Wie Dirk B. lernte, den Kapitalismus zu lieben - Olaf Schubert - E-Book
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Wie Dirk B. lernte, den Kapitalismus zu lieben E-Book

Olaf Schubert

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Beschreibung

»Make The Kapitalismus great again!« Das neue Buch von Deutschlands sprachgewaltigstem Comedian und hauptberuflichen Weltverbesserer: Olaf Schubert. Mit gekonnter Wortakrobatik beschreibt der beliebte Entertainer unsere Gesellschaft, die von der Macht des Geldes regiert wird. Doch statt sinnlos dagegen anzukämpfen, lässt er seinen Helden Dirk B. allen Ballast über Bord werfen und die Freuden des Kapitalismus auskosten. Wer nach oben will, muss nach unten treten? Richtig! Doch man muss nicht über Leichen gehen, sondern einfach drum rum! Ein Leitfaden für alle, die ganz nach oben wollen. Aber auch für jene, die schon oben sind und dort bleiben möchten. Also für jeden, der lesen kann.

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Olaf Schubert | Stephan Ludwig

Wie Dirk B. lernte, den Kapitalismus zu lieben

Inklusive Leitfaden zur Ausbeutung

FISCHER E-Books

Inhalt

PräludiumTeil 1Erstes KapitelZweites KapitelDrittes KapitelViertes KapitelFünftes KapitelSechstes KapitelSiebentes KapitelAchtes KapitelNeuntes KapitelZehntes KapitelElftes KapitelZwölftes KapitelDreizehntes KapitelVierzehntes KapitelFünfzehntes KapitelSechzehntes KapitelSiebzehntes KapitelAchtzehntes KapitelTeil 2Neunzehntes KapitelZwanzigstes KapitelEinundzwanzigstes KapitelZweiundzwanzigstes KapitelDreiundzwanzigstes KapitelVierundzwanzigstes KapitelFünfundzwanzigstes KapitelSechsundzwanzigstes KapitelSiebenundzwanzigstes KapitelAchtundzwanzigstes KapitelNeunundzwanzigstes KapitelDreißigstes KapitelEinunddreißigstes KapitelZweiunddreißigstes KapitelDreiunddreißigstes KapitelVierunddreißigstes KapitelFünfunddreißigstes KapitelSechsunddreißigstes KapitelTeil 3Siebenunddreißigstes KapitelPräludium 2Schlusswort

Präludium

So.

Da bin ich also.

Mein Name ist Dirk B.

Ich hab’s geschafft. Ich bin erfolgreich, beliebt und wohlhabend. Und zwar allein dadurch, dass ich anderen Menschen erkläre, wie auch sie es werden können.

Ich laufe die winzige Garderobe in alle Richtungen ab, hin und her, immer wieder. Mein Organismus gewährt mir eine gratis Hormonausschüttung. Der Endorphincocktail schürt vibrierende Unruhe. Eine positive Anspannung, denn Grund, mich vor irgendetwas zu fürchten, habe ich nicht.

Der heutige Abend wird sämtliche bisher gefeierte Zeremonien meines Erfolges krönen. So viel steht fest. Und in fünf Minuten geht’s los.

Das Cateringangebot ist opulent. Ich greife in eine Plastikschüssel und verschlinge drei Smarties (grün, braun und gelb).

Ich bin ganz oben. Wenn ich will, kann ich jeden meiner Träume Wirklichkeit werden lassen. Manch einer an meiner Stelle würde die Bodenhaftung verlieren, aber ich habe mir vorgenommen, bescheiden zu bleiben. Sicherlich, auch ich werde schwelgen und ausschweifen, doch immer mit Augenmaß.

Ich esse ein viertes Smartie (blau).

Muss ich mich dafür rechtfertigen?

Nein.

Die Zeiten der Rückschläge sind vorbei. Ebenso die nervenden Auseinandersetzungen mit Albina. Immer wieder hatte sie mir vorgeworfen, nie richtig da zu sein, in meiner eigenen Welt zu leben. Dass ich mich nur noch schemenhaft an diese Diskussionen erinnern kann, zeigt, dass sie vermutlich recht hatte.

Ich werfe einen Blick in den Spiegel. Mein Gesicht ist tadellos verheilt, mein sympathisches Lächeln sitzt, und zwischen den Zähnen befinden sich keine unästhetischen Schokoladenreste.

Ich bin bereit.

Meine neue Rolex verrät mir: noch vier Minuten.

