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Was, wenn Fuchs und Krähe dir den Weg zu dir selbst weisen? Wenn du miterlebst, wie wahre Held*innen geboren werden? Wenn du dich in jemanden verliebst, der dasselbe Geschlecht hat wie du – oder überhaupt in niemanden? Dieses Buch lädt dich ein, die Flügel deiner Fantasie auszustrecken und die Welt in all ihren Farben zu erkunden. Voller Menschen, die leben und lieben, wie sie es wollen. Für welchen Traum schlägt dein Herz? Begib dich auf eine fantastische Reise durch neun regenbogenbunte Geschichten. Hier findest du alltägliche und übernatürliche Gefahren, gute Freund*innen – und vielleicht sogar dich selbst. Eine Anthologie für Lesebegeisterte ab 12 mit Geschichten jenseits aller Schubladen von Noah Stoffers, Jannis Plastargias, Mo Kast, Yansa Brünnling, Jennifer Hauff, Leonie Below, Casjen Griesel, Andi Bottlinger und Tanja Meurer. Der Erlös aus den Verkäufen geht an den Verein „Queer Lexikon“, eine Online-Anlaufstelle für Kinder und Jugendliche, die Fragen zu romantischer, sexueller und geschlechtlicher Vielfalt haben.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2022
Benefizanthologie
Herausgeberin: Juliane Seidel
Table of Contents
Title Page
Impressum
Vorwort
Ein Fuchsmärchen - Noah Stoffers
Siehst du einen Regenbogen - Jannis Plastargias
Ein Traum von Krähen - Mo Kast
Elisabeths Superkraft - Yansa Brünnling
Einfach nur Lou - Jennifer Hauff
Der Berg ruft - Leonie Below
Wie ich einem Fremden mein größtes Geheimnis erzählte - Casjen Griesel
Quarantäne - Andi Bottlinger
Helden - Tanja Meurer
Vorstellungen
Autor*innen
Designerin / Illustratorinnen
Setzerin
Queer Lexikon
Wie ein bunter Traum - Kinderträume
Like a (bad) Dream
Like a Dream
Weitere Informationen
Impressum
1. Auflage 2022
Herausgeberin: Juliane Seidel
© Juliane Seidel, 2022
Zietenring 12
65195 Wiesbaden
www.juliane-seidel.de
www.like-a-dream.de
Cover, Layout: Mo Kast
Innenillustrationen: Mo Kast, Tanja Meurer
Lektorat: Juliane Seidel, Katharina Gerlach, Tanja Meurer
Korrektur: Juliane Seidel, Katharina Gerlach, Susanne Eisele
Satz: Jana Walther
Sämtliche Personen dieser Geschichten sind frei erfunden und Ähnlichkeiten daher nur zufällig.
Ebooks sind nicht übertragbar und dürfen weder kopiert noch weiterverkauft werden. In jedem Buch steckt jahrelange Arbeit, bitte respektiert das. Die Autor*innen freuen sich sehr über Rückmeldungen, z. B. bei Facebook, per Mail oder als Rezension.
Vorwort
Mit »Like a Dream« und »Like a (bad) Dream« erschienen unter meiner Herausgeberschaft innerhalb der letzten sechs Jahre zwei queere Benefizanthologien um den 15. und 18. Geburtstag meines Blogs »Like a Dream« (www.like-a-dream.de) zu feiern. Mit diesen beiden Projekten unterstützten die Autor*innen und ich gemeinnützige queere Vereine, denn sämtliche Einnahmen kamen der »Bar jeder Sicht« in Mainz und dem Verein »vielbunt« in Darmstadt zugute. Nach Erscheinen von »Like a (bad) Dream« war ich fest entschlossen, keine weitere Anthologie herauszugeben, jedoch ließ mich eine Idee nicht los: eine Anthologie mit queeren Geschichten für Kinder ab 10. In diesem Bereich gibt es erschreckend wenige Bücher auf dem deutschen Markt, insbesondere Themen wie Transgender, Nonbinärität, Inter- und Asexualität kommen in den meisten Geschichten kaum zur Sprache.
Ich bin froh tolle, talentierte Autor*innen für dieses Herzprojekt gewonnen zu haben und mit ihnen eine traumhaft bunte Mischung an queeren Geschichten vorstellen zu dürfen. Einige Autor*innen waren bereits in den ersten beiden Anthologien vertreten und ich freue mich, sie auch für dieses Projekt gewonnen zu haben. Jeder einzelne Beitrag ist etwas Besonderes und eine Bereicherung für die Anthologie oder besser gesagt die Anthologien, denn letztendlich sprengten die eingereichten Beiträge den Rahmen. Daher mussten wir uns letztendlich für eine Splittung und zwei Anthologien entscheiden:
Wie ein bunter Traum: Kinderträume (ab 10 Jahren)
Wie ein bunter Traum: Teenie-Träume (ab 12 Jahren)
Mo Kast und Tanja Meurer, die als Autorinnen mit ihren Kurzgeschichten in der Anthologie "Teenie-Träume" vertreten sind, zeigen sich auch für die passenden Zeichnungen verantwortlich, die die Geschichten begleiten – Tanja Meurer entwarf die Illustrationen der Kapiteldeckblätter, Mo Kast die Zeichnungen und Vignetten, die das Design der Seiten und das Cover schmücken. Auch ist Mo für die Umschlaggestaltung der beiden Anthologien und die Gestaltung des Seitenlayouts verantwortlich. An dieser Stelle bedanke ich mich herzlich für die grafische Unterstützung – ohne euch wäre die Anthologie nicht das, was sie jetzt ist.
Auch will ich die Gelegenheit nutzen mich bei Annette Juretzki und Jana Walther zu bedanken, die bei der Erstellung des Buchsatzes und des eBooks geholfen haben. Ohne ihre Unterstützung und Beratung wären Taschenbuch und eBook nicht so schön, wie sie sind.
Wie bei einer Benefizanthologie üblich verzichten sämtliche Beteiligten auf ihr Honorar und spenden die Einnahmen des Projektes an den Verein »Queer Lexikon«, eine Online-Anlaufstelle für lesbische, schwule, bi+sexuelle, a_sexuelle, a_romantische, trans, nicht-binäre, inter*, polyamouröse und queere Jugendliche und Kinder aus Regenbogenfamilien.
Zu guter Letzt bedanke mich bei allen Autor*innen, Illustrator*innen und Unterstützer*innen – ohne euch gäbe es diese beiden Anthologien nicht. Vielen Dank für die Unterstützung, gemeinsam haben wir etwas Besonderes erschaffen. Ich hoffe, dass die Anthologien viele Kinder und Jugendliche erreichen und die Geschichten unterhalten, zum Nachdenken und Diskutieren anregen. Ich wünsche viel Spaß beim Lesen und Entdecken. Vergesst das Träumen nicht!
Juliane Seidel, Januar 2022
Ein Fuchsmärchen
Noah Stoffers
»Das hier nehme ich!« Johannas Stimme war vor Triumph satt und klar. Sie hielt einen Kranz aus Stoffblumen in die Höhe. Die Filzblätter hingen schlaff herab und an einigen Stellen war der Draht zu sehen, aber als sie sich den Kranz auf die blonden Locken setzte, war sie die Königin