Wie die Frauen von Borgo Propizio das Glück erfanden - Loredana Limone - E-Book

Wie die Frauen von Borgo Propizio das Glück erfanden E-Book

Loredana Limone

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Beschreibung

Belinda möchte noch einmal von vorn anfangen, und Borgo Propizio, ein verschlafenes italienisches Dörfchen auf einem Hügel, ist in ihren Augen der ideale Ort, um ihren Traum Wirklichkeit werden zu lassen: die Eröffnung einer kleinen Milchbar. Mit den Renovierungsarbeiten wird Ruggero betraut, ein fleißiger Handwerker, der auch kühne Wolkenkratzer bauen könnte, wenn man ihn denn fragen würde. Dummerweise muss er sich mit seinen tyrannischen Eltern herumschlagen, mit dem rätselhaften Verschwinden von Kacheln aus der künftigen Milchbar und der Entdeckung eines kostbaren alten Rings im Mauerwerk. Als Ruggero aufgeregt mit seinem Kleintransporter losbrettert, um den Fund zu melden, überfährt er fast Mariolina, die gerade die Straße überquert. Ein Blick in Ruggeros Augen – und die Liebe erfasst sie wie eine Windböe. Mariolina, die schon befürchtet hatte, an der Seite ihrer ständig häkelnden Schwester Marietta als alte Jungfrau zu enden, ergreift die Gelegenheit beim Schopf und lässt sich von einem wildfremden Mann zum Essen einladen …

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Für meine Mutter und ihre Fröhlichkeit

Übersetzung aus dem Italienischen von Christiane Landgrebe

ISBN 978-3-492-96539-2 Januar 2016 ©

Loredana Limone 2011 Titel der italienischen Originalausgabe: »Borgo Propizio«, Ugo Guanda Editore S.p.A., Parma Deutschsprachige Ausgabe: ©

Thiele Verlag in der Thiele & Brandstätter Verlag GmbH, München und Wien 2014 Covergestaltung: Mediabureau Di Stefano, Berlin Covermotiv: DE GREGORIO/Kontributor/Getty Images, Kim Fearheiley/Arcangel Images (Stadt auf dem Hügel) Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

1

Mariolina und Marietta

»Was ist denn das!«

Erstaunen. Missbilligung. Verwunderung.

Dies war die Reaktion der wenigen Leute, die an der Baustelle vorbeikamen und die Arbeiter am Werk sahen. In Borgo Propizio geschah nie etwas Neues, und wenn, dann erregte es keine besondere Neugier unter den Bewohnern. Sie vergaßen es rasch wieder oder es versank hinter einer Mauer der Gleichgültigkeit.

Hätte es jemand genauer wissen wollen, hätte er schnell herausgefunden, dass dort nicht mehrere Arbeiter beschäftigt waren, sondern nur ein einziger. Der allerdings kannte sich im Maurerhandwerk bestens aus, auch im Fliesenlegen, Zimmern, Klempnern und Anstreichen. Doch das konnten die paar Frauen, die an diesem Morgen über den Rathausplatz gingen und an dem Schaufenster vorbeikamen, das von innen mit Zeitungspapier verklebt war, nicht wissen.

Die Einzige, die etwas über den Grund der Baustelle wusste, war Mariolina vom Finanzamt der Gemeinde, die einzige Mitarbeiterin dort, seit mehrere Kollegen in Pension gegangen waren. Streng erzogen in den Dogmen des beruflichen Ehrenkodex, hätte sie sich eher die Zunge abgebissen, als preiszugeben, was aus dem Laden werden sollte. Und bei diesem Laden schon gar nicht.

Eine Ausnahme machte sie nur bei Marietta, ihrer Schwester, mit der sie alles teilte, angefangen bei dem alten Haus, in dem sie geboren waren. Beide hatten in ihrer Jugend so manchen Zug verpasst. Vielleicht hatten sie die Züge nicht einmal vorbeifahren sehen.

Nicht dass sie hässlich waren, wenn sie auch körperlich gegensätzlicher nicht hätten sein können. Mariolina, die Ältere, war ganz der Vater. Ihre Haut, ihr Haar und die Augen waren hell, ihr Gesicht zart; Marietta, die Jüngere, war dunkelhaarig und hatte die nussbraunen Augen und ausgeprägten Gesichtszüge ihrer Mutter. Die eine zierlich, die andere kräftig.

Dank der Großmütter (oder besser gesagt durch deren Schuld) Maria Angela Onorata mütterlicherseits und Maria Nova Ermelinda väterlicherseits, waren beide Schwestern auf den Namen Maria getauft worden, aber mit einem Blumennamen kombiniert, weil ihre Mutter Blumen so gern hatte: Viola die erste, Dalia die zweite. Doch sie wurden niemals Maria Viola oder Maria Dalia genannt.

Die beiden Schwestern waren gerade neun Monate auseinander. Nicht durch Zufall, sondern wegen des körperlichen Verlangens ihres Vaters, der einfach nicht warten konnte und dem sich die Mutter unterwarf, obwohl ihre empfindlichen Körperteile ihr wegen des Dammschnitts von der ersten Geburt noch wehtaten. Aus der großen Angst heraus, ihr Mann könne sie verlassen, war sie geradezu besessen von diesem Gedanken.

Tatsächlich wurden Mariolina und Marietta von ihrem unreifen und stürmischen Vater urplötzlich im Stich gelassen, als sie an der Schwelle zur Pubertät waren. Er war einer verführerischen Traumfrau gefolgt, der x-ten seiner Sammlung.

Obwohl die beiden noch Kinder waren, tauschten sie die Rolle mit der Mutter und kümmerten sich um sie, hin und wieder beaufsichtigt von den Großmüttern, auch der Oma väterlicherseits, obwohl diese an der Sache nicht ganz unschuldig war.

