Wie das Gehirn heilt - Norman Doidge - E-Book

Wie das Gehirn heilt E-Book

Norman Doidge

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Beschreibung

Selbstheilung ist keine Zauberei "Unheilbare" Krankheiten vollständig heilen? Das ist möglich. Lange stellten Mediziner bei chronischen Schmerzen, Parkinson oder Demenz die Diagnose "lebenslang". Norman Doidge durchbricht mit seinem Buch "Wie das Gehirn heilt" diese massive Wand aus Leid und Schmerz. Die revolutionäre Erkenntnis von Norman Doidge: Unser Gehirn heilt! Wie das funktioniert und welche Rolle bei der Neuroplastizität etwa traditionelle chinesische Medizin oder buddhistische Meditation spielt, zeigt er an erstaunlichen Beispielen. Ein Mann besiegt Parkinson durch Laufen, ein Blinder kann dank Meditation wieder sehen. Was nach Wunderheilung klingt, belegt Doidge mit wissenschaftlichen Studien. Und es verändert Leben. - Dieses Buch weist Millionen Patienten einen Weg aus dem Leid - ohne Operation, ohne Hokuspokus. - Es ist eine große Hoffnung für chronisch Kranke und deren Angehörige. - Neueste wissenschaftliche Erkenntnisse, populär und authentisch geschrieben. - Doidges bahnbrechende Erkenntnis über Neuroplastizität ist: Durch äußere Impulse wie Licht, Wärme und Elektrizität aber eben auch simple Bewegungen, können wir unser Gehirn dazu bringen, sich selbst zu heilen. - Mit seinem Buch "Neustart im Kopf" hat Doidge bereits einen spannenden Bestseller zum Thema Neuroplastizität vorgelegt. - "Wie das Gehirn heilt" hat es bereits auf die New York Times Bestsellerliste geschafft. - "Faszinierend … erinnert an Oliver Sacks." The Guardian

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Seitenzahl: 767

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Norman Doidge

Wie dasGehirn heilt

Neueste Erkenntnisse ausder Neurowissenschaft

Aus dem Englischenübersetzt von Carl Freytag

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Selbstheilung ist keine Zauberei

»Unheilbare« Krankheiten vollständig heilen? Das ist möglich.

Lange stellten Mediziner bei chronischen Schmerzen, Parkinson oder Demenz die Diagnose »lebenslang«. Norman Doidge durchbricht mit seinem Buch „Wie das Gehirn heilt“ diese massive Wand aus Leid und Schmerz.

Die revolutionäre Erkenntnis von Norman Doidge: Unser Gehirn heilt! Wie das funktioniert und welche Rolle bei der Neuroplastizität etwa traditionelle chinesische Medizin oder buddhistische Meditation spielt, zeigt er an erstaunlichen Beispielen.

Ein Mann besiegt Parkinson durch Laufen, ein Blinder kann dank Meditation wieder sehen. Was nach Wunderheilung klingt, belegt Doidge mit wissenschaftlichen Studien. Und es verändert Leben.

• Dieses Buch weist Millionen Patienten einen Weg aus dem Leid – ohne Operation, ohne Hokuspokus.

• Es ist eine große Hoffnung für chronisch Kranke und deren Angehörige.

• Neueste wissenschaftliche Erkenntnisse, populär und authentisch geschrieben.

• Doidges bahnbrechende Erkenntnis über Neuroplastizität ist: Durch äußere Impulse wie Licht, Wärme und Elektrizität aber eben auch simple Bewegungen, können wir unser Gehirn dazu bringen, sich selbst zu heilen.

• Mit seinem Buch »Neustart im Kopf« hat Doidge bereits einen spannenden Bestseller zum Thema Neuroplastizität vorgelegt.

• »Wie das Gehirn heilt« hat es bereits auf die New York Times Bestsellerliste geschafft.

• »Faszinierend … erinnert an Oliver Sacks.« The Guardian

Vita

Norman Doidge,M. D., forscht als Psychiater und Psychoanalytiker am Columbia University Center for Psychoanalytic Training and Research in New York und an der University of Toronto. Seine Veröffentlichungen als Autor und Essayist sind mehrfach ausgezeichnet worden.

Für Karen, meine Liebe

Inhalt

Hinweis für den Leser

Vorwort

Kapitel 1Heile dich selbst, wenn der Arzt den Schmerz nicht vertreiben kann — Michael Moskowitz entdeckt, wie man chronische Schmerzen verlernen kann

Eine Lektion über den Schmerz: Der Schmerzschalter

Noch eine Lektion über den Schmerz: Bei chronischen Schmerzen spielt die Plastizität verrückt

Ein neuroplastischer Wettstreit

Die erste neuroplastische Patientin

Das MIRROR-Akronym

Wie die Visualisierung Kopfschmerz vermindert

Die Plastizität − ein Placeboeffekt?

Warum es kein Placeboeffekt ist

Kapitel 2Ein Mann rennt seinen Parkinsonsymptomen davon — Wie Training helfen kann, degenerative Krankheiten zu zähmen und die Demenz zu verzögern

Post aus Afrika

Training und neurodegenerative Krankheiten

Eine Kindheit à la Charles Dickens während der Bombardierung von London

Krankheit und Diagnose

Laufen zwischen Schlangen und Vögeln

Bewusste Kontrolle

Die Wissenschaft hinter der bewussten Technik

Anderen helfen

Die Kontroverse

Die Parkinsonkrankheit und die Parkinsonsymptome

Ein Besuch bei Peppers Neurologin

Walkingpausen und die Folgen

Die Wissenschaft hinter dem Walking

Erlernter Nichtgebrauch

Parkinson: die janusköpfige Krankheit

Aufschieben der Demenz

Kap der Guten Hoffnung

Kapitel 3Die Phasen des neuroplastischen Heilens — Wie und warum es funktioniert

Die weite Verbreitung des »erlernten Nichtgebrauchs«

Lärm, Rauschen und Rhythmusstörungen im Gehirn

Die schnelle Bildung neuronaler Gruppierungen

Die Phasen der Heilung

Kapitel 4Neuverdrahtung des Gehirns mit Licht — Wie Licht neurale Schaltkreise aufwecken kann

Eine kleine Welt

Licht tritt in unseren Körper ein, ohne dass wir es merken

Der Vortrag und ein Zufallstreffen

Gabrielle erzählt ihre Geschichte

Besuch in Dr. Kahns Klinik

Laserphysik

Wie Laser Gewebe heilen

Das zweite Treffen

Der Beweis, dass Laser auch das Gehirn heilen können

Die Verwendung von Lasern bei Hirnstörungen

Kapitel 5Moshé Feldenkrais: Physiker, Träger des Schwarzen Gürtels, Heiler — Die Heilung schwerer Hirnschäden durch bewusstes Bewegen

Flucht mit zwei Koffern

Ursprünge der Feldenkraismethode

Grundprinzipien

Detektivarbeit: Was hat der Schlaganfall angerichtet?

Hilfe für Kinder

Das Mädchen, dem ein Teil des Gehirns fehlt

Das Sprechen neu erschaffen

Ohne Grenzen bis zum Ende

Kapitel 6Ein Blinder lernt sehen — Feldenkrais, Buddhismus und andere neuroplastische Methoden

Hoffnungsschimmer

Erste Versuche

Alles zusammen bündeln

Wie die Vorstellung von Blauschwarz das System entspannt

Das Augenlicht kommt zurück: die Hand-Auge-Verbindung

Auf nach Wien

Kapitel 7Ein Gerät, das das Gehirn neu startet — Neuromodulation und Symptomumkehr

Der Krückstock an der Wand

Ein ungewöhnliches Gerät

Warum die Zunge der Königsweg ins Gehirn ist

Treffen mit Yuri, Mitch und Kurt

Die Vorgeschichte von PoNS

Totes Gewebe, lärmendes Gewebe und neue Ideen für PoNS

Reset bei Parkinson, Schlaganfall und Multipler Sklerose

Parkinson

Schlaganfall

Multiple Sklerose

Sprung in der Schüssel

Jeri Lake

Jeri trifft Kathy

Rückschlag

Wie sich das Gehirn selbst ausbalanciert – mit ein wenig Nachhilfe

Einer Frau fehlt Hirnstammgewebe

Yuris Theorie: Wie es funktioniert

Vier Phasen des plastischen Wandels

Neue Grenzen

Kapitel 8Eine Brücke aus Klang — Die ganz besondere Verbindung von Musik und Gehirn

Ein Junge mit Dyslexie hat Glück im Unglück

Eine Zufallsbegegnung in der Abtei Saint-Benôit d’En Calcat

Eine Kurzfassung der Kindheitsgeschichte von Alfred Tomatis

Tomatis’ erstes Gesetz

Tomatis’ zweites und drittes Gesetz

Der akustische Zoom

Auf einer Seite des Mundes sprechen

Das Ohr stimulieren und damit das Gehirn trainieren

Die Stimme der Mutter

Am Fuß der Treppe geboren

Neubildung des Gehirns von »unten«

Autismus, Aufmerksamkeitsdefizit und Störung der sensorischen Verarbeitung

Heilung von Autismus

In einem entzündeten Gehirn verknüpfen sich die Neuronen nicht

Wie die Klangtherapie bei Autismus helfen kann

Lernstörungen, soziales Engagement und Depressionen

Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivität

Neue Beiträge zur Klangtherapie

Eine Störung, die keine ist: die gestörte Verarbeitung der Wahrnehmungsreize

Das Geheimnis der Abtei: die Lösung

Wie Musik unseren Geist fördert und für Energie sorgt

Und warum gerade Mozart?

Anhang 1

Anhang 2

Anhang 3

Danksagungen

Anmerkungen

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Anhang

Über Entdeckungen

»So wie die Hand, die man vor die Augen hält, den größten Berg verdecken kann, kann uns die Routine unsres Alltagslebens daran hindern, den großen Glanz und die geheimen Wunder zu erkennen, die die Welt erfüllen.«

Chassidisches Sprichwort, 18. Jahrhundert1

Über Wiederentdeckungen

»Das Leben ist kurz, die Kunst lang; die Gelegenheit flüchtig; der Versuch gefährlich; die Beurteilung schwierig. Es genügt nicht, dass wir Ärzte das Erforderliche leisten: Der Kranke selbst und seine Umgebung, ebenso wie die äußeren Umstände müssen, jeder das Seinige, zur Erreichung des Zweckes beitragen.«

Hippokrates, Urvater der Medizin, 460–375 v. Chr.2

Hinweis für den Leser

Alle Namen der Patienten, die sich neuroplastischen Transformationen unterzogen haben, sind real, auf Ausnahmen wird besonders hingewiesen. Die Namen von Kindern und ihren Familien sind nicht angegeben.

