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Gibt es das: Dämonen und böse Geister? Oder handelt es sich um Relikte eines längst vergangenen Denkens, das in unserem Leben schon lange keine Rolle mehr spielt? In seinem neuen Buch richtet Anselm Grün den Blick auf die Dämonen unserer Gegenwart, die uns nicht nur im persönlichen Leben begegnen, sondern auch unsere Gesellschaft prägen. Ob es sich um destruktive Gefühle wie Zorn oder Trägheit handelt, um eine Verabsolutierung der Ökonomie oder eine alles überflutende Kommunikation, die uns den Blick für das Wesentliche raubt. Wie können wir heute auf diese "bösen Geister" reagieren und uns ihnen widersetzen? Und wie kann Heilung geschehen? Anselm Grün verknüpft geistliche Weisheit mit modernen psychologischen Ansätzen. Ein Buch, das dazu inspiriert, destruktiven Einflüssen zu widerstehen und innerlich zu wachsen.
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Seitenzahl: 135
Veröffentlichungsjahr: 2025
Anselm Grün
Widerstehen und Wachsen
Die Macht des Dunklen in unserer Zeit – und wie wir ihr entgegentreten
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2025
Hermann-Herder-Straße 4, 79104 Freiburg
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
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E-Book-Konvertierung: Daniel Förster
ISBN Print 978-3-451-60165-1
ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-83920-7
Inhalt
Bei der Taufe und auch bei der Erneuerung unseres Taufversprechens in der Osternacht werden wir gefragt: »Widersagt ihr dem Satan? Und all seiner Bosheit? Und all seinen Verlockungen?« Vielen von uns dürften diese Worte fremd bleiben oder sogar unangenehm aufstoßen. Was soll das mit dem Widersagen denn für einen Sinn haben? Und was soll der Satan, was sollen die Dämonen? Führt uns das nicht in längst vergangene Zeiten, in denen man überall den Teufel am Werk gesehen und in Angst vor den Dämonen gelebt hat? Auf den ersten Blick mag das so erscheinen, doch es kommt immer darauf an, wie wir diese Worte in unsere Zeit hinein übersetzen können. Die Tatsache, dass sich ein alter Ritus durchgehalten hat, zeigt, dass mit ihm wesentliche Bereiche der menschlichen Seele angesprochen werden.
Lukas nennt den Teufel »diabolos«, einen, der alles durcheinanderwirft, der verwirrt, der unsere Gedanken durcheinanderbringt. Wenn wir dieses Bild anschauen und es auf uns wirken lassen, dann trifft das durchaus auch auf unsere heutige Situation zu. Wir wissen oft nicht, woran wir sind. Und es gibt nicht nur einzelne Menschen, sondern ganze Staaten und Gruppen, die bewusst die Fakten verfälschen. Tagtäglich werden heute Fake News in großen Mengen produziert, sodass die Menschen gar nicht mehr wissen, was Wahrheit und was Lüge ist. Unser Denken wird verwirrt.
Dämonen sind nicht irgendwelche selbständige Wesen, Dämonen sind vielmehr Bilder für Kräfte und Mächte und Tendenzen, die uns auch heute am Leben hindern wollen. Wir können vieles darunter verstehen: Lebensmuster, die uns krank machen, innere Zwänge, Tendenzen in unserer Gesellschaft, die uns nicht guttun und die dazu beitragen, dass wir uns von uns selbst entfremden. Manche mögen hier auch an destruktive oder dunkle Mächte denken, die in der Welt wirken und die wir nicht so recht zu fassen kriegen. Von solchen finsteren Mächten reden heute viele Menschen. Sie haben den Eindruck, dass sie von diesen destruktiven Mächten umgeben sind, die ihnen Angst machen und sie verunsichern.