Welche Demütigung, welche Schande! Die Mutter war bestürzt, dass ihr Mann sie verlassen hatte, obwohl sie doch immer für seine Bedürfnisse hergehalten und ohne Murren sogar die Rolle der betrogenen Ehefrau gespielt hatte! Jetzt flüchtete die Arme sich in das einstige Ehebett und verlor bald die Blüte der Jugend. Erst zwanzig Jahre später verließ sie es– in einem Sarg, der für die letzte Reise ins Paradies mit bunten Dahlien und weißen Veilchen geschmückt war. Dass sie nun dort oben war, stand für Mariolina und Marietta außer Zweifel.

Die Mama hatte den Töchtern wichtige Werte vermittelt. Vor allem Jungfräulichkeit. Dazu Ehrlichkeit, Sinn für Reinlichkeit und Pflichtbewusstsein. Und die Achtung der Zehn Gebote (allerdings blieb ein Zweifel darüber bestehen, ob das Vierte sie zum Ehren beider Eltern verpflichte oder ob der Vater ausgeschlossen sei, doch das war nicht wirklich wichtig, denn sie wussten nicht, was aus ihm geworden war). Ehre, wiederholte die Mutter immer wieder, Bescheidenheit, Sauberkeit und Tugend seien wichtiger als alles andere. Und die Ehe sei nichts anderes als eine Riesenenttäuschung. Sie war nicht in der Lage, ihren Töchtern etwas anderes beizubringen, und diese hatten sich so sehr danach gerichtet, dass sie mit fünfundvierzig und sechsundvierzig Jahren immer noch genau so waren, wie die Mutter sie zur Welt gebracht hatte.

Marietta machte das nicht viel aus, aber Mariolina litt darunter, und nur aus Angst, ihre Mutter könnte der Schlag treffen, rebellierte sie nicht dagegen. Zugleich wuchs in ihr ein unterdrücktes Verlangen nach sexueller Erfüllung.

Anders als Mariolina, die nach Beendigung der Hauswirtschaftsschule von der Gemeinde angestellt worden war und sich von der Pike auf hochgedient hatte – nicht ohne alle möglichen Ellbogen rechts und links ertragen zu müssen–, arbeitete Marietta zu Hause, und zwar mit der Häkelnadel. Dies war das Erbe ihrer Großmutter mütterlicherseits, die ihr diese Kunst beigebracht und ihr eingeschärft hatte, sie nur nebenbei auszuüben. Das Mädchen aber hatte Gefallen daran gefunden, und da es ihr sehr lag (während sie sich in der Schule als nicht besonders schlau erwiesen und nur mit Ach und Krach und dank dem Mitleid der Lehrer mit fünfzehn ihren Abschluss geschafft hatte), begann sie, Deckchen zu häkeln, als Dank für alle Frauen, die ihre depressive Mutter besuchen kamen und vergeblich versuchten, sie aufzuheitern.

Ja, es war vergeblich. Die Arme war so betrübt, dass nichts half. Aber das Vergnügen, einen schönen Früchtetee oder eine Tasse heiße Schokolade mit Sahne und dazu leckeres Sandgebäck oder ein schönes Stück feinen Rührkuchen zu genießen und dann noch die Aussicht, ein Häkeldeckchen zu ergattern – weiß, rosa oder naturfarben– und selbstgemacht, wie man sie nicht mehr findet, liebe Marietta, brachte die Frauen des Dorfes dazu, regelmäßig ihren Pflichtbesuch zu machen.

Dass aus der Häkelarbeit ein richtiger Beruf wurde, dafür sorgte eine wohlhabende Dame aus dem Dorf, die bald Oma werden sollte, mit der unerwarteten Bestellung einer Babydecke für die bald zur Welt kommende Enkeltochter– gegen Bezahlung. Marietta war nicht bewusst, welchen Wert dieser Auftrag hatte, und wollte zunächst kein Geld dafür annehmen. Sie wäre schon zufrieden gewesen, wenn die Dame ihr die Baumwolle gebracht hätte, doch die Kundin (was für ein seltsamer Ausdruck!) zahlte nicht nur sehr gut, sondern besorgte ihr weitere Aufträge von Freundinnen, die nicht im Dorf wohnten. In kürzester Zeit sprach es sich herum, dass es da jemanden mit einem besonderen Talent gab, und Marietta, die flink und mit den Händen sehr geschickt war, kam mit der Arbeit gar nicht mehr hinterher. Sie fertigte Tagesdecken, Kissenhüllen, Tischtücher, Bonbonschachtelnbezüge, Schals, Bettjäckchen, Gardinen, Topflappen– dies alles im Halbdunkel des mütterlichen Schlafzimmers, am Kopfende bei der Kranken, die immer mehr in Traurigkeit versank, auf einem Stuhl mit geflochtener Sitzfläche, der bessere Zeiten gesehen hatte. Bei weitem bessere.

Manche von Mariettas Kreationen waren im Schaufenster des feinen Ladens Fili fatati 1888 gelandet, der an der Hauptstraße der benachbarten Bezirksstadt lag. Einmal hatte sie ein bekannter Modeschöpfer angesprochen, der sie gern in seinem Atelier beschäftigt hätte, aber sie hätte weit weg ziehen müssen und lehnte ab. Nicht nur, weil die Mutter noch lebte (erst einen Monat später starb sie), sondern weil sie nie und nimmer ihre geliebte Schwester, das alte Haus und das Dorf, in dem sie geboren und aufgewachsen war, verlassen hätte.

Und hier alterte sie jetzt langsam vor sich hin.

Leider kommen nach den fetten Jahren immer magere und mit der Zeit sank die Nachfrage nach selbstgehäkelten Unikaten. Für Aussteuern waren solche handgemachten Dinge nicht mehr gefragt, weil die jungen Bräute lieber moderne Stücke in kräftigen Farben hatten, die man in die Waschmaschine stecken konnte und nicht zu bügeln brauchte. Als Geschenke für Taufen, Kommunionsfeiern und Hochzeiten wurden nutzlose Gegenstände in Einkaufszentren gekauft, die überall wie Pilze aus der Erde geschossen waren. Giftige Pilze.