Detailliertere Angaben und Hinweise finden sich in den Anmerkungen.

Vorwort

In diesem Buch geht es um die Entdeckung, dass das menschliche Gehirn seine eigenen Wege zur Heilung einschlägt. Hat man das einmal verstanden, können viele Hirnstörungen, die man für unheilbar und irreversibel hielt, gemildert werden − oft radikal. In einigen Fällen können sie sogar geheilt werden. Ich möchte zeigen, wie sich ein solcher Heilungsprozess auf ganz bestimmte Fähigkeiten unseres Gehirns stützt – hochspezialisierte Fähigkeiten, die so kompliziert sind, dass man früher annahm, das Gehirn könne sich im Gegensatz zu anderen Organen nicht selbst reparieren, und einmal verlorene Funktionen seien nicht wiederherzustellen. Das Gegenteil ist wahr. Gerade die Kompliziertheit des Gehirns eröffnet einen Weg zur Selbstheilung und zur Verbesserung seiner Funktionsweise. Dieses Buch wird es Ihnen beweisen.

Es beginnt dort, wo mein erstes Buch Neustart im Kopf endet.1 Darin wurde der wichtigste Durchbruch zum Verständnis der Funktionsweise des Gehirns und dessen Verbindung zum Geist seit dem Beginn der modernen Naturwissenschaft beschrieben: die Entdeckung, dass das Gehirn neuroplastisch ist. Dank der Neuroplastizität ist unser Gehirn in der Lage, die Art und Weise, wie es Aktivitäten und mentale Erfahrungen aufnimmt und verarbeitet, selbsttätig zu verändern. Das Buch beschreibt auch viele der ersten Forscher, Ärzte und Patienten, die von dieser Entdeckung, die so erstaunliche Transformationen im Gehirn vollbringen kann, profitieren. Bis dahin konnte man sich diese Transformationen fast nicht vorstellen, denn über 400 Jahre lang herrschte die Ansicht vor, dass sich das Gehirn nicht verändern kann. Die Wissenschaftler hielten das Gehirn für eine großartige Maschine, die aus Teilen bestand, die jeweils ganz bestimmte mentale Funktionen ausführten und ihren ganz bestimmten Platz im Gehirn hatten. Wurde einer dieser Teile durch einen Schlaganfall, eine Verletzung oder eine Krankheit beschädigt, konnte man den Schaden nicht reparieren, weil Maschinen ja weder sich selbst reparieren noch neue Teile hervorbringen können. Die Wissenschaftler glaubten auch, dass die Schaltkreise im Gehirn fest verdrahtet sind und daher nicht verändert werden können. Das bedeutete, dass Menschen, die geistig behindert waren oder an Lernstörungen litten, auf keinen Fall geheilt werden konnten. Als die Maschinenmetaphorik aufkam, verglichen die Forscher das Gehirn mit einem Computer und seine Struktur mit der »Hardware«. Sie glaubten, die einzige Änderung, die alternde Hardware erleiden könne, sei ihre Degeneration aufgrund der Benutzung. Eine Maschine nutzt sich ab: »Use it – andlose it« heißt die Parole, benutze sie und sie nutzt sich ab. Deshalb wurden die Versuche älterer Menschen, ihr Gehirn durch mentale Aktivitäten und Übungen fit zu halten, als Zeitverschwendung angesehen.

Die Neuroplastiker (wie ich die Forscher genannt habe, die zeigen konnten, dass das Gehirn plastischist) widersetzten sich dieser herrschenden Lehrmeinung. Nachdem sie zum ersten Mal das Instrumentarium in der Hand hatten, um die mikroskopischen Aktivitäten eines lebendenGehirns zu beobachten, zeigten sie, dass es sich tatsächlich bei seiner Arbeit verändert. Im Jahr 2000 wurde der Nobelpreis für Physiologie/Medizin für den Nachweis verliehen, dass die Verbindungen zwischen den Nerven beim Lernen zunehmen. Der Wissenschaftler Eric Kandel, der hinter dieser Entdeckung steht, zeigte auch, dass das Lernen Gene »anschalten« kann, die die neurale Struktur verändern. Es folgten Hunderte von Untersuchungen, die zeigten, dass mentale Aktivitäten nicht nur ein Produkt des Gehirns sind, sondern es auch formen. Die Neuroplastizität hat dem Geist seinen rechtmäßigen Platz in der modernen Medizin und im Leben der Menschen zurückgegeben.

Die intellektuelle Revolution, die ich in Neustart im Kopf beschrieben habe, war nur der Anfang. In meinem neuen Buch berichte ich von den erstaunlichen Fortschritten einer zweiten Generation von Neuroplastikern, die, nachdem sie nun nicht mehr unter dem Zwang stehen, die Existenz der Plastizität zu beweisen, alle Freiheit für den Versuch haben, die außergewöhnliche Kraft der Plastizität zu verstehen und sich ihrer Anwendung zu widmen. Ich bin durch fünf Kontinente gereist, um Forscher, Ärzte und Patienten zu treffen und ihre Geschichten zu hören. Einige dieser Forscher arbeiten in den modernsten Labors der westlichen Welt, andere sind Ärzte, die die Forschungsergebnisse anwenden, und wieder andere sind Ärzte und Patienten, die schon auf Neuroplastizität gestoßen waren und effiziente Behandlungstechniken vervollkommnet hatten, bevor die Neuroplastizität im Labor demonstriert werden konnte.

Den Patienten, die in dem Buch vorkommen, wurde gesagt, dass es ihnen nie besser gehen werde. Über Jahrzehnte hin wurde der Begriff Heilungim Zusammenhang mit dem Gehirn − im Gegensatz zu anderen Organsystemen wie der Haut, den Knochen oder dem Verdauungsapparat − nur selten verwendet. Während die Haut, die Leber oder das Blut sich selbst kurieren können, indem sie ihre verlorenen Zellen mit der Hilfe von Stammzellen ersetzen, die als »Ersatzteile« fungieren, wurden derartige Zellen im Gehirn nicht gefunden, obwohl man jahrzehntelang nach ihnen gesucht hat. Man fand keinen Nachweis, dass Neuronen, die einmal verloren gegangen waren, jemals ersetzt wurden. Die Wissenschaftler versuchten das mit der Evolution zu erklären: Bei seiner Entwicklung zu einem Organ mit Millionen hoch spezialisierter Schaltkreise verlor das Gehirn einfach die Fähigkeit, diese Schaltkreise mit Ersatzteilen zu versorgen. Selbst wenn neuronale Stammzellen, also »Babyneuronen«, gefunden werden würden, müsste man sich fragen, ob sie helfen könnten. Wie könnten sie sich jemals in diese komplizierten, schwindelerregend komplexen Schaltkreise des Gehirns einpassen? Da man es für unmöglich hielt, das Gehirn zu heilen, gehörten zu den meisten Behandlungen Medikamente, die das fehlerhafte System unterstützten und die Symptome durch eine zeitweilige Änderung der chemischen Bilanz des Gehirns verringerten. Sobald man aber die Medikamente absetzte, kehrten die Symptome zurück.

Es stellte sich jedoch heraus, dass das Gehirn zu seinem eigenen Nutzen nicht zu kompliziertist. Zu dieser Kompliziertheit gehört nämlich auch, dass Hirnzellen ständig in der Lage sind, elektrisch untereinander zu kommunizieren und immer wieder neue Verbindungen zu bilden. Das Buch will zeigen, dass dies die Quelle einer einzigartigen Fähigkeit zur Heilung ist. Es stimmt, dass auf dem Weg zur Spezialisierung des Gehirns wichtige Fähigkeiten zur Reparatur, die andere Organe haben, verloren gingen. Aber einige wurden auch neu entwickelt, und die meisten von ihnen sind Ausdruck der Plastizität des Gehirns.

Jede Geschichte im Buch zeigt eine besondere Facette der neuroplastischen Heilungsmöglichkeiten. Je mehr ich selbst in diese Verfahren eingebunden war, umso mehr fing ich an, sie zu unterscheiden und dabei wahrzunehmen, dass einige der Ansätze mit jeweils bestimmten Phasen des Heilungsprozesses zu tun haben. Ich schlage in Kapitel 3 ein erstes Modell der Phasen des neuroplastischen Heilens vor, um dem Leser dabei zu helfen, das Zusammenwirken der Phasen zu verstehen.

Wie mit den Entdeckungen von Medikamenten und Operationsverfahren, die für eine riesige Zahl von Krankheiten zu Erleichterungen geführt haben, war es auch mit der Entdeckung der Neuroplastizität. Der Leser wird auf zum Teil sehr detailliert geschilderte Fälle stoßen, die für einen Kranken oder für jemanden, der einen Kranken betreut, relevant sind. Die Krankheiten reichen von chronischen Schmerzen über einen Schlaganfall, ein Schädelhirntrauma oder andere Hirnschäden, Parkinson, Multiple Sklerose, Autismus, Aufmerksamkeitsdefizit-(/Hyperaktivitäts-) Störungen, Lernstörungen (inklusive Dyslexie), Wahrnehmungsstörungen, Entwicklungsverzögerungen, Fehlen eines Teils des Gehirns oder das Downsyndrom bis zu bestimmten Arten von Blindheit und anderem mehr. Bei einigen dieser Leiden kann die Mehrzahl der Patienten vollkommen geheilt werden. In manchen Fällen können schwere oder mittelschwere Krankheiten gemildert werden. Ich werde von Eltern berichten, denen man versichert hatte, dass ihr autistisches oder hirngeschädigtes Kind nie eine normale Ausbildung abschließen würde, die dann aber sahen, dass das sehr wohl ging. Die Kinder machten einen Abschluss, einige besuchten die Universität, wurden unabhängig und entwickelten tiefe Freundschaften. In anderen Fällen blieb es bei einer zugrundeliegenden ernsten Krankheit, aber die Symptome, die das größte Leid verursachten, wurden radikal reduziert. In wieder anderen Fällen wurde das Risiko für Alzheimer und andere Erkrankungen (bei denen die Plastizität des Gehirns reduziert wird) signifikant verringert (siehe Kapitel 2 und 4) und Möglichkeiten zur Verbesserung der Plastizität aufgezeigt.