Ich verlasse die Garderobe und laufe durch einen tristen, neonbeleuchteten Flur in Richtung Bühne. Mein Rücken ist ein wenig verspannt. Kein Wunder, immerhin saß ich knapp fünf Stunden am Lenkrad. Obwohl ich es längst nicht mehr nötig hätte, steuere ich das Cabrio selbst. Es ist entspannend, dem schweren Motor zu lauschen, dessen Fauchen vom Fahrtwind und dem Dröhnen der Musik aus den High-End-Boxen überlagert wird. Ich liebe dieses wohltuend unausgewogene Verhältnis von Dezibel, Motordrehzahl und Geschwindigkeit.

Mein Weg führt über eine kurze Treppe hinauf zur Hinterbühne. Es ist dunkel. Ein schwerer Samtvorhang dämpft das Licht und die Geräusche aus dem Saal. Über der Inspizientenloge flimmert die Anzeige einer Digitaluhr.

Noch drei Minuten.

Der heutige Abend stellt nur bedingt eine Premiere dar, schließlich habe ich bereits einige Auftritte hinter mir, vor Publikum war ich schon immer eine Granate. Dass aber dreitausendvierhundertdreiundachtzig Gäste ausschließlich meinetwegen jeweils vierundvierzig Euro Eintritt bezahlt haben, summiert sich zu einer neuen, ungewohnten Verantwortung.

Der Inspizient, ein korpulenter Mann mit wallendem Rauschebart, verlässt seine Loge, nähert sich auf Zehenspitzen und raunt mir bedeutungsvoll von der Seite zu:

Noch zwei Minuten.

Sein Atem berichtet ausführlicher, als mir lieb ist, von einem kürzlich verzehrten Fischbrötchen. Hinter ihm hängen Plakate mit Künstlern, die ihre Auftritte hier noch vor sich haben.

Seltsam, überlege ich, sind die meisten nicht schon tot?

Eine Erregung, die ich nicht kontrollieren kann, erfasst mich. Heute Vormittag, nach dem entspannten Erwachen, spürte ich noch keinerlei Symptome aufkommender Nervosität und ging bei einer Tasse Tee die einzelnen Passagen für den heutigen Abend durch. Wenn mir etwas rund und stimmig erschien, erzählte ich es testweise Karl-Heinz, der allem stoisch zustimmte.

Was soll schiefgehen?, beruhige ich mich.

Gut, nüchtern betrachtet ist Karl-Heinz ein Dackel und gehört somit vom Wesen her nicht unbedingt zum Kern meiner Zielgruppe.

Der Inspizient nickt mir zu, formt mit den Lippen tonlose Worte:

Noch eine Minute.

Ein mulmiges Gefühl erfasst mich. Ich denke an frühere Zeiten. Waren es nicht Situationen wie diese, in denen ich in meinem vergangenen Leben gelegentlich versagt habe?

Mag schon sein, sage ich mir. Es gab Momente, in denen es mir nicht gelang, die vollen einhundert Prozent meines Netto-Leistungsvermögens abzurufen. Doch das war damals. Und spätestens seit heute ist damals gestern.

Und somit vorbei.

Die knarrenden Schritte des bärtigen Inspizienten reißen mich aus meinen Gedanken. Mit wehenden Kittelschößen schleicht er händewedelnd auf mich zu. Ich stehe direkt hinter dem Vorhang.

»Herr B.! Seit einer Minute geht’s los!«

Herr B. – das bin ich.

Dirk Bergfalk war ich früher.

Der Inspizient gibt ein Zeichen. Ein poppiges Jingle schmettert aus den Boxen im Saal, ich werde resolut durch den Vorhang geschoben und stehe im nächsten Moment geblendet im grellen Licht eines Scheinwerferkegels. Direkt vor mir blitzt ein Mikro auf einem Stativ. Dahinter ist alles schwarz, umgeben von erwartungsvoller Stille.

Nein. Diese Stille ist anders. Rätselhaft.

Wieso klatscht hier niemand?

Schweiß bricht mir aus. Ich bereue, die letzten Minuten mit sinnlosen Gedanken verplempert zu haben, anstatt mir ein knalliges Intro zu überlegen.

Egal. Wie immer werde ich mich auf meine Intuition verlassen. Ich zaubere mein breites Lächeln ins Gesicht, trete ans Mikro und lege enthusiastisch los: »Heute ist Ihr Glückstag, denn mein Name ist Dirk B.!«

Ich lasse eine kleine Pause, um meinem Publikum Gelegenheit zu einem fröhlichen Lachen oder zum Applaudieren zu geben. Doch nichts dergleichen ist zu vernehmen. Auch nicht der Widerhall meiner Stimme von den hohen, irgendwo in der Dunkelheit liegenden Wänden. Schlagartig wird mir klar, dass sich die Worte ausschließlich in meinem Kopf geformt haben.

»Also!« Ich breite die Arme aus. »Meine Damen und Herren! Wie wir alle wissen …«

Meine Lippen bewegen sich.