Die Generation derer, die Traditionen pflegten, war so gut wie ausgestorben. Der Fortschritt, dieses gefräßige Ungeheuer, verschlang alles. Produkte aus China, die bekanntlich billiger waren, überschwemmten den Markt, und man fürchtete schon, die Bevölkerung dieses Landes würde irgendwann die ganze Welt erobern. Das sagten sie auch im Fernsehen, und Marietta war eine eifrige Zuschauerin.

Deshalb war Marietta, als Mariolina ihr vertraulich unter Schwestern von dem Laden erzählte, über die Maßen erstaunt.

»Nein so was!«, rief sie aus, und verfiel dann in tiefes Grübeln, bemüht, sich das Muster einer Tischdecke zu merken. Sie hatte sie im Schaufenster von Fili fatati 1888 gesehen, sie war einfach bezaubernd und sie würde dadurch sicher neue Arbeit finden.

Wenn die Dinge anders verlaufen wären, wenn die Mutter nicht krank geworden wäre, wenn der Tourismus einen Aufschwung erleben würde, wenn die Konjunktur (vielleicht hatte die damit nichts zu tun, aber sie hatte eine Sendung dazu im Fernsehen gesehen und das war sicher richtig)… So oder so, sie könnte diesen Schritt gehen. Wahrscheinlich brauchte sie dazu nur ein bisschen Mut und einen kleinen Kredit, den sie der Bank zurückzahlen würde.

Oh nein! Nicht der Bank! Das kam gar nicht in Frage! Diese Halsabschneider! Kürzlich war ein armer Mann in den Selbstmord getrieben worden: Sie hatten ihm sein Haus weggenommen. Die Banken waren herzlos, auf sie ließ man sich besser nicht ein. Allerdings, in der Nähe des Rathauses, mitten im Ort… Na gut, der Ort war ziemlich heruntergekommen. Bald wäre es ein aussterbendes Dorf mit lauter Senioren, um nicht zu sagen, alten Leuten! Und Gespenstern.

Der Name »Propizio«, der aus dem Lateinischen stammte und »günstig« bedeutete, kam daher, dass die Herren des Ortes hier Jahrhunderte zuvor ein prunkvolles Leben geführt hatten. Sie ahmten römische Sitten nach und befragten vor jeder wichtigen Unternehmung den Vogelflug. Die pünktliche Ankunft der Vögel aus dem Osten galt als günstiges Vorzeichen. Nach dem, was Marietta hier erlebt hatte, hätte man das Dorf eigentlich Ort des Unglücks nennen müssen. Schlimmer noch, es war dem Aberglauben verfallen. Auch wenn durch nichts bewiesen war, dass es stimmte. Vielleicht war es nur irgendein Zufall. Aber nur, wenn man daran glaubte. Gespenster…

Man konnte nie wissen!

Aber ihre Kreationen… ihre Geschöpfe… lauter handgemachte Unikate. Hochwertiges Material.

Raffinierte Dinge. Das war doch schon etwas anderes als Milch und Milchprodukte.

Milch! Also wirklich!

2

Die Begegnung

Ruggero wusste nicht, ob er wegen der Kacheln, die plötzlich spurlos verschwunden waren, froh oder irritiert sein sollte.

Einerseits wollte er so schnell wie möglich fertig werden und verstand nicht, warum er überhaupt zugesagt hatte, den Laden zu renovieren. Andererseits war ihm jede Gelegenheit recht, Pause zu machen. Er hatte einfach keine Lust mehr, das war die Wahrheit. Er arbeitete nicht gern in diesem gottverlassenen Ort, der so klein war wie ein Fleck aus Spucke. Er wäre in der Lage gewesen, wunderbare Häuser zu bauen, doch leider wollte kein Architekt etwas von ihm wissen, nur weil mir dieser Wisch fehlt (in Wirklichkeit fehlten auch ein paar Jahre Schule, auch Pflichtjahre), dabei hätte er Kathedralen und Wolkenkratzer bauen können, Mosaike und Reliefs herstellen, wenn ihm nur jemand die entsprechenden Aufträge gegeben hätte.

Er hatte schon die Kacheln mit den kleinen Kühen eingesetzt, die mit dem Gesicht im Vordergrund vor blauem Hintergrund lächelten, mit einer rosa Zunge, die seitlich aus dem Maul heraushing, und einer orangefarbenen Kuhglocke am Hals. Er hatte sie hier und da auf allen vier Wänden verteilt, nicht zu viele, nicht zu wenige, mit künstlerischer Überlegung und nur scheinbar zufällig. Eher die Arbeit eines Zauberers als die eines Fliesenlegers. Aber er konnte die Kacheln für den Rand nicht finden. Deshalb hatte er jetzt den letzten weißen Anstrich vorgenommen, damit es nicht auffiel. Das bedeutete aber leider, dass er die Arbeit nicht so abschließen konnte wie vorgesehen. Und wie er es versprochen hatte.

Er erinnerte sich genau. Die fehlenden Kacheln waren rechteckig und zwei weiße Kühe waren im Profil zu sehen. Blau gesprenkelt, die Schwänze in die Höhe gestreckt, rosa Zungen und eine gelbe Sonne, vielleicht auch orange, genau in der Mitte. Und rosafarbene Euter. Die Kacheln mit den weiß-blauen Kühen hatten abseits in einem Karton gelegen, der genauso aussah wie die anderen Kartons, aber auf diesem hatte gestanden »für den Rand«. Er war sich ganz sicher, er hatte es selbst im Lager des Lieferanten mit einem schwarzen Stift daraufgeschrieben.

Aber jetzt konnte er die Kacheln nirgendwo finden.

Vielleicht war es besser herauszufinden, ob sie vielleicht nicht geliefert worden waren, bevor er mit dem Anwalt, seinem Auftraggeber, sprach. Und dann war da noch diese andere Sache…

Er zog die schweißnasse Jacke aus, wusch sich die Hände, das Gesicht, die Achseln und den Oberkörper, nahm Deodorant und zog das gestreifte Leinenhemd an, das er am Griff des Toilettenfensters aufgehängt hatte, auf einem Kleiderbügel und mit Plastikfolie geschützt. Dann wechselte er Schuhe und Hose, da die Latzhose voller Staub, Kalk und Farbe war.