Die meisten Eingriffe, die in dem Buch geschildert werden, machen sich Energie zunutze: Licht, Schall, Vibrationen, Elektrizität und Bewegung. Diese Energieformen sorgen für einen natürlichen, nicht-invasiven Zugang zum Gehirn, der über unsere Sinne und Körper geht und die Selbstheilungskräfte des Gehirns wachruft. Jeder der Sinne übersetzt eine der vielen Energieformen um uns herum in ein elektrisches Signal, das das Gehirn verarbeitet. Ich werde zeigen, wie es möglich ist, diese verschiedenen Energieformen zu verwenden, um die Muster der elektrischen Signale und letztlich die Struktur des Gehirns zu verändern.

Auf meinen Reisen konnte ich zum Beispiel sehen, wie zur Behandlung von Autismus Töne ins Ohr eingespielt wurden – mit Erfolg. Vibrationen am Hinterkopf werden zur Therapie von Aufmerksamkeitsdefizitstörungen eingesetzt. Stimulationen, die auf der Zunge kribbeln, können die Symptome der Multiplen Sklerose zurückdrängen und die Folgen eines Schlaganfalls heilen. Licht, das auf den Nacken scheint, vermag Kopfverletzungen zu heilen, in der Nase eingesetzt hilft es bei Schlafstörungen, und intravenös kann es sogar Leben retten. Die langsamen, sanften Bewegungen der menschlichen Hand auf dem Körper eines Mädchens, das mit einem unvollständigen Gehirn geboren wurde, können kognitive Problemen lösen und eine fast völlige Lähmung beheben. Ich will zeigen, wie all diese Techniken schlafende Schaltkreise des Gehirns stimulieren und aufwecken. Zu den effizientesten Wegen, das zu erreichen, gehört, das Denken selbst heranzuziehen, um Schaltkreise zu stimulieren. Deshalb haben die meisten Interventionen, die ich bezeugen kann, geistige Bewusstheit und Aktivität mit dem Einsatz von Energie gekoppelt.

Der gemeinsame Gebrauch von Energie und Geist zur Heilung, wie er im Westen ein Novum darstellt, ist freilich in der traditionellen fernöstlichen Medizin von jeher ein zentraler Punkt. Erst jetzt richten Wissenschaftler zunehmend ihr Augenmerk auf diese traditionellen Praktiken und untersuchen, ob sie auch zusammen mit westlichen Modellen funktionieren. Das Verständnis dafür, wie Neuroplastizität eingesetzt werden kann, indem man Einsichten der westlichen Neurowissenschaften mit östlichen Heilpraktiken verknüpft, wächst bei sämtlichen Neuroplastikern, die ich besuchte habe, in bemerkenswertem Ausmaß. Die chinesische Medizin ist dabei ebenso eingeschlossen wie die ähnlich alte buddhistische Meditation und Visualisierung, Kampftechniken wie Tai-Chi und Judo, Yoga und Energietherapie. Die westliche Medizin hat lange die fernöstliche Medizin und ihre Postulate abgelehnt, ihre milliardenfache Anwendung über Jahrtausende hinweg ignoriert. Oftmals aus dem Grund, weil die Vorstellung, dass der Geist imstande sei, das Gehirn zu verändern, den westlichen Wissenschaften zu abwegig erschien. Ich möchte in diesem Buch zeigen, wie die Neuroplastizität eine Brücke zwischen den zwei großen, aber bislang getrennten medizinischen Traditionen der Menschheit schlagen kann.

Es mag vielleicht seltsam klingen, dass die Wege zur Heilung, die in dem Buch beschrieben werden, oft den Körper und die Sinne als erstes Einfallstor verwenden, um Energie und Informationen in das Gehirn zu leiten. Aber das sind die Wege, die das Gehirn verwendet, um uns mit der Welt zu verbinden. So sorgen sie für den natürlichsten und am wenigsten invasiven Weg, um alles ineinander greifen zu lassen.

Ein Grund, warum es die Mediziner übersehen haben, den Körper einzusetzen, um das Gehirn zu heilen, ist die frühere Tendenz, das Gehirn als komplexer anzusehen als den Körper. Das Gehirn galt als das Wesentliche für unser Selbst. Nach dieser üblichen Ansicht »sind wir unser Gehirn«. Das Gehirn ist die oberste Kontrollinstanz, während der Körper ihr Objekt ist, das den Befehlen des Herrn folgt.

Diese Sicht wurde allgemein akzeptiert, weil vor 150 Jahren die Neurologen und Neurowissenschaftler in einer ihrer größten Leistungen zu demonstrieren begannen, in welcher Weise das Gehirn den Körper kontrollieren kann. Sie stellten fest, dass bei einem Schlaganfallpatienten, der seinen Fuß nicht bewegen konnte, das Problem nicht im Fuß lokalisiert war, wie er es spürte, sondern in einem Areal des Gehirns, das den Fuß kontrolliert. Während des 19. und 20. Jahrhunderts kartierten die Neurowissenschaftler, wo im Gehirn welche Körperteile lokalisiert waren. Aber die Gefahr der strengen Gehirnkartierung bestand darin, zu glauben, im Gehirn »finde jede Art von Aktion statt«. Einige Neurologen sprachen vom Gehirn wie von einem Ding ohne Körperlichkeit oder davon, dass der Körper ein bloßes Anhängsel des Gehirns sei, eine Art Infrastruktur zur Unterstützung des Gehirns.

Diese Annahme einer totalen Herrschaft des Gehirns ist aber nicht richtig. Das Gehirn hat sich in der Evolutionsgeschichte viele Millionen Jahre nachdem Körper entwickelt. Als die Körper über ein Gehirn verfügten, änderten sie sich, sodass Körper und Gehirn interagieren konnten und sich einander anpassten. Das Gehirn sendet nicht nur Signale an den Körper, um ihn zu beeinflussen, vielmehr sendet auch der Körper Signale an das Gehirn, und so besteht ständig eine wechselseitige Kommunikationen zwischen beiden. Der Körper hat ein Übermaß an Neuronen, allein der Bauch hat 100 Millionen von ihnen. Das Gehirn existiert nur in den Anatomielehrbüchern vom Körper getrennt und auf den Kopf beschränkt. Durch seine Funktionsweise ist das Gehirn immer mit dem Körper verbunden und über die Sinne mit der Außenwelt. Neuroplastiker haben gelernt, diese breiten Bahnen vom Körper zum Gehirn zu nutzen, um Heilungsprozesse zu erleichtern. Es ist daher so, dass jemand nach einem Schlaganfall den Fuß nicht mehr benutzen kann, weil das Gehirn geschädigt ist. Aber die Bewegung des Fußes kann auch manchmal schlafende Schaltkreise in dem verletzten Gehirn zum Leben erwecken. Körper und Gehirn werden zu Partnern bei der Heilung des Gehirns, und weil diese Ansätze nicht invasiv sind, führen sie nur außergewöhnlich selten zu Nebenwirkungen.

Die Vorstellung von machtvollen, aber nicht-invasiven Behandlungen von Gehirnstörungen scheint zu schön, um wahr zu sein. Das hat historische Gründe. Die moderne Medizin begann mit der modernen Naturwissenschaft, die entwickelt wurde, um die Natur zu beherrschen − zur »Erleichterung des Menschen«, wie es einer ihrer Urväter, Francis Bacon, formulierte. Diese Idee der Unterwerfung hat zu vielen militärischen Metaphern geführt, die auch heute noch in der medizinischen Praxis verwendet werden, wie Abraham Fux, der frühere Dekan für Medizin an der McGill-University zeigt.2 Die Medizin zog gegen die Krankheit in die »Schlacht«.3 Medikamente waren »magische Kugeln«, die Medizin führte den »Kampf gegen den Krebs« und »bekämpfte AIDS« mit den »Befehlen des Arztes aus dem therapeutischen Waffenschrank«. Angesichts dieses »Waffenschranks«, wie die Mediziner ihren Packen an therapeutischen Tricks nennen, erscheinen invasive Hightech-Behandlungen wissenschaftlicher zu sein als nicht-invasive. Es gibt definitiv Zeiten, die eine kriegerische Haltung der Mediziner rechtfertigen, insbesondere in der Notfallmedizin. Platzt eine Vene in der Brust, braucht der Patient eine invasive Operation und einen Chirurgen mit Nerven wie Stahl, der zum Skalpell greift. Aber die Metaphorik führt auch zu Problemen, und die schöne Idee, dass es möglich ist, die Natur zu besiegen, ist eine törichte, naive Hoffnung.

In dieser Metaphorik ist der Körper des Patienten weniger ein Verbündeter als ein Schlachtfeld, und der Patient ist zu Passivität verdammt. Er wird zum hilflosen Zuschauer, wenn er der Konfrontation zwischen den zwei großen Antagonisten zuschaut – dem Arzt und der Krankheit, die sein Schicksal bestimmt. Diese Haltung hat sogar Einfluss auf die Art und Weise, wie viele Mediziner heute mit ihren Patienten sprechen – oder gerade nicht sprechen. Denn oftmals scheinen Laborergebnisse den Hightech-Ärzten wichtiger zu sein als das, was ihre Patienten ihnen erzählen.

Ganz anders der neuroplastische Ansatz. Er erfordert den aktiven Einsatz des ganzen Patienten für sich selbst: Geist, Gehirn, Körper. Ein solcher Ansatz beruft sich nicht nur auf das Erbe der fernöstlichen, sondern auch auf das der westlichen Medizin. Der Urvater der wissenschaftlichen Medizin, Hippokrates, sah im Körper den Hauptheiler. Für ihn arbeiteten Arzt und Patient mit der Naturzusammen, um die Selbstheilungskapazitäten des Körpers zu aktivieren.

Bei diesem Ansatz konzentriert sich der Heilkundige nicht nur auf die Defizite des Patienten, so wichtig sie sein mögen, sondern sucht auch nach gesunden Gehirnregionen, die vielleicht schlafen oder brach liegen und möglicherweise zu einer Genesung beitragen können. Dieser Ansatz will nicht in naiver Weise den neurologischen Nihilismus der früheren Zeiten durch einen ebenso extremen neurologischen Utopismus ersetzen, indem er statt falschem Passivismus falsche Hoffnung predigt. Dabei müssen neu entdeckte Heilungsmöglichkeiten des Gehirns gar nicht zwingend allen Patienten zu jeder Zeit helfen können. Oft wissen wir schlichtweg nicht, was passieren wird, bis der Patient mit der begleitenden Hilfe eines sachkundigen Gesundheitsexperten den neuen Ansatz ausprobiert.

