Wie die Zeit, so die Lage - Herbert Wolf Yasmine Meier - E-Book

Wie die Zeit, so die Lage E-Book

Herbert Wolf Yasmine Meier

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Beschreibung

Ohne Uhren geht es nicht. In der Geschichte "Die Uhren meines Vaters" nervte eine besonders kräftig, so dass sie der Autor nur schwer ertrug. Trennen konnte er sich nicht von ihr. Zuverlässig zeigt sie ihm immer noch die Zeit an. Im Gedicht "Die Situation der Lage" stellt sich die Autorin zusammen mit ihrer Katze die Frage, ob die ausweglos oder doch eher nur verquer ist. Immer ist es die Zeit und wie sie auf unsere Lage wirkt, was Autorin und Autor im Buch beschäftigt.

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Seitenzahl: 194

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2024 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99146-514-0

ISBN e-book: 978-3-99146-515-7

Lektorat: Astrid Pfister

Umschlagfoto: Pavel Sevryukov | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Widmung

Für meinen lieben Papa!

Ohne dich wäre ich heute nicht, wo ich bin!

Yasmine

1. Prolog – Herbert Wolf

Wie die Zeit, so die Lageist der Titel dieses Buches. Die Idee, einmal gemeinsam zu publizieren, hatten wir spontan überlegt, Yasmine Meier und ich, ihr Kollege, Herbert Wolf. Davor haben wir stets allein veröffentlicht.

Sie hat bis jetzt zwei Romane und eine große Anzahl an Gedichten herausgebracht. Viermal wurden Gedichte von ihr schon in einem Wettbewerb für Lyrik ausgezeichnet. Ich habe fünf Bücher geschrieben, darunter Thriller und eine Kurzgeschichtensammlung.

Wir besteigen eine Jacht und setzen die Segel. An Bord lassen wir den Kurs auf offener See von unserer Fantasiebestimmen, war unsere Vorstellung.

So gut kannten wir zu diesem Zeitpunkt weder uns noch unsere Werke. Auf Instagram hatten wir unsere Beiträge bemerkt, sie gelikt oder kommentiert, ein Kontakt entstand.

Unsere Lebenserfahrungen und schriftstellerischen Schwerpunkte unterscheiden sich deutlich und wir mussten ein übergreifendes Thema für ein gemeinsames Buch, bunt gemischt aus Lyrik und Prosa finden, welches unsere Intention zum Ausdruck bringen könnte.

In den einzelnen Beiträgen sollten auch reale Geschehnisse anklingen, die uns bewegt hatten, nicht nur Gefühle über dies und das. Wenn wir schon auf der offenen See kreuzten, dann sollten unsere Werke das Meer mit seinen sanften Wellen, aberauch mit seinen rauen Stürmen erahnen lassen. Häufig versetzt das Meer die Seeleute unvermittelt in eine bedrohlicheLageund dieZeitwird dann knapp, um sich lange besinnen zu können. Daraus entstand der Titel.

Liebe Leserinnen und Leser, hoffentlich können wir Sie gedanklich mitnehmen auf diesemFantasie-Kurs.

Das wünschen wir uns, denn nur Ihr Spaß beim Lesen zählt letztlich!

2. Entspannte Zeiten – Herbert Wolf

Der Zeiger dreht weiter und zittert ganz leicht,

ein ICE fährt endlich ein, die Bremsen kreischen,

Fahrgäste drängeln nach vorn, die Zeit verstreicht,

die Luft vibriert, ein Windstoß sucht zu entweichen.

Der ICE, der fährt gleich los, es ist die Zeit dafür,

Lautsprecher ertönen, ein Schaffner hält sich bereit,

sein durchdringender Pfiff ertönt, er schließt die Tür,

vorn das Signal springt jetzt auf Grün, es ist soweit.

Sommer ist’s, was scheren da die vergangenen Tage?

Hoffnung auf Entspannung verdrängt lästige Sorgen,

weder Arbeit noch irgendein Druck belasten meine Lage,

schon erahne ich die Brandung am kommenden Morgen.

Das Rauschen des Meeres soll mich früh hinauslocken,

und weder Träume noch Müdigkeit lange im Bett halten.

Im Wasser will ich liegen oder im Sand mich hinhocken,

und nichts wird verhindern, den Tag entspannt zu gestalten.

Nicht die Uhr, der Stand der Sonne bestimmt mein Leben,

glitzernde Kronen der Brandung beflügeln meine Fantasie.