Er zeigte sich gern in ordentlichem Zustand. Die Welt war voller Gelegenheiten, jeden Augenblick, und es war immer gut, auch äußerlich darauf vorbereitet zu sein. Nicht nur in Gedanken, das war er nämlich immer.

Er fühlte sich noch jung und hatte noch ein langes Leben vor sich. Ja, das Leben schuldete ihm noch so manches. Er erfüllte sich seine Wünsche, gewiss, aber das Geld, das er dafür ausgab, hatte er im Schweiße seines Angesichts verdient.

Er gab freimütig zu, dass er sich gern teuer kleidete, guten Likör trank, Zigarren rauchte, kleine Ausritte unternahm und hin und wieder in die Sauna ging. Kurzum, dass er es sich gutgehen ließ.

Er war als Herr geboren.

Allerdings fehlte ihm der Studienabschluss.

Außerdem kam er nicht aus gehobenen Kreisen.

Und er hatte auch keine gebildete, gut erzogene Frau, die ihm die Pasta zubereitete.

Er hätte gern ein besseres Italienisch gesprochen, das war ihm durchaus bewusst, (und verstanden, wie man die Verben richtig gebraucht).

Und eine Betreuerin für seine alten Eltern fehlte ihm auch.

Er verließ den kleinen Hof des Gebäudes und zündete den Motor seines funkelnagelneuen dunkelgrünen Renault-Kangoo, den er erst heute Morgen beim Händler abgeholt hatte. Mit leichtem Bedauern hatte er sich von seinem alten Fiorino getrennt. Der neue Wagen war sehr praktisch, um Material zu transportieren, doch zu Hause in der Garage hatte er ein prächtiges Mercedes-Coupé stehen. Er wollte gerade auf die Straße fahren, die aus dem Dorf hinausführte, als eine weibliche Gestalt sie überquerte.

Ruggero war ganz in Gedanken versunken (es war so gut wie nie jemand in diesem öden hügeligen Ort zu sehen, und schon gar nicht um die Mittagszeit), und so bemerkte er die Frau erst, als sie schon am Boden lag, gestreift von der Motorhaube seines Autos. Ruggero erschrak und zog heftig die Handbremse an.

»Verflucht noch mal!«, rief er.

Im Bruchteil einer Sekunde war er bei der Unglücklichen, beugte sich über sie und fragte sie in galantem Ton, ob sie sich wehgetan habe. Dabei war er froh, dass er sich seiner Gewohnheit folgend die Arbeitskleidung ausgezogen hatte. Dann schenkte er der Frau ein gewinnendes Lächeln.

Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass Mariolina einem Mann so nahe kam. Einem Mann, der nicht ihr Vater war (an diesen allerdings konnte sie sich so gut wie gar nicht erinnern) und auch keiner jener Ärzte mit dem unangenehmen Mundgeruch, die ihre Mutter behandelt hatten, und noch weniger einer jener langweiligen Angestellten der Gemeinde.

Und außerdem sah dieser Mann gut aus. Endlich!

Lange graumelierte, sorgfältig gestutzte Koteletten betonten die Form seiner Wangenknochen und die kantige Linie seines Kiefers. Die Nase war fein und wohlgeformt, eine leichte Adlernase, die Lippen voll, der Hals kräftig wie bei einem Stier.

Er roch gut nach Tannenduft und sein Hemd zeigte trotz der großen Hitze der ersten Augusttage nicht den scheußlichen Kreis unter den Achseln, den Mariolina bei ihren Kollegen ebenso verabscheute wie den durchdringenden Schweißgeruch.

Weniger als eine Sekunde brauchte sie, um sich ein Bild von ihm zu machen (er war ein Herr, das sah man gleich; er war etwa fünfundvierzig oder sechsundvierzig, das ideale Alter) und zu überlegen, ob es nicht besser wäre, sich verletzt zu haben.

Sie nahm die Hand, die er ihr entgegenstreckte, um ihr beim Aufstehen zu helfen, zog sie aber gleich wieder zurück und rief: »Au, mein Handgelenk!«

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte Ruggero. »Ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Ich bin wirklich zutiefst beschämt, Signora!«

»Signorina!«, sagte Mariolina.

Ah! Signorina, dachte Ruggero.

Sie war kein junges Mädchen mehr, schätzungsweise um die fünfunddreißig. Aber soweit man sehen konnte, hatte sie sich gut gehalten. Sie hatte eine gute Figur, zierlich, aber dennoch sexy. Brüste wie Champagnerschalen, wohlgeformte Hüften, und nach dem, was sein Blick hatte erhaschen können, solange sie am Boden lag, waren auch ihre Beine perfekt. Sie war nicht sehr groß, aber er war sowieso der Meinung, dass guter Wein in kleine Fässer gehörte. Und sie schien gebildet und gut erzogen.

Mariolina machte sich wieder zurecht, zog ihr Kleid mit dem Schmetterlingsmuster gerade – es stammte nicht aus dem Kaufhaus, sondern aus einer Boutique, er erkannte die Qualität gleich–, sie glättete den Stoff mit den Händen und presste ihn dabei an den Körper, mehr als notwendig, doch es brachte ihren sehr interessanten birnenförmigen Hintern zur Geltung.

Signorina.

Was bedeutete das? Lebte sie getrennt? Nein. Eine, die sich getrennt hat, ist immer noch Signora.

Also war sie offenbar Single!

Das war gut.

Sie wirkte seriös, aber sie hatte auch etwas Frivoles und Pfeffriges an sich, in genau der richtigen Dosierung, wie es in Kochrezepten immer so schön hieß. Doch Ruggero brauchte keine Waage, wenn es um Frauen ging.

Seine Gedanken kreisten plötzlich um seine alten Eltern. Eine gute Frau für ihn, und eine, die sich auch um sie und ihr Zuhause kümmerte, wünschten sie sich. Oder eine, die beides in sich vereinte.

Mal sehen, was dieses Mal passiert…

Man darf der Vorsehung nie ins Gehege kommen, dachte er.