Das Wort heilen geht auf das altgermanische Wort haila zurück und bedeutete nicht nur einfach »kurieren«, sondern »ganz machen«. Das Konzept ist weit von der Idee eines Kurierens in der militärischen Metaphorik entfernt, bei der das Konzept von »siege und herrsche« mitspielt.

Nun warten Geschichten auf Sie. Von Menschen, die ihr Gehirn verändert haben, die verloren gegangene Areale ihres Ichs wieder gewinnen oder in sich Kapazitäten entdecken konnten, von denen sie zuvor nichts gewusst haben. Aber das eigentliche Wunder sind weniger die Techniken, die unser Gehirn nutzt, als vielmehr der Weg, auf dem es sich im Laufe von Jahrmillionen entwickelt hat, als es ausgefeilte neuroplastische Fähigkeiten und einen Geist herausbildete, der seinen eigenen einzigartigen Wiederherstellungs- und Wachstumsprozess regieren kann.

Kapitel 1Heile dich selbst, wenn der Arzt den Schmerz nicht vertreiben kann

Michael Moskowitz entdeckt, wie man chronische Schmerzen verlernen kann

Dr. Michael Moskowitz ist Psychiater und Schmerzexperte, der sich schon des Öfteren selbst zum Versuchskaninchen machen musste.

Korpulent, lebensfroh und einen Meter achtzig groß schaut der Mann, der in den Sechzigern ist, um zehn Jahre jünger aus. Er trägt eine ovale John-Lennon-Brille, hat etwas lange, grau werdende Locken, einen Schnauzbart und ein Unterlippenbärtchen wie ein Beatnik. Er lächelt viel. Ich sah Moskowitz zum ersten Mal auf Hawaii als Chairman der Sitzung der American Academy of Pain Medicine, einer ziemlich nüchternen, sachlichen Veranstaltung. Er trug einen Anzug, aber der schien nicht recht zu seiner starken Ausstrahlung, seiner jungenhaften Erscheinung zu passen. Ein paar Stunden später am Strand trug er Shorts und wilde Farben, war ganz locker, machte Scherze und weckte auch in mir den Jungen. Irgendwie kamen wir ins Gespräch über Ärzte, die sich so oft für klare diagnostische Kategorien interessieren, von denen sie annehmen, sie seien ideale Muster für alle und jeden, und dabei vergessen, wie verschieden die Menschen in Wirklichkeit sind. »Wie ich zum Beispiel«, sagte er.

»Wieso das?«, fragte ich.

»Mein Körperbau.« Daraufhin zog er sein Hawaiihemd hoch und zeigte mir voll Stolz, dass er nicht zwei, sondern drei Brustwarzen hatte.

»Ein echter Freak«, scherzte ich, »nutzt es Ihnen irgendwie?«

Wie früher als Medizinstudenten fingen wir eine etwas pubertäre Scherzdebatte an: Wenn Brustwarzen für Männer nutzlos sind, wer von uns beiden war dann nutzloser, der mit zwei oder der mit drei Nippeln? So haben wir uns kennen gelernt, und alles, was ich von ihm mitbekam − er sang gern, spielte Gitarre, sein einnehmendes Wesen und seine junge Stimme −, ließ darauf schließen, dass er immer noch jemand war, der zu der unbekümmerten Welt aus Liebe, Musik, Lockerheit und Sorglosigkeit der 1960er passte, in der er aufwuchs.

Es ist aber alles ganz anders.

Moskowitz bringt fast seine ganze Zeit damit zu, sich mit den chronischen Schmerzen anderer zu befassen. Die meisten Menschen kennen diese Qualen nicht, zum Teil, weil die Betroffenen durch ihre Schmerzen so erschöpft sind, dass sie ihre wenige verbliebene Kraft nicht mehr dazu verschwenden, sich in ihrem Elend jemandem anzuvertrauen, der ihnen ohnehin nicht helfen kann. Es kann sein, dass man einem Patienten seine chronischen Schmerzen nicht ansieht, es kann aber auch sein, dass ein chronischer Schmerzpatient seiner Umwelt wie ein Gespenst vorkommt, weil die Schmerzen nach und nach alles Leben aus ihm saugen. Moskowitz hingegen war an der Schmerzproblematik voll und ganz beteiligt: Er gründete mit einem anderen Psychiater und Schmerzexperten, seinem alten Freund aus dem Süden, Dr. Robert »Bobby« Hines, in Sausalito in Kalifornien eine Schmerzklinik namens Bay Area Pain Medical Associates, die Patienten behandelt, die unter »hartnäckigen Schmerzen« leiden: Sie haben schon alle Behandlungen über sich ergehen lassen und alle Medikamente geschluckt, sie bekommen regelmäßig »Nervenblocker« (das sind Betäubungsspritzen) und haben Akupunktur ausprobiert. Bei den Patienten, die in der Klinik landen, haben weder die klassischen noch die alternativen Behandlungsmethoden angeschlagen, und man hat ihnen gesagt: »Wir haben alles für Sie getan, was man tun kann.« Kurz: Sie sind »austherapiert«.

»Wir stehen am Ende des Wegs«, sagt Moskowitz, »zu uns kommen die Leute, um mit ihren Schmerzen zu sterben«.

Moskowitz kam zur Palliativmedizin, nachdem er jahrelang als Psychiater gearbeitet hatte. Er hat alle Qualifikationen, die man braucht: Er gehörte zur Prüfungskommission des American Board of Pain Medicine (der die Prüfung von angehenden Palliativmedizinern festlegt), war früher Chairman des Ausbildungskomitees der American Academy of Pain Medicine und gehört zu den angesehensten Experten für psychosomatische Medizin. Dass er aber weltweit führend beim Einsatz von Neuroplastizität bei der Schmerzbehandlung ist, hat er einigen Entdeckungen zu verdanken, die er machte, als er sich selbst behandelte.

Eine Lektion über den Schmerz: Der Schmerzschalter

Es war am 26. Juni 1999, als Moskowitz, der damals 49 war, zusammen mit einem Freund auf die Müllsammelstelle von San Rafael schlich, weil er gehört hatte, dass dort Panzer und andere Kampffahrzeuge der Army für die Parade vom 4. Juli abgestellt seien. Er konnte nicht widerstehen und kletterte wie ein kleiner Junge auf den Turm eines Panzers. Als er wieder heruntersprang, blieb er an der Seite des Panzers mit seiner Cordhose an einer Halterung für Benzinkanister hängen. Bei dem Sturz wurde eines seiner Beine eineinhalb Meter nach oben gezogen, und er hörte drei knallende Geräusche: der Oberschenkelknochen, der längste Knochen, den wir haben, brach durch. Als er auf sein Bein schaute, sah er, dass es im 90-Grad-Winkel vom Körper abstand. »Ich war ein wenig zu alt, um auf Jeeps und Panzern rumzuklettern. Als ich später mit einem Freund sprach, der Anwalt für Personenschäden war, sagte er mir: ›Wenn du sieben wärst, könnte ich ein richtig großes Ding daraus machen.‹«

Als Palliativmediziner nutzte Moskowitz die Situation, um ein Phänomen zu beobachten, über das er zwar seinen Studenten berichtet, das er aber selbst noch nie erlebt hatte. Es sollte sich als zentral für seine Erforschung der Neuroplastizität erweisen. Kurz nachdem er vom Panzer gefallen war, hatte er Schmerzen der Stufe zehn von zehn (oder 10/10, wie es die Palliativmediziner angeben). Schmerzen werden in einer Skala von 0/10 bis 10/10 angegeben, wobei 10/10 den Schmerzen entspricht, die man in siedendem Öl empfindet. Er hatte vorher nicht gewusst, ob er die Schmerzstufe 10 aushalten würde. Jetzt wusste er, dass es ging.1

»Das Erste, woran ich dachte, war, wie ich am Montag zur Arbeit gehen könnte«, sagte er mir. »Das Zweite, was mir klar wurde, als ich bewegungslos auf dem Boden lag und auf den Krankenwagen wartete, war, dass ich überhaupt keine Schmerzen hatte, wenn ich mich nicht bewegte. Ich dachte: ›Oh, das funktioniert wirklich!‹ Mein Gehirn hatte tatsächlich einfach den Schmerz abgeschaltet. Das brachte ich meinen Studenten schon seit vielen Jahren bei. Ich hatte nun eine Erfahrung aus erster Hand, dass das Gehirn ganz von selbst Schmerz ausschalten kann − so wie ich als ganz gewöhnlicher Schmerzexperte versucht hatte, meinen Patienten mit Tabletten, Spritzen oder elektrischer Stimulation zu helfen. So lange ich mich nicht bewegte, betrug die Schmerzintensität eine Minute lang Null.«

»Als die Sanitäter kamen, gaben sie mir sehs Milligramm IV-Morphin. Ich sagte: ›Geben Sie mir nochmal acht Milligramm.‹ Sie erwiderten, dass sie das nicht könnten, und ich sagte: ›Ich bin Palliativmediziner.‹ Dann machten sie es doch, aber als sie mich in den Krankenwagen schoben, war der Schmerz wieder zehn von zehn.«

Das Gehirn kann den Schmerz abschalten, weil akuter Schmerz die Funktion hat, uns vor Gefahren zu warnen – und nicht die Funktion, uns zu quälen. Das englische pain und das deutsche Pein kommen vom altgriechischen ποινή, was »Strafe« bedeutet und über das lateinische poena, was auch »Bestrafung« heißt, zu uns kam.2 Biologisch gesehen ist aber Schmerz keine Strafe um der Bestrafung willen. Das Schmerzsystem ist der unerbittliche Wächter unseres verletzlichen Körpers, es ist ein System, das Signale zur Belohnung und zur Bestrafung aussendet. Es quält uns, wenn wir etwas tun, was unserem schon verletzten Körper weiter schaden könnte. Und es belohnt uns mit Erleichterung, wenn wir Ruhe geben.