Aber kein Laut dringt hervor.

Was ist hier los?

Meine Zunge kitzelt am Gaumen. Ich spüre das Vibrieren der Stimmbänder, meinen pochenden Herzschlag und den Schweiß, der meine Achseln hinabläuft. Als ich den Mund öffne und wieder schließe, höre ich, wie meine Zähne gegeneinander klackern. Probeweise trete ich einen Schritt nach links, dann wieder zurück und stelle fest, dass mein Körper intakt und vollständig unter Kontrolle ist.

Ich klopfe gegen das Mikro. Das Geräusch, vielfach verstärkt durch riesige Boxen, zurückgeworfen von einem unsichtbaren, doch offensichtlich beeindruckend großen Saal, lässt mich zurückzucken.

Da stehe ich also, am Abend meines größten Erfolges. Stumm grimassierend in einem Film mit defektem Ton.

Wieso kann ich nicht sprechen?

Ich beuge mich vor, versuche, von der Bühne am Mikrophon vorbei einen Blick hinab in den Saal zu erhaschen. Unmöglich, der Scheinwerfer ist direkt auf mein Gesicht gerichtet.

Die Stille wird immer bedrückender. Da unten sind knapp dreieinhalbtausend Menschen, irgendjemand muss doch einen Laut von sich geben!

Und: Wo ist eigentlich Karl-Heinz? Als ich hergefahren bin, lag er noch dösend auf dem Rücksitz, aber wo ist er …

Aus dem Augenwinkel registriere ich eine Bewegung. Der Inspizient steht zehn Meter entfernt unter einem Portal an der Seitenbühne und gibt mir, stumm in Richtung Mikro gestikulierend, zu verstehen, dass ich endlich anfangen solle.

Übelkeit steigt in mir auf, genau wie an meinem fünfzehnten Geburtstag, nachdem ich – ohne es zu wissen – – meinen ersten Haschkeks zu Verzehr gebracht hatte.

Das Mikro verschwimmt vor meinen Augen. Ein entferntes, einzelnes Kichern dringt aus dem Saal …

lacht mich da jemand aus?

… dann wird alles schwarz.

Bilder aus meinem Leben ziehen vorbei.

Viele Bilder. Kein Wunder, schließlich habe ich eine Menge erlebt.

Doch wir haben Zeit, viel Zeit.

Am besten, wir beginnen die Geschichte von vorn.

Teil 1

Schwimme niemals mit dem Strom!

Schwimme nicht im Gegenstrom!

Schwimme NEBEN dem Fluss!

Denn dort kannst du laufen.

Erstes Kapitel

Zehn Monate, vier Tage und zwölf Stunden zuvor

»Leg gefälligst dein Handy weg, wenn ich mit dir rede!«, blaffte Albina.

Ich saß am Küchentisch und starrte stirnrunzelnd auf mein Telefon. Die seltsame App, die ich vor drei Tagen gelöscht hatte, war aus heiterem Himmel wieder auf dem Display erschienen.

»Hörst du mir überhaupt zu, Dirk?«

Ich sah sie an. Weniger der Inhalt der Worte, sondern eher das enervierte Timbre ihrer Intonation ließ mich aufhorchen. Auch die betont deutliche Aussprache meines Vornamens deutete an, dass Gefahr in Verzug war.

»Äh, klar.« Widerstrebend legte ich das Handy beiseite. »Mach ich doch immer, Schatz.«

Hämisch verzog sie den Mund. »Das wäre mir neu.«

Aus dem Radio trödelten die Acht-Uhr-Nachrichten. Morgendlich voll aufmunitioniert lehnte Albina an der Spüle, in der einen Hand die Kaffeetasse, in der anderen ihre Menthol-Zigarette. Wie immer hatte ich Meino zur Schule gebracht, während Albina ihre Businesstracht angelegt hatte: schwarzes Kostüm, hochhackige Schuhe, perfektes Make-up; der dezente Charme einer modernen Bankfilialleiterin. In Jeans und dem blauen Blouson, den wir vor zwölf Jahren auf unserer ersten gemeinsamen Reise nach Prag gekauft hatten, gefiel sie mir deutlich besser.

»Und was«, unangenehm siegessicher beugte sie sich vor, »war denn gerade unser Thema?«

Albinas Tonlage und ihr behördliches Erscheinungsbild brachten mich automatisch in die rhetorische Defensive. Die Situation war mir nach langjähriger Beziehung vertraut, ein turnusmäßig stattfindendes Ritual, in dessen Rahmen sie versuchte, Gefühlsausbrüche meinerseits zu provozieren. Wie immer weigerte ich mich allerdings, den berserkernden Rumpelstilz zu geben.