Der Widerstand, den wir bei der Taufe leisten sollen, hat ein Ziel: ein neues Leben. Der erste Petrusbrief, den manche Exegeten für eine Taufpredigt halten, spricht davon, dass wir in der Taufe neu geboren wurden. Und dieses neue Leben drückt sich so aus: »Ihr wisst, dass ihr aus eurer sinnlosen, von den Vätern ererbten Lebensweise nicht um einen vergänglichen Preis losgekauft wurdet, nicht um Silber oder Gold, sondern mit dem kostbaren Blut Christi.« (1 Petr 1,18–19) Wir sind frei geworden von den alten Zwängen. In der Sprache Sigmund Freuds könnten wir sagen: Wir werden nicht mehr von den Gesetzen und Normen unseres Über-Ichs bestimmt. Der Brief des Petrus nennt diese Lebensweise, die vom Über-Ich geprägt wird, sinnlos, leer.
Das griechische Wort »mataios« bedeutet: »nichtig, eitel, unnütz, wahnhaft«. Das Wort bezeichnet das, was die Buddhisten eine Scheinwelt nennen. Durch die Taufe wurden wir aus einer hoffnungslosen Scheinwelt in die wirkliche Welt hineingehoben, in die Welt, die von Hoffnung geprägt ist. Der Widerstand, den wir gegen die alten Zwänge und gegen die dämonischen Mächte leisten sollen, ist also von der Hoffnung geprägt, dass wir – wie es Paulus in seiner Taufpredigt nennt – »in der Neuheit des Lebens« (Röm 6,4) wandeln. Die Taufe schenkt uns die Hoffnung auf ein neues Leben, das nicht mehr bestimmt wird von dämonischen Mächten, von den inneren Antreibern unseres Über-Ichs, von Zwängen und Ängsten, sondern das vielmehr Freiheit atmet. Der Widerstand, den wir gegen den Widersacher leisten, ist somit von der Hoffnung auf eine neue Lebensweise getragen.
Viele Menschen bringen die Hoffnung nicht mehr mit dem Bild der Taufe zusammen. Für sie ist die Taufe ein altes Ritual, das sie nicht richtig verstehen. Daher braucht es eine Auslegung der Taufe und Taufriten, damit wir spüren: Es geht um unser Leben im Hier und Heute. Wenn wir daran glauben, dass wir nicht durch die Vergangenheit festgelegt sind, dass wir nicht durch die Lebensweise bestimmt werden, die uns das Über-Ich diktiert, sondern wenn wir darauf hoffen dürfen, dass wir auf neue Art und Weise leben und in dieser Welt wirken können, dann geht von uns eine Ausstrahlung aus, die die Welt um uns herum verwandelt. Wir werden dann ähnlich wie die ersten Christen die Menschen unserer Umgebung neugierig machen, weil von uns Hoffnung ausgeht. Dann ist es unsere Aufgabe, den Menschen Rede und Antwort zu stehen, wenn sie nach der Hoffnung fragen, die uns erfüllt. (Vgl. 1 Petr 3,15) Wir sind dann nicht mehr fixiert auf die »von den Vätern ererbten Lebensweise«, auf die Lebensmuster, die uns vom Leben abhalten, und auf die lebensfeindlichen Kräfte in unserer Gesellschaft. Wir leben dann – wie der Philosoph Ernst Bloch das in seinem Buch DasPrinzip Hoffnung ausdrückt – als Menschen, die auf ein »besseres Leben« hoffen, die die Realität unserer unsicheren Welt »überschreiten«, die »ins Gelingen verliebt [sind] statt ins Scheitern«. (Bloch, 1 f.)
Was Paulus im Römerbrief und was der erste Petrusbrief über das neue Leben, das uns die Taufe schenkt, schreiben, könnten wir in der Sprache C. G. Jungs auch als einen Weg zu unserem wahren Selbst nennen. Für C. G. Jung ist Christus der Archetyp des Selbst. Der Widerstand gegen die lebensfeindlichen Mächte und die Entscheidung für Christus ist daher immer auch eine Entscheidung für das wahre Selbst, die Entscheidung für das Leben nicht mehr aus dem Ego, sondern aus dem Selbst. Wenn wir wahrhaft wir selber werden wollen, müssen wir Widerstand gegen Kräfte leisten, die uns am Leben hindern, die uns davon abhalten wollen, wahrhaft Mensch zu werden. Dieser Widerstand gilt den destruktiven Mächten in unserer Gesellschaft, er richtet sich etwa gegen Finanzmächte, die sich selbständig gemacht haben, aber auch gegen krankmachende Kräfte in unserer eigenen Seele. Letztlich gibt uns die Hoffnung auf eine neue Lebensweise, die uns die neue Geburt aus der Taufe gewährt, die Kraft, Widerstand gegen die feindlichen Mächte zu leisten. Widerstand und Hoffnung gehören daher immer zusammen.