Fremd erscheint jetzt die sonst tägliche Taktung daneben,

so überlasse ich mich losgelöst von Zwängen der Magie.

Aber die Entspannung bietet mir nirgends einen Halt,

um festen Stand zu finden und diese Zeit auszuweiten,

der Zeiger dreht weiter, die Ruhe währt nur einen Spalt,

die Hoffnung auf Wiederholung muss mich dann leiten.

Vorwärts treiben Gedanken an unaufschiebbare Pflichten,

widerstrebend wechsle ich aus unbeschwerter Umgebung, Und es ist immer nur die Uhr, wonach sich alle richten,

der Alltag schubst mich weiter, hält mich in Bewegung.

3. Zug nach Nirgendwo – Yasmine Meier

Eine gereimte Kurzgeschichte

Sie hatte den letzten Zug verpasst.

Der Bahnhof war leer; ungeplante Rast.

Wie ausgestorben, leer gefegt in diesem Kaff.

Sie blieb zurück ohne Anschluss und baff.

Als ob die Welt hier zu Ende gewesen wär.

Eigentlich war Sonjas Ziel das nahe Meer.

Sie hatte eine kleine Pension da gebucht.

Und im Moment nur kurz leise geflucht.

Denn auf dem Weg musste der Zug

abrupt wegen eines umgestürzten Baumes halten.

Wo war sie denn eigentlich genau hier?

Als sie ausstieg, war sie der letzte Passagier.

Der ganz allein in dem fremden Bahnhof war.

Und sich nun hilfesuchend überall umsah.

Wie hieß dieser unbekannte Flecken um sie her?

Es gab nur noch Schienenersatzverkehr.

Doch irgendwie war sie nicht gefolgt dahin.

Ihr Koffer war auch rollend schwer ohnehin.

Sie verließ den Bahnhof dann stattdessen.

Und hoffte, es gab noch irgendwo was zu essen.

Aber jemanden zu fragen war aussichtslos.

Denn sie war hier offenbar alleine bloß.

Gab es denn da Menschen überhaupt?

Vor dem Bahnhof sah sie eine Kate im Laub.

Ob da ein Mensch gerade zu Hause war?

Sonja schob ihren Koffer dahin unmittelbar.

Leise schimpfte sie bei jedem Schritt.

Sie zog ihr Kofferungetüm ungestüm mit.

Ihr braunes langes Haar wehte im Wind.

Und Sonja dachte bereits tränenblind:

Sieht aus wie eine kleine Geisterstadt.

Ob es hier schon immer so tot ausgesehen hat?

Wo bliebe sie hier? Es wäre nur für eine Nacht.

Wo schliefe sie? Wer ihr da wohl aufmacht?

Seit acht Stunden hatte sie im Zug gesessen.

Und seit sechs Stunden nichts mehr gegessen.

Aus der Nähe sah die Kate noch oller aus.

Aber sie machte sich nichts doller draus.

Weil alles im Haus vollkommen dunkel aussah,

nahm Sonja an, dass da niemand daheim war.

Vielleicht käme sie auch anderweitig hinein.

Denn irgendwo könnte ein Fenster offen sein.

Ebenso könnte das Haus auch unbewohnt sein.

Wie auch immer: Sonja musste da nun rein!

Am Ortseingangsschild stand das Haus.

Aber laut Internet sah es nicht nach Hotel aus.

Sonja war hier direkt am Arsch der Welt.

Und wusste, dass ihr das gar nicht gefällt.

Im Garten gelang es ihr ins Haus zu kommen.

Offenbar hatten es Messies in Beschlag genommen.

Aber Sonja fand einen kleinen Raum noch.

Der sauber war, aber eher genannt ein Loch.

Immerhin stand dort eine kleine Liege.

Sonja fragte sich:Ob ich hier Schlaf kriege?

Sie trank den letzten Rest von ihrem Rheinhessen.

Und fand im Koffer noch Schokolade zu essen.

Gott sei Dank, da hier der Kühlschrank leer war.

Und auch nicht wirklich einladend aussah.

Nach dem kargen, kalorienreichen Abendessen

dachte Sonja nur:Ich hab’ auch besser gegessen!

Ehe Sonja nun darauf schlief, sah sie noch,

da spazierte gerade eine Maus in ihr Loch!

Auch das noch! Aber sie schlief dann doch.