Solange sich Moskowitz nicht bewegte, war er, soweit das sein Gehirn beurteilen konnte, nicht in Gefahr. Er wusste auch, dass der »Schmerz« nie wirklich in seinem Bein war. »Alles, was mein Bein gemacht hat, war, Signale an mein Gehirn zu schicken. Wir wissen von der Vollnarkose, die die ›höheren‹ Teile des Gehirns einschlafen lässt, sodass es keinen Schmerz gibt, wenn das Gehirn diese Signale nicht verarbeitet.« Eine Vollnarkose muss uns aber bewusstlos machen, um den Schmerz auszuschalten. Nun lag Moskowitz jedoch mit seinen Qualen am Boden, und sofort schaltete sein vollständig bewusstesGehirn den ganzen Schmerz ab. Wenn nur herauszufinden wäre, wie er diesen Schalter bei seinen Patienten umlegen könnte!

Es waren aber nicht nur Bewegungen, die für Moskowitz eine Gefahr darstellten. Während er auf die Sanitäter wartete, starb er fast, weil beinahe die Hälfte seines Blutes in das verletzte Bein schoss, sodass es auf seine doppelte Größe anschwoll: »Mein Bein war so dick wie meine Taille.« Mit all dem Blut im Bein war es ein Wunder, dass er nicht an Organversagen durch Blutunterversorgung starb. Aber er schaffte es in die Klinik, wo ihm »der Chirurg die größte Schiene, die er hatte, ins Bein montierte und sagte, wenn noch eine weitere Schraube nötig gewesen wäre, hätten sie das Bein amputieren müssen«.

Während der Operation starb er noch zweimal beinahe. Zuerst bildete sich ein Blutgerinnsel, das in seine Lunge oder ins Gehirn hätte gelangen können, um dort eine Embolie zu verursachen. Dann stach der Katheter, den man für das Ableiten des Urins gelegt hatte, in die Prostata, woraufhin er hohes Fieber entwickelte und einen septischen Schock erlitt, also in einen lebensbedrohlichen Zustand kam, in dem der Körper von einer Infektion überwältigt wurde. Sein Blutdruck fiel auf 80 zu 40; optimal sind 120 zu 80.

Aber er überlebte − und lernte dabei eine weitere Lektion über den Schmerz: Der kluge Einsatz von ausreichend Morphin während der akuten Schmerzen hatte die Nerven davor bewahrt, ständig angeregt zu werden, und ihm ein chronisches Schmerzsyndrom erspart. (Das war der Grund, dass er nach mehr Morphin verlangt hatte, als der akute Schmerz noch nicht abgeklungen war.) Trotz der Schwere seines Unfalls hatte er nach ein paar Jahren nur sehr wenig Schmerzen im Bein und konnte ohne Schmerzen zwei, drei Kilometer gehen, wie wir es am Strand von Hawaii gemacht haben.

Die Tatsache, dass das Gehirn blitzschnell den Schmerz abschalten kann, widerspricht unserem »gesunden Menschenverstand«, der uns sagt, dass der Schmerz aus dem Körper kommt. Nach der traditionellen wissenschaftlichen Ansicht, wie sie der französische Philosoph René Descartes vor 400 Jahren formuliert hat, senden unsere Nerven bei einer Verletzung ein Signal in nur eine Richtung: an das Gehirn. Die Stärke des Schmerzes ist proportional zur Schwere der Verletzung. Mit anderen Worten: Das Schmerzsignal liefert einen exakten Bericht über die Schwere der Verletzung an das Gehirn, dessen einzige Rolle es ist, den Bericht entgegenzunehmen.

Diese Ansicht ist aber seit 1965 überholt. Damals veröffentlichten der kanadische Neurowissenschaftler Ronald Melzack, der Phantomglieder und -schmerzen untersuchte, und sein britischer Kollege Patrick Wall, der sich dem Schmerz und der Plastizität widmete, den wichtigsten Aufsatz in der Geschichte des Schmerzes. Der Titel lautete »Pain Mechanisms: A New Theory«.3 Melzack und Wall argumentieren in diesem Aufsatz, dass das Wahrnehmungssystem für Schmerzen über das gesamte Gehirn und das Rückenmark verteilt ist und dass unser Gehirn weit davon entfernt ist, nur der passive Empfänger von Signalen zu sein. Es bestimmt vielmehr, wie viel Schmerz wir empfinden. Ihre »Gate Control Theory« oder Kontrollschrankentheorie besagt, dass die Schmerzsignale aus einem geschädigten Gewebe, die über das Nervensystem gesendet werden, schon im Rückenmark einige Kontrollschranken oder »Gates« passieren müssen, bevor sie im Gehirn ankommen. Die Signale überwinden die Kontrollen nur, wenn das Gehirn dazu seine Erlaubnis gibt, nachdem es beurteilt hat, ob die Signale wichtig genug sind, um durchgelassen zu werden. Ein Beispiel: Als Präsident Reagan 1981 in die Brust geschossen wurde, stand er einfach weiter da, und weder er noch die Bodyguards wussten, dass er angeschossen worden war. Er erklärte später im Scherz: »Ich bin vorher noch nie angeschossen worden, außer in meinen Filmen. Dort spielt man immer so, wie wenn es weh tut. Jetzt weiß ich, dass das nicht immer so ist.« Wenn die »Erlaubnis« für das Signal erteilt ist, weiter in Richtung Gehirn eilen zu können, öffnet sich ein Gate und verstärkt unser Schmerzempfinden, indem es bestimmte Neuronen einschaltet und ihnen erlaubt, uns ihre Signale weiterzuleiten. Aber unser Gehirn kann ein Gate auch schließen und damit das Schmerzsignal blockieren, indem es Endorphine ausstößt, Betäubungsmittel, die unser Körper erzeugt, um Schmerzen zu unterdrücken.

Vor seinem Unfall hatte Moskowitz seinen Studenten in den Vorlesungen von der neuesten Gate-Theorie berichtet, wonach Schalter die Gates kontrollieren. Aber es ist eine Sache, zu wissen, dass es diese Schalter gibt. Eine andere Sache ist, herauszufinden, wie man sie umlegt, wenn man am Boden liegt und Höllenqualen erleidet.

Noch eine Lektion über den Schmerz: Bei chronischen Schmerzen spielt die Plastizität verrückt

Der Panzerunfall war nicht die erste Gelegenheit, bei der Moskowitz wichtige Einsichten über den Schmerz an sich selbst gewann. Schon ein paar Jahre zuvor hatten ihm Nackenschmerzen, die er nach einem Wasserskiunfall hatte, eine erste Lektion erteilt, eine Lektion, die ihn besser verstehen ließ, welche Rolle die Neuroplastizität beim Thema Schmerzen spielt. Beim Wasserskifahren mit seinen Töchtern hatte Moskowitz, dieses große Kind, Gas gegeben und war bei einer Geschwindigkeit von über 60 Kilometern pro Stunde gestürzt und in einen aufgeblasenen Gummireifen gerauscht. Er überschlug sich, knallte auf das Wasser und sein Kopf wurde nach hinten gerissen. Die Schmerzen, die auftraten, erwiesen sich als hartnäckig. Oft lagen sie bei 8/10, und an vielen Tagen hinderten sie ihn daran zu arbeiten. Sie bestimmten bald seinen Tagesablauf, wie es noch keine Schmerzen zuvor getan hatten. Er schluckte Morphin und andere starke Schmerzmittel und durchlief alle denkbaren Therapien: Physiotherapie, Traktion (Strecken des Nackens), Massage, Autohypnose, Wärme, Eis, fiebersenkende Medikamente. Aber all das schlug kaum an. Die Schmerzen verfolgten und quälten ihn 13 Jahre lang und wurden dabei immer stärker.

Mit 57 Jahren war er an einem absoluten Tiefpunkt angekommen. Zu diesem Zeitpunkt stieß er auf die Entdeckung der Neuroplastizität unseres Gehirns und begann, nach der Verbindung dieser Theorie zum Schmerz zu suchen. Die Idee, chronische Schmerzen könnten von einem neuroplastischen Ereignis im Gehirn verursacht werden, hatte der deutsche Physiologe Manfred Zimmermann bereits 1978 formuliert,4 da aber die Neuroplastizität weitere 25 Jahre weitgehend nicht anerkannt wurde, war Zimmermanns Idee kaum bekannt und ihre Anwendung auf die Behandlung von Schmerz noch unerforscht.

Akute Schmerzenwarnen uns vor Verletzungen oder einer Krankheit, indem sie an das Gehirn ein Signal senden: »Dort bist du verletzt worden – kümmere dich darum.« Manchmal betrifft eine Verletzung aber zweierlei: zum einen unser Körpergewebe und zum anderen die Neuronen in unserem Schmerzsystem, jene in Gehirn und Rückenmark eingeschlossen. Die Folge: Es entstehen neuropathische Schmerzen, die manchmal auch zentrale Schmerzengenannt werden, weil das Gehirn zusammen mit dem Rückenmark unser zentrales Nervensystem bildet.

Neuropathische Schmerzen treten aufgrund des Verhaltens der Neuronen auf, die die Schmerzkarte in unserem Gehirn aufbauen. Die Bereiche unseres Körpers sind in unserem Gehirn in bestimmten Arbeitsbereichen repräsentiert, die man »Gehirnkarten« nennt. Wenn man einen Punkt im Körper oder auf der Körperoberfläche berührt, beginnt ein bestimmter Teil der Gehirnkarte, der diesem Punkt zugeordnet ist, zu »feuern«, also Signale zu senden. Diese Karten unseres Körpers sind topografisch organisiert, was heißt, dass Bereiche, die im Körper aneinander grenzen, im Allgemeinen auch auf der Gehirnkarte nebeneinander liegen. Werden die Neuronen in unserer Schmerzkarte geschädigt, geben sie fortwährend falschen Alarm. Wir glauben dann an ein Problem in unserem Körper, während es doch vor allem im Gehirn sitzt. Lange nachdem der Körper geheilt ist, feuert das Schmerzsystem immer noch. Der akute Schmerz hat ein Nachleben entwickelt: Er ist zum chronischen Schmerzgeworden.