Das Thema Widerstand wird gegenwärtig von der Psychologie in einer modernen Variante unter dem Stichwort »Resilienz« neu aufgegriffen. Dabei ist Resilienz mittlerweile zu einem Modewort geworden. Da tut es gut, genauer hinzuschauen, was die Resilienzforschung unter diesem Begriff versteht. Resilienz wird sehr verschieden definiert. Die Entwicklungspsychologin und Pionierin der Resilienzforschung Emmy Werner bezeichnet sie als die Kraft »zum guten Widerstand gegen Widrigkeiten«. Andere verbinden sie mit unserer Widerstandsfähigkeit gegenüber Widerfahrnissen, die von außen auf uns zukommen. Der französische Psychiater Boris Cyrulnik definiert Resilienz als Widerstand gegen Schicksalhaftes. Und er meint: »Menschen, die sich als Gestalter/innen ihres Lebens verstehen, Menschen, die sich nicht in einer Opferrolle positionieren, Menschen, die den Lauf der Dinge nicht für unabänderlich halten – haben bessere Voraussetzungen, in einer bestimmten Situation resilient aufzutreten.« (Sedmak, Patristik und Resilienz, 1 f.) Der Altphilologe Wilhelm Blum beschreibt Resilienz »als
–die Fähigkeit, sich trotz aller Widrigkeiten des Lebens wohl zu fühlen und dankbar zu sein;
–die Kunst, sich immer wieder aufzurichten;
–die Widerstandskraft ohne Zornw gegenüber Vergangenem;
–der fröhliche Blick nach vorne, mithin der Wille, die Zukunft nicht nur passiv zu bestehen, sondern aktiv zu meistern.« (Blum, 11)
Der Resilienz als Widerstandskraft bedürfen wir aber nicht nur als der Fähigkeit, den Widrigkeiten in unserem persönlichen Leben zu widerstehen, sondern auch als der Kraft, uns gegen gesellschaftliche Tendenzen zu stellen, die uns am Leben hindern. Es braucht heute eine besondere Wachsamkeit, um nicht gesellschaftlichen Tendenzen zu verfallen, die uns auf unserem Weg der Selbstwerdung schaden und die ein gutes Miteinander unmöglich machen. Ausgehend von den Erfahrungen der Bibel und der frühen Mönche, möchte ich in diesem Buch daher den Widerstand gegen die Dämonen zum einen als Weg zu gelingender Selbstwerdung beschreiben, zum anderen aber auch als einen Weg zu einer Gesellschaft, die im Frieden miteinander zu leben vermag. Wir sind den lebensfeindlichen Mächten nicht einfach ausgeliefert. Wir dürfen hoffen, dass wir sie überwinden und so als neue, als hoffende Menschen leben.
Doch zuvor möchte ich von der Psychologie C. G. Jungs her fragen, wie wir die Dämonen heute verstehen können, sodass sie uns nicht als das Relikt einer fremden Zeit erscheinen, sondern wir sie als Tendenzen in der menschlichen Seele und in unserer Gesellschaft heute erkennen können.
In der Bibel ist oft von Dämonen die Rede, die Jesus austreibt. Für den Evangelisten Markus bedeutet die Heilung eines Kranken immer auch die Austreibung des Dämons, der die Krankheit verursacht hat. Und auch die frühen Mönche sprechen sehr viel vom Kampf mit den Dämonen. Für uns erscheinen solche Beschreibungen auf den ersten Blick wie eine fremde Welt. Wie können wir also heute Dämonen so verstehen, dass sie uns etwas zu sagen haben, dass sie uns auf wichtige Aspekte unseres Lebens aufmerksam machen und uns die Augen öffnen für das, was uns sonst oft unbewusst bleibt?