Es war Punkt vier, als Sonja aus dem Schlaf zuckte.

Sicher die Maus weckte und sich daher duckte.

Als Sonja nun nicht mehr unbemerkt blieb,

denn es schien, da machte sich wer an der Tür unbeliebt.

Kamen die, die hier lebten, gerad’ aus Kamen?

Sonja hatte keine Lust auf irgendwelche Dramen.

Wahrscheinlich war es nur ein Tier gewesen.

Von ausgebrochenen Kühen hatte sie gelesen.

Als Sonja bebend auf die nahe Tür zuschritt,

ging bei jedem Schritt ihre große Angst mit.

Wer kam da mitten in dieser kalten Nacht?

Zu essen hatten die wohl nichts mitgebracht?

Ihr Handy hatte auch noch aufgegeben.

McDonalds war fern, wie das Leben.

Sonja war widerrechtlich hier drin.

Sie werden denken, ich bin eine Einbrecherin!

So dachte sie knapp; lieber gut verstecken?

Hier tummelten sich Juwelen in allen Ecken!

Ätsch! Wer hier einbrach, stellte eher was hin.

Als dass er was stahl! Und Sonja mittendrin.

Was, wenn so ein Rindvieh die Tür aufstemmte?

Gab es dann was, was es daran noch hemmte?

Wenn Einbrecher, was gab’s denn zu holen hier?

Goldene Eierbecher oder silberne Löffel schier?

`Ne Maus, aber nur mitsamt dem Mauseloch!

Denn irgendwo wohnen müsste sie ja noch.

Kaum an der Tür, da verstummte der Radau!

Betrunkener Ehemann oder gehörnte Ehefrau?

Wer stand sonst um vier auf der Matte?

Der nicht mal eine verdammte Uhr hatte?

Sonja fiel ein Stein vom Herzen, als der Spuk endete.

Sie fiel auf die Liege, wo sie sich drehte und wendete.

Zum Glück, dass nicht die Bewohner kamen.

Denn sie empfingen nur die Maus mit offenen Armen.

Man könnte Sonja festhalten, bis Polizei käme.

Die Sonja wohl zur Vernehmung mitnähme.

Der Gedanke raubte ihr den Schlaf.

Und sie konstatierte dann messerscharf:

Hier bleibe ich nicht länger, als ich muss!

Ihr heißer Hunger war nicht derweil erkaltet.

Und niemand hatte ihren Appetit ausgeschaltet.

Das hier gelegene Brot war schimmlig und grau.

Und die Himbeermarmelade schimmerte blau.

Demnächst hätte sie im Maritim gespeist:

Crêpe Suzette, Omelette Surprise, Sekt auf Eis,

Kaffee, Toast, Rührei und Marmelade.

Hier war alles unterste Schublade.

Da fiel ihr wieder die Maus ein.

Irgendwo musste also Käse sein.

Doch weit und breit nicht Gouda,

Camembert oder Tilsiter sichtbar.

Handyempfang gleich Null und Sonja

Wollte essen, wo was essbar war.

Statt à la carte gab’s nur alte Kate.

Und nichts von der Sternespeisekarte.

Eilig schnappte Sonja ihren Samsonite.

Die Maus und die Bewohner taten ihr leid.

Für sie alle ließ sie ihren Koffer zurück.

Samt Inhalt für ein bisschen mehr Glück.

In ihre Gedanken fiel ein lauter Knall.

Sonja erschrak leicht, kam fast zu Fall.

Wieder Stille; so atmete Sonja laut auf.

Hier wird es nicht sein, wo ich verschnauf’.

Wahrscheinlich war’s ein Tier gewesen.

Von wildernden Wölfen hatte sie gelesen.

Doch das stimmte sie nicht mehr um.

Hier blieb sie nicht mehr – Punktum.

Zögernd öffnete sie die Vordertür dann.

Sonja hielt gebannt die Luft an.

Vor der Tür lag lediglich eine Zeitung.

Nicht Kuh oder Wolf in ihrer Begleitung.

Sonjas Blick erfasste die fette Titelzeile.

Und sie schnappatmete eine ganze Weile.

Denn was da stand, schnürte ihr die Luft ab.

Und sie sagte laut: „Glück gehabt!“

Die Buchstaben, die da nämlich prangten,

verstörten sie, als sie in ihr Bewusstsein gelangten.