Um mich der emotionalen feindlichen Übernahme zu erwehren, zählte ich gewohntermaßen die toten Fruchtfliegen auf dem Fensterbrett.

Eins. Zwei. Drei.

Doch leider …

»Ich hab dich was gefragt, Dirk!«

… kam ich nur bis dreizehn.

Kein gutes Omen.

Meiner ersten Schätzung nach hatten mindestens fünfzig Fruchtfliegen auf dem liebevoll dekorierten Fensterbrett ein hübsches Grab mit netter Aussicht auf unseren kleinen Garten gefunden. Ich war jedoch willens, die exakte Anzahl der Fruchtfliegenkadaver zu ermitteln, denn wenn mir dies gelang, davon war ich überzeugt, würde Albina mit ihrem Versuch, mich wütend zu machen, scheitern.

»Du hast gefragt, ob ich dir zuhöre«, wiederholte ich betont ruhig, da die Zeit für mich arbeitete. In genau drei Minuten musste sie das Haus verlassen, und Albina war keine, die zu spät zum Dienst erscheint.

Ich begann von vorn.

Eins. Zwei. Drei. Vier. Fü…

»Du willst mich nicht verstehen, oder?«, Albina ließ nicht locker. »Ich vermittele dir gerade, dass ich ein Problem habe!«

Siebzehn. Achtzehn.

»Ich weiß, es reicht dir, jeden Tag mit dem Fahrrad und deiner …«, sie wedelte mit der Zigarette durch die Luft, »ach so praktischen Multifunktionsjacke in den Hort zu fahren, um dort sechs Stunden …«

Nur fünf Stunden, korrigierte ich innerlich.

»… den Gute-Laune-Onkel mit dem feschen Zopf zu geben.«

»Lass bitte meine Frisur aus dem Spiel«, ermahnte ich sie, den Blick weiter auf das Fensterbrett gerichtet.

Fünfunddreißig. Sechsunddreißig.

»Und in den Ferien«, fuhr sie ohne Umschweife fort, »fahren wir zum Zelten nach Mecklenburg.«

Vorpommern, verbesserte ich stumm. Dreiundvierzig.

»Das ist ja auch okay. Doch es gibt ein paar andere Dinge, die ich im Leben …«

Achtundvierzig. Neunund…

Ich stockte. Etwas war falsch, passte nicht ins Bild. Die Fruchtfliegen bildeten mit ihren hellbraun vertrockneten Chitin-Körperchen ein stimmiges stochastisches Raster. Das war es nicht.

Was dann?

Ich erschrak – Meinos Brotbüchse!

Albinas Anweisungen genau befolgend, hatte ich den überdesignten Kunststoffbehälter mit allerlei exakt auf die Entwicklung unseres Sohnes abgestimmtem ökologisch korrektem Superfood bestückt, um ihn dann, frühmorgendlich benommen, auf der Fensterbank zu vergessen!

Ich ärgerte mich über diesen törichten Fehler, schließlich lieferte er meiner präzisionsverliebten Lebenspartnerin eine perfekte Angriffsfläche. Mein Unmut wich allerdings schnell der tröstlichen Erkenntnis, nun endlich den Grund für Albinas Übellaunigkeit gefunden zu haben.

Sie hatte ihren Monolog beendet, lehnte an der Spüle und sah mich erwartungsvoll an. Ich setzte mein bewährtes, nettestes Lächeln auf. Jetzt hieß es, den reumütig- einsichtigen Partner zu spielen, um in den letzten beiden Minuten des gemeinsamen Morgens wieder Harmonie und Eintracht herzustellen.

»Albina.« Verschmitzt blinzelte ich in Richtung Brotbüchse. »Ich weiß doch schon lääääängst, was los ist.«

Sie zog irritiert an ihrer Zigarette. »Ach ja?«

»Wir waren ein bisschen spät dran. Ich bin mit Meino noch mal das Frühlingsgedicht durchgegangen. Und dann hab ich sein Frühstück vergessen.«

Das entsprach sogar fast der Wahrheit. Ich hatte zwar verschlafen, aber über das Gedicht (Wenn der Frühling neu erwacht und bunte Blüten schmachten) hatten wir immerhin kurz gesprochen.

»Du kennst mich doch«, säuselte ich lächelnd.

Die Pause, die Albina für ihre Antwort brauchte, zog sich länger als erwartet. Sie musste doch eigentlich los?

»Genau. Ich kenne dich.« Sie stieß den Zigarettenrauch durch die Nase aus. »UND DU HAST NULL AHNUNG, WAS LOS IST!«

Ich zuckte zusammen. Albina hatte diesen Satz geschrien, wie ich sie noch nie hatte schreien hören, und dabei ihre Tasche auf den Tisch geknallt.