Zunächst mag uns die nüchterne Definition der katholischen Dogmatik weiterhelfen, die besagt: Dämonen sind geschaffene geistige Kräfte und personale Mächte. Wenn wir diese etwas abstrakte Definition konkretisieren, dann meint sie: Dämonen sind keine Personen, es handelt sich bei ihnen also um keine Individuen, sondern um Mächte, die dem Personsein schaden wollen. Und es sind geschaffene geistige Kräfte. Es kann sich also um innerpsychische Kräfte handeln, die ja mit der Natur der Psyche auch geschaffen sind. Außerdem können es Lebensmuster sein, Ideen, die den Menschen beherrschen, Zwänge, die sich in ihm zeigen.
Wir können Dämonen also zum großen Teil als psychologische Phänomene erklären. Das hat vor allem die Aufklärung versucht. Aber das Bild des Dämons oder des Satans kennt noch eine weitere Dimension: Es handelt sich um Kräfte, die nicht allein aus der persönlichen Psychologie eines einzelnen Menschen erklärt werden können. Dieses Bild drückt die Tiefendimension des Bösen aus oder dessen, was dem Menschen schaden kann.
Die Psychoanalyse von Sigmund Freud bezeichnet die Dämonen mit dem Ausdruck »parapsychische Phänomene« und sieht darin rein natürliche Vorgänge, die oft mit der Theorie der multiplen Persönlichkeit oder hysterischer Verhaltensweisen erklärt werden. Die Psychologie von C. G. Jung hingegen ist offener für das Bild der Dämonen. Um zu veranschaulichen, wie C. G. Jung die Dämonen versteht, ist es sinnvoll, kurz sein Konzept der menschlichen Seele zu skizzieren. C. G. Jung spricht vom persönlichen Unbewussten, worunter er all die verdrängten Emotionen und Leidenschaften versteht. Je mehr die Leidenschaften, Triebe und Emotionen verdrängt werden, desto eher können sie sich wie ein Dämon im Menschen auswirken. Da wird dann ein Mensch vom Dämon des Zorns geritten, und er ist außer sich vor Zorn. Oder der Neid beherrscht ihn.
Jung spricht aber nicht allein vom persönlichen Unbewussten, sondern außerdem noch vom kollektiven Unbewussten, das durch archetypische Bilder geprägt ist. Archetypische Bilder sind Bilder, die im Menschen etwas bewirken. Sie können heilsam sein und den Menschen mit seinem wahren Selbst in Berührung bringen. Sie können aber auch zerstörerisch wirken.
Im kollektiven Unbewussten sind nicht nur persönliche Emotionen verdrängt. Hier hat sich gleichsam die ganze Geschichte der Menschheit versammelt. Da sind also Themen der Vergangenheit anzutreffen, die nicht bearbeitet wurden. Relikte der magischen Sichtweise, die die Menschen jahrtausendelang geprägt haben, sind hier vorhanden. C. G. Jung nennt diese archetypischen Bilder numinose Mächte. Sie haben etwas Geheimnisvolles. Und sie lassen sich nicht durch ein rein rationales Denken auflösen. Jung meint vielmehr: Je mehr die Aufklärung versucht hat, alles Dämonische rein rational zu erklären und dadurch als Relikte magischen Denkens aufzulösen, desto stärker wurde die Psyche des Menschen dämonisiert. Das hat dazu geführt, dass der Dämon sich in die Seele des Menschen zurückgezogen hat. Und dort ist er für uns oft unerkennbar. Und wir haben keine Distanz dazu. Daher können wir nicht angemessen mit ihm umgehen.