Alle zweiunddreißig Passagiere auf dem

Schienenersatzverkehr,

dem sie nicht gefolgt war, lebten nicht mehr!

Sie musste sich setzen und lernen zu verstehen:

Wie ihnen könnte es jetzt auch ihr ergehen!

4. Die Uhren meines Vaters – Herbert Wolf

Seine Uhren zu stellen war für meinen Vater sicher wichtig gewesen. Es hatte sich mit den Jahren zu einem unverzichtbaren Ritual entwickelt, dass er abends die Uhren aufzog oder nachstellte. Batteriebetriebene Uhren waren damals relativ selten. Die exakte Uhrzeit entnahm er der Anzeige im Fernseher direkt vor den zwanzig Uhr-Nachrichten.

Ich bin mir nicht sicher, ob wir seine Liebe für Uhren erst registrierten, als er für unser Wohnzimmer eine aus dunkelbraunem Holz gefertigte Uhr gekauft hatte. Diese stellte er auf die Kommode. Nicht nur durch deren exquisites Aussehen fiel sie sofort auf, sie verfügte über ein Schlagwerk, das wir alle tags und nachts hörten. Es ertönte nicht nur zur vollen Stunde, sondern auch viertel- und halbstündlich. Exakt erklangen die Gongs jeweils ein-, zwei-, drei- oder vier Mal. Das haftet immer noch in meinem Gedächtnis. Damals hatte es mich gelegentlich genervt. Das hölzerne Ziffernblatt war umrandet von einem vergoldeten Messingrand. Goldfarben waren die römischen Ziffern und die ebenfalls kunstvoll gearbeiteten Zeiger. Meine Mutter lebte da noch und teilte seine Wertschätzung für diese Uhr wegen ihrer einmaligen, von Hand geschnitzten Verzierungen, die einen richtigen Hingucker darstellten. Obwohl sie seinen Uhrentick nicht nachvollziehen konnte, aber doch nachsichtig betrachtete, bei dieser Uhr empfand sie ähnlich wie er und hatte diese stets mit viel Sorgfalt gepflegt.

Insgeheim spekulierte ich darauf, dass das Schlagwerk bald seinen Geist aufgeben würde, je länger wir diese Uhr besaßen. Wenn mein Vater abends sowohl das Uhr- als auch das Schlagwerk aufzog, hatte ich gehofft, dass er zumindest letzteres unterließe. Dieses wiederkehrende, unüberhörbareBoingnervte mich.

Jeden Abend, wenn in der ARD die Uhr vor der Tagesschau eingeblendet wurde, schritt mein Vater mit dem Uhrschlüssel zur Kommode, öffnete die Glastür vor dem Ziffernblatt und zog beide Uhrwerke auf. Eventuell den Blick auf den Fernseher gerichtet, justierte er dann die Zeigerstellung nach.

Das Elternhaus und damit auch West-Berlin habe ich für das Studium verlassen. Ich wollte etwas Abstand zur Familie haben und wählte dafür die Hamburger Universität aus. Bei den eher seltenen Besuchen entdeckte ich eines Abends, dass mein Vater seine Gewohnheiten inzwischen etwas verändert hatte. Vor dem Einstellen der Uhr auf der Kommode legte er vor sich auf den Tisch seine Armbanduhr und, das war gänzlich neu, eine Taschenuhr zurecht. Diese hatte ich zuvor nie zu Gesicht bekommen. Jetzt hatte er sie aus seiner Hosentasche hervorgezogen.

„Du hast sogar eine Taschenuhr?“, fragte ich verwundert.

„Das ist ein Geschenk meiner Firma zu meinem Dienstjubiläum, die habe ich gerade erst bekommen. Das Gehäuse ist übrigens nur vergoldet, aber sie ist sehr genau.“

Die TV-Uhr wurde angezeigt. Mein Vater stellte nacheinander seine Jubiläumstaschenuhr, die Armbanduhr und lief dann erst zur Kommode. Das Schlagwerk erklang gerade exakt vier Mal. Ich konnte bei ihm ein zufriedenes Lächeln entdecken, vielleicht auch, um mich ein wenig zu verspotten, weil er wohl meine Gedanken erahnte.

Überraschend war für mich auch, dass er nach dem Ende der Abendnachrichten das Wohnzimmer verließ.