Um zu verstehen, wie sich chronischer Schmerz entwickelt, muss man die Struktur der Neuronen kennen. Ein Neuron hat drei Teile: die Dendriten, den Zellkern und das Axon. Die Dendriten sind baumartige Verzweigungen, die als Input die Signale anderer Neuronen aufnehmen. Die Dendriten reichen in den Zellkern, der das Leben der Zelle aufrechterhält und die DNA bewahrt. Das Axon schließlich ist ein lebendes Kabel von unterschiedlicher Länge (von mikroskopisch kleinen Dimensionen wie im Gehirn bis zur Länge von einem Meter bei Axonen, die entlang der Beine verlaufen). Die Axone werden oft mit Drähten verglichen, weil sie elektrische Impulse mit großer Geschwindigkeit (zwischen drei und 400 Kilometern pro Stunde) zu den Dendriten benachbarter Neuronen weiterleiten. Ein Neuron kann zweierlei Signale aufnehmen: ein erregendes und ein hemmendes. Erhält ein Neuron ausreichend viele erregende Signale, feuert es sein eigenes Signal. Erhält es ausreichend viele hemmende Signale, ist es weniger wahrscheinlich, dass es feuert.

Die Axone berühren aber die Nachbardendriten nicht ganz, sie sind vielmehr durch eine mikroskopisch kleine Synapsegetrennt. Ist ein elektrisches Signal am Ende des Axons angekommen, bewirkt es die Abgabe eines chemischen Botenstoffs, eines Neurotransmitters, der in die Synapse eintritt. Der Botenstoff fließt weiter bis zum Dendriten des benachbarten Neurons und erregt oder hemmt es. Wenn wir sagen, dass sich Neuronen selbst neu »verdrahten«, meinen wir, dass sich etwas an der Synapse ändert, was die Zahl der Verbindungen zwischen den Neuronen vergrößert oder verkleinert und die Verbindungen stärkt oder schwächt.

Eines der Hauptgesetze der Neuroplastizität ist, dass sich Neuronen, die zusammen feuern, auch verdrahten: »Fire together − wire together« heißt es so schön im Englischen. Das bedeutet, dass wiederholte mentale Erfahrungen des Gehirns zu Strukturänderungen in den Neuronen führen, die diese Erfahrungen verarbeiten und die synaptischen Verbindungen zwischen diesen Neuronen stärken.5 Mit anderen Worten: Lernen wir etwas Neues, werden verschiedene Neuronengruppen miteinander verdrahtet. Lernt ein Kind das ABC, verbindet es die Gestalt des Buchstabens »Z« mit dem Klang »͡tsɛt«. Immer wenn das Kind auf den Buchstaben »Z« schaut und den Klang »͡tsɛt « wiederholt, feuern die beteiligten Neuronen gleichzeitig − und verdrahten sich dann, indem die synaptischen Verbindungen zwischen ihnen verstärkt werden. Immer wenn eine Aktivität wiederholt wird, durch die Neuronen verbunden werden, feuern diese Neuronen zusammen schnellere, stärkere und schärfere Signale. Damit werden die Schaltkreise immer effizienter und können die entsprechenden Aufgaben immer besser erfüllen.

Das Ganze gilt auch umgekehrt. Fällt eine Aktivität längere Zeit aus, werden die entsprechenden Verbindungen geschwächt, und nach einiger Zeit gehen auch viele verloren. Das ist ein Beispiel für ein weiteres allgemeines Prinzip der Neuroplastizität, das mit »Use-it-or-lose-it« (benutze die Möglichkeiten, sonst gehen sie verloren, oder, wie das Sprichwort sagt: »Wer rastet, der rostet«) beschrieben werden kann. Inzwischen haben Tausende von Experimenten diese Tatsache untermauert. Oft werden die Neuronen, die bei einer Aufgabe mitgewirkt haben und nun unbeschäftigt sind, übernommen und für andere mentale Aufgaben verwendet, die jetzt häufiger ausgeführt werden. Weil sich Neuronen, die einzeln feuern, auch einzeln verdrahten, kann man das Prinzip von »Use-it-or-lose-it« manchmal manipulieren, um Verbindungen im Gehirn zu löschen, die nicht nützlich sind. Ein Beispiel: Jemand hat die schlechte Angewohnheit herausgebildet, immer zu essen, wenn er sich ärgert. Damit hat er das Vergnügen des Essens mit dem trüben Gefühl emotionalen Schmerzes verbunden. Um diesen Zusammenhang zu unterbrechen, muss man herausfinden, wie man beides trennen kann. Es könnte sein, dass sich der Patient strikt verbieten muss, in die Küche zu gehen, wenn er sich ärgert – bis er einen besseren Weg findet, mit seinen Emotionen umzugehen.

Plastizität kann ein Segen sein, wenn der immer wieder auftretende sensorische Input angenehm ist, weil sie dann zu einer Entwicklung des Gehirns führt, das nun angenehme Empfindungen besser wahrnimmt und auskostet. Die gleiche Plastizität kann sich aber als Fluch erweisen, wenn es das Schmerzsystem ist, das fortwährend Signale empfängt. Das kann passieren, wenn eine Bandscheibe verrutscht und ständig auf ein Nervenende im Rückenmark drückt. Die Schmerzkarte für das Gebiet wird überempfindlich, und der Patient empfindet nicht nur Schmerzen, wenn die Bandscheibe bei einer falschen Bewegung den Nerv tangiert, sondern auch, wenn die Bandscheibe fast gar nicht drückt. Das Schmerzsignal verbreitet sich über das ganze Gehirn, sodass der Schmerz auch noch anhält, wenn der auslösende Reiz längst verschwunden ist. (Etwas Ähnliches, noch Drastischeres passiert bei Phantomschmerzen, wenn jemand sein Bein verloren hat, es ihm aber immer noch wehtut. Dieses komplexere Phänomen wird in meinem Buch Neustart im Kopf diskutiert.)

Melzack und Wall haben gezeigt, wie eine chronische Schädigung nicht nur die Zellen des Schmerzsystems leichter zum Feuern bringt, sondern auch dazu führt, dass sich das »rezeptive Feld« unserer Schmerzkarte vergrößert. Das ist der Bereich unseres Körpers, für den die Schmerzkarte zuständig ist, sodass wir den Schmerz in einem größeren Gebiet unseres Körpers spüren. Das passierte Moskowitz, als sich seine Nackenschmerzen auf beide Seiten des Nackens ausbreiteten.

Melzack und Wall zeigten auch, dass sich bei einer Vergrößerung der Schmerzkarte die Signale aus einer Karte auf angrenzende Karten ausbreiten. Dann kann sich übertragener Schmerz entwickeln, was heißt, dass wir den Schmerz in einiger Entfernung von der eigentlichen Schädigung spüren. Schließlich können die Schmerzkarten im Gehirn so mühelos feuern, dass der Betroffene in großen Teilen seines Körpers unablässig quälende Schmerzen empfindet − und das alles als Reaktion auf eine winzig kleine Reizung eines Nervs.

Je mehr also Moskowitz stechende Schmerzen im Nacken spürte, umso leichter erkannten das die Neuronen im Gehirn und umso stärker wurden die Qualen. Der Begriff für diesen gut belegten neuroplastischen Prozess ist »wind-up pain«,weil die Rezeptoren des Schmerzsystems umso empfindlicher werden, je mehr sie feuern.

Moskowitz musste feststellen, dass er ein chronisches Schmerzsyndrom entwickelte und in einem Teufelskreis steckte, in einer Falle seines Gehirns: Jedes Mal, wenn er wieder einen Schmerzanfall erlitt, reagierte sein plastisches Gehirn empfindlicher darauf und machte die Schmerzen schlimmer − und er war bereit für den nächsten, noch schlimmeren Anfall. Alles wurde schlimmer: die Intensität des Schmerzsignals, seine Dauer und die Größe des Raums, den der Schmerz in seinem Körper besetzte.

1999 begann Moskowitz, auf seinem Computer Bilder zu entwerfen, die demonstrierten, wie chronische Schmerzen die Schmerzkarten im Gehirn vergrößern. In dieser Zeit war die palliative Medizin noch vor allem auf die Frage konzentriert, wie der Schmerz im Rückenmark und im peripheren Nervensystem verarbeitet wird, und nicht auf die Verarbeitung im Gehirn. Auch 2006 enthielt das wichtigste amerikanische Lehrbuch über den Schmerz, das Wall and Melzack’s Textbook of Pain, nur ein Kapitel über Plastizität und das Rückenmark, aber nichts über Plastizität und das Gehirn. Erst ein paar Jahre später verschob Moskowitz mit seinem Aufsatz »Central Influences on Pain« die Gewichte.6

Moskowitz bezeichnete chronische Schmerzen als »erlernte Schmerzen«. Chronische Schmerzen zeigen nicht nur eine Krankheit an, sie sind selbst eine Krankheit. Das Warnsystem des Körpers bleibt angeschaltet, weil der Betroffene nicht in der Lage war, Abhilfe für akute Schmerzen zu schaffen. Dadurch wurde das zentrale Nervensystem geschädigt: »Ist Schmerz erst einmal chronisch geworden, ist er weit schwieriger zu behandeln.«7

Die Ideen Moskowitzʼ glichen sich immer mehr einer anderen Theorie Melzacks an, der »Neuromatrixtheorie« des Schmerzes. Akuter Schmerz ist eine Empfindung, ein »Input«, der von unseren Schmerzrezeptoren von »unten« nach »oben« in das Gehirn gelangt. Chronischer Schmerz ist dagegen weit komplexer und kein »Bottom-up«-, sondern eher ein »Top-down«-Prozess, der von oben nach unten verläuft. Der entscheidende Punkt der Neuromatrix-Theorie des Schmerzes ist, dass chronischer Schmerz eher eine Wahrnehmung als eine Empfindung ist, weil das Gehirn viele Faktoren einbezieht, um das Ausmaß der Gefahren für das Gewebe zu bestimmen. Zahlreiche Untersuchungen haben gezeigt, dass das Gehirn bei der Herausbildung unserer subjektiven Schmerzwahrnehmung parallel mit der Beurteilung der Schäden auch prüft, welche Maßnahmen den Schmerz lindern könnten. Das Gehirn entwickelt zudem Erwartungen, ob die Schädigung zurückgehen wird oder sich vergrößert.8 Die Summe all dieser Beurteilungen bestimmt insgesamt unsere Zukunftserwartungen, die wiederum eine große Rolle für das Schmerzniveau spielen, das wir empfinden. Weil das Gehirn auf diese Weise unsere Wahrnehmung von chronischem Schmerz beeinflusst, hat ihn Melzack umso mehr als einen »Output des zentralen Nervensystems« konzipiert.9

Der Schmerz verläuft also nicht nur in einer Richtung – vom Körper zum Gehirn –, sondern in einem Kreislauf, in dem ständig Signale hin- und hergeschickt werden: vom Körper zum Gehirn und zurück. Die Schmerzreaktion endet nicht, wenn das Schmerzsignal das Gehirn erreicht hat, vielmehr startet es unzählige automatische Reaktionen, die sich herausgebildet haben, um weiteren Schaden zu verhindern und die Heilung zu fördern. Wir schlagen zurück: Wir schützen unsere geschädigten Glieder und bewegen sie nicht, wir jammern und schreien um Hilfe, wir beurteilen, wenn möglich, immer wieder, wie schwer die Verletzung ist. Untersuchungen haben auch gezeigt, dass wir mit unseren Qualen eine Achterbahn durchlaufen, deren Auf und Ab aus unseren aktuellen Beurteilungen folgt. Tauchen hinter dem Brustbein Schmerzen auf, die in den linken Arm ausstrahlen, und vermuten wir, dass die Symptome auf einen Herzanfall hindeuten, so empfinden wir die Schmerzen stärker, als wenn uns ein Arzt versichert, es handle sich nur um eine Muskelzerrung.