»Das Handgelenk. Es muss unbedingt untersucht werden«, sagte er dann mit männlicher Entschlossenheit. »Fahren wir ins nächste Krankenhaus. Und sagen Sie nicht nein!«

»Aber, das ist doch nicht…«

»Nein?!«

Warum eigentlich nicht, dachte Mariolina. Vielleicht war der Moment endlich gekommen. Auch wenn die Mutter immer gesagt hatte… Ja, bestimmt, Gott sei ihrer Seele gnädig… die Mutter sagte immer… aber sie hatte ja auch schlechte Erfahrungen gemacht… Und sie selbst? Sie hatte sich schon viel zu lange für diesen Augenblick aufgespart. Und wozu? Um alles für die Würmer übrig zu lassen? Besser, die Gelegenheit zu nutzen, solange sie sich bot. Denn bald würde es damit vorbei sein.

»Nein, ich wollte gar nicht nein sagen, ich wollte Ihnen nur keine Unannehmlichkeiten bereiten.«

Ruggero öffnete die rechte Wagentür, eine Geste, die Mariolina sehr zu schätzen wusste. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, wie farblos und öde ihr Leben bisher gewesen war. Nie der Vorsehung ins Handwerk pfuschen, dachte sie.

»Bitte, Signorina…?«

»Mariolina«, antwortete sie mit einem keineswegs schamhaften Lächeln.

Dann sprang sie ins Auto und sah Ruggero mit ihren lebhaften grauen Augen unter den dichten Wimpern an. Als er später daran dachte (und an alles andere), konnte er die ganze Nacht nicht schlafen und wälzte sich im Bett hin und her wie ein Kotelett, das in der Pfanne gebraten wird. Doch er war euphorisch wie lange nicht mehr, nicht mal nach der Begegnung mit einem leichten Mädchen hatte er sich so gut gefühlt und schon gar nicht bei der Selbstbefriedigung in ein Handtuch (Letzteres immer häufiger als Ersteres).

Er war so euphorisch, dass er sich nicht mal ärgerte, als seine Mutter zum dritten Mal energisch die Glocke betätigte, die im Zimmer ihres Sohnes läutete, als sei sie in Lebensgefahr. Und nachdem er zu ihr gestürzt war (man musste bei Eltern über achtzig immer mit dem Schlimmsten rechnen), lag sie friedlich da und schnarchte laut.

Neben ihr lag der Vater und schnarchte möglicherweise noch lauter.

Ron-ron, was für eine schöne Musik.

3

Von nichts anderem ist die Rede

»…also, die andere Schwiegermutter, die Mutter des Mannes meiner zweiten Tochter, erinnerst du dich? Der Mann, der… er ist im Vorstand von… wie heißt das noch? Irgend so ein ausländischer Name.«

Am Telefon legte Signora Elvira los wie eine Posaune.

»Die Blonde? Sie arbeitet doch bei…«, mutmaßte Marietta.

»Nein, da verwechselst du etwas. Die Blonde ist Ornella, die Ältere, aber die hat jetzt Strähnchen. Nein, sie arbeitet nicht, sie hat einen Chirurgen geheiratet! Ich spreche von der Jüngeren, der dunkelhaarigen. Die, die vier Sprachen studiert und ihren Abschluss gemacht hat… Wenn du wüsstest, was für ein Opfer es war, sie studieren zu lassen… aber es hat sich gelohnt! Sie haben alle Examen bestanden, sie und ihr Mann, und jetzt arbeiten sie im Ausland, sie haben ein gutes Auskommen, und auch meine Mitschwiegermutter ist zufrieden. Mit einem Examen ist alles ganz anders, glaub mir! Sie kennen lauter angesehene Leute, das sind alles Direktoren, und sie haben interessante Berufe. Sie gehen auch ins Theater, auf Einladungen, zum Essen mit anderen Frauen, die auch alle studiert haben. Und sie kennen sogar den Konsul und die Konsulin. Auch die andere natürlich, ich habe meine Mädchen wirklich bestens untergebracht. Ornella hat mir gesagt, wenn ihr Mann Chefarzt wird, kauft er eine große Villa mit Schwimmbad auf Sardinien. Er guckt sich schon Prospekte an…«

Am liebsten hätte Marietta gefragt, warum sie und ihre Mitschwiegermutter angesichts so erfolgreicher Schwiegersöhne mit dem Bus bis zum Bahnhof gefahren waren, anstatt in einer Limousine mit Chauffeur in Livree.

»Also, wie ich schon sagte… meine Mitschwiegermutter meinte, sie hätte sie in einem Auto gesehen, einer Art Lieferwagen… meine Mitschwiegermutter versteht gar nichts von Autos. Jedenfalls saß deine Schwester wohl vorne, und sie waren allein. Der Fahrer war ein graumelierter Mann, Ende vierzig. Wir haben ihn vorher hier nie gesehen.« Sie kicherte. »Also, es war auf keinen Fall das Burggespenst. Das muss ein kräftig gebauter Typ gewesen sein, alle Achtung. Wenn du wüsstest, wie ich mich für deine Schwester freue! Na, wurde ja auch mal langsam Zeit, dass das Glück ihr hold ist. Bald bist auch du an der Reihe, du brauchst nicht zu verzweifeln. Ihr seid beide nicht hässlich! Und eure Mutter segnet euch vom Himmel herab. Die arme Frau, sie hat wirklich gelitten im Leben. Ich habe schon oft zu meiner Mitschwiegermutter gesagt, wäre ich an der Stelle deiner Mutter gewesen, dann hätte ich…«

»Danke für den Anruf, aber jetzt muss ich leider auflegen, weil es an der Tür klingelt«, sagte Marietta und gab sich Mühe, Signora Elvira nicht zum Teufel zu schicken.

»Vielleicht kommt Mariolina gerade nach Hause. Grüß sie herzlich von mir und wünsch ihr Glück, auch von meiner Mitschwieger…«

Marietta war irritiert, zutiefst irritiert, als sie den Hörer auflegte.