»Überhaupt: Nichts weißt du!«

»Ach komm, Albina. Ich …«

»Oder weißt du etwa, dass ich seit einem halben Jahr ’nen anderen kenne?«

Das saß. Voller Wirkungstreffer bei offener Deckung. Ich war geschockt.

Wozu ein anderer?, überlegte ich verwirrt. Unsere Beziehung ist doch perfekt!

Sicherlich, wir sprangen uns nicht täglich an den Hals – weder, um uns zu würgen, noch, um uns zu liebkosen – doch wir hatten einen Sohn, akzeptierten uns, vertrauten einander, hatten uns gern; insgesamt genug ausreichende Gründe, für immer zusammenzubleiben.

Davon war ich überzeugt.

Bisher jedenfalls.

Ich wusste nicht, was zu tun war. Das Risiko, in einer solch hochbrisanten Situation womöglich das Falsche zu sagen, konnte ich unmöglich eingehen. Also sagte ich sicherheitshalber nichts, außer dem, was alle coolen Typen in vergleichbaren Momenten sagen: »Okay.«

»Das ist alles, was dir einfällt?«

Albina starrte mich an, während sie quälend lang an ihrer Zigarette zog. Ich war nie ein Freund großer Worte gewesen; wenn wir diskutierten, hatte ich die angenehmen Momente des Schweigens genutzt, um Fliegenmumien oder Ähnliches zu zählen. Jetzt allerdings wurde die Stille mir unangenehm.

»Ein beschissenes Okay?« Sie deutete fassungslos mit der Zigarette auf mich. »Ein normaler Mann würde um seine Frau kämpfen.«

Asche rieselte auf die Küchenfliesen. Es kostete mich einige Überwindung, Albina nicht darauf hinzuweisen.

Die Stille wurde immer bedrückender. Albina zog mit verkniffenem Mund an ihrer Zigarette, die Arme vor der Brust verschränkt. Hinter ihr tropfte es aus dem Wasserhahn in die Spüle.

Jetzt war es an mir, etwas zu sagen.

Aber was?

Etwas Bedeutendes, Bleibendes, Episches. Doch ich war unfähig, mich für die richtige, dem Moment angemessene Reaktion zu entscheiden.

Sollte ich den beleidigten Gatten geben, der sich ergebenst echauffiert? Den Enttäuschten, der beginnt, demütig zu jammern? Den Heißsporn, der zornig aufbricht, den Nebenbuhler umgehend zum Duell zu fordern?

Ich war ratlos. Was nicht verwunderte, schließlich sah ich mich zum ersten Mal in meinem knapp vierzigjährigen Leben in Beziehungsdingen von einem rivalisierenden Mitbewerber behelligt.

Hätte Albina nicht die Pflicht gehabt, im Vorfeld eine dezente Andeutung zu machen? Wenigstens einen unverbindlichen Hinweis zu geben, ein paar Brotkrumen zu streuen? Ich hatte mich weder vorbereiten noch in die Situation einfühlen können. Hatte ich nicht das Recht, mich für eine passende Attitüde entscheiden zu dürfen? Aber einfach so, aus dem Nichts mit dieser Info vorzupreschen? Wie konnte sie da erwarten, dass ich reagiere? Womöglich gar noch angemessen?

Ich sammelte mich. Zunächst galt es, zu vermitteln, dass ich Herr der Lage war und mich nicht aus der Ruhe bringen ließ.

»Gut«, nickte ich staatsmännisch gefasst und faltete die Hände auf dem Tisch. »Ich habe verstanden, Albina.«

»Ich habe verstanden, Albina!«, äffte sie mich echauffiert nach. »Ich habe verstanden, Albina! Du hörst dich an wie der große weise Winnetou!« Ihr schrilles Lachen hallte durch die Küche. »Ich habe gesprochen, Howgh!«

Sie griff nach dem Aschenbecher und zerdrückte ihre Zigarette so heftig, dass die Funken stoben. Offensichtlich hatten meine eigentlich gut gesetzten Worte ihre Wirkung verfehlt.

»Ich werde …« Sie brach ab, um unmittelbar danach neu zu beginnen: »Ich werde dich verlassen.«

Albina starrte mich aus zusammengekniffenen Augen an. Fruchtfliegen konnte ich jetzt nicht zählen, also zählte ich das Tropfen des Wasserhahns, und als ich bei sieben war, verstand ich plötzlich.

Sie wollte mir einfach einen Denkzettel verpassen! Und ich? Ich hatte alles viel zu ernst genommen! Kein Wunder, dass sich alles so unglücklich hochgeschaukelt hatte!