Moskowitz beschrieb mit Begriffen aus der Militärsprache, dass »das Gehirn gegen die hereinkommenden Aktivitäten einen Gegenangriff startet und damit versucht, die übermäßigen Aktivitäten herunterzufahren«10. Er stellte im Einzelnen all die Wege dar, auf denen der Schmerz in dieser Weise moduliert wird − von den »höchsten«, die ihre Wurzel in der Großhirnrinde (dem zerebralen Kortex oder kurz Kortex) haben, wo unsere Vernunft sitzt, bis zu den »tieferen« Input-Gebieten im Rückenmark.

Ein neuroplastischer Wettstreit

Um das Jahr 2007 herum wollte Moskowitz (verständlicherweise) endlich mit seinen eigenen Schmerzen klarkommen. Also las er 15 000 Seiten Literatur über Neurowissenschaft. Er wollte die Gesetze der neuroplastischen Änderungen besser verstehen und sie in die Praxis umsetzen. Bei seiner Lektüre fand er heraus, dass man nicht nur die Schaltkreise zwischen den Gehirnregionen verstärken kann, indem man diese Regionen dazu bringt, zur gleichen Zeit zu feuern, sondern dass man auch Verbindungen schwächen kann, »weil Neuronen, die einzeln feuern, sich auch einzeln verdrahten«.

Konnte es ihm gelingen, Verknüpfungen zu schwächen, die sich in seinen Schmerzkarten gebildet hatten, indem er das Timing des Inputs in sein Gehirn manipulierte?

Er fand heraus, dass in unserem »Use-it-or-lose-it«-Gehirn ein ständiger Wettkampf um den Grundbesitz im Kortex stattfindet, weil die Aktivitäten, die das Gehirn regelmäßig ausführt, mehr und mehr Platz im Gehirn beanspruchen, indem sie Ressourcen aus anderen Regionen stehlen. Seine Erkenntnisse hat er in drei Bildern des Gehirns zusammengefasst. Das erste zeigt das Gehirn bei akutem Schmerz mit 16 Regionen, die aktiv sind. Das zweite zeigt eine Situation mit chronischem Schmerz, in der die gleichen Regionen feuern, diese aber über eine größere Fläche des Gehirns ausgebreitet sind. Das dritte Bild zeigt schließlich ein Gehirn, das überhaupt keinen Schmerz registriert.

Als er die Regionen analysierte, die bei chronischem Schmerz feuern, beobachtete er, dass viele von ihnen auch Gedanken, Empfindungen, Bilder, Erinnerungen, Bewegungen, Gefühle und Ansichten verarbeiten − wenn sie nicht gerade mit Schmerz befasst sind. Das erklärt, warum wir uns nicht konzentrieren und nicht gut denken können, wenn wir Schmerzen haben. Es erklärt auch, warum wir dann sensorische Probleme haben und oft bestimmte Töne oder ein besonderes Licht nicht ertragen, oder warum wir uns nicht anmutig bewegen können, warum wir unsere Emotionen nicht gut im Griff haben, gereizt werden und emotionale Ausbrüche haben, wenn die entsprechenden Regionen gekapert wurden, um Schmerzsignale zu verarbeiten.

Der Neuroplastiker Michael Merzenich konnte erstmals zeigen, dass Plastizität eine enorme Durchsetzungskraft besitzt. Dazu zeichnete er die mentalen Funktionen im Gehirn eines Affen über einen längeren Zeitraum auf. Dieses »Mapping« ermöglicht eine genaue Lokalisierung der verschiedenen Hirnfunktionen und lässt diese wie auf einer Karte sichtbar werden. So sind zum Beispiel die Empfindungen eines jeden Fingers der rechten Hand in dem Berührungsareal in der linken Hirnhälfte lokalisiert, wobei jeder einzelne Finger seinen besonderen Platz hat, an dem seineInformationen verarbeitet werden. Die Signale der Neuronen, die diese Empfindungen verarbeiten, können durch Mikroelektroden ermittelt werden. Das sind Nadeln, die in die einzelnen Neuronen oder direkt neben sie gesteckt werden und melden, wann die Neuronen feuern. Diese elektrischen Signale werden verstärkt und auf dem Bildschirm eines Oszilloskops dargestellt. Das Bild erlaubt den Wissenschaftlern, die Neuronen zu sehen und zu hören, wenn sie feuern. Platziert der Forscher eine Mikroelektrode im Gehirn in der Empfindungskarte für den Daumen und berührt dann diesen, sieht er auf dem Bildschirm die »Daumen«-Neuronen feuern.

Merzenich kartierte nun die vollständige Handkarte des Affen. Er fing damit an, den ersten Finger des Affen zu berühren und sah, welche Hirnregion feuerte. War erst die Fingerkarte im Gehirn erstellt und waren ihre Grenzen definiert, ging er zum nächsten Finger über. Er entdeckte fünf Regionen, die nebeneinander lagen − eine für jeden Finger.

Dann amputierte er den dritten Finger des armen Tiers. Nach einigen Monaten kartierte er erneut die verbliebenen vier Finger des Affen und fand heraus, dass sich die Kartenbereiche des zweiten und vierten Fingers in den Bereich ausgedehnt hatten, den ursprünglich der dritte Finger eingenommen hatte. Nachdem die Karte keinen Input mehr vom dritten Finger erhalten hatte und der zweite und der vierte Finger durch dessen Ausfall mehr Arbeit zu leisten hatten, übernahmen sie das freie Gebiet. Damit wurde klar gezeigt, dass die Karten im Gehirn dynamisch sind und dass im Wettstreit um den Grundbesitz im Kortex die Ressourcen des Gehirns in der Tat nach dem Prinzip »Use-it-or-lose-it« verteilt werden.

Moskowitz’ Idee war einfach: Was wäre, wenn er diese Eigenschaft der Plastizität – Konkurrenz und Durchsetzungsstärke – zu seinen Gunsten einsetzen könnte? Was wäre, wenn er beim Beginn eines Schmerzanfalls jene Regionen, die von der Schmerzverarbeitung gekapert und übernommen worden waren, wieder zu ihren eigentlichen Aufgaben zurückholen könnte, indem er sich zwang, genau diese Aufgaben zu erledigen, gleichgültig, wie stark der Schmerz war?

Und was wäre, wenn er bei Schmerzen die natürliche Tendenz überwinden könnte, nachzugeben, sich hinzulegen, zu ruhen, das Denken auszuschalten und sich zu schonen? Moskowitz entschied, dass das Gehirn eine Gegenstimulation brauchte. Um die Schaltkreise des chronischen Schmerzes zu unterbrechen, würde er die betreffenden Regionen im Gehirn zwingen, irgendetwas zu tun − aber nichts, was mit Schmerz zu tun hat.

Dank der vielen Jahre als Schmerzexperte wusste er genau, auf welche Schlüsselregionen im Gehirn er abzielen musste. Jede von ihnen konnte Schmerz verarbeiten, aber auch andere mentale Funktionen erfüllen. Er stellte eine Liste auf, was diese Regionen außer Schmerz noch verarbeiteten. Damit war er darauf vorbereitet, gerade diese Dinge zu tun, wenn der Schmerz einsetzte. So gibt es zum Beispiel einen Bereich im Gehirn, der somatosensorischer Kortex heißt (das altgriechische Wort σώμαbedeutet »Körper«). Diese Region verarbeitet viel Input vom Körper, wozu Schmerz, Vibrationen und Berührungen gehören. Was wäre, wenn er sich beim Beginn von Schmerzen Vibrationen oder Berührungen aussetzte? Könnten diese Empfindungen den somatosensorischen Kortex daran hindern, Schmerz zu verarbeiten?

Somatosensorischer Kortex 1 und 2(die sensorische Karte unserer Körperteile):

Schmerz; Berührung, Temperaturgefühl, Druckgefühl, Gefühl für die Lage im Raum, Gefühl für Vibrationen und Bewegungen

Präfrontaler Kortex

Schmerz; ausführende Funktion, Kreativität, Planung, Empathie, Aktivität, Gefühlsgleichgewicht, Intuition

Vorderer cingulärer Kortex

Schmerz; emotionale Selbstkontrolle, sympathische Kontrolle, Konfliktwahrnehmung, Problemlösung

Hinterer Parietallappen

Schmerz; sensorische, visuelle und auditive Wahrnehmung, Spiegelneuronen (Neuronen, die feuern, wenn wir sehen, wie sich andere Personen verhalten), interne Lokalisation von Reizen, Lokalisation des Außenraums

Zusätzliche motorische Region

Schmerz; geplante Bewegungen, Spiegelneuronen

Amygdala

Schmerz; Emotionen, emotionales Gedächtnis, emotionale Reaktionen, Vergnügen, Sehnsucht, Gerüche, emotionale Ausnahmezustände

Insula oder Insellappen

Schmerz; Hemmung der direkt darüber liegenden Amygdala, Temperatur, Jucken, Empathie, emotionale Selbstwahrnehmung, Berührungen, verbindet Emotionen mit Körpergefühlen, Spiegelneuronen, Ekel

Hinterer cingulärer Kortex

Schmerz; visuell-räumliche Wahrnehmung, Abruf des autobiografischen Gedächtnisses

Hippocampus

Hilft, Schmerzerinnerungen zu archivieren

Orbitofrontaler Kortex

Schmerz; bewertet, ob etwas angenehm oder unangenehm ist, Empathie, Verstehen, emotionale Einstimmung

Die wichtigsten schmerzverarbeitenden Regionen im Gehirn

Moskowitz entwarf also eine Liste von Hirnbereichen, auf die er abzielen könnte (siehe Darstellung »Die wichtigsten schmerzverarbeitenden Regionen im Gehirn«). Er wusste, dass in einer bestimmten Region im Gehirn, die akute Schmerzen verarbeitet, nur fünf Prozent der Neuronen auch tatsächlich damit befasst sind. Bei chronischem Schmerz aber führt das ständige Feuern und Verdrahten zu einem Anstieg auf 15 bis 25 Prozent in der Region, die sich nun der Schmerzverarbeitung widmet. Es werden also 10 bis 20 Prozent der Neuronen gekapert, um chronischen Schmerz zu verarbeiten. Und die musste er zurückerobern!