Das hasste sie an dem Dorf. Seit dem Tod der Mutter mussten sie alles tun, um den Dorfklatsch von ihrem Haus fernzuhalten.

Es war besser, sie blieben unter sich, Mariolina mit ihrer Arbeit bei der Gemeinde und sie mit ihrer Häkelei. Von klein auf waren sie einander immer ganz nah gewesen.

Nie hatte es zwischen ihnen eine Missstimmung gegeben, na ja, manchmal vielleicht, aber dann nur wegen Kleinigkeiten. Marietta sah ein, dass sie manchmal übertrieb, aber sie war nun mal so, und zum Glück wurde Mariolina niemals wütend.

Es gab auch keine Geheimnisse zwischen den Schwestern, es war, als wären sie mit einer Seele in zwei Körpern aufgewachsen. Und so war es bis heute geblieben.

Zum Teufel mit dieser geschwätzigen Angeberin und ihrer ehrwürdigen Mitschwiegermutter!

Wenn Mariolina ihr noch nichts gesagt hatte, dann musste es einen wichtigen Grund dafür geben. Sie brauchte nur zu warten, bis sie nach Hause kam, und musste nicht gleich in Panik geraten.

Die Frau des Zeitungshändlers habe sich nur deshalb erlaubt, sie zu stören, sagte sie immer wieder, weil eine neue Zeitschrift mit Stickmustern herausgekommen war, die sie vielleicht interessierte, und deshalb hätte sie sie ihr vorbeigebracht.

Als kleine Aufmerksamkeit, sie brauche sie nicht zu bezahlen. Schon ein paar Tage habe sie das Blatt für sie zurückgelegt, um es ihr, wenn sie in der Nähe war, zu geben. Oder sie hätte es Mariolina mitgegeben.

»Ist deine Schwester eigentlich zu Hause?«

Nein, Mariolina sei noch im Büro.

»Im Büro? Aber am Donnerstag arbeiten sie doch immer nur bis halb zwei.«

»Dann hatte sie bestimmt noch etwas zu erledigen.«

»Gibt sie dir denn nicht Bescheid, wenn sie nicht nach Hause kommt?«

Ihre Dreistigkeit kannte wirklich keine Grenzen.

»Wenn sie es kann«, antwortete Marietta schrill.

»Ach so. Dann konnte sie es wohl nicht. Na ja, vielleicht weißt du es ja noch nicht, aber… Was sie macht, ist ja gar nichts Ungewöhnliches, Arturo…«

Arturo war der Mann, der das Glück hatte, mit dieser Frau verheiratet zu sein.

»Ich selbst habe es nicht gesehen«, fuhr sie fort. »ich war schon zum Kochen nach Hause gegangen wie jeden Tag. Nur Schnitzel, ganz schnell. Im Handumdrehen sind sie fertig. Ich bin schließlich keine Küchenmagd. Aber Arturo schloss gerade den Kiosk ab, und als er den letzten Rollladen herunterließ, den auf der Seite, wo der Brunnen steht, du weißt, was ich meine, oder?, da sah er einen Kerl, der ihr die Wagentür zum Einsteigen öffnete. Er hatte ein dunkelgrünes Auto, hinten ein bisschen höher, so ähnlich wie ein Militärwagen, kannst du dir das vorstellen? Ich habe es ja nicht gesehen und kann es dir leider nicht besser beschreiben. Das Auto stand ein paar Meter vom Rathaus entfernt und mein Mann hat ihn so deutlich gesehen, dass er ihn dir haargenau beschreiben könnte. Da hab ich zu Arturo gesagt: Du kannst noch was lernen. Wann hast du mir je die Wagentür offen gehalten?! Und da sagte dieser Mistkerl: Wann hörst du endlich mit diesen Lappalien auf? Und ich: Das sind keine Lappalien, das sind wichtige Dinge, die einer Frau das Gefühl geben, etwas wert zu sein. Höflichkeit zahlt sich immer aus. Bist du nicht auch meiner Meinung, Marietta?«

Marietta nickte brav. Nicht ganz freiwillig, aber das merkte Dora nicht, und wenn doch, ließ sie es sich nicht anmerken.

»Wirklich galant, der Verlobte deiner Schwester, das ist er doch, nehme ich an. Wer ist denn der Mann?«

»Das muss ein Kollege sein«, entgegnete Marietta knapp.

»Ein Kollege? Nein, bestimmt nicht. Arturo sagt, wir haben ihn noch nie gesehen. Er arbeitet nicht auf dem Amt.«

»Dann war es wohl nicht Mariolina.«

»Doch, doch, sie war es. Mein Mann sagt, dass…«

»Dein Mann muss sich geirrt haben.«

Mariettas harter und unnachgiebiger Ton ließ keinen Widerspruch zu, und deshalb sagte Dorothea, bemüht, der Situation durch Ironie die Dramatik zu nehmen: »Vielleicht hast du ja recht, und Arturo hat nur das Burggespenst gesehen, und es war gar nicht Mariolina.«

»Ganz bestimmt nicht«, gab Marietta zurück und ging ein paar Schritte rückwärts. Dann dankte sie Dora für den Besuch, drückte ihr etwas Kleingeld in die Hand – sie wollte die Zeitung auf keinen Fall umsonst annehmen– und schob die Kioskbesitzerin zur Haustür.

Den Rest? Den würde sie bei der nächsten Gelegenheit abholen. Ja, sie käme zum Kiosk. Und um das gleich zu klären: Sie mache keine Stickerei, sondern Häkelarbeiten. Unikate, selbstgemacht. Das sei was völlig anderes, aber trotzdem vielen Dank. Auf Wiedersehen, Dorothea.

Das war Nummer zwei.