„Er hat auf seinem Nachttisch eine neue Uhr mit Weckfunktion und digitaler Anzeige. Die muss er auch noch kontrollieren … nicht jeden Abend aber häufig …“, erklärte meine Mutter schmunzelnd. „Jeder hat so sein Hobby!“

„Na jedenfalls ändert sich immer etwas, wenn man eine Weile nicht hier war“, antwortete ich ironisch. Ich studierte noch und meine Semesterzeiten stimmte ich nicht mit einer Uhr ab, allerdings leider auch nicht mit einem Kalender …

Zwei Jahre später in der Adventszeit liefen meine Frau Karin und ich durch die Mönckebergstraße in Hamburg. Wir hatten geheiratet und unser kleines Mädchen lag in einem Kinderwagen. Sie war gerade erst drei Monate alt geworden. Mehr aus Zufall wurden wir an einer Bushaltestelle am Weitergehen gehindert und direkt hinter uns lag ein Schmuck- und Uhrengeschäft.

„Die verkaufen sogar Kuckucksuhren!“, rief meine Frau.

„Schön, aber wir brauchen bestimmt keine Kuckucksuhr!“

Warum auch immer, eine solche Uhr weckte in mir Erinnerungen an die Wohnzimmeruhr im Elternhaus mit dem nervigen Schlagwerk. Eine Kuckucksuhr, auch wenn sie vielleicht dezenter die Zeit anzeigte, wollte ich sicher nicht bei uns zu Hause haben.

„Ich dachte nicht an unsere Wohnung. Wäre das nicht ein Geschenk für deinen Vater?“

„Hm, kein schlechter Gedanke!“, erklärte ich ihr nach einem Moment. Es ist oft schwer, für die Eltern ein Präsent zu finden, das sie gleichermaßen überrascht und freut. Das, was sie wollten, hatten sie sich meist selbst angeschafft, und wenn es darüber hinaus Wünsche gab, waren diese für uns nicht unbedingt bezahlbar.

Die Uhr war nicht billig mit ihrem typischen, wohl dem vermeintlichen Ursprung aus dem Schwarzwald nachempfundenen Holzgehäuse, den Uhrenketten und dem geschnitzten Pendel. Oben an der Vorderseite gab es ein kleines Türchen für den Kuckuck, den man als solchen nicht unbedingt erkennen konnte. Der Preis erschien angemessen, selbst der Zweiton-Ruf erinnerte entfernt an einen Kuckucksruf. Die Herkunft überraschte uns, denn sie war in Südostasien hergestellt worden, nicht im Schwarzwald.

„Und der kleine Piepmatz kommt jede Viertelstunde hinter dem Holztürchen hervor?“, wollte es Karin genau wissen.

„Sicher! Der kleine Vogel, also das Schlagwerk erzeugt alle Viertelstunde jeweils einen Schrei“, erklärte der Verkäufer und drehte dann sofort zur Demonstration die beiden Zeiger.

Gehäuse und auch der Ruf diesesHolzmatzüberzeugten uns, selbst wenn wir schon öfter einen Kuckuck in vertrauter Tonlage und Umgebung gehört hatten. Aber was wussten wir schon, wie ein solcher Vogel in Südostasien schreit?

Und so bekam mein Vater am ersten Feiertag von uns diese Kuckucksuhr geschenkt. Er hat sich sehr darüber gefreut!

An diesem Nachmittag interessierte mich viel mehr meine Mutter, die sich sichtlich vom Wohnzimmertisch in die Küche schleppen musste. So richtig hatte ich ihr nie zeigen können, dass ich durch mein Studium auch eine erfolgreiche Karriere in meiner Firma hatte starten können. Manchmal hatte ich mir vorgestellt, dass ich meinen Eltern von meinem Verdienst einen Urlaub in Rom finanzieren könnte. Einiges war anders gelaufen, uns belasteten als junge Familie viele andere Ausgaben.

Die Uhr war jedenfalls ein Treffer. Mein Vater fand sofort einen Platz an der Wand im Wohnzimmer für sie und fortan erklangen neben den Schlägen der Kommodenuhr die Rufe des Holz-Kuckucks.

„Wird immer lauter im Wohnzimmer“, flüsterte Karin mir zu. „Hast du bemerkt, dass er noch eine zweite Taschenuhr vor sich liegen hat?“

„Papa, hast du noch ein zweites Jubiläum gehabt, von dem ich keine Ahnung hatte?“, spaßte ich.