Im April 2007 setzte er seine Theorie in die Praxis um. Er beschloss, zunächst seine visuelle Aktivität zu benutzen, um den Schmerz zu überwältigen. Ein großer Teil unseres Gehirns ist mit der visuellen Verarbeitung beschäftigt, und es konnte nicht schaden, ihn beim Kampf auf seiner Seite zu haben. Er wusste von zwei Hirnregionen, die visuelle Eindrücke undSchmerz verarbeiten, nämlich dem hinteren cingulären Kortex, der uns beim räumlichen Denken hilft, und dem hinteren Parietallappen, der ebenfalls den visuellen Input verarbeitet.

Immer wenn er nun einen Schmerzanfall erlitt, begann er sofort, sich etwas bildlich vorzustellen. Aber was? Er stellte sich die genauen Gehirnkartierungen vor, die er gezeichnet hatte, um sich daran zu erinnern, dass sich das Gehirn wirklich ändern kann − was ihn motivierte weiterzumachen. Zuerst stellte er sich das Bild eines Gehirns bei chronischem Schmerz vor und beobachtete, wie weit sich die Gehirnkarte neuroplastisch ausgedehnt hatte. Dann stellte er sich vor, wie die Regionen, die feuerten, schrumpften, sodass das Bild dem eines Gehirns ohne Schmerz entsprach. »Ich musste hartnäckig bleiben, sogar hartnäckiger als das Schmerzsignal selbst«, sagte er. Er begrüßte jeden Schmerzstich mit der Vorstellung seiner schrumpfenden Schmerzkarte und wusste, dass er damit seinen hinteren cingulären Kortex und seinen hinteren Parietallappen zwingen würde, Bilder zu verarbeiten.

In den ersten drei Wochen hatte er nur den vagen Eindruck einer winzigen Abnahme des Schmerzes, aber er hielt weiter verbissen an seiner Technik fest und sagte sich: »Zerschneide das Netzwerk und bringe die Karte zum Schrumpfen.« Nach einem Monat hatte er seine Technik gut im Griff und wandte sie nun so gewissenhaft an, dass er keinen Schmerzanfall durchgehen ließ, ohne ihm mit einer Visualisierung oder anderen mentalen Aktivitäten zu antworten und ihm damit etwas entgegenzusetzen.

Es funktionierte. Nach sechs Wochen war der Schmerz zwischen den Schultern im Rücken und nahe den Schulterblättern völlig verschwunden − und kam auch nie zurück. Nach vier Monaten hatte er im Nacken die ersten völlig schmerzfreien Perioden. Und nach einem Jahr war er fast überall schmerzfrei, sein durchschnittliches Schmerzniveau betrug 0/10. Bei kleinen Rückfällen, die gewöhnlich auftraten, wenn sein Nacken eine ungewöhnliche Stellung einnahm oder nach einer langen Autofahrt oder bei Grippe, konnte er die Schmerzen innerhalb weniger Minuten auf null herunterregeln. Nach 13 Jahren mit chronischen Schmerzen hatte sich sein Leben nun total geändert. Während dieser 13 Jahre war das durchschnittliche Schmerzniveau 5/10, es stieg aber manchmal auf 8/10 an, selbst wenn er Medikamente nahm, und selbst an den besten Tagen lag es bei 3/10.

Das Verschwinden der Schmerzen verlief in umgekehrter Reihenfolge wie ihre anfängliche Ausweitung. Nach seinem Unfall hatte er akute Schmerzen auf der linken Nackenseite, genau da, wo die Verletzung stattgefunden hatte. Im Laufe der Zeit war der Schmerz chronisch geworden und hatte sich neuroplastisch auf die rechte Nackenseite und hinunter bis in die Mitte des Rückens ausgebreitet. Mit den Visualisierungen stellte er jetzt fest, dass das Areal der Schmerzen auf der rechten Seite das erste war, das kleiner wurde. Dann ging auch der Schmerz links zurück und verschwand schließlich.

Nach sechs Wochen mit diesen Resultaten begann er, die Erfahrungen bei seinen Patienten anzuwenden.

Die erste neuroplastische Patientin

Jan Sandin war Mitte vierzig und arbeitete als Krankenschwester auf der kardiologischen Station des Sequonia Hospital in Redwood City in Kalifornien. Eines Tages hatte sie eine 150 Kilogramm schwere Patientin, die sich versehentlich ins eigene Bein geschnitten hatte und hysterisch geworden war. Sie hatte Angst zu fallen, griff mit den Armen nach Jan und umklammerte ihren Nacken so fest, dass Jan nicht mehr atmen konnte: »Sie hielt mich im Würgegriff.« Die Frau schrie, versuchte panisch, ihr Gewicht nicht auf das verletzte Bein zu legen, und Jan gelang es nicht, sie abzuschütteln. Sie bat deshalb eine Hilfsschwester, mit anzufassen, um die Patientin ins Bett zu legen. Sie zählte »eins, zwei, drei«, um die Patientin hochzuheben, doch die Hilfsschwester war vom Geschrei der Frau so geschockt, dass sie bei »drei« keinerlei Anstalten machte, Jan beim Hochheben zu helfen. So lag mit einem Mal das volle Gewicht von fast 150 Kilogramm auf Jan. »Ich hörte das Geräusch eines reißenden Gummibands«, erinnerte sie sich, »und ich spürte, dass in mir etwas zerbrach.« Jan wurde mit starken Schmerzen in die Notaufnahme gebracht. Alle fünf Lendenbandscheiben waren verletzt, die unterste rutschte heraus und drückte auf ein Nervenende. Es entwickelte sich ein Ischiassyndrom in beiden Beinen, und sie konnte nicht mehr gehen. Immer wenn sie sich bewegte, machte die Wirbelsäule ein knirschendes Geräusch.

Nach einigen Tests wurde ihr gesagt, ihre Wirbelsäule sei so degeneriert, dass man die fünf Wirbel operativ fixieren müsse. In den folgenden Jahren durchlief sie sämtliche üblichen Schmerztherapien, eingeschlossen Physiotherapie und schwere opiumhaltige Medikamente. Nichts half, und der Schmerz wurde chronisch. Die Chirurgen sagten ihr nun, dass ihre untere Wirbelsäule zu beschädigt sei, um sie operieren zu können. Nach einigen mutigen Anläufen, an den Arbeitsplatz zurückzukehren, wurde sie schließlich als erwerbsunfähig eingestuft. Sie hatte das Gefühl, ihr Leben sei nun vorbei. »Ich war depressiv und selbstmordgefährdet. Und es war gleichgültig, welche Medikamente mir die Ärzte gaben, der Schmerz verging nie. Ich konnte nicht einmal fernsehen oder lesen, weil mich zusätzlich zu den Schmerzen auch die Medikamente in eine Grauzone brachten. Es gab keinen Grund, weiterzuleben.« Sie verbrachte die nächsten zehn Jahre zuhause und ging nur hinaus, um den Arzt zu besuchen.

Als sie zu Moskowitz kam, hatten ihre chronischen Schmerzen sie ein ganzes Jahrzehnt lang behindert, mit unerträglichen Schmerzschüben bei der kleinsten Bewegung. Sie hatte Schmerzmittel wie Morphin in hohen Dosen eingenommen, die ihre Schmerzen immerhin auf 5/10 senkten, hatte manchmal ganze Tage in ihrem Whirlpool verbracht oder im Shiatsu-Massagesessel, aber auch das brachte keine Erleichterung. Gebückt und mit Stock schaffte sie es kaum, ohne fremde Hilfe in Moskowitz’ Praxis zu kommen.

Es ist Juli 2009. Jan, die Frau, die vor mir sitzt, ist 62 Jahre alt, sie ist strahlend, selbstbewusst und entspannt und nimmt keinerlei Medikamente. Moskowitz hatte mit ihr fünf Jahre lang konventionell gearbeitet und ihr starke Schmerzmittel gegeben, bis er ihr dann im Juni 2007 seine Idee erklärte, sich mit der neuroplastischen Technik selbst zu heilen. Um sie für die neuroplastische Herausforderung zu motivieren, die ihr bevorstand − sie würde schließlich dem Schmerz in jedemAugenblick der nächsten Wochen mental begegnen müssen −, entschloss er sich, ihr zunächst die Plastizität zu erklären und sie durch die Erfolge anderer Opfer zu inspirieren, deren Schmerzen als unheilbar galten.

»Eines Tages sagte Moskowitz: ›Mir ist da eine Idee gekommen‹, und er gab mir Ihr Buch«, erzählte mir Jan. »Ich ackerte es durch und konnte nun verstehen, wie die Plastizität des Gehirns funktioniert. Das Buch gab mir den Anstoß darüber nachzudenken, was ich möglicherweise tun könnte. Ich stellte fest, dass ich in einer starren Logik gefangen war. Nachdem ich all die Beispiele der verschiedenen Verknüpfungen gelesen hatte, die sich im Gehirn bilden, machte ich mich mit dem Gedanken vertraut, dass sich tatsächlich etwas ändern könnte.«

Moskowitz zeigte ihr seine drei Bilder des Gehirns und sagte ihr, sie müsse hartnäckiger als der Schmerz sein, indem sie sich ganz auf die Bilder konzentrierte. Er bat sie, sich die drei Varianten zunächst anzuschauen und einzuprägen. Dann sollte sie die Bilder wieder weglegen, sie sich aber weiterhin vorstellen, und gleichzeitig darüber nachdenken, wie sie ihr Gehirn in die schmerzfreie Variante verwandeln könnte. Er forderte sie auf, an dem Gedanken festzuhalten, dass sie keine Schmerzen mehr haben würde, wenn ihr Gehirn wie auf dem Bild ohne Schmerz auszusehen begann.