen oder Sportmannschaften vermietet waren – den ganzen Tag lang hoch hergehen würde.

Das Art House, das von Kunststudenten bewohnt wurde, war vielleicht das älteste Gebäude: ein riesiges, mit braunen Holzschindeln verkleidetes Monstrum mit uralter Paisley-Tapete und krummen Dielen in jedem einzelnen seiner winzigen, vollgestellten Räume. Hier fanden zwar nur unregelmäßig Partys statt, allerdings hatten die immer einen coolen, intellektuellen Vibe: Musik, die ich noch nicht kannte; Diskussionen über Gedichte, die ich nicht gelesen hatte. Eigentlich war es nicht meine Szene (abgesehen von dem Tetra-Pak-Wein, der ausgeschenkt wurde), aber ich war schon oft genug dort gewesen, um zu wissen, was ich tun musste, um dazuzugehören.

Ich klopfte an die Eingangstür und wurde von zwei Jungs mit Jeansjacken und Beanies – lächerlich bei dieser Hitze – hereingelassen, die sich im Foyer eine Auseinandersetzung lieferten.

»Nein, Mann, das ist es ja eben«, sagte der eine. »Wenn Banksy nur eine einzelne Person wäre, hätten wir ihn doch längst erwischt. Es müssen mehrere sein …«

Ich drängelte mich zwischen den beiden hindurch und begab mich in die volle Küche, wo Hanna und Andre gerade rote Plastikbecher an zwei Enden eines Tischs aufstellten, der so aussah, als wäre er von einem Erstsemester gebaut worden, der sich versehentlich bei einem Schreinerkurs eingeschrieben hatte.

Ich räusperte mich demonstrativ. »Es ist noch nicht mal Mittag.«

»Und ich habe ihn schon zweimal geschlagen«, verkündete Hanna mit einem triumphierenden Grinsen. Ihre glatten schwarzen Haare – die sie sich im Sommer abgeschnitten hatte, sodass sie nun fünf Zentimeter oberhalb ihrer Schulter endeten – waren makellos frisiert, aber ihr Gesicht hatte bereits eine verräterisch rote Farbe angenommen, so wie immer, wenn sie einen Tropfen Alkohol trank.

»Bitte sag nicht, dass ihr mit Natty Light Bier spielt.« Ich beäugte den Karton, der zwischen einer kleinen Armee aus leeren Schnaps- und Kombuchaflaschen auf dem Küchentresen stand.

»Wieso? Willst du auch eins?«

»Nein. Aber wenn du den Fireball griffbereit hast, würde ich den gern auf ex trinken.«

»Ist dein Artikel gut angekommen?«, fragte Andre besorgt.

Ich ließ die Schultern hängen und lehnte mich gegen den Kühlschrank. »Sie fand die Idee furchtbar. Sie will, dass ich stattdessen über das Spiel nächstes Wochenende schreibe. Vaughns Stiftung will offenbar für jeden Touchdown unseres Teams Sportgeräte an Grundschulen verschenken oder was weiß ich. Ich soll ein Porträt über ihn schreiben.«

»Das ist doch gut, oder?«, meinte Hanna. »Ellison hat deine Idee nicht kategorisch abgeschmettert. Sie hat sie nur, na ja … in eine etwas andere Richtung gelenkt.«

»Ja, vielleicht. Ich bin auch in erster Linie auf mich selbst sauer. Ich habe das Gefühl, dass ich besser sein müsste. Schreiben ist mein Ding. Ich weiß, dass ich nicht brillant oder unfassbar begabt bin, aber ich bin auch nicht völlig inkompetent. Ich bin halt …« Ich kniff ein Auge zu und machte eine fahrige Geste mit der Hand. »Irgendwo dazwischen.«

Und meine Artikel landeten immer auf Seite fünf des Daily, wo sie niemand las. Sie waren zu gut, um sie wegzuwerfen, aber nicht spektakulär genug für einen Platz auf der Titelseite. Und weiter schafften es die meisten Leserinnen und Leser nicht. Manchmal kam ich mir vor wie eine Komparsin beim Film. Als hätte ich in meinem eigenen Leben keine Sprechrolle bekommen.

»Ich bin natürlich voreingenommen«, sagte Hanna, »aber ich finde alle deine Ideen absolut genial.«

Ich wusste ihre Positivität zu schätzen, aber manchmal war sie auch anstrengend. »Wollen wir jetzt zu Mittag essen, oder was?«, fragte ich.

»Eine Runde noch! Nur eine einzige. Bitte.«

»Von mir aus«, lenkte ich ein. »Aber ich beschränke mich aufs Zusehen.«

Hanna grinste. »Andre!«, rief sie.

Andre, der direkt hinter ihr stand, legte ihr eine Hand auf den Kopf. Sie zuckte zusammen und wirbelte herum, sodass ihre Haare unter seiner Handfläche zerzausten.

»Erschreck mich doch nicht so. Ich könnte dir wehtun.«

Das aus dem Mund eines Mädchens, das gut dreißig Zentimeter kleiner war als er.

»Bereit für Runde drei?«, fragte Andre.

»Laurel«, sagte Hanna. »Hol das Natty Light.«

Ich schnaubte angewidert, half Andre aber trotzdem dabei, die lauwarme, wässrige Plörre auf die Becher zu verteilen. Während ich wider besseres Wissen den Rest aus einer Dose austrank, machte Hanna demonstrativ Dehnübungen. »Ist das wirklich notwendig?«, fragte ich, als sie sich nach vorn beugte und ihre Zehen berührte.

»Du bist bloß neidisch«, sagte sie, die Nasenspitze an den Knien, »weil du die Gelenkigkeit von ungekochten Spaghetti besitzt.«

»Ich würde dir gern das Gegenteil beweisen, leider ist mein Kleid zu kurz.«

Hanna verdrehte die Augen, richtete sich wieder auf und nahm ihre Position auf der gegenüberliegenden Tischseite ein. Sie und Andre sahen einander in die Augen, ehe sie den ersten Tischtennisball warfen, um zu ermitteln, wer beginnen durfte. Ich lehnte mich gegen die Wand, sah ihnen zu und fragte mich, wie ich Ellison davon überzeugen sollte, dass Truman Vaughns Rückfall genauso viel Aufmerksamkeit verdient hatte wie seine Wohltätigkeitsaktionen. Ich seufzte abgrundtief. Übertriebene Dramatik half mir immer beim Nachdenken.

»Ich höre, wie du Trübsal bläst«, sagte Hanna anklagend, ohne ihren Blick von Andre abzuwenden. Beide warfen gleichzeitig ihren Ball. Keiner von beiden traf. »Hier wird kein Trübsal geblasen.«

»Mache ich doch auch gar nicht«, log ich.

Den nächsten Wurf versenkte Hanna. Sie jubelte laut, dann trat sie zu mir, legte mir die Hände an die Wangen und sah mich auf erschütternd mütterliche Art und Weise an.

»Deine Artikelidee war scheiße«, sagte sie. »Da hast du es. Zufrieden? Du hast es auf die lange Bank geschoben und bist baden gegangen. Aber dass du eine Deadline verkackt hast, heißt doch nicht automatisch, dass du die Geschichte begraben musst. Du hast einen beängstigend guten Instinkt, was andere Leute angeht, Laurel. Du wusstest ein halbes Jahr vor mir, dass mein Ex nichts taugt. Mir ist scheißegal, was Ellison sagt. Schreib den Artikel. Und hör auf, Trübsal zu blasen. Du musst mir helfen, die Bälle zu fangen, die Andre danebenwirft.«

»Entschuldigung«, sagte dieser entrüstet. »Was ist mit den Bällen, die du danebenwirfst?«

Hanna warf den Kopf in den Nacken und lachte. Dann ließ sie mit einer raschen Bewegung des Handgelenks einen Tischtennisball in Andres mittleren Becher segeln.

»Der war nicht schlecht«, meinte sie zu ihm. »Und jetzt schön austrinken.«

Keine fünfzehn Minuten später stand Hanna als Siegerin fest. Andre leerte geschlagen sein letztes Bier, rief »Kobe!« und warf den leeren Becher in Richtung des zweieinhalb Meter entfernt stehenden Mülleimers, den er um Längen verfehlte. Jetzt konnten wir endlich zum Mittagessen aufbrechen.

Draußen vor dem Art House war die Nachmittagsluft warm und von Lärm erfüllt. Am Rodeo konnte man zu jeder Zeit gut die Leute beobachten, aber das erste Wochenende des Semesters war etwas ganz Besonderes. Zwei Jungs in identischen lachsrosa Shorts schlenderten den Gehsteig entlang und debattierten lebhaft darüber, welche Chancen unser Footballteam hatte, es dieses Jahr bis zu den NCAA-Meisterschaften zu schaffen. Gegenüber vom Engineering House flirtete ein Mädchen in Birkenstocks offensiv mit einem Jungen, der versuchte, sein Fahrrad an einen Baum anzuschließen, während sie gleichzeitig ihrer Freundin die Haare aus dem Gesicht hielt, weil diese sich gerade in einen Busch übergab – nur eins von vielen Opfern, die der Blackout Thursday noch fordern würde.

Hanna, Andre und ich gingen nebeneinanderher in Richtung der Cerezo Street, der Hauptstraße von Garland. Die beiden vertieften sich sofort in eine Diskussion über verschiedene Beerpong-Strategien, und da ich in Trinkspielen noch nie gut gewesen war, ließ ich meine Gedanken schweifen.

Ellison hatte mich nicht angerufen, um mir mitzuteilen, dass sie mich aus der Daily-Redaktion schmeißen würde. Das war ein gutes Zeichen. Trotzdem wurde ich die bedrückende Erinnerung an ihre Enttäuschung nicht los. An ihr Beharren, ich solle etwas Unproblematisches schreiben. Etwas Einfaches. Weil mein Bedürfnis für konstantes positives Feedback und Bestätigung meine Gedanken komplett vereinnahmt hatte, achtete ich nicht darauf, wohin ich ging. Dementsprechend wunderte ich mich auch kaum, als ich mit der Spitze meines weißen Leinenschuhs gegen eine Unebenheit im Pflaster stieß und stolperte.

Hanna, ganz die mitfühlende Freundin, legte den Kopf zurück und lachte dreckig.

»Das war Absicht.«

»Wenn du meinst«, sagte sie, ehe sie sich bei mir unterhakte.

Ein Stück voraus, direkt in der Mitte der zwei Straßenblocks, die den Rodeo bildeten, plärrte aus dem Baseball House die übliche Rapmusik – irgendwas von Post Malone mit geboosteten Bässen. Hätten die Häuser in der Straße Studentenverbindungen gehört, wäre das Baseball House die Verbindung voller extrem attraktiver, aber hohlköpfiger Jungs mit dicken Muskeln und reichen Eltern gewesen. Auf der umlaufenden Veranda drängten sich schöne, ausgelassene Menschen.

Ich hatte Bodie St. James erspäht, ehe mir überhaupt bewusst wurde, dass ich nach ihm Ausschau hielt. Er lehnte lächelnd am Verandageländer und hatte eine Flasche in der Hand, die Orangensaft zu enthalten schien. Er trug dunkle Jeans und ein schwarzes T-Shirt, dessen aufgerollte Ärmel seinen zugegebenermaßen sehr ansehnlichen Bizeps noch besser zur Geltung brachten. Allerdings waren es nicht seine Arme, die meine Aufmerksamkeit erregten, sondern die vielen Menschen, die sich um ihn geschart hatten. Wenn er sprach, hingen sie förmlich an seinen Lippen, und wenn jemand anderes etwas gesagt hatte, sahen sie ihn um Bestätigung heischend an.

Ich fragte mich flüchtig, wie es sich anfühlte, so bewundert zu werden. Auf der Highschool war ich eine Einzelgängerin gewesen. Klar, ich hatte Freundinnen in meinen Kursen gehabt, aber nach dem letzten Klingeln hatten sich unsere Wege immer getrennt. Wir wussten, dass unsere Freundschaft aus purem Selbsterhaltungstrieb entstanden war. Ich hatte keine Geschwister, meine drei Cousinen lebten in Mexiko und waren alle noch unter sechzehn. Für den Großteil meines Lebens waren meine Eltern die wichtigsten Personen in meinem Leben gewesen. Es war mir schwergefallen, sie zu verlassen, um auf die Uni zu gehen, obwohl Bakersfield nur eine zweistündige Autofahrt von Garland entfernt war. Aber ich hatte das große Glück gehabt, Hanna und Andre zu finden. Sie reichten mir. Sie waren alles, was ich brauchte. Trotzdem malte ich mir manchmal aus, wie es wäre, auf eine volle Party zu kommen, wo sich alle Gäste darum rissen, von mir mit einem High Five begrüßt zu werden.

Hanna drückte meinen Arm.

»Mir geht es gut«, sagte ich reflexartig.

»Das weiß ich doch. Aber Frustfressen ist trotzdem was Schönes.«

Auch ich drückte ihren Arm.

Als wir am Baseball House vorbeikamen, sah ich noch einmal hin. Bodie klopfte seinen Freunden auf die Schulter, nickte in die Runde und neigte auf eine Weise den Kopf, die zu suggerieren schien, dass er sich verabschieden wollte. Er machte kehrt und kam die Verandatreppe herunter, gerade als wir daran vorbeigingen. Feige zog ich den Kopf ein.

Der Rodeo endete an der Einmündung zur Cerezo Street, die entlang der Westseite des Campus verlief. Hier gab es den besten Taco-Stand in ganz Garland. Pepito’s war im Wesentlichen ein Foodtruck ohne Räder. Das kleine, kompakte Gebäude hatte ein rotes Ziegeldach, an dem eine große Markise mit der Aufschrift P-E-P-I-T-O-S angebracht war. An der lehmverputzten Wand oberhalb des Bestellfensters waren in roter verschnörkelter Schrift einige der Hauptspeisen aufgelistet – Burritos, Tacos, Enchiladas –, und zwischen dem Stand und einem kleinen Parkplatz standen ein paar Tische und Bänke. Im Moment saßen dort nur einige Studenten beim Mittagessen, aber heute Abend würde es hier vor Betrunkenen nur so wimmeln.

Pedro bediente den Grill, Joaquín kümmerte sich um die Beilagen und Oscar stand an der Kasse. Als Andre und ich ans Fenster traten, um unsere Bestellung aufzugeben, grinste er unter seinem drahtigen Schnurrbart.

»Schon wieder da?«, fragte er.

»Por supuesto.«

Andre und ich waren während des dritten Semesters eher zufällig zu Stammkunden geworden. Die drei Betreiber hatten irgendwann angefangen, ihn Tigre zu nennen – wegen der Streifen, die er sich ins Haar hatte rasieren lassen, und seines schier unersättlichen Appetits.

»El regular?«, fragte Oscar.

»Y un chile relleno para mi amiga.«

Alle schauderten, wenn sie mich zum ersten Mal Spanisch sprechen hören. Ich habe viele Dinge von meiner Mutter geerbt, aber mein Akzent kommt von meinem Vater. Leider beschränkt sich auch mein Wortschatz auf die absoluten Grundlagen, die gerade so ausreichten, um mich bei Verwandtschaftsbesuchen in Mexico City oder Telefonaten mit meiner abuelita verständigen zu können. Dazu kamen noch einige Fetzen, die ich aus Telenovelas, Songtexten und von meinen Cousinen aufgeschnappt hatte (die aus dem Lachen gar nicht mehr herauskamen, wenn ich versuchte, die Kraftausdrücke nachzusprechen, die sie mir beibrachten). So oder so – es war nicht dieselbe Sprache, die meine Mom und ihre Familie sprachen. Aber die Jungs von Pepito’s lachten mich nie deswegen aus.

»Un chile relleno, tres tacos de carne asada«, wiederholte Oscar, während er unsere Bestellung in die Kasse tippte. »Y para Tigre un super burrito con todo.«

Adre legte seine Kreditkarte auf den Tresen. »Ich übernehme das«, sagte er.

Ich wollte widersprechen, weil Andre viel zu oft für mein Essen bezahlte. Doch ich wusste, dass meine Sucht nach Tacos Gift für meinen Kontostand war.

Hanna und ich suchten uns einen freien Tisch. Die metallenen Bänke waren kühl unter meinen nackten Schenkeln, und die Brise, die die Cerezo Street entlangwehte, brachte eine willkommene Erleichterung von der heißen Sonne. Andre gesellte sich zu uns, nachdem er gezahlt hatte, und teilte uns mit, dass wir Bestellung Nummer sechsundachtzig hätten.

Während wir warteten, machten wir unserem Semesteranfangsfrust Luft. Andre war sauer, weil er beim Training gute Fortschritte erzielt hatte – er hatte den ganzen Sommer lang trainiert, um Gewicht zuzulegen –, aber Kyle Fogarty, der Tight End aus der A-Mannschaft, trotzdem Vaughns klarer Favorit blieb. Hanna hatte jetzt schon Probleme in ihrem Seminar Figürliches Zeichnen. Als sie während der Aufwärmübung eine Hand skizzieren mussten, hatte sie versehentlich einen zusätzlichen Knöchel gezeichnet, woraufhin ihr Dozent sie beiseitegenommen hatte, um zu fragen, ob sie überhaupt im richtigen Kurs sei. Und dann war da natürlich noch mein Artikelvorschlag, den Ellison in der Luft zerrissen hatte. Wir kamen überein, dass das dritte Studienjahr schon jetzt ein absolutes Desaster war.

Andres Handy summte laut auf dem Metalltisch. Er warf einen Blick auf das Display, ehe er überrascht die Brauen zusammenzog.

»Was ist?«, fragte ich.

»Nichts. St. James hat geschrieben.«

Hanna zog eine Augenbraue hoch. »Im Teamchat?«

Andre schüttelte den Kopf. »Nein, nur mir.«

»Was schreibt er denn?«, fragte ich betont desinteressiert.

»Er will, dass ich zum Baseball House komme«, sagte Andre achselzuckend. »Er schreibt, dass einige der Jungs da sind. Sie haben eine Menge Spaß. Es gibt übrig gebliebene Pizza umsonst. Sie spielen Beerpong. Ich soll Freunde mitbringen.«

Ich tippte mir mit den Fingerspitzen gegen die Wange. »Das hat er geschrieben?«

Andre nickte.