Jetzt war es an mir, die Sachlage aufzulockern, um endlich zur Normalität zurückkehren zu können. Während meines Studiums hatte ich gelernt, wie eine verkrampfte Situation zu entspannen ist: In der Sozialpädagogik spricht man von Retardierender Transformation – das heißt, man deeskaliert, indem die Diskussion von der hitzig-emotionalen Ebene auf die sachliche herabgesetzt wird.

Nun, damit kannte ich mich aus.

»Du solltest mich unbedingt verlassen«, nickte ich ernst und sah auf die Uhr über dem Herd, »sonst kommst du noch zu spät zur Bank. Und wenn Stau ist, dann …«

Albina wurde erst blass und dann rot. Ihre Augen funkelten, der Mund stand halb offen. Sie sah mich an, und ich begriff sofort, dass nicht alles, was man im Studium über Diskussionsführung lernt, bei Beziehungsproblemen adäquat anwendbar ist.

Wortlos stürmte Albina aus der Küche.

Wie gesagt: Ich hatte wenig Erfahrung in der Bewältigung derartiger Konflikte, doch als die Haustür hinter ihr krachend ins Schloss fiel, musste ich feststellen, dass die familiäre Wohlfühltemperatur in den Frostbereich heruntergekühlt war.

Aber was hatte das alles zu bedeuten?

Ich beschloss, später darüber nachzudenken.

Draußen begann es zu regnen.

Ich nahm mein Handy und löschte erneut die seltsame App.

Zweites Kapitel

Es wurde dunkel, der verregnete Tag legte sich in seine nasskalte Abendgruft. Ich saß noch immer in der Küche, im Wohnzimmer dudelte eine alte Grönemeyer-Platte. Kurz nachdem Albina gegangen war, hatte ich in der Schule angerufen und mich krankgemeldet. Eigentlich hatte ich am Nachmittag mit den Kids der dritten Klassen am Baumhaus weiterbauen wollen, doch das musste heute ohne mich laufen.

Es ging einfach nicht.

Auf mir lastete aller Schmerz der Welt.

Falsch. Aller Schmerz aller Galaxien.

Albina war weg! Im Gegensatz zu ihren sonstigen Ausbrüchen schien der heutige tatsächlich Konsequenzen nach sich zu ziehen. Diese bittere Erkenntnis war innerhalb der letzten Stunden unbarmherzig vom Kopf hinunter in den Körper gesackt.

Alles drückte mich nach unten.

GIB MIR MEIN HERZ ZURÜCK!, jammerte Grönemeyer im Wohnzimmer. DU BRAUCHST MEINE LIEBE NICHT!

Ich fühlte mich gekränkt und verletzt. Ich war der einsame Cowboy. Der verwundete Krieger. Der letzte Mohikaner. Verraten und verlassen.

Das war ungewohnt.

Mehr noch. Es warf mich um. Ich lag am Boden.

Und das war …

Nun ja.

Es war wunderbar!

Ich konnte mich nach Belieben in Selbstmitleid wälzen. Viel zu lange hatte ich im schnöden Alltag auf kleiner Flamme vor mich hin geköchelt, doch endlich loderte wieder Feuer, brodelte heißes Blut durch meine Adern! Ich spürte Sehnsucht, Trauer, Wut – die großen Gefühle des verstoßenen Mannes. Grönemeyer leistete hervorragende Arbeit und schob mich immer tiefer in die Schmachtsülze.

ICH BRAUCH NIEMAND, DER MICH QUÄLT! NIEMAND, DER MICH VERLETZT! NIEMAND, DER MICH BENUTZT, WANN ER WILL!

Als emotionalen Brandbeschleuniger genehmigte ich mir die halbvolle Flasche Zittauer Kräuterschnaps, welche seit unserer schon lange zurückliegenden Einzugsfeier in der hintersten Ecke des Küchenregals stoisch ihrer Weiternutzung geharrt hatte.

»Feine Flasche«, lobte ich. »Brav gewartet.«

Leblose Gegenstände mit Komplimenten zu würdigen war wenig zielführend. Dass ich es trotzdem tat, bewies mir, dass sich der Alkohol entgegen meiner Befürchtung noch nicht komplett aus der angestaubten Flasche verflüchtigt hatte.

LASS MICH LOS, OOOOHHHH! LASS MICH IN RUH!, sang ich mit Herbert im Duett. DAMIT DAAAAAS EIN ENDE NIMMT!

Ja, ich musste Albina zutiefst dankbar sein. Denn ohne ihren dramatischen Fortgang wäre dieses hervorragende Lausitzer Destillat, dessen verblichenes Etikett ich tief bewegt betrachtete, vermutlich niemals über mich gekommen.