„Nein, die habe ich mir gekauft, als ich die vom Jubiläum zur Reinigung einschicken musste“, erklärte mein Vater ernst. „Die haben so lange gebraucht, um sie mir endlich zurückzuschicken.“

Meine Mutter starb wenige Tage nach diesem Treffen am Abend des 31. Dezembers. Wir hätten gar nicht nach Hamburg zurückfahren sollen. Wegen des gefrorenen Bodens konnte sie erst Ende Januar beerdigt werden. Als wir danach in der Wohnung mit meinem Vater noch länger zusammensaßen, vergaß er tatsächlich, seine Uhren aufzuziehen oder zu justieren. In der Folgezeit, bei unseren Besuchen schien er aber wieder zu seinen alten Gewohnheiten zurückgekehrt zu sein.

„Euch macht es Spaß, dass ihr mich so emsig die Uhren stellen seht, oder? Das nennt man wohl eine Marotte. Aber immer ertönt etwas in meiner Wohnung und das ist gut so.“

Mein Vater blieb nicht die ganzen Jahre nach dem Tod meiner Mutter allein. Seine Freundin, eine Witwe, die sich mit ihm zusammengetan hatte, behielt zwar ihre Wohnung, aber im Grunde genommen machte das keinen Unterschied. Sie lebten wie ein Paar zusammen, quasi an wechselnden Wohnorten, die nicht weit voneinander entfernt lagen. Ihre Leidenschaft für die Uhren war begrenzt, aber mit seiner Marotte kam sie gut klar. Sie bewunderte bei ihm eher eine andere ausgiebige Beschäftigung. Ein ganzes Zimmer mit eigens dafür von einem Schreiner deckenhoch angefertigten Regalen hatte mein Vater mit der Zeit vollgestellt mit Büchern. Diese standen nicht nur nebeneinander, sondern waren aus Mangel an Platz auch von ihm aufeinandergeschichtet worden. Werke vieler, auch zeitgenössischer Schriftsteller hatte mein Vater in Jahren zusammengetragen. Bücher über deutsche Geschichte und Biografien schätzte er wohl besonders. Diese Leidenschaft hatte sich erst richtig verstärkt in der Zeit nach dem Tod meiner Mutter, als er zeitweise allein hatte leben müssen. Mein ehemaliges Zimmer hatte er schon lange vorher in sein Arbeitszimmer (oder besser gesagt Bibliothek), verwandelt.

Er starb für uns unerwartet mit fünfundachtzig und das noch immer geistig rege. Die körperlichen Einschränkungen waren ihm lästig gewesen, aber auch mit denen hatte er zurechtzukommen gelernt. Noch bei meinen letzten Besuchen beobachtete ich, wie er pedantisch alle Uhren seiner Umgebung aufzog und einstellte. Das Geräusch beim Hochziehen der Kette der Kuckucksuhr, um diese aufzuziehen, habe ich immer noch im Ohr. Ich hatte mich längst daran gewöhnt, sodass ich diese Routine wahrscheinlich bei meinen Besuchen vermisst hätte.

Für die Räumung seiner Wohnung beauftragte ich eine Entrümpelungsfirma, deren Empathie loses Vorgehen ich so schmerzlich, wie empörend registrierte. Es gab kein Gerümpel in diesen Räumen, was den Männern des Räumkommandos aber schnurz zu sein schien. Zu uns mitnehmen war keine Option, denn wir hatten zwei Jahre vorher am Stadtrand von Hamburg neu gebaut und uns entsprechend eingerichtet. Die elterlichen Möbel passten nicht zum Stil unserer Einrichtung, Platz schien bei uns im Haus ebenfalls rar zu sein. Es waren hauptsächlich ausgesuchte und seltene Bücher, die ich retten wollte. Und seine Uhrensammlung? Die Kuckucksuhr überließ ich der Nachbarin, die danach begehrlich geschaut hatte.

Die Uhr auf der Kommode? Vielleicht hatte sie mich aufwecken wollen, denn gerade als einer der Männer sich anschickte, diese abzutransportieren, meldete sie sich mit lautemBoing. „Halt, die nehme ich mit!“

Jetzt steht sie schon seit Jahren bei uns auf der Kommode und wenn ich’s nicht gerade mal wieder vergessen habe, sie aufzuziehen, zeigt sie zuverlässig die Zeit an. Nur das Schlagwerk ziehe ich nie auf, habe innen sogar ein Stoffstück über die Metallstangen gelegt, die die Töne verursachen.