Als Nächste war Gemma dran, die Kollegin aus der Gemeindeverwaltung, die aus dem Einwohnermeldeamt. Die mit dem Silberblick (wie sie selbst sagte), und sie rief an, um zu erfahren, ob Mariolina das Schlüsselchen von der Kaffeemaschine wiedergefunden habe. Schon vor zwei Tagen habe sie versprochen, es zurückzugeben. Nein, sie wolle sich nicht beschweren, sondern nur fragen, ob sie ihr helfen könne, so was könne jedem passieren. Aber beim Herausgehen seien sie sich nicht begegnet… und dann hätte sie sie, merkwürdigerweise, einsteigen sehen… also nein, sie meinte eigentlich hochsteigen… wohin?… Die Treppe natürlich. Welche Treppe?… Die kleinen Stufen, die vier, die aus dem Rathaus führen. Ja, nach unten sei sie gegangen, nicht nach oben. Genau, beim Reingehen ginge man hoch, beim Rausgehen runter. Ja, aus dem Rathaus. Sie habe sich vertan. Bei dieser Hitze käme man ja auch ganz durcheinander. Ja, und sie möge bitte entschuldigen und Mariolina lieber nichts sagen. Das wäre bestimmt besser. Vielleicht wolle sie ja gar nicht, dass die Schwester es erfährt… Was sollte die Schwester nicht wissen?… Dass sie Kaffee trank.

Was auch immer Mariolina gemacht hatte, seitdem war nicht mal eine Stunde vergangen, und doch war von nichts anderem die Rede.

»Es wird über nichts anderes mehr gesprochen!«, rief Marietta, als sie endlich ihre Schwester ins Haus kommen sah. Mit zerzaustem Haar, verbundenem Handgelenk, einem fehlenden Knopf an der Bluse und einem Gesichtsausdruck, den sie an ihr vorher nie gesehen hatte, irgendwas zwischen glückselig und schwachsinnig.

Es war viertel nach neun, anders ausgedrückt einundzwanzig Uhr fünfzehn. Es waren also gut acht Stunden vergangen, seit Mariolina das Rathaus verlassen hatte. Ohne Bescheid zu sagen. Das war das erste Mal, so etwas war bisher nie vorgekommen. Dafür musste es einen ernsten Grund geben.

4

Bambolina

Mariolina warf ihre Sandalen in die Luft und streckte sich auf dem abgewetzten Sofa aus. Marietta stützte sich auf eine der Lehnen, nah bei den Füßen der Schwester, und streichelte diese. Sie waren klein und gepflegt, mit samtiger Haut an den Fersen, auf den Nägeln beigefarbener Lack, und sie sahen aus wie die Füßchen von Aschenputtel.

Marietta hatte ihre Schwester immer beschützt, obwohl sie selbst die Jüngere war, und auch nur, wenn es wirklich notwendig war.

»Hast du mittags was gegessen?«, fragte sie.

»So gut und so viel, dass ich jetzt gar keinen Hunger habe.«

Auch Marietta hatte keinen Hunger, dabei hatte sie den ganzen Tag nichts zu sich genommen. Die Anspannung hatte ihr den Magen zugeschnürt.

»Telefonanrufe? Und von wem? Was interessieren die sich für mich?«

Als Mariolina von dem Geschwätz der Leute hörte, geriet sie in Zorn. Doch sie besann sich eines Besseren und unterbrach ihre Schwester.

»Haben die denn gar nichts anderes zu tun, als mich auszuspionieren? Das ist mir vollkommen egal, ich will nicht mal wissen, wer es war. Das geht nur mich etwas an. Das Leben gibt mir eine Chance, und die ergreife ich beim Schopf. Und ob ich das tun werde. Ich bin der Liebe begegnet, plötzlich wie durch eine Windböe. Und die Leute mit ihrem neidischen Geschwätz sind mir vollkommen egal«, sagte Mariolina, bevor sie begeistert zu erzählen begann.

Ruggero, das Bild von einem Mann, einfach großartig, das sehe man gleich an seiner Art zu gehen, zu sprechen, an seinen Gesten. Er habe eine tiefe Stimme, und ihr sei gleich ein Schauer über den Rücken gelaufen, als sie sie gehört habe. Aber innen drin, da sei das Blut in den Adern heiß geworden, heißer als Lava. Ihr Handgelenk sei weder verrenkt noch gebrochen, aber in der Notaufnahme hätten sie es auf sein Drängen hin vorsichtshalber verbunden. Er hatte darauf bestanden, dass sie alles taten, damit es schnell wieder in Ordnung käme. So sehr, dass der Doktor ihm schon gesagt hatte, er solle sich um seinen eigenen Beruf kümmern und hier nicht den Arzt spielen. Wie ungezogen von ihm! Aber sie habe sich ganz wichtig gefühlt, so als sei er ihr Mann und kümmere sich um sie wie um seine Frau.

Ja, seine Frau. Ach, Ruggero! Dann habe er sie in ein ganz wunderbares kleines Restaurant am Strand eingeladen. Neunzig Kilometer seien sie gefahren, im Handumdrehen, in seinem Sportwagen mit offenem Dach, es wäre eher wie im Raumschiff als in einem Auto gewesen. So eines habe sie noch nie gesehen. Und Marietta natürlich auch nicht.

Der grüne Wagen? Den benutze er nur für die Arbeit, eine Art Lieferwagen, diese dummen Leute! Er sei Bauunternehmer und habe Angestellte. Ein Mann mit Vermögen. Er habe extra seinen feinen Wagen aus der Garage geholt und gesagt, der passe besser zu einer Frau wie ihr.

Er wohne unweit vom Krankenhaus, in einer tollen Villa! Das sei vielleicht ein Anblick, so eine schöne Anlage. Sogar eine Gartenlaube! Sie seien nicht reingegangen, um keine Zeit zu verlieren, wenn es aber innen genauso fein sei wie außen… es sei eine wirklich feine Familie. Verheiratet? Nein, so etwas Furchtbares dürfe Marietta nicht mal aus Spaß sagen! Er lebe bei seinen alten Eltern, die seien eine wahre Last für ihn. Mariolina hoffte, sie bald kennenzulernen und die Villa von innen zu sehen, das Haus ihres…

»…meines Verlobten«, sagte sie mit fester Stimme. »Nennen wir ihn unter uns erst mal so.«

Ja, es sei eine ganz sichere Sache, aber es sei besser, behutsam vorzugehen, bevor man es ankündigte. Allein, um zu vermeiden, dass sich die Ratschweiber die Mäuler zerrissen.