Und obendrein: Sie hatte mich verlassen – wegen eines anderen. Gab es besseres, als Leidtragender einer Intrige zu sein? Nein. Genau dies erhob mich automatisch in den Status des bedauernswerten Opfers.

Genüsslich malte ich mir aus, wie der unbekannte schmierige Buhler mein Weib werbend umgarnte, wie er sie lockte und mit lüsternem Gesäusel verführte, wie Albina versucht hatte, sich der schleimigen Schmeicheleien, den verheißenden Versprechungen von einem Leben an kitschigen Stränden und teuren Hotels zu erwehren, doch angesichts der teuflisch süßen Einflüsterungen war es nur logisch, dass sie irgendwann schwächlich daniedersank.

Ja! Genauso musste es gewesen sein! Ich wollte …

PLING!

Mein Handy leuchtete auf. Überrascht las ich die Mitteilung auf dem Display …

Hier spricht Weltenmeister!

Etwas Großes beginnt! Du darfst dabei sein!

… und schob das Telefon enttäuscht beiseite. Ich fand, es wäre an der Zeit, dass Albina sich meldete, um sich für ihren Fehltritt zu entschuldigen. Stattdessen bekam ich kryptische Spams zu lesen.

ICH FÜHL MICH LEER UND VERBRAUCHT!, wimmerte es im Wohnzimmer. ALLES TUT WEH! HAB FLUGZEUGE IN MEINEM BAUCH!

Ich griff nach der Flasche.

Ach, dachte ich und nahm den letzten Schluck, soll sich Albina ruhig kurz austoben und verzücken lassen von ihrem schmierigen … Loverboy!

Trotzig schob ich das Kinn vor.

»Pff!«

Die Frau, mit der ich zwölf Jahre zusammengelebt hatte, die mich liebte, sie musste binnen kürzester Frist erkennen, wie unecht, künstlich und falsch dieses Leben, wie es ihr brünstiger Galan verhieß, sich anfühlte! Und wenn sie dann stürzte aus ihrem Himmel der oberflächlichen Belustigungen, wer würde da sein, um sie aufzufangen?

Richtig. Ich, Dirk Bergfalk.

Und Albinas ewiger Dank war mir gewiss. Dafür, dass ich an sie geglaubt, auf sie gewartet hatte, bis unser beider Leben genauso wunderbar weitergehen konnte wie zuvor.

Was bedeutete der glitzernde Tinnef, den der andere ihr bot, gegen die kostbaren Geschenke, die sie von mir bekam? Gegen die Freiheit, die ich ihr bot? Die Freude, wenn ich sie mit meinen Grimassen zum Lachen brachte? Albina tat zwar meist, als wäre ihr dies peinlich, doch tief in ihrem Inneren liebte sie mich dafür.

Ach, was für eine tolle Frau mich verlassen hatte! Grandios! Das gab meinem wunderbaren Leiden einen noch wunderbareren Sinn!

Euphorisiert griff ich nach dem Handy, um ihr mitzuteilen, dass ich Verständnis für ihre Situation hätte, doch dann entschied ich, sie noch ein wenig zappeln zu lassen. Ich brauchte ja nichts zu tun. Ich musste nur warten, bis sie wiederkam.

Verwundert registrierte ich, dass diese App schon wieder auf meinem Display erschienen war, ein orangefarbenes Dreieck unter dem Schriftzug Weltenmeister. Gähnend drückte ich auf das Icon, um das komische Teil endgültig zu löschen. Stattdessen öffnete sich die Startseite:

Dirk! Du bist auserkoren.

Weltenmeister schenkt dir sein Vertrauen. Es ist Zeit, die Dinge zu ändern. Weltenmeister macht den Anfang und fordert zum Handeln auf. Ändere dich! Angst, Bequemlichkeit, Toleranz – hinfort damit! Weltenmeister kann dich führen. Wenn du bereit bist …

Wenn ich bereit bin?

Ich verstand kein Wort. Doch lebensfroh und optimistisch, wie ich in diesem Moment war, fühlte ich mich bereit für alles. Ich starrte auf das Handy und versuchte, mich zu konzentrieren. Irgendwann verschwamm die Schrift vor meinen Augen, mein Kopf sank auf die Arme, ich schlief ein …

Drittes Kapitel

… um am nächsten Morgen von der Natur eindrucksvoll demonstriert zu bekommen, zu welch verblüffenden Leistungen sie fähig ist. Binnen weniger Stunden Schlaf war es meinem Organismus gelungen, einhundert Prozent positive Energie in die doppelte Menge negativer Energie zu transformieren.

Mit schmerzendem Nacken saß ich am Küchentisch, während sich der nachwirkende Alkohol mit wütenden Axtschlägen durch meine Synapsen furchte.