Meine Uhren verbergen sich längst in den Displays des Handys, des Tablets oder des Laptops. Diese vermelden ungefragt immer die Zeit, ganz leise, aber nicht zu ignorieren …

5. Situation der Lage – Yasmine Meier

Zur Situation der Lage

stellt sich manche Frage:

Ist die Lage ausweglos

oder nur verquer bloß?

Schmeckte eine Banane mehr,

wenn sie mal gerade wär?

Ginge ein Ei noch entzwei,

ahnte es vom Spiegelei?

Fiele ein Teebeutel in die Tiefe,

wenn er wüsste, was dann liefe?

Hätte Licht die Welt angesehen,

würde es dann noch angehen?

Sie sehen, manch schwere Frage

zur Situation der prekären Lage.

Aber wer hätte in dieser schweren Lage

nicht die eine oder andere prekäre Frage?

(Gewinner beim Lyrikwettbewerb der Brentano-Gesellschaft 2021)

6. Alters-Nicht-Teilzeit – Herbert Wolf

Die alte Frau saß jetzt halb auf der Bettkante, eine Hand ruhte auf dem Griff ihres Rollators, die andere zerknüllte ein Papiertaschentuch, das sie offenbar nicht loslassen konnte. Als ihr Neffe Peter und seine Frau Isa eingetreten waren, hatte sie mit geschlossenen Augen auf ihrem Bett gelegen. Ob sie geschlafen hatte, konnten die beiden Besucher nur vermuten. Sekundenlang schaute sie beim Erwachen verständnislos in das Gesicht ihres Neffen, ohne sofort zu erkennen, wer da vor ihr stand. Er und seine Frau waren das gewöhnt und sprachen sie geduldig an.

„Tante Marie, wir sind es! Ich, dein Neffe Peter und meine Frau Isa, verstehst du mich?“

Langsam besann sie sich, um dann sofort eine Frage zu stellen.

„Ihr holt mich doch jetzt ab nach Hause, oder?“, fragte sie skeptisch.

„Wir wollen dich heute besuchen“, meldete sich Isa und griff nach ihrer Hand, in der sie das Taschentuch festhielt.

„Weißt du jetzt, wer wir sind?“, fragte Peter zweifelnd. „Wir sind es, Peter und Isa. Wir kommen dich besuchen.“

„Ihr nehmt mich aber mit.“ Das klang nicht so, als hätte sie alles verstanden. Ihr Gesicht verzog sich so, dass darin fast ein Fragezeichen zu erkennen war.

„Tante Marie, warum willst du denn nach Hause? Es geht dir doch gut in diesem Seniorenheim!“

„Du hast so ein schönes Zimmer“, verstärkte Isa, was ihr Mann soeben gesagt hatte.

Der Raum war groß genug, um nicht nur ein Bett, einen Kleiderschrank und eine Kommode aufzunehmen, sondern es gab sogar einen ovalen Tisch mit drei Stühlen drum herum. An den Wänden hingen Bilder, die Peter und Isa aus Maries Wohnung mitgebracht und hier aufgehängt hatten. Zum Zimmer gehörte ein eigenes Bad mit WC. Auf dem Nachttisch standen ihr Radio und ein Telefon. Nur ein Fernseher fehlte, worauf Tante Marie keinen Wert gelegt hatte.

Peter war so erleichtert gewesen, dieses Einzelzimmer in einer Seniorenresidenz am Stadtrand von Berlin organisiert zu haben. Es war kein Sechser im Lotto, aber doch ein Glücksfall, denn viele ältere Menschen konnten nur in Doppelzimmern aufgenommen werden. Nicht wenige mussten dafür sogar längere Wartezeiten in Kauf nehmen. Dieses Haus war ihm und Isa ideal erschienen, konnten sie es doch mit ihrem Auto in einer halben Stunde bequem erreichen.

Dass seine Tante dieses Glück so wenig schätzte, machte ihn gelegentlich ratlos.

„Ach, ich möchte aber trotzdem nach Hause“, beharrte sie und ignorierte wieder einmal, was ihr Neffe gerade gesagt hatte. Dieser versuchte, ihren Arm zu streicheln, aber das fruchtete bei ihr nicht. Jetzt fing sie sogar zu weinen an, ihre Schultern bebten leicht. „Muss ich denn immer hierbleiben? Kann ich nicht mehr nach Hause?“