Der Psychologe Alfred Ribi, Psychotherapeut Jung’scher Prägung, hat in diesem Sinne über die Dämonen geschrieben. Ich möchte hier einige seiner Gedanken anführen und sie immer wieder auch in unsere heutige Vorstellungswelt hinein übersetzen. Ribi ist fasziniert vom Dämonenkampf der Wüstenväter. Denn sie haben die Dämonen als Kräfte wahrgenommen, die von außen auf sie zukommen. Daher konnten sie sich von ihnen distanzieren und mit ihnen kämpfen. Ribi meint: »Diese frommen Menschen haben psychologisch Pionierarbeit im Sinne der Individuation, der Bewusstwerdung geleistet.« (Ribi, 21) Wenn wir die Dämonen so, wie die Mönche sie verstanden haben, mithilfe der Jung’schen Psychologie betrachten, können wir sie als verdrängte Emotionen und Leidenschaften begreifen. Die Mönche selber sprechen manchmal von Gedanken und Emotionen, von den sogenannten »logismoi«, das sind Gedankengebilde, emotionale Überlegungen, und manchmal von Dämonen. Ihre Sprache ist also fließend, nicht eindeutig.
Aber die Dämonen, gegen die die Mönche kämpfen, können wir auch mit dem Begriff des kollektiven Unbewussten erklären. Die Mönche sehen ja die Wüste als den Ort an, an dem die Dämonen hausen. Ribi meint: »Als sich das Christentum in den Städten der Antike auszubreiten begann, zogen sich die ansässigen heidnischen Götter, so wird gesagt, in die Wüste zurück. Im christlichen Bereich wurden sie so zu Dämonen.« (Ribi, 13) Ich möchte diese Aussage eher psychologisch deuten: Als das Christentum Staatsreligion geworden war, wurden viele Menschen zu Christen. Aber ihr Christentum war oft noch oberflächlich. Die vergangene Religion, auch die vergangenen negativen Symptome, wie sie die zerfallende Antike aufwies – z. B. der Ruf der Römer nach »panes et circenses«, nach Brot und Spielen, die grausamen Gladiatorenkämpfe, die römischen und griechischen Mythen – waren nicht einfach überwunden. Die Mönche verstanden sich als die Vorkämpfer des christlichen Glaubens, als die Athleten, die mit all den unerledigten Dämonen der Vergangenheit den Kampf aufnahmen. Sie verstanden ihren Dämonenkampf auch als Segen für die ganze Menschheit. Denn sie meinten: Wenn sie in der Wüste als dem eigentlichen Ort der Dämonen gegen die Dämonen siegen, leisten sie einen Beitrag zur Reinigung der Gesellschaft von negativen Strömungen, die im Unbewussten weiterwirkten. Oder mit einem andern Bild: Sie wollten am finstersten Ort der Welt die Dämonen besiegen, damit es in der ganzen Welt heller würde.
C. G. Jung hat einen Lexikonartikel zum Stichwort »Dämonie« geschrieben. Der Artikel beginnt mit den Worten: »Dämonie, eigentümlicher Geisteszustand, der dadurch gekennzeichnet ist, dass gewisse psychische Inhalte, sogenannte Komplexe, an Stelle des Ich wenigstens temporär die Leitung der Gesamtpersönlichkeit übernehmen, und zwar so sehr, dass die freie Willensentscheidung des Ich aufgehoben ist.« (Jung, Bd. 18 II, 694) Der Komplex ist für Jung eine psychische Kraft, die uns für den Augenblick in den Zustand der Unfreiheit, des Zwangsdenkens und -handelns« führt. (Jung, Bd. 8, 111) Jung definiert nicht nur den Komplex. Er kann auch seine Tätigkeit humorvoll beschreiben: Die Komplexe »legen einem gerade das unrichtige Wort auf die Zunge, sie entziehen einem ausgerechnet den Namen der Person, die man vorstellen sollte, sie verursachen Hustenreiz gerade beim schönsten Piano im Konzert, sie lassen den zuspätkommenden Unscheinbarseinwollenden mit Krach über einen Stuhl stolpern.« (Jung, Bd. 8, 112) Jung kann die Komplexe »abgesprengte Teilpsychen« nennen. Und er meint, sie seien im Traum oft aktiv und treten dort personifiziert auf. Die Komplexe sind unbewusst und haben gerade deshalb eine »umso größere Aktionsfreiheit«. Sie können die Persönlichkeit so verändern, dass eine Komplexidentität entsteht: »Dieser durchaus moderne Begriff hatte im Mittelalter einen anderen Namen: damals hieß er Besessenheit.« (Jung, Bd. 8, 113)