Kräuterschnaps! Hatten Kräuter nicht lindernde Wirkung? Davon war nichts, aber auch gar nichts zu spüren!

Ächzend griff ich nach der Flasche, um mich über den Anteil der enthaltenen Alkoholprozente zu informieren, doch schon ihr flüchtiger Geruch erregte schwerste Übelkeit, weshalb ich von einer genaueren Inspektion unverzüglich Abstand nehmen musste.

Eine Google-Suche ergab, dass unter anderem Sehstörungen zu den Symptomen einer Alkoholvergiftung zählen. Daraus, dass ich mehrere Anläufe benötigte, das Wort Sehstörung zu entziffern, schloss ich, dass ich unter selbiger litt.

Ich rieb mir die geröteten Augen und stierte verdrossen aus dem Fenster. Langsam klärte sich mein Blick. Der Himmel war grau, Schwalben schossen unter den tiefhängenden Wolken planlos hin und her, kamen sich nah und entfernten sich wieder voneinander.

Fast wie wir Menschen, dachte ich wehmütig. Sind wir nicht alle nur Schwalben, getrieben vom Wind des Schicksals?

Der schneidend ins Ohr fahrende Klingelton meines Handys ließ mich zusammenzucken und schmerzhaft erkennen, dass neben den Augen auch andere Sinnesorgane durch übermäßigen Alkoholkonsum in Mitleidenschaft gezogen werden.

Mausi-Schatz rief an.

Augenblicklich war ich wach. Nicht unbedingt hellwach, aber immerhin so fit, dass es der Mindesteinnahme von zehn Dosen Aspirin Complex bedurft hätte, diesen Zustand auf medikamentösem Weg herbeizuführen. Ich nahm das Handy und konzentrierte mich kurz, schließlich wollte ich möglichst entspannt rüberkommen.

»Hallo?«

Meine Stimme klang jedoch so kratzig und fremd, dass ich mich erschrocken umschaute, ob nicht doch ein anderer gesprochen hatte.

»Dirk?«, drang es verunsichert aus dem Hörer.

»Äh … ja.«

»Du … du klingst irgendwie … anders?«

Sehr gut. Albina war besorgt um mich. Punkt für Dirk. Ein Punkt, auf dem sich aufbauen ließ. Bei der gestrigen Auseinandersetzung hatte sie sich noch über meine angebliche Wortkargheit beschwert. Jetzt konnte ich gegensteuern.

Ich räusperte mich und legte los.

»Richtig, Albina. Ich bin anders, das bin ich schon immer. Aber du auch!«

»Wie?!«

»Ich glaube, Albina, wir beide sind … äh, … Schwalben. Schwalben ziehen … um die ganze Welt. Und ich denke, du fliegst gerade gen Süden, zu den weißen Stränden am türkisfarbenen Meer.«

Ich ließ ihr Zeit, dieses Bild zu verarbeiten.

»Du ziehst zu den Flamingos, deinen Freunden«, fuhr ich fort. »Ich hingegen fliege nach Norden, in die Antarktis. Zu meinen Freunden, den … äh, … den Pinguinen. Verstehst du?«

Sie schwieg. Was mir zeigte, dass ich sie erreicht hatte.

»Wir bewegen uns in unterschiedliche Richtungen und lernen unterwegs verschiedene Sprachen. Aber bald, Albina, treffen wir uns wieder. Wir lassen uns nieder, irgendwo auf einer Hochspannungsleitung, und reden gemeinsam in unseren unterschiedlichen Sprachen. Und du wirst dann sagen«, ich hielt das Telefon nah an den Mund, damit es maximal intim klang: »Piep Piep! Piiiiieeeeep Piieeeeep!«

Albina antwortete nicht.

»Und ich werde zwitschern.« Ich spitzte die Lippen: »Tschilp, Tschilp! Wie ein Pinguin. Trotzdem werden wir uns verstehen. Weißt du, was ich meine?«

Stille. Nur das Rauschen der Leitung.

»Albina?«

Keine Reaktion.

»Der eine sagt Piep, der andere Tschilp. Aber im Grunde genommen …«

»Hast du sie noch alle?«, blaffte sie. »So ’n Schwachsinn! Da haut nichts hin, wie bei allem, was du von dir gibtst.«

»Aber Albina, ich …«

»Nicht eine einzige verdammte Schwalbe auf der ganzen Welt fliegt zu irgendwelchen bekloppten … Pinguinen!«

Mist!, schoss es mir durch den Kopf. Die exakten Geo-Koordinaten ziehender Schwalben hatte ich leichtsinnigerweise nicht mitgerechnet, was zweifelsfrei meinem zerrütteten Zustand zuzurechnen war. Bevor ich etwas erwidern konnte, übernahm Albina das Kommando.