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Emilia Roig

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Beschreibung

Emilia Roig deckt die Muster der Unterdrückung auf – in der Liebe, in der Ehe, an den Universitäten, in den Medien, im Gerichtssaal, im Beruf, im Gesundheitssystem und in der Justiz.  Sie leitet zu radikaler Solidarität an und zeigt – auch anhand der Geschichte ihrer eigenen Familie –, wie Rassismus und Black Pride, Trauma und Auschwitz, Homofeindlichkeit und Queerness, Patriarchat und Feminismus aufeinanderprallen.

"Radikal und behutsam zugleich. Dieses Buch ist ein heilsames, inspirierendes Geschenk." Kübra Gümüsay.

"Die Antwort auf viele Fragen unserer unsicheren Zeit heißt: Gleichberechtigung aller. Und dieses großartige Buch ist ein Schritt auf dem Weg dahin." Sibylle Berg.

„Dieses Buch wird verändern, wie Sie die Welt wahrnehmen und Sie verstehen lassen, was Gerechtigkeit wirklich bedeutet.“ Teresa Bücker.

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Über das Buch

Emilia Roig deckt die Muster der Unterdrückung auf und leitet zu radikaler Solidarität an. Sie zeigt – auch anhand der Geschichte ihrer eigenen Familie –, wie Rassismus und Black Pride, Trauma und Auschwitz, Homofeindlichkeit und Queerness, Patriarchat und Feminismus aufeinanderprallen. "Radikal und behutsam zugleich. Dieses Buch ist ein heilsames, inspirierendes Geschenk." Kübra Gümüsay "Die Antwort auf viele Fragen unserer unsicheren Zeit heißt: Gleichberechtigung aller. Und dieses großartige Buch ist ein Schritt auf dem Weg dahin." Sibylle Berg „Dieses Buch wird verändern, wie Sie die Welt wahrnehmen und Sie verstehen lassen, was Gerechtigkeit wirklich bedeutet.“ Teresa Bücker

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Emilia Roig

Why We Matter

Das Ende der Unterdrückung

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

Zitat

1. Prolog – Nina

2. UNTERDRÜCKUNG SICHTBAR MACHEN

3. Zu Hause

»Ich, als Schwarze Frau …« – Rassismus in der Familie

Wenn Hautfarbe keine Rolle spielt

Wie menschliche Differenzen zu »Rassen« gemacht werden

»Ab heute spreche ich nur noch Kreolisch«

»Ach, sind die süß …« – Fetisch Hautfarbe

Das Nest des Patriarchats

Was ist das Patriarchat eigentlich?

Ist Gleichberechtigung in der Ehe möglich?

Der Sturz des Patriarchats

(Mein) Queer Awakening

Über internalisierte Schuld und Scham

Zwangsheterosexualität und unsichtbares Begehren

4. In der Schule und an der Universität

Wie strukturelle Diskriminierung funktioniert

Jede*r bekommt, was er*sie verdient?

Warum es »umgekehrten Rassismus« nicht gibt

»Willst du Putzfrau werden?«

Was ist Wissen?

Die Auslöschung und Aneignung von Wissen

Erinnerungspolitik

Neutralität gibt es nicht

Vielfältiges Wissen – ein neues Paradigma

5. In den Medien

Die Empathielücke

Wie über Unterdrückung berichtet wird

Individualität ist ein weißes Privileg

Überlegenheit auf dem Bildschirm

Schönheit ist politisch

6. Im Gerichtssaal

Was ist »kriminell«?

Die Neutralität der Justiz

Könnten wir Polizei und Gefängnisse abschaffen?

Eine kurze Geschichte des Gefängnisses

Eine Zukunft ohne Gefängnisse

7. Bei der Arbeit

Über die »Arbeit der Liebe«

Sexarbeit

Stigma Sexarbeiterin

Die Frage der freien Wahl

Das Ende der Arbeit – eine Utopie?

8. Im Krankenhaus

Die Norm »Gesund«

Wie Unterdrückung krank macht

Die Folgen fehlender Empathie

9. Auf der Straße

Immer auf der Hut!

»Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann?«

Feminismus ohne Rassismus

10. Im Körper der Frauen

Wessen Leben ist schützenswert?

Die Angst vor dem Aussterben

Von Rechten für einige zur Gerechtigkeit für alle

11. Das Ende der Unterdrückung

Wie Hierarchien aufgebrochen werden

Vergiss alles, was du weißt

Veränderung erlauben – Tod akzeptieren

Ist eine Einheit der Menschen möglich?

Mit Schuld umgehen lernen

Der Weg der Heilung

Befreit

Epilog

Vom ganzen Herzen, vielen Dank an:

NACHWEISE UND ANMERKUNGEN

2. Unterdrückung sichtbar machen

3. Zu Hause

4. In der Schule und an der Universität

5. In den Medien

6. Im Gerichtssaal

7. Bei der Arbeit

8. Im Krankenhaus

9. Auf der Straße

10. Im Körper der Frauen

11. Das Ende der Unterdrückung

Erläuterungen

Impressum

Wer von diesem Buch begeistert ist, liest auch ...

Für Lena.

Do not lose heart. We were made for these times.

Clarissa Pinkola Estes1

1. Prolog – Nina

An einem kühlen herbstlichen Tag saß ich eingewickelt in eine Tagesdecke an meinem Schreibtisch, als eine dicke, blau glänzende Fliege um mich herumflog und ab und zu auf meinem Bildschirm pausierte. Ich war genervt und auch ein bisschen angeekelt von ihr, dachte mir aber, dass sie wohl die allerletzte Fliege des Jahres in meiner Wohnung sein und dass ihr kurzes Fliegenleben bei solchen Temperaturen bald enden würde. Ich entschied mich also, sie zu akzeptieren. Nach einem Tag störte sie mich gar nicht mehr. Nach zwei Tagen bekam sie einen Namen: Nina – wie ein kleines Haustier. Am dritten Tag war ich leicht besorgt, als sie eine Weile verschwand – war sie schon tot? Insgesamt lebte sie fast drei Wochen bei mir. Ab dem Moment, in dem ich entschied, sie zu akzeptieren, schaltete mein Bewusstsein sozusagen um: Von einer nervigen, ekligen, unbedeutenden Fliege, deren Tod und Leben absolut unwichtig waren, wurde sie zu einem Lebewesen, zu dem ich eine Verbindung herstellen konnte. Der neue Blick auf diese Fliege erlaubte mir, sie als lebenswert zu sehen – genauso wertvoll wie ich. In diesem Augenblick gab es keine Hierarchie mehr zwischen ihr und mir, kein Konzept von Tier und Mensch, von »überlegen« und »unterlegen«, von »lebenswert« und »wertlos« – die Dichotomien, die Menschen seit Jahrhunderten trennen und kategorisieren. Alles ist eine Frage der Perspektive. Ein kollektiver Bewusstseinswandel ist möglich, hin zu mehr Verbindung, mehr Einheit, mehr Empathie und schließlich mehr Liebe.

2. UNTERDRÜCKUNG SICHTBAR MACHEN

»Schreiben heißt, das Schweigen abzulehnen.«

Chimamanda Ngozi Adichie1

Nicht gesehen zu werden, nicht gehört zu werden, ist unerträglich. Weil es unsere Menschlichkeit infrage stellt. Menschen, die weder gesehen noch gehört werden, denen nicht geglaubt wird, sind vielen Formen von Gewalt ausgesetzt – bis hin zum Mord. Sie sind Opfer einer Unterdrückung, die die Mehrheit der Menschen auf dieser Erde über Jahrhunderte hinweg entmenschlicht, sie unsichtbar, stimmlos und entbehrlich macht. Diese Unterdrückung geschieht, kurz gesagt, erstens, indem »naturgegebene« Differenzen konstruiert und behauptet werden; zweitens, indem diese Differenzen dann in eine Hierarchie eingeordnet werden, die den Wert des Lebens definiert, den Zugang zu Rechten einräumt und das Niveau der Empathie beeinflusst; und drittens durch das machtvolle Narrativ, dass wir alle unseren Platz in dieser Hierarchie verdienen. Je niedriger die Stufe in der Hierarchie, desto weniger Sichtbarkeit, Gehör und Empathie werden gewährt. Das Ende der Unterdrückung, so utopisch es klingen mag, ist nichts anderes als ein Bewusstseinswandel: hin dazu, dass wir alle gesehen, gehört und geachtet werden – nicht nur einige wenige.

Unterdrückungssysteme beruhen auf sozialen Kategorien, die die Menschheit in verschiedene Gruppen unterteilen – und zwar entlang rigider, jedoch oft unsichtbarer Hierarchien. Fast alle diese Kategorien wurden in der Moderne als biologische Kategorien konstruiert und behandelt, als intrinsisch und unveränderlich. Aussagen, die Konsens waren und es heute häufig noch sind, lauten zum Beispiel: Männer und Frauen[1]  werden als solche geboren, die Unterschiede zwischen beiden Geschlechtern sind genetisch vorprogrammiert; Schwarze[2]  Menschen weisen eine Vielzahl an Eigenschaften auf, die in ihren Genen verwurzelt sind; behinderte Menschen sind nicht gesund und weniger fähig als nicht-behinderte Menschen. Diese scheinbar biologischen, naturgegebenen Merkmale sind jedoch in Wahrheit zum Großteil konstruiert. Sie wurden definiert, organisiert und verhandelt – und zwar so, dass sie Ungleichheiten in unseren Gesellschaften rechtfertigen.