Neunzig Kilometer in einem Augenblick, Wind in den Haaren. Sie hätte getan, als habe sie Angst, und ihn fest am Arm gepackt (und als sie seinen Bizeps gefühlt habe, da habe sie einen wohligen Schauer verspürt).

»Mit mir brauchst du dir nie Sorgen zu machen!«, hatte Ruggero gesagt, mit einer Stimme, bei der sie im Bauchraum ein ganz seltsames Gefühl gehabt habe.

Risotto alla pescatore habe sie gegessen, dazu einen leichten Weißwein, spritzig und eiskalt, nur zu Anfang. An das Weitere erinnere sie sich nicht mehr, sie sei schon nach dem ersten Glas beschwipst gewesen, danach hätte sie noch mehr getrunken, und zum Nachtisch noch einen Limoncello.

Ruggero sei jemand, der die Dinge des Lebens genießen könne.

Er sei ein Mann mit Humor, er habe sie gut unterhalten, sehr angenehm. Er habe ihr auch etwas anvertraut, dass… es sei wirklich wie im Abenteuerroman!

Manchmal sei die Wahrheit eben ganz unglaublich! Nur weil er einmal kräftiger mit der Hacke zugeschlagen habe als vorher, hatte er einen alten Schuh mit doppelter Sohle gefunden. Eingemauert, Marietta, stell dir das mal vor! Eingemauert, heiliger Himmel! Kannst du das begreifen?

Nein, Marietta begriff es nicht. Was war da auch zu begreifen?

Aber und wie! Eine doppelte Sohle, ein alter Schuh! Kam ihr das normal vor? Jedenfalls hatte er den Schuh geöffnet und drinnen eine Schatzkarte gefunden. Die Karte zu einem Schatz, wie sie einer sei.

Mariolina war völlig beschwipst und hatte vorgeschlagen, am Strand spazieren zu gehen. Sie hatten gelacht (auch er vertrug nicht sehr viel Alkohol) und sich die Schuhe ausgezogen, er auch die Socken (wo hatte er sie hingetan? In die Schuhe? In die Tasche? Aber das konnte Marietta doch egal sein). Dann waren sie wie zwei Jugendliche Hand in Hand gegangen, frei und sorglos. Irgendwann hatte er sie geküsst, endlich, gierig wie ein Tintenfisch (als Hauptgericht hatten sie Tintenfisch in Tomatensauce mit Erbsen und neuen Kartoffeln gegessen), er hielt sie fest im Arm und murmelte ihr ins Ohr, sie sei wunderbar, sie käme ihm vor wie eine Puppe, eine Bambolina, die ihm die Sinne raube.

Danach waren sie in einer Badekabine gelandet und hatten sich nicht ohne Mühe ausgezogen (deshalb hatte sie den Knopf verloren), und alles war sehr schnell gegangen. Mariolina habe sich trotz des engen Raums als eine kühne und sinnliche Stute erwiesen. Und wenn das ein Mann wie Ruggero sagte…

Ach, Ruggero!

Der Abend war erfüllt vom Zirpen der Grillen, die Zweige der Bäume wehten in einer kühlen Brise und brachten Erfrischung nach dem langen schwülen Tag. Doch Marietta war gleich nach den ersten Sätzen ans Fenster der Wohnstube gestürzt und hatte es geschlossen. So wurde der süße Geruch der Linden ausgesperrt, aus Angst, dass die Worte der Schwester – die offenbar noch unter der Einwirkung des Alkohols, des Sex und Gott weiß was sonst noch stand– in alle Häuser der Umgebung drangen.

Vielleicht hatte Mariolina auch nur einen Sonnenstich und einfach den Verstand verloren. Dieser Sommer war furchtbar heiß, die Leute waren völlig erschöpft. Die Situation war vor allem für alte Menschen und Kinder kritisch, und das Fernsehen riet dazu, nur an den kühlen Stunden des Tages hinauszugehen, aber die Sonneneinstrahlung konnte auch für alle anderen gefährlich werden. Deshalb glaubte sie kein Wort von dem, was Mariolina ihr erzählt hatte. Sowieso klang es wie ein Kapitel aus einem Roman von Erica Jong. Marietta hatte ihre Bücher mehrfach gelesen, manchmal gierig verschlungen. Doch so sehr sie sich darauf einließ, sie kamen ihr doch zu übertrieben vor. Geschichten aus Büchern, die überzogen und eigentlich auch vulgär waren.

Es war unmöglich, dass Mariolina, die so anständig war (die nie unanständige Wörter benutzte), so empfindlich (wenn Tomaten nicht richtig püriert waren, bekam sie einen Brechreiz), so zimperlich (als sie einmal aus Versehen ihre Zahnbürste benutzt hatte, hatte sie sich nicht die Zähne geputzt und sofort eine neue gekauft), so gesittet (sie ging nie abends aus, nur vor Weihnachten mit ihren Kollegen), mit einem Unbekannten unterwegs gewesen war und so schamlose Dinge getan hatte wie eine Schlampe.

Das war wirklich schlimm und konnte einfach nicht wahr sein.

Oder vielleicht war sie verrückt geworden, oder man hatte ihr Drogen verabreicht, oder… oder, ja genau, das musste passiert sein. Sie war hypnotisiert worden! So einfach war das.

In den Fernsehnachrichten war oft die Rede von Betrügern, die alte Leute hypnotisierten, sich von ihnen zu ihrer Bank führen ließen und sie aufforderten, Geld abzuheben – die Ersparnisse eines langen arbeitsreichen Lebens, diese Unglücklichen–, und dann nahmen sie es ihnen weg. Danach ließen sie ihre Opfer völlig benommen auf der Straße stehen. Und diese armen Leute wussten in ihrem Zustand nicht mal mehr, wer sie waren. Manchmal gelang es einem aufmerksamen Kassierer, die Verbrecher aufzuhalten, aber die meisten entkamen.

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