Seit meiner Kindheit haben mich Armut und soziale Ungleichheit beschäftigt. Ich war als Kind – bis zur Trennung meiner Eltern mit 14 – ziemlich privilegiert: Wir lebten in einem Haus mit Garten in einem Pariser Vorort, ich lernte Cellospielen und Skifahren. Die Kindheit meiner Mutter in Martinique hatte anders ausgesehen. Im frühkindlichen Alter litten sie und ihre Geschwister unter Nahrungsmittelmangel und Krankheiten wie Rachitis und Wachstumsverzögerung. Bei der Ankunft in Frankreich erlebte die gesamte Familie extrem viel Rassismus, sei es durch Mitschüler*innen oder Lehrer*innen, auf der Straße, im Krankenhaus oder in Geschäften. Verglichen damit war der Rassismus, der mir widerfuhr, kaum erwähnenswert. Als ich die Erzählungen meiner Mutter hörte, empfand ich tiefe Schuldgefühle. Aus welchem Grund ging es mir im gleichen Alter so grundlegend anders? Warum hatte ich so viel Glück im Vergleich zu ihr? Diese Frage begleitet mich bis heute. Ich wollte verstehen, woran es lag, dass manche von uns mehr haben als andere. Mir war bewusst, dass es nicht die eine Antwort gab, sondern dass soziale Ungleichheiten sich durch eine Vielzahl von Faktoren erklären lassen. Die individuellen Faktoren kennen wir gut: Motivation, Willen, Kompetenzen, Intelligenz, Veranlagung. Diese Erklärung überzeugte mich nicht. Ich suchte also die fehlenden Puzzleteile.

Durch meine Eltern, deren Eltern und ihre so unterschiedlichen Lebenswege und Erfahrungen wurde mir früh klar, dass das Leben vollkommen anders aussieht, je nachdem, aus welcher Perspektive es betrachtet wird: z. B. aus der einer Schwarzen Krankenschwester oder eines weißen Arztes. Sehr früh lernte ich, dass das, was uns über unsere komplexe Persönlichkeit hinaus ausmacht, zu großen Teilen durch Zuschreibungen von außen geprägt ist. Ich merkte zum Beispiel, dass Menschen mit hellerer Haut generell besser angesehen werden. Das galt auch für mich gegenüber meinen Verwandten und Freund*innen, die eine dunklere Hautfarbe hatten als ich. Ich merkte zudem, dass mein Vater ernster genommen und mehr geachtet wurde als meine Mutter: aufgrund seines Geschlechts, seiner Hautfarbe und seines sozialen Status. Ich lernte, dass der Wert der Menschen von vielen willkürlichen Faktoren bestimmt wird: Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht, Aussehen, Vermögen, Bildungsstand.

Die Zeiten ändern sich. Wir sind bereit, Dinge zu sehen, die wir vor einiger Zeit noch nicht sehen wollten. Doch die Ungerechtigkeit wirkt manchmal überwältigend. Es gibt so viele Systeme der Unterdrückung. Wie sollen sie alle zugleich bekämpft werden? Sollten wir soziale Ungerechtigkeit nicht lieber Schritt für Schritt oder nach Priorität angehen? Erst der Klimawandel, dann Gewalt gegen Frauen, dann Rassismus, dann Ausgrenzung von behinderten Menschen?[3]  Bisher war dieser Ansatz nicht sonderlich erfolgreich. Warum? Weil sich alle Formen von Diskriminierung und Ungleichheit gegenseitig verstärken. Das heißt, dass neben Sexismus auch Rassismus, Homo-, trans- und Behindertendiskriminierung bekämpft werden müssen – gleichermaßen und gegenseitig. Dieser Ansatz hat einen Namen: Intersektionalität. Er bedeutet im Grunde: Diskriminierung innerhalb von Diskriminierung bekämpfen, Ungleichheiten innerhalb von Ungleichheiten sichtbar machen, und Minderheiten innerhalb von Minderheiten empowern. In anderen Worten: Leave no one behind.

Strukturelle Ungleichheiten nehmen zu, Rechte und Existenzen von Minderheiten und indigenen Völkern stehen weltweit unter Druck, die globale wirtschaftliche Lage ist wackelig, politische Krisen und Kriege werden immer zahlreicher, und es wird auf der Erde immer heißer. Es darf wohl gesagt werden, dass die Lage der Welt chaotisch ist. Chaos jedoch geht häufig einem Paradigmenwechsel voraus, einer großen, globalen Veränderung. Und vielleicht sogar zum Positiven, auch wenn das angesichts der jetzigen Lage kontraintuitiv erscheint. Ich will zwar die historische Gegenwart nicht als positiv bewerten, aber ich lese die Konfrontation zwischen denjenigen, die sich aus der Unterdrückung befreien möchten – etwa im Rahmen der Black-Lives-Matter-Bewegung –, und denjenigen, die Angst vor dieser Befreiung haben und mit »All Lives Matter« kontern, als ein Zeichen für eine Transformation. Die reaktionären Bewegungen, die sich überall auf der Welt gegen soziale Fortschritte stemmen, sind Ausdruck eines angstgetriebenen Widerstands. AfD, Fidesz, Le Pen, Erdogan, Bolsonaro, Duterte und Trump sind in dieser Lesart Zeichen dafür, dass die Welt vor einer Veränderung hin zu mehr Gerechtigkeit, Gleichheit und Frieden stehen könnte – und dass sich manche dagegen wehren. Den gesamten Prozess dieser Veränderung werden wir wahrscheinlich nicht miterleben können, aber das transformative Potenzial des gegenwärtigen Chaos können wir jetzt schon ausschöpfen und konstruktiv nutzen.

Wandel findet statt. Die Welt sah 1950 anders aus als heute, und heute sieht sie anders aus, als sie 2080 aussehen wird. Die Grenzen der Normalität werden kontinuierlich neu verhandelt und neu definiert. Allerdings bleibt das Fundament der Unterdrückung bisher unverändert. Die Macht verschiebt sich lediglich. Vor dreißig Jahren wäre es undenkbar gewesen, dass die Commerzbank für ein Bausparkonto mit einem lesbischen Pärchen wirbt. Heute haben solche Bilder es geschafft, Teil der Normalität zu werden. Vor 200 Jahren war die Sklaverei in den meisten Teilen der Welt normal, heute nicht mehr. Heute sind biracial kids (Kinder mit zum Beispiel einem weißen und einem Schwarzen Elternteil) keine Kuriosität mehr, ihre Eltern dürfen heiraten und zusammenleben. Im letzten Jahrhundert war dies in vielen Ländern, inklusive Deutschland, keine Selbstverständlichkeit. Auch schwule und lesbische Paare können in immer mehr Ländern heiraten, was vor zwanzig Jahren noch völlig ausgeschlossen war.

Solche Veränderungen sind keine organischen Entwicklungen, die sich einfach mit der Zeit ergeben haben. Sie sind das Ergebnis von langwierigen sozialen Kämpfen. Häufig erscheint in der Geschichtsschreibung sozialer Wandel als Resultat von Entscheidungen mächtiger Männer und Institutionen: »Schoelcher hat die Sklaverei in den französischen Antillen abgeschafft«; »Der Bundestag verabschiedete am 1. Oktober 2017 das Gesetz zur gleichgeschlechtlichen Ehe«; »Frauen wurde das Wahlrecht 1919 eingeräumt«; »2006 wurde das Recht auf gleichberechtigte Bildung von Menschen mit Behinderung durch die UN‑Behindertenrechtskonvention eingeräumt«; »Ab 2019 wird Transgeschlechtlichkeit von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) nicht mehr als psychische Störung klassifiziert«: Die Bewegungen, die hinter solchen Fortschritten und Gewinnen stehen, werden regelmäßig ausgeblendet. Über die Konfrontation und die Repression wird seltener erzählt. Kaum erinnern wir uns an die Stonewall Riots von 1969 in den USA und die eklatante Polizeigewalt, die gegen die LGBTQI+-Demonstrant*innen angewandt wurde. Kaum bekannt sind die Namen von Marsha P. Johnson und Sylvia Rivera, zwei trans-Frauen, die in diesen Riots eine bedeutende Rolle gespielt haben. Heutige Schwule und Lesben, die heiraten können, haben dies zumindest teilweise ihnen zu verdanken – nicht dem Bundestag.

Judith Heumann, Kitty Cone und Mary Jane Owen haben eine wichtige Rolle in der Bewegung für die Rechte von behinderten Menschen gespielt, doch wer kennt ihre Namen? Während der sogenannten »504-Proteste« haben behinderte Menschen und ihre Unterstützer*innen, aus den ganzen USA Sit-ins und Hungerstreiks durchgeführt, damit die Regierung endlich ihre Rechte gesetzlich anerkennt und die Segregation in Schulen, Arbeit, Politik, Kultur, Ehe und Familie, Gesundheitswesen und anderen gesellschaftlichen Feldern beendet. Diese Aktionen haben sich weit außerhalb der USA ausgewirkt. In Deutschland und Frankreich spielt die Arbeit von Behindertenrechte-Aktivist*innen wie Ed Greve, Laura Gehlhaar, Ninia La Grande, Raul Krauthausen, Elisa Rojas, Marina Ramos und Elena Chamorro eine bedeutende Rolle. Aufzüge, Geländerampen und Integrationsschulen tauchten nicht magisch auf, Menschen mussten darum kämpfen. Häufig wird der Eindruck erweckt, behinderte Menschen müssten dankbar dafür sein, dass ihnen Rechte eingeräumt wurden. Die Behindertenrechte-Aktivistin Judith Heumann sagt zu Recht: »Ich möchte nicht dankbar sein müssen für barrierefreie Toiletten. Wenn ich dankbar dafür sein muss, wann werden wir dann endlich gleichgestellt sein?«2

Gerne werden auch die Äußerungen charismatischer Anfüh-rer*innen von Befreiungsbewegungen abgemildert, damit sie nicht mehr an die brutale Unterdrückung erinnern, gegen die sie sich auflehnten. Zum Beispiel wird die Botschaft Martin Luther Kings meist auf Liebe und Frieden reduziert und manchmal sogar herbeizitiert, um heutige antirassistische Bewegungen wie Black Lives Matter zu diskreditieren, der man vorwirft, zu konfrontativ zu sein. Nelson Mandelas Zitate sind dem gleichen Schicksal ausgesetzt. Es wird verschwiegen, dass beide Männer in ihrer Zeit vom Staat gehasst wurden, bis hin zu jahrelanger Verhaftung und Mord. Es wird vergessen, dass sie sich nicht einfach so für Liebe und Frieden eingesetzt, sondern gegen die brutale Unterdrückung von Schwarzen Menschen durch die weiße Vorherrschaft gekämpft haben. Gandhi, Nelson Mandela, Rosa Parks und Martin Luther King werden vor allem für die Methoden ihres Kampfs für Gerechtigkeit erinnert: die gewaltfreie Rebellion. Dass der Widerstand friedlich war, wird heute gefeiert. Doch es war eine Rebellion gegen unsägliche staatliche, rassistische Gewalt.

Hinter den Phänomenen Rassismus, Sexismus, Behinderten-, Homo- und Transdiskriminierung und anderen Formen der Unterdrückung stehen Mechanismen und Muster, in die wir alle eingebettet sind und die unsere Wahrnehmung der Realität stark beeinflussen. Diese Begriffe sind negativ konnotiert und lösen meistens Unbehagen und Widerstand aus. Mit diesem Buch möchte ich dieses Unbehagen in transformative Kraft umwandeln. Doch bevor diese Transformation stattfinden kann, müssen wir erst mal verstehen, was unsere Wahrnehmung von der Welt beeinflusst. Das Leben ist vielseitig. Je nachdem, aus welchem Blickwinkel wir es anschauen, nimmt die Realität eine andere Form an. Doch wir verharren meist in ein und derselben Perspektive, aus der heraus wir die »Normalität« sehen. Dieses Buch ist eine Einladung, die Tür zur Vielseitigkeit unserer Existenz zu öffnen.

Doch was gilt als »normal«? Manche Standpunkte und Sichtweisen werden als neutral, objektiv und universell betrachtet, und andere als subjektiv, partikular und spezifisch. Obwohl alle Standpunkte nebeneinander existieren, gewinnen einige die Deutungshoheit über andere. In diesem Buch möchte ich vermeintlich universelle Normen, die allgegenwärtige »Normalität«, dekonstruieren: Wie wurde diese Normalität erzeugt? Anhand welcher Hierarchien? Warum gelten die Erfahrungen und Lebensrealitäten von manchen Menschen als spezifisch und andere als universell? Wie sieht die Realität aus der Perspektive einer Person aus, die dieser Norm nicht oder nur teilweise entspricht?

Gehört man zur Mehrheit, zur Norm, zur dominanten Gruppe, unterdrückt man zwangsweise andere – auch wenn dies meist unbewusst und unbeabsichtigt geschieht. Negative Botschaften über andere Gruppen sind dermaßen verinnerlicht, dass man ein subtiles Überlegenheitsgefühl für ganz normal hält. Ob Männer im öffentlichen Nahverkehr die Beine spreizen und sich in die persönliche Sphäre von Frauen drängen, weiße Menschen einfach mal die Haare von Schwarzen Frauen anfassen, oder nichtbehinderte Menschen den Rollstuhl beiseiteschieben, um Platz zu machen, ohne vorher zu fragen – sie sind sich nicht bewusst, dass sie nicht nur die Privatsphäre verletzen und Grenzen überschreiten, sondern auch noch Teil eines Systems der Unterdrückung sind.

Die vermeintliche Normalität blendet eine Vielzahl an Lebenserfahrungen aus, schafft dadurch eine eindimensionale Realität, die als objektiv und universell gilt. Es ist die Realität, die in den Medien, in Schulbüchern, in der gängigen Literatur im Mittelpunkt steht und vorrangig dargestellt wird. Auch wenn diese eindimensionale Realität unterschiedliche Schattierungen beinhaltet, ist sie von einer gewissen Homogenität gekennzeichnet. Sie entspricht den dominanten medialen, politischen, kulturellen und religiösen Überzeugungen: dass eine Familie aus einem Vater, einer Mutter und leiblichen Kindern besteht, oder dass »Schönheit« hauptsächlich mit heller Hautfarbe, schlanker Figur, glatten Haaren, Jugend und Geschlechterkonformität[4]  verbunden ist.

Wir sind uns der Normalität selten bewusst. Sie ist einfach da für die meisten von uns, wie Wasser für Fische. Sie ist unbemerkbar, wird deshalb nicht infrage gestellt und damit endlos reproduziert. Zum Beispiel wird die Unterdrückung der Frauen im Patriarchat auch von Frauen geschützt. Die gnadenlose Beurteilung von Frauen unter sich – sei es des Aussehens oder der Mutterrolle – zeigt, dass wir gleichzeitig Opfer patriarchaler Strukturen und Verfestigerin sein können.

Diese Ambivalenz lässt sich gut am Neid veranschaulichen, den wir gegenüber Menschen empfinden, die gegen die impliziten Regeln der Gesellschaft immun zu sein scheinen: Eine dicke Frau, die sich wohl und wunderschön fühlt, Selbstbewusstsein und Glück ausstrahlt, wird bestraft. Sie wird hören, sie solle sich lieber schämen, unglücklich sein und sich hässlich fühlen. Menschen, die die Normen und Grenzen schwächen, die wir sonst für unveränderlich und unverletzlich halten, machen Angst, weil sie Teile unserer Seele öffnen könnten, die verschlossen wurden. Die eindimensionale Realität blendet die Vielfalt an Lebensentwürfen aus, die jenseits der mächtigen Normen und Regeln bereits existieren – und entstehen können. Was wäre, wenn wir diese Regeln ignorieren und unser Leben selbst bestimmen würden?

Die »objektive« Realität infrage zu stellen, fordert die Bereitschaft zur Selbstreflexion und die Offenheit, neue Perspektiven zuzulassen, auch wenn diese Schuldgefühle, Scham, Wut und Selbstmitleid auslösen können. Wenn Sie dieses Buch in der Hand halten, nehmen Sie vermutlich die eindimensionale Repräsentation der Realität nicht ganz an oder sind zumindest dazu bereit, sie infrage zu stellen. Diejenigen von uns, deren Lebenserfahrung der eindimensionalen Realität – oder Teilen davon – weithin entspricht, sind oft skeptisch, ob diese Infragestellung überhaupt notwendig ist. Für uns alle geht die Infragestellung der Realität mit einer Infragestellung von Teilen von uns selbst und der eigenen Geschichte einher. Der Weg zur neuen, nuancierten und vielschichtigen Sicht auf die Welt ist kein einfacher. Er lohnt sich aber, denn für uns alle kann dadurch ein Prozess der Befreiung von den bedrückenden sozialen Hierarchien beginnen: für Menschen, die in der sozialen Hierarchie höher positioniert sind, wie auch für diejenigen, die sich weiter unten befinden. Wir alle können davon profitieren. Zum einen, weil Unterdrückung ganze Teile unserer Menschlichkeit hemmt, zum anderen, weil unser Selbstwertgefühl von der Unterdrückung anderer abhängt. Die soziale Hierarchie lässt uns auf die Über- oder Unterlegenheit anderer angewiesen sein, um uns wertvoll oder wertlos zu fühlen. Wie wäre es, wenn wir uns kollektiv davon befreien würden und jeder Mensch den eigenen Wert erkennen würde, ohne sich auf den Vergleich mit anderen verlassen zu müssen?

Wie können die Prozesse, Regeln und Prinzipien der Unterdrückung sichtbar werden, die der Normalität unterliegen? Wie die bisher unsichtbaren Grenzen, gegen die manche von uns immer wieder stoßen, sich auflösen und porös werden? Der Prozess des politischen Erwachens ist ein langwieriger, der auch viel Wut mit sich bringt. Je privilegierter wir sind, desto schwieriger ist es, Privilegien und Ungleichheit zu erkennen und zu akzeptieren. Vielen Menschen, unabhängig von ihren Privilegien, fällt dies ebenfalls schwer, weil es ihre Wahrnehmung der Welt auf den Kopf stellt. Die resultierende Unbequemlichkeit ist manchmal kaum auszuhalten. Der Psychoanalytiker, Politiker und Theoretiker Frantz Fanon schreibt in Black Skin, White Masks über das unangenehme Gefühl der kognitiven Dissonanz, das ausgelöst wird, wenn ein Kerngedanke, der sehr stark ist, widerlegt wird. Wenn Beweise vorgelegt werden, die gegen diese Überzeugung sprechen, können die Beweise nicht akzeptiert werden. Weil es so wichtig ist, die Kernüberzeugung zu schützen, wird alles, was nicht zur Kernüberzeugung passt, rationalisiert, ignoriert und sogar geleugnet.

Mein familiärer Hintergrund, meine Lebenserfahrungen und meine Arbeit haben mich dazu gebracht, das engmaschige Gefüge des kapitalistischen, patriarchalen, auf der weißen Vorherrschaft basierenden Systems zu dekonstruieren; sie haben mir die Kapazität verschafft, ein anderes Narrativ zu artikulieren, das meine Existenz und Sichtweise reflektiert; die Fähigkeit, bestehende Bezugssysteme zu überdenken und neue zu schaffen; und schließlich einer globalen Gemeinschaft von Aktivist*innen, Denker*innen, Künstler*innen und Anhänger*innen anzugehören, die sich für eine Welt einsetzen, die frei von systemischer Unterdrückung ist.

Während meines Promotionsstudiums trat ich in eine Community ein, die wie eine kleine Oase in der Wüste war, in der ich eine Pause vom ständigen Widerstand einlegen konnte gegen das Gefühl, falschzuliegen. Es war einer der seltenen Orte, an denen ich Zugehörigkeit empfand. Ein Ort der Solidarität und der impliziten Verständigung. In diesem Prozess wurde mir klar, dass viele meiner persönlichen Erfahrungen Teil eines größeren kollektiven Phänomens waren. Mir fielen viele kleine Steine vom Herzen, als ich Begriffe wie »Mikroaggression«, »internalisierter Rassismus«, »Zwangsheterosexualität« und »Mansplaining« entdeckte. Endlich gab es Worte, um meine Erfahrung zu beschreiben und zu benennen. Und noch wichtiger: Ich war nicht allein. Ohne diese Worte hatten die Erfahrungen keine Wirklichkeit, denn, was nicht genannt werden kann, existiert nicht. Kübra Gümüşay beschreibt in ihrem Buch Sprache und Sein die Effekte einer sprachlichen Leere: »Die Ohnmacht, die eine solche linguistische Lücke hinterlässt, ist immens: Weder sind Betroffene in der Lage, das Geschehene zu problematisieren, noch sind sich die Täter*innen einer Schuld bewusst. So bleiben Menschen sprach- und machtlos angesichts einer Ungerechtigkeit, die noch nicht in Worte gefasst ist, die ausreichend viele Menschen verstehen und begreifen. Und ihre Realität bleibt unsichtbar für die Anderen.«3 Aus diesem Grund war #metoo so machtvoll. Millionen von Frauen – und Menschen jenseits der binären Geschlechtsordnung – sind aus der Unsichtbarkeit gekommen und haben den kollektiven Aspekt ihrer Erfahrung erkennen können. Sie waren nicht mehr allein.

In den letzten Jahren habe ich zu verstehen versucht, wie Unterdrückung in allen Bereichen des Lebens erlebt wird, und wie die gesellschaftlichen Systeme, in die unsere Erfahrungen eingebettet sind, funktionieren. Dabei stieß ich auf unschätzbare Texte, Bücher, Artikel und Filme, die im Rahmen der klassischen eurozentrischen Universität nicht leicht zugänglich waren, wie etwa die Werke von Audre Lorde, bell hooks, Gayatri Chakravorty Spivak, Angela Davis, Frantz Fanon, Aimé Césaire, Dipesh Chakrabarty, Achille Mbembe, Edward Said, Kimberlé Crenshaw, Chandra Talpade Mohanty, Maya Angelou, Nirmala Erevelles, May Ayim, Katharina Oguntoye, Fatima El-Tayeb, Peggy Piesche, Jin Haritaworn, Grada Kilomba, Françoise Vergès, Elsa Dorlin, Nacira Guénif-Souilamas, Dean Spade und viele mehr – auf die kritische Rassismusforschung, die Intersektionalitätstheorie, den Queer-Feminismus, den Schwarzen Feminismus, auf Disability Studies und Postkoloniale Theorien. Diese Theorien der Befreiung, wie ich sie gerne nenne, halfen mir dabei, die Mechanismen von Unterdrückung Schicht für Schicht freizulegen – um damit den entscheidenden ersten Schritt auf dem Weg zu ihrer Überwindung zu gehen. Ohne diese zahlreichen Lektüren mit ihren ungewohnten Perspektiven auf globale Ungleichheiten hätte sich mein politischer Aufbruch in Grenzen gehalten. Ich wäre wahrscheinlich nicht über Bauchgefühle und Annahmen hinausgekommen. Die Community war auch ein sicherer Ort für die Wut und die große Verzweiflung, die dieser Prozess auslöste. Es gibt nichts Schlimmeres für die Seele als unverarbeitete Wut. Ich habe oft bereut, mich auf diesen Weg begeben zu haben. Manchmal war ich sogar neidisch auf Freund*innen, die diese Reise nicht unternehmen. Bei mir war die innere Unruhe jedoch zu stark. Seit der Kindheit spürte ich, dass irgendwas mit der Welt, die mir vorgezeigt wird, nicht stimmt. Ich konnte auf dem großen Bild einen Riss sehen, der andere Realitäten durchscheinen lässt.

»Ich habe tausend Sklaven befreit, ich hätte tausend weitere befreien können, wenn sie nur gewusst hätten, dass sie Sklaven waren.« Diese Worte werden Harriet Tubman zugeschrieben, der bekannten afroamerikanischen Fluchthelferin, die bis zum Ende des Sezessionskriegs entlaufenen Sklav*innen half, aus den Südstaaten zu fliehen. Aus unserer jetzigen Perspektive ist es kaum denkbar, dass versklavte Menschen sich damals nicht als solche wahrgenommen haben. »Wer sich nicht bewegt, spürt die Fesseln nicht«, soll Rosa Luxemburg gesagt haben. Aktivist*innen sehen Ketten, die für viele unsichtbar sind, und neigen dazu, alle befreien zu wollen. Viele möchten aber nicht befreit werden und reagieren auf solche Versuche bestenfalls skeptisch, schlimmstenfalls mit Wut und Empörung. Anfangs unterstellte ich anderen Menschen, die von Unterdrückung betroffen sind, einen Befreiungsdrang; das würde ich heute nicht mehr tun, denn jeder Prozess ist einzigartig und sehr persönlich: Eine Cousine von mir, die in einem renommierten Krankenhaus in Paris als Kardiologin arbeitet, war beispielsweise irgendwann vom Feldzug genervt, den ich in meiner Familie führte. Sie sagte mir: »Ich kann mir diese Sichtweise über unsere Gesellschaft nicht leisten, wenn ich in dieser Welt weiter funktionieren muss, ohne verbittert und zynisch zu werden.« Wir hatten einen Streit, als ich meinte, sie solle sich von ihrem Chef nicht mehr »meine Kleine« nennen lassen, weil es sexistisch und paternalistisch sei. Sie rastete aus und sagte, es würde sie mehr kosten, sich dagegen zu wehren, als diese Behandlung einfach zu akzeptieren, denn im Gegensatz zu mir sei sie nun mal keine Aktivistin und könne ihre Zeit und Energie solchen Kämpfen nicht widmen. Das kann ich inzwischen gut nachvollziehen. Auch für meine Schwester, die als Podologin arbeitet, sind Alltagsrassismus und ‑sexismus Teil ihres Jobs: »In meinem Job sind Alltagssexismus und ‑rassismus unvermeidbar, und wenn ich anfange, mich darüber aufzuregen, habe ich schon verloren.« Auf ihre Weise sehen sie die Systeme der Unterdrückung. Sie sind ihren eigenen Weg gegangen, nicht mit meinem vergleichbar, aber auch nicht weniger stichhaltig.

Wenn man dann sozusagen aus dem bestehenden System heraustritt, sich den gesellschaftlichen Normen so weit wie möglich entzieht, ist es, als würde man von einem grellen Licht geblendet. Die meisten Menschen können das Licht nicht ertragen und wollen zurück in die bequeme Dunkelheit. In seiner Allegorie der Höhle drückte es Plato sehr gut aus: Die meisten Gefangenen wollen nicht befreit werden, und denjenigen, die die Welt aus einer anderen Perspektive betrachten könnten, wird weder geglaubt noch werden sie verstanden, sondern sie werden verbannt und verfolgt.

Lass uns mutig sein und die bequeme Höhle verlassen.

3. Zu Hause

»Du hast erst dann eine Heimat, wenn du sie verläßt, und hast du sie einmal verlassen, so kannst du nie mehr zurückkehren.«

James Baldwin1

Ich bin ein Produkt des französischen Kolonialismus. Meine Mutter ist in Martinique geboren, einer der letzten und ewigen französischen Kolonien in der Karibik, politisch korrekt als Übersee-Département bezeichnet. Ihre afrikanischen Wurzeln vermischen sich vermutlich mit einer indischen Abstammung aus Tamil, so genau weiß es niemand, denn ihre Familiengeschichte ist von Ungewissheit, Verdrängung und Schweigen geprägt. Ganze Teile der Genealogie fehlen oder sind nur eingeschränkt nachvollziehbar. Das hängt mit der Geschichte der Sklaverei zusammen: Nach der Zwangsentführung vom afrikanischen Kontinent wurden Herkunft, Name, Geburtsdatum und Abstammung der Menschen ausradiert. Meine Mutter trägt noch den Nachnamen des Sklavenhalters ihrer Vorfahren, Griffit. 1957, als sie drei Jahre alt war, verließen sie und ihre drei Geschwister mit meiner Großmutter Martinique. Sie landeten nach einer langen Reise mit Boot und Flugzeug in Madagaskar, wo ihr Vater in der französischen Armee diente. Drei Jahren später brachte diese die mittlerweile siebenköpfige Familie mit einem Schiff an die Küste der Normandie. Später lebte meine Mutter mit ihrer Familie in den französischen Kleinstädten Caen und Limoges.

Mein Vater wiederum ist der Sohn einer jüdischen Mutter mit sephardischen und aschkenasischen Eltern; sein Vater ist ein katalanischer Pied-noir, Algerienspanier, der in Algerien geboren wurde, wo auch mein Vater zur Welt kam. Nach dem Unabhängigkeitskrieg 1962 musste die Familie, wie alle Pied-noirs und Juden*Jüdinnen, Algerien verlassen; sie gingen nach Marseille. In der Metropole fühlte sich mein Großvater unwohl, befand er sich doch plötzlich in der Position des »Flüchtlings« und konfrontiert mit der Feindseligkeit der einheimischen Bevölkerung. Nach wenigen Monaten wanderte die Familie in die Zentralafrikanische Republik und später in die Elfenbeinküste aus, wo sie den kolonialen Lebensstil wiederherstellen konnte. 1972 verließ mein Vater Afrika, um in Marseille Medizin zu studieren. Im gleichen Jahr wurde seine erste Tochter, meine Halbschwester Victorine, in einem kleinen Dorf in der Nähe von Abidjan von einer viel zu jungen Mutter geboren. Mein Vater lebte die folgenden sieben Jahre in La Réunion und später in Französisch-Guyana. Meine Mutter machte in dieser Zeit ihre Ausbildung zur Krankenschwester in Paris und ging im Anschluss nach Brasilien und später nach Französisch-Guyana, wo sich meine Eltern 1977 kennenlernten. Sie blieben noch drei Jahre in Cacao, einem kleinen Ort mitten in Amazonien, dann ließen sie sich in der Nähe von Paris nieder. Dorthin kam auch Victorine, die mit sechs Jahren von ihrer Mutter und ihrem bisherigen Leben in der Elfenbeinküste plötzlich getrennt wurde. 1983 bin ich geboren, ein Jahr nach meiner Schwester Anaïs und vier Jahre vor meiner Schwester Clémence.

Zu Hause, in der Familie, werden Liebe, Zuneigung, Wertschätzung, Selbstwert und Sicherheit, aber auch Hierarchien und Macht erlernt. Zu Hause wird unsere Identität geformt und ausgehandelt. Alle unsere Beziehungen sind in Machtdynamiken eingebettet. Gesellschaftliche Machtstrukturen schleichen sich bis in unsere intimsten Beziehungen ein, zumeist völlig unbewusst. Paare, die sich für progressiv und egalitär halten, verfallen etwa dennoch häufig in patriarchale Muster, in denen die Frau die Mehrheit der Hausarbeit und Kindererziehung übernimmt. Beziehungen zwischen Eltern und Kindern und zwischen Geschwistern sind definitiv nicht frei von Rassismus, Homodiskriminierung oder Sexismus.

Doch was ist mit sogenannten transracial-Familien wie der meinigen, mit mehr als einer Ethnizität oder Hautfarbe? Sind sie nicht der Beweis dafür, dass Rassismus überwunden werden kann? Sind sie kein Symbol für Toleranz, Offenheit und sozialen Fortschritt? Nein, leider sind gerade diese Familien für Rassismus besonders anfällig.

»Ich, als Schwarze Frau …« – Rassismus in der Familie

Sehr früh musste ich lernen, dass Hautfarbe kein neutrales Merkmal ist. Meine Mutter ist Schwarz und mein Vater ist weiß, ich bin eine métisse, wie der französischsprachige Begriff für biracial lautet. Ein Wort, das meine Identität als Kind und im späteren Leben sehr prägte. Métisse wird mit Schönheit, exotischen Inseln und Weiblichkeit verbunden. Obwohl ich heute weiß, dass solche Konnotationen, auch wenn sie positiv zu sein scheinen, eine sowohl rassistische als auch sexistische Prägung haben, nahm ich die Zuschreibung eher positiv wahr. Wenn mir Kinder in der Schule sagten: »Du bist Schwarz!« antwortete ich: »Nein! Ich bin métisse!«. Dass métisse besser ist als Schwarz, schien für mich eine Selbstverständlichkeit zu sein. Und das war tatsächlich so: Gesehen durch die Augen einer Vierjährigen – und der gesamten Gesellschaft – war métisse besser als Schwarz, und weiß besser als métisse. Als eine Erzieherin hörte, wie ein Kind einem anderen »Du bist Schwarz« zurief, entgegnete sie: »So was sagt man nicht, es ist nicht nett.« Ihre Absicht war gut, doch durch ihre Aussage gab sie beiden Kindern zu verstehen, dass »Schwarz« ein Schimpfwort ist und dementsprechend an sich eine negative Eigenschaft. Während das Schwarze Kind dadurch ein Unterlegenheitsgefühl verinnerlichte, verstärkte sich beim weißen Kind ein Gefühl der Überlegenheit. Die Erzieherin hätte einfach sagen können: »Ja, er ist Schwarz, und du bist weiß. Ihr seid verschieden und beide schön.« Das wäre ihr aber nicht in den Sinn gekommen, weil in ihrem – und dem kollektiven – Unterbewusstsein »Schwarz« negativ konnotiert ist. Ob in Büchern, Liedern, Filmen, in der Werbung oder bei Spielzeug: Unserem kollektiven Unterbewusstsein wurden und werden permanent Bilder von unterlegenen Schwarzen geliefert. Existierende Unterschiede zwischen Menschen sind nicht das Problem, sondern die Wertung, die damit verbunden ist. Ersetzen wir in der oben erzählten Interaktion »Schwarz« mit »dick« oder »behindert«, haben wir das gleiche Ergebnis: eine negative Bewertung von Identitäten, die eigentlich neutral bewertet werden sollten. Den meisten von uns wird es schwerfallen, »Er ist dick/behindert«, zu sagen, ohne dabei das Gefühl zu haben, dass wir den Menschen irgendwie beleidigen.

Wenn Hautfarbe keine Rolle spielt

In transracial-Familien werden Unterschiede oft geleugnet. Weil es einfach bequemer ist, sich nicht mit Differenz und Hierarchie zu beschäftigen. Weiße Eltern von Schwarzen, asiatischen und biracial Kindern tendieren dazu, die Hautfarbe ihrer Kinder auszublenden. Das wäre eine gute Sache, wenn ihre Realität und die Erfahrungen, die sie aufgrund ihrer Hautfarbe machen, nicht ebenfalls ausgeblendet würden. Eltern wollen sich in ihren Kindern wiederfinden und suchen Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten. Die Hautfarbe ist zwar nur eines der Identitätsmerkmale, wie Augen- und Haarfarbe, Sommersprossen, Figur und Charaktereigenschaften, sie ist aber nicht neutral und enthält eine besondere Erfahrung, die von weißen Menschen nicht geteilt werden kann. Weiße Menschen werden nie wissen, wie es sich anfühlt, die Welt als Person of Color innerhalb einer weißen Mehrheit zu erleben. Eltern wollen ihre Kinder nicht nur beschützen, sondern auch verstehen und sich in ihre Haut hineinversetzen. Die Erkenntnis, dass die eigenen Kinder die Welt anders erfahren und unter etwas leiden können, gegen das man selbst abgeschirmt ist, kann deshalb schmerzhaft und frustrierend sein. Empathie jedoch verlangt nicht unbedingt, dass man über dieselben Erfahrungen verfügt.

Ich bin in einer rassistischen Familie groß geworden. Mein Großvater väterlicherseits war sein ganzes Leben ein Anhänger von Le Pen und sehr aktiv im Front National – der rechtsextremistischen Partei Frankreichs. In Zeiten von Wahlkampagnen waren in Nordfrankreich auf sämtlichen Straßen Plakate mit seinem Bild zu sehen. Er hat mich sogar mit ins Hauptquartier des Front National in der Nähe von Paris genommen, als ich sechs Jahre alt war. Ich kann mich erinnern, dass jemand meinen Kopf streichelte und mich anlächelte. Vielleicht war es sogar Le Pen in Person. Meine ganze Kindheit über habe ich aus seinem Mund Beleidigungen über Schwarze, Araber*innen, Muslim*innen und Juden*Jüdinnen gehört. Gleichzeitig war er ein lieber Opa und hat mich und meine Schwestern wie seine anderen Enkelkinder behandelt, die weiß sind. Meine Großmutter väterlicherseits verbirgt ihre jüdische Identität seit dem Zweiten Weltkrieg, in dem viele ihrer Familienmitglieder ermordet wurden. Sie ließ sogar ihre vier Söhne taufen, damit sie bei Bedarf das Zertifikat zeigen können. Nach meinem Großvater hat sie zwei weitere Männer geheiratet, die ebenfalls offenkundig rassistisch und antisemitisch waren. Vielleicht war es für sie ein Schutzmechanismus, dem Feinde nah zu sein. Wie dem auch sei, wir Kinder mussten uns auch ihre rassistischen Aussagen über Schwarze und arabische Menschen anhören. Beide Großeltern väterlicherseits sagten vor uns, ihren métisse-Enkelkindern und ihrer Schwarzen Schwiegertochter, herabwürdigende Dinge über Schwarze Menschen an sich, ohne sich dabei schlecht zu fühlen – und ohne dass mein Vater jemals dagegen aufbegehrte. Wie kann es sein, dass sie eine solch klare Trennung vollziehen konnten zwischen uns und den anderen Schwarzen? Und warum hat uns mein Vater nicht verteidigt? Sie konnten das, weil sie uns nicht gesehen haben. Sie haben unsere Hautfarbe ausgeblendet, damit sie uns akzeptieren und lieben können, ohne dass es bei ihnen innere Konflikte auslöst. Menschen, die gegenüber bestimmten minorisierten Gruppen negative Vorurteile haben, können trotzdem enge Beziehungen mit Mitgliedern dieser Gruppen entwickeln. Als sie schwanger mit ihrem ersten métisse-Kind war, sagte mir eine weiße Bekannte: »Ich hoffe, dass sie nicht zu krasse afrikanische Gesichtszüge haben wird. Und hoffentlich auch keine krausen Haare.« Es klang wie eine Bedingung für die Liebe, die sie ihrem Kind geben würde. Wie würde sie mit ihrer Tochter umgehen, falls sie ihr zu Schwarz sein würde? Als ich mit meiner Anwort: »Ich als Schwarze Frau …« einsetzte, unterbrach mich eine andere Freundin: »Emilia, für mich bist du aber nicht Schwarz. Ich sehe dich nicht als Schwarz«. Ich musste damals kurz überlegen: Sieht sie mich wirklich als weiß? Würde sie einer braunäugigen Freundin sagen: »Für mich hast du keine braunen Augen«? Hatte es mit der Tatsache zu tun, dass ich métisse bin? Doch auch meiner Schwarzen Mutter wurde dieser Satz sehr oft von ihren weißen Freundinnen oder Bekannten gesagt. Außerdem kam die Freundin aus den USA, wo ich eindeutig als Schwarz gelte. Ihre Aussage war Ausdruck der kognitiven Dissonanz, die bei so vielen Menschen ausgelöst wird: »Schwarz ist negativ. Ich mag diese Person. Deshalb ist sie nicht Schwarz.«

Genauso wie die Spitzenkandidatin der AfD Alice Weidel mit einer Frau aus Sri Lanka verheiratet sein kann, kann mein Großvater sowohl rassistisch als auch liebevoll gegenüber seinen Schwarzen Enkeln sein. Das wurde mir noch einmal eindrucksvoll bestätigt, als ich im Rahmen einer Arte-Dokumentation über das Thema Gerechtigkeit meinen Großvater väterlicherseits interviewt habe. Er freute sich sehr, mich zu sehen, umarmte und küsste mich. Nach dem Kamera- und Soundcheck stellte ich meine erste Frage: »Opa, was ist für dich das größte Problem, mit dem unsere Gesellschaft konfrontiert ist?« Mir stand nach seiner Antwort ein paar Sekunden vor Staunen der Mund offen: »Die Rassenmischung ist das größte Problem unserer Zeit.« Trotz meines Erstaunens wusste ich, dass er sich der Absurdität der Situation nicht bewusst war. Daran, dass eine solche Aussage mich verletzen könnte, hatte er offensichtlich nicht gedacht. Meine Schwester erlebte eine ähnliche Situation: Unsere Großmutter sagte ihr, dass unser Vater aufhören solle, Beziehungen zu Schwarzen und »exotischen« Frauen zu haben, weil sie geldgierig und betrügerisch seien – ohne zu »bemerken«, dass ihre Enkelinnen genau solche Frauen sind. In beiden Interaktionen haben unsere Großeltern unsere Hautfarbe – einen Teil unserer Identität – ausgeblendet. Das ist ein Zeichen von fehlender Empathie, aber auch von ungleich verteilter Macht: Unsere Gefühle und Verletzlichkeit sind weniger wichtig als die Freiheit meiner Großeltern, ihre Meinung frei auszudrücken.

Diese Machtausübung wurde von meinem Vater verstärkt, indem er solche Aussagen nicht als rassistisch verurteilte. Ganz im Gegenteil wurden beide Großeltern als »überhaupt nicht rassistisch« und »liebevoll« bezeichnet und geschützt. Mein Vater saß beim Interview für die Arte-Dokumentation im Hintergrund und konnte alles hören. Am Ende des Drehs, der mehrere Stunden dauerte, war ich emotional erschöpft und gleichzeitig erleichtert, dass der Rassismus meines Großvaters nicht mehr verleugnet werden konnte: Ich habe alles nicht geträumt, er hat es tatsächlich vor der Kamera gesagt. Auf dem Rückweg im Auto nahm mein Vater eine vorwurfsvolle Haltung mir gegenüber ein, pochte darauf, dass mein Opa nicht rassistisch sei. Er brachte mich in die Position, mich vor ihm für die Dokumentation rechtfertigen zu müssen. Was ich von ihm gebraucht hätte, wäre Empathie gewesen und eine Entschuldigung dafür, dass er uns nie verteidigt hatte.

Die Beweislast fällt immer denen zu, die Rassismus erfahren. Weiße Menschen genießen eine unantastbare Unschuldsvermutung. Solange eine Tat nicht erwiesen rassistisch ist, ist sie es sicher nicht. Und bei diesem Prozess sind selbst klarste Beweise nicht gut genug. Menschen, die behaupten, keine Hautfarbe zu sehen, sehen auch keinen Rassismus, fragen vielmehr beständig, woher man wisse, dass die Aussagen wirklich rassistisch gemeint waren. Sie verstehen nicht, dass es bei rassistischen Aussagen nicht darum geht, wie es gemeint war, sondern, wie es ankommt. Schwarze Menschen und People of Color werden daher oft in eine Position gebracht, sich fragen zu müssen, ob die unhöfliche Person im Laden nicht vielleicht nur schlecht gelaunt war – und ihre Agressionen gar nichts mit ihrer Hautfarbe, ihrem Hijab oder ihrem Akzent zu tun hatten. Sich diese Frage immer wieder stellen zu müssen, ist eine große psychische Belastung. Man hat sich permanent in die Köpfe anderer hineinzuversetzen – und zweifelt zunehmend an seiner Intuition. Das Gleiche passiert im Übrigen, wenn Frauen sich fragen, ob ein Mann nicht eigentlich nur nett ist und aufmerksam, wenn er aufdringlich ist und sie in eine unsichere Situation bringt.

Wie menschliche Differenzen zu »Rassen« gemacht werden

Doch existieren menschliche »Rassen« überhaupt? Im biologischen Sinne nicht, wie sich heute fast alle einig sind. Beim Begriff »Rasse« handelt es sich vielmehr um ein historisches, soziales und politisches Konstrukt. Auch wenn es phänotypische Unterschiede zwischen Menschen gibt, wie verschiedene Hautfarben, Haartexturen, Nasen- und Augenformen, wurden die vermeintlichen Rassen anhand willkürlicher Kriterien und Merkmale definiert. Es wäre zum Beispiel durchaus möglich gewesen, dies auch anhand der Augenfarbe, der Körpergröße oder der Fußlänge zu tun. Mehrere wissenschaftliche Studien belegen, dass es größere genetische Unterschiede innerhalb einer vermeintlichen Rasse gibt, also zwischen z. B. einer weißen Person aus Russland und einer weißen Person aus Belgien, als zwischen zwei verschiedenen vermeintlichen Rassen, also etwa einer Schwarzen und einer weißen Person, die beide aus Kanada stammen.

Auch wenn Rassen nicht existieren, allein der Glaube daran hat in der neuesten Menschheitsgeschichte eine riesige Wirkung erzielt. Und auch auf der Ebene des Individuums spielt die Vorstellung von Rassen nach wie vor eine Rolle. Obwohl die Kategorie Schwarz keine biologische Basis hat, wird die Erfahrung einer Person, die als Schwarz betrachtet wird, wesentlich von diesem Aspekt ihrer Identität beeinflusst. Deswegen ist es kontraproduktiv, zu behaupten, der Begriff »Rasse« gehöre der Vergangenheit an und solle aus juristischen Texten gestrichen werden und aus dem Sprachgebrauch verschwinden. Eine solche Forderung zeigt, dass Rasse in Deutschland und Europa weiterhin als biologische Kategorie und nicht als ein soziopolitisches Konstrukt verstanden wird. Wie die französische Theoretikerin Colette Guillaumin sinngemäß sagte: Rasse existiert nicht, aber sie tötet Menschen.2

Rassismus ist für die große Mehrheit der Deutschen etwas, mit dem man sich nicht identifizieren will – nicht mal Menschen, die klare und explizit rassistische Meinungen vertreten, wie etwa AfD-Politiker*innen und deren Wähler*innen, wollen das. Das Wort »Rassismus« ist aufgrund der NS‑Vergangenheit Deutschlands untrennbar mit der Brutalität des Genozids verbunden. Deswegen wird im medialen Diskurs eine klare Linie gezogen zwischen dem, was in der NS‑Zeit passiert ist, und der Art von Diskriminierung, die sich heute beobachten lässt, die nicht dermaßen brutal sein muss, sondern subtiler ist und strukturell angelegt. Deswegen präferierten die Medien bis vor Kurzem weniger negativ besetzte Begriffe wie »Ausländerfeindlichkeit« oder »Fremdenfeindlichkeit«. Die Unbequemlichkeit der Wörter »Rasse« und »Rassismus« beeinflusst den nationalen Diskurs über Unterdrückung enorm. Wir scheuen uns in Deutschland, über Rassismus zu sprechen, weil das kollektive Bedürfnis, sich von der Vergangenheit zu distanzieren, stärker ist als die Bereitschaft, zu akzeptieren, dass Rassismus den Zweiten Weltkrieg überlebt hat, vor diesem existierte und bis heute wirkt, wenn auch in anderen Erscheinungsformen.

Der Theoretiker Ramón Grosfoguel beschreibt Rassismus, angelehnt an die Theorie von Frantz Fanon, als eine globale Hierarchie von Über- und Unterlegenheit entlang der »Linie der Menschlichkeit«. Diese wurde in den letzten fünfhundert Jahren politisch, wirtschaftlich und kulturell durch die weiße Vorherrschaft, das kapitalistische System, den europäischen Kolonialismus und das Patriarchat produziert und aufrechterhalten. Die Menschen oberhalb dieser Linie befinden sich in der, wie Fanon sie nennt, Zone des Seins, wo ihre Menschlichkeit gesellschaftlich, rechtlich und politisch anerkannt und geschützt wird. Diejenigen, die sich unterhalb der Linie befinden, leben in der Zone des Nicht-Seins und werden als untermenschlich angesehen. Die Zonen des Seins und des Nicht-Seins sind flexibel und überall auf der Welt zu finden. Sie sind weder einer bestimmten Geographie noch politischen Systemen zuzuordnen. In Berlin gibt es beispielsweise sowohl Zonen des Seins als auch Zonen des Nicht-Seins, die sich auch mal überlappen und nicht klar abgegrenzt sind. Geflüchtete Menschen in Heimen, die keinen Zugang zum Arbeitsmarkt haben und rechter Gewalt ausgesetzt sind, befinden sich in der Zone des Nicht-Seins, und am gleichen Ort befinden sich Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit, gut bezahlten Jobs, einem sicheren Zuhause und genießen rechtlichen Schutz. Die sogenannten Global Care Chains, in denen sich Frauen mit den unterschiedlichsten Hintergründen begegnen, sind ein Paradebeispiel dafür: Innerhalb eines Haushalts liegen die Zonen dicht beieinander.

Fanons Darstellung finde ich besonders hilfreich, um die systemische Dimension von Rassismus besser begreiflich zu machen und Rassismus als Hierarchie zu verstehen. Über- und Unterlegenheit entlang der »Linie der Menschlichkeit«, so Fanon,3 kann entlang unterschiedlicher Merkmale konstruiert werden. Eine solche Rassifizierung geschieht, indem bestimmten Gruppen zugeschrieben wird, sie seien unterlegen, sie werden als »anders« konstruiert. Zum Beispiel konnte Großbritannien eine Überlegenheit über Irland durch das Merkmal Religion konstruieren, nicht über Hautfarbe, indem die Ir*innen aufgrund ihres Katholizismus als »anders« betrachtet und damit als unterlegene Rasse konstruiert wurden. So wurde den Ir*innen für lange Zeit die machtvolle Position des Weißseins abgesprochen. In Deutschland werden muslimische Menschen nicht nur aufgrund ihrer Religion, sondern auch aufgrund ihrer ethnischen Herkunft, der Klassenzugehörigkeit und des Migrationshintergrunds als »anders« und unterlegen konstruiert. Diese Hierarchie ist zum Beispiel im deutschen Schul- und Bildungssystem ersichtlich, wo Mehrsprachigkeit nur dann wertgeschätzt wird, wenn sie neben Deutsch eine andere europäische Sprache wie Französisch, Englisch oder Italienisch umfasst. Die Mehrsprachigkeit von Kindern, die neben Deutsch Türkisch, Arabisch, Urdu, Romanes, Akan oder Hindu sprechen, wird im Gegenteil als Nachteil und Hindernis für die einwandfreie Beherrschung der deutschen Sprache betrachtet. Das ändert sich langsam, hat aber das deutsche Schulsystem in den letzten Jahrzehnten sehr geprägt. Die Kategorien »Migrant*in« und »Flüchtling« wurden, verstärkt durch das europäische Grenzregime, als unterlegen konstruiert und damit ebenfalls rassifiziert. Die sogenannte Integrationspolitik Europas beruht auf einer konstruierten Überlegenheit der europäischen, christlichen Kultur gegenüber anderen Kulturen, die an koloniale Assimilationspolitiken erinnert. Laut dem Integrationsnarrativ müssen sich Menschen, die Kulturen angehören, die als unterlegen wahrgenommen werden – auch wenn dies nicht explizit gesagt wird –, an die überlegene Kultur anpassen, deren Sprache lernen und die Sitten adaptieren.

»Ab heute spreche ich nur noch Kreolisch«

Meine Mutter, die regelmäßig Rassismus von beiden Schwiegereltern zu ertragen hatte, blieb immer still. Sie verteidigte sich – und auch uns – nicht. Wie kommt es zu einem solchen Verhalten? In Martinique, wie in vielen französischen (Ex-)Kolonien, war politische, wirtschaftliche und kulturelle Macht entlang rassenbezogener Linien verteilt. Soziale Mobilität ist deshalb eng mit Hautfarbe verbunden. Je heller die Haut, desto höher der gesellschaftliche Status. Dieses Phänomen hat einen Namen: Colorism – die Hierarchisierung der unterschiedlichen Schwarzen Hauttöne. Kolorismus hat seine Wurzeln in der Sklaverei, wurde als Teile-und-Herrsche-Strategie verwendet, wobei hellere Schwarze Menschen leichtere Arbeit verrichten mussten. Es mag grob vereinfachend erscheinen, aber die sozialen Beziehungen in Post-Sklaverei-Gesellschaften entsprechen dieser Logik noch immer. Wer aufsteigen will, muss versuchen, so weiß wie möglich zu sein. Wer nicht weiß ist, entwickelt zwangsweise Minderwertigkeitsgefühle, bis hin zum internalisierten Selbsthass. Der aus Martinique stammende Frantz Fanon beschreibt dieses Phänomen in seinem Buch Schwarze Haut, weiße Masken. Meine Großeltern haben ihren Minderwertigkeitskomplex an ihre Kinder übertragen, die ihn ihrerseits an ihre eigenen Kinder weitergaben. Rassismus wird von Generation zu Generation gereicht, bis seine machtvolle Logik entlarvt wird, und die Traumata, die er hinterlässt, anerkannt und geheilt werden.

Bei einem Besuch in Martinique im Jahr 2014 passierte etwas, was mich zutiefst bewegte. Meine Großmutter konfrontierte meinen Großvater: »Ab heute spreche ich nur Kreolisch in meinem Haus! Ein ganzes Leben durfte ich kein Kreolisch sprechen, jetzt mit achtzig ist Schluss damit! Es ist meine Sprache, ich werde nie weiß sein, egal, wie doll ich mich anstrenge. Du kannst weiter versuchen, weiß zu sein. Für den weißen Mann wirst du immer ein Nègre[5]  bleiben.« Ich hörte dieses Gespräch vom Nebenzimmer aus an und freute mich heimlich darüber. Als meine Mutter klein war, war Kreolisch zu Hause verboten. Die Kinder durften ausschließlich Französisch sprechen, um so die Spuren ihres Schwarzseins zu vernichten und somit die Chancen für einen sozialen Aufstieg zu erhöhen. Meine erste Sprache ist Französisch, was vor allem an der kolonialen Geschichte Frankreichs liegt. Mein Vater wuchs in Algerien mit Französisch, der kolonialen Sprache, auf, nur seine Oma sprach manchmal Arabisch mit ihm, und sein Opa bei seinen seltenen Besuchen Jiddisch. Mit den verschwundenen Sprachen gingen für mich – wie für viele andere Kinder mit Wurzeln in den alten französischen Kolonien – Teile meiner Geschichte und Identität verloren. Meine Mutter und ihre Geschwister sprechen akzentfrei Französisch. Es ebnete ihnen Wege, die für ihre Cousins und Cousinen, die mit starkem kreolischem Akzent sprachen, verschlossen blieben. Das akzentfreie Französisch reichte natürlich nicht, um die Familie vor Rassismus zu bewahren. Regelmäßig werden sie am Telefon freundlich und offen behandelt, jedoch heftig abgelehnt, wenn sie der gleichen Person persönlich gegenübertreten.

Die Schäden, die Rassismus bei einem Menschen hinterlässt, können durch radikale Akzeptanz – durch Selbstliebe – geheilt werden. Dafür muss Rassismus als System der Entmenschlichung nicht nur anerkannt, sondern auch dekonstruiert werden. Indem meine Oma sich klar gegen die Abwertung von Kreolisch und für die Würdigung ihrer Schwarzen Identität einsetzte, machte sie einen Schritt in Richtung Befreiung und trug zur Heilung der ganzen Familie bei. Meine Mutter war damals nicht in der Lage, sich gegen den Rassismus ihres Mannes und den ihrer Schwiegereltern zu verteidigen, weil sie unbewusst von ihrer Minderwertigkeit überzeugt war. Seitdem ist sie einen langen Weg gegangen, angefangen mit der Trennung von meinem Vater. Heute würde sie die rassistischen Aussagen ihrer Schwiegereltern nicht mehr dulden. Damals wirkte die Akzeptanz von Rassismus, sowohl von meinem Vater, als auch von meiner Mutter, obgleich aus ganz unterschiedlichen Gründen, für uns Kinder wie eine implizite Bestätigung der Minderwertigkeit von Schwarzen Menschen – und damit als Herabwürdigung eines wichtigen Teils von uns. Wenn Differenz negiert und die Hautfarbe ausgeblendet wird, verleugnet dies einen wesentlichen Teil der Identität und hinterlässt im späteren Leben Spuren. Manche von uns werden sich mit dem Trauma nicht konfrontieren können und ihre Hautfarbe weiterhin ausblenden. Andere werden proaktiv versuchen, die verlorenen Teile ihrer Identität zurückzugewinnen, zu würdigen und zu zelebrieren.

»Ach, sind die süß …« – Fetisch Hautfarbe

Ein Phänomen, das in transracial-Familien oft vorkommt, ist die Fetischisierung von biracial, Schwarzen und asiatischen Kindern. Die Hautfarbe wird als Accessoire behandelt, mit dem man sich schmücken kann. Manche nennen das »positiven Rassismus«, aber ich weigere mich, einen solchen Begriff zu verwenden, weil Rassismus nie positiv ist. Zu transracial-Familien zählen auch solche mit Adoptionskindern, die aus Afrika, Asien und Lateinamerika kommen. Weiße Eltern setzen sich zu selten damit auseinander, welche Rolle die Hautfarbe im Leben ihres Kindes spielen wird und wie sich das Großwerden in einer weißen Familie auf ihre Entwicklung auswirkt. In vielen Fällen wird die Hautfarbe sowohl ausgeblendet als auch fetischisiert. Ausgeblendet, wenn es mit Bezug auf Rassismus unbequem wird, und fetischisiert, wenn die Hautfarbe verwertet werden kann. In transracial-Familien laufen daher viele Kinder Gefahr, exotisiert und als Objekt behandelt zu werden. Das heißt nicht, dass die Kinder von ihren Eltern nicht geliebt werden. Aber Liebe ist komplex und nicht frei von unbewussten Unterdrückungsmustern – inklusive Rassismus.

In biracial-Beziehungen kann ein ähnliches Phänomen beobachtet werden. Mein Vater war sein Leben lang nur in Beziehungen mit Schwarzen Frauen – mit der Ausnahme einer arabischen Frau. Von außen betrachtet könnte man den Eindruck haben, dass mein Vater besonders weltoffen ist. Die Fixierung auf Schwarze Frauen zeigt aber vielmehr, dass auf diese Frauen etwas projiziert wird, was nichts mit ihrer intrinsischen Persönlichkeit zu tun hat, sondern mit den Phantasien und Stereotypen, die mit ihrer Hautfarbe verbunden sind. Mein Vater wuchs in französischen Kolonien auf und erlebte seine Pubertät in der Zentralafrikanischen Republik und der Elfenbeinküste, wo er zwischen zwei Welten wählen musste, wie er es selber ausdrückte. Einerseits die extrem rassistische weiße Gemeinschaft von französischen Colons (Kolonisatoren), und andererseits die einheimische Bevölkerung, die Schwarzen. Während sein soziales Leben weiterhin unter den Colons stattfand, fing er an, Schwarze junge Frauen heimlich zu treffen. Biracial-Beziehungen waren in diesen Kreisen damals verpönt. Er entschied sich also nicht voll und ganz für ein einheimisches Sozialleben, sondern nur für die Frauen. Als er später den afrikanischen Kontinent verließ, behielt er dieses Muster bei. Eines Tages, als ich versuchte, mit ihm über Rassismus zu sprechen, sagte er zu mir: »Siehst du? Deswegen wollte ich métisse-Kinder haben. Um Rassismus zu überwinden und zu der Gesellschaft der Zukunft beizutragen.« Mit einem solchen Satz sagte mein Vater viel über die Beziehung zu meiner Mutter aus. Sie war in seinen Augen austauschbar. Hauptsache Schwarz. Meine Mutter war in den gleichen Mustern gefangen, für sie waren métisse-Kinder auch ein unbewusstes Mittel, sich von ihrer Schwarzen Identität zu distanzieren.

Biracial-Kinder gelten für viele als besonders süß und schön. Es gibt unzählige Instagram-Accounts, die sich ausschließlich #biracialkids widmen und Fotos von niedlichen Babys und Kindern zeigen, die mehr als einer Ethnizität angehören. Die Crème de la Crème auf solchen Accounts sind Kinder mit hellen Augen und blonden lockigen Haaren. Ich kann mich noch erinnern, dass ich als Kind auch fetischisiert wurde, sowohl in Martinique als auch in Frankreich.

Eine Schwarze Freundin von mir, die in einer weißen Adoptivfamilie aufwuchs, erzählte mir, dass ihr regelmäßig gesagt wird, transracial-Adoption sei der beste Weg zur Bekämpfung von Rassismus. Dabei sind weiße Eltern(-teile) selten ausgerüstet, um ihre Kinder vor Rassismus zu schützen. Meist müssen sie sich diesen Kämpfen alleine stellen. Das hat meine Freundin erfahren müssen. Und das erfuhren meine Schwester und ich bei meiner Familie väterlicherseits. Sosehr unsere weißen Eltern(-teile) uns lieben, können sie uns nicht ohne Weiteres dabei helfen, gegen eine Form von Diskriminierung anzukämpfen, die sie selber nie erlebt haben. Rassismus kann immer und überall bekämpft werden. Auch transracial-Familien können sich von rassistischen Mustern befreien, aber nur, wenn ihre Mitglieder bereit sind, den zwar unbequemen, aber bereichernden Weg zu gehen, sich mit den eigenen rassistischen Mustern zu konfrontieren. Es verlangt Arbeit, Bescheidenheit und die wichtige Erkenntnis, dass Rassismus zu bekämpfen in erster Linie nichts mit den Gefühlen und Bedürfnissen von weißen Menschen zu tun hat.

Da ich mich als Kind überwiegend in weißen Kreisen bewegte, erwarb ich eine Art instinktives Verständnis des Weißseins. Ich habe die Kapazität entwickelt, die Welt durch die Augen weißer Menschen zu sehen. Das heißt natürlich nicht, dass alle weißen Menschen gleich ticken, aber sie teilen eines: das Privileg, der unsichtbaren Norm anzugehören. Ob sie arm, reich, jung, alt, Mann, Frau, non-binary, trans, heterosexuell, queer, lesbisch, schwul, bisexuell, mit oder ohne Behinderung sind, sie müssen sich mit dem Thema Rassismus nicht beschäftigen, wenn sie es nicht möchten. Rassismus hat zwar eine Wirkung in ihrem Leben, aber sie bleibt meist unsichtbar und überwiegend positiv – sie werden durch ihre Hautfarbe nicht benachteiligt, sondern bevorzugt. Durch dieses instinktive Verständnis des Weißseins entwickelte ich auch eine tiefe Empathie gegenüber weißen Menschen. Ich wusste, dass das Thema Rassismus weiße Menschen oft in die Defensive drängt, weil sie sich angegriffen fühlen. In der konkreten Auseinandersetzung mit dem Rassismus in meiner Familie dauerte es sehr lange, bis ich erkannte, dass die Liebe zu ihr nicht Schweigen bedeuten musste, sondern, dass ich ein Recht auf meinen Zorn hatte. Dass auch meine Gefühle und Bedürfnisse zählten.

Wie die letzten Seiten gezeigt haben, ist es naiv zu behaupten, dass biracial-Paare und transracial-Familien frei von Rassismus seien. Nach dieser Logik wären auch alle Hetero-Paare frei von Sexismus.

Das Nest des Patriarchats

Meine Mutter kümmerte sich zusätzlich zu ihrer Vollzeitarbeit als Krankenschwester um den gesamten Haushalt. Sie machte die Einkäufe, kochte alle Mahlzeiten und machte die Wäsche für die Familie, putzte, kaufte Klamotten für uns, kontrollierte unsere Hausaufgaben, dekorierte das Haus, brachte uns zur Schule, koordinierte Familienfeiern und Geburtstage sowie alle sonstigen organisatorischen Aspekte des Familienlebens wie außerschulische Aktivitäten und Urlaube. Mein Vater beteiligte sich punktuell an diesen Aufgaben, wenn es ihm Spaß machte. Manchmal ging er am Wochenende zum Markt und kochte in aller Ruhe sein Lieblingsgericht. Als Vater war er präsent, unternahm regelmäßig etwas mit uns und ließ uns Dinge erleben, die mich bis heute prägen. In vielen Familien war eine solche Aufteilung in den 1980ern und 1990ern eine Selbstverständlichkeit. Meine Mutter war damals keine Ausnahme. In Frankreich wird die Abholzeit in vielen Kitas und Grundschulen immer noch »die Zeit der Mamas« genannt. In Deutschland ist eine solche Arbeitsaufteilung zwischen Paaren ebenfalls gängig, vor allem im ehemaligen West-Deutschland. Mein Vater, wie viele Männer seiner Generation – und der Nachfolgegenerationen –, sah Aufgaben, die mit Sorgearbeit und Haushaltspflege zu tun haben, nicht als die seinen an. Als er häufig feststellen musste, dass meine Mutter vor lauter Arbeit überfordert war, rief er uns zu: »Helft eurer Mutter!«, ohne darauf zu kommen, dass auch er hätte mithelfen können.

Das Patriarchat ist deshalb so mächtig, weil viele Aspekte der patriarchalen Unterdrückung und männlichen Dominanz in der intimen Sphäre wirken und vom Affekt verdeckt sind. Liebesgefühle, emotionale Verbundenheit und Abhängigkeit vermischen sich mit Machtdynamiken und machen sie unsichtbar. Ich würde sogar behaupten, dass die überwiegende Mehrheit der Frauen, die täglich in patriarchalen Beziehungen unterdrückt werden, sich dessen nicht bewusst ist. Eher wird von »Beziehungsschwierigkeiten« gesprochen und dabei ignoriert, dass diesen Problemen ein gesellschaftliches System zugrunde liegt. Die patriarchale Unterdrückung ist subtil, dennoch machtvoll, und lässt sich nicht einfach identifizieren, da sie oft unsichtbar bleibt. Die Falle, in die viele Menschen tappen, ist die der »Individualisierung«: Einzelne Männer werden verteufelt, beim Patriarchat geht es aber um ein System.

Was ist das Patriarchat eigentlich?

Das Patriarchat heißt für Frauen, sich so klein zu machen wie möglich, nicht zu viel Platz einzunehmen, nicht zu viel zu sprechen, nicht zu laut zu lachen, nicht zu klug zu erscheinen, nicht aufzufallen (außer aufgrund der Schönheit). Klein zu bleiben, damit sich Männer nicht bedroht fühlen. Von meinem Vater musste ich mir als Kind oft anhören, dass ich barsch, rebellisch und dominant war. Als ich meinen Ex-Mann heiratete, gab mein Vater mir den Rat: »Sei nicht zu dominant. Stell dich nicht dem Wettbewerb mit ihm.« Und weil ich dem Bild des unterwürfigen, ruhigen Mädchens nicht entsprach, wurde ich mehr diszipliniert als meine Schwestern. Ich verdiente unter keinen Umständen Empathie und Sanftheit von ihm. Als ich schwanger mit meinem zweiten Kind war und wegen der Schwangerschaftskomplikationen und meines anderen zweieinhalbjährigen Kindes völlig erschöpft bei ihm auf dem Sofa lag, forderte er mich dazu auf, etwas in der Küche zu tun. Als mein zweites Kind kurz nach der Geburt starb, war er leicht irritiert, dass es mir so schlecht ging, konnte erst mal nicht verstehen, dass ich so traurig war. Weil ich es zuvor gewagt hatte, Stärke zu zeigen, wurde nun keine Schwäche von mir toleriert. Im Grunde wurde ich ein bisschen »wie ein Junge« – im patriarchalen Sinne – von meinem Vater erzogen und betrachtet. Ich spüre wohl deshalb Empathie für die Jungs, die im Patriarchat keinen Anspruch auf Verletzlichkeit haben. Gleichzeitig habe ich dadurch gelernt, mich zu behaupten und in der patriarchalen Welt durchzusetzen. Dass er mich oft »wie ein Junge« behandelt hat, hat Möglichkeiten eröffnet und die Ungerechtigkeit des Patriarchats aufgezeigt, weil ich trotzdem als Mädchen sozialisiert wurde, und die Unterlegenheit der Frauen verinnerlicht hatte. Durch das Zusammenleben mit meinem Ex‑Partner hatte ich implizit verstanden, dass ich mich »dümmer« stellen musste, als ich eigentlich war, ihm Fragen stellen, über die Welt, über Politik, über alles, und mir Sachen von ihm erklären lassen musste. Es war intuitiv, mich so zu verhalten, ich merkte, dass es für das fragile Gleichgewicht in der Beziehung sorgte.

Die Herrschaft der Männer ist ein System, das auf der Annahme der Überlegenheit der Männer über die Frauen beruht. Um diese Hierarchie zu verwirklichen, müssen Weiblichkeit und Männlichkeit als naturgegebene Kategorien definiert sein: In der binären Geschlechterordnung sind typisch weibliche und typisch männliche Eigenschaften und Rollen festgelegt, hierarchisiert, den Geschlechtern zugeschrieben. Die Menschheit wird in diese zwei rigiden Kategorien unterteilt. Im Affekt fragen manche schnell: Ist es denn heute wirklich noch so? Die Antwort ist einfach: Solange Jungs, die Röcke, Rosa, lange Haare und Nagellack tragen, unangenehme Gefühle in uns auslösen und solange »Mädchen« ein Schimpfwort für Jungs sein wird, heißt es, dass unsere Gesellschaft noch nicht über Misogynie hinweg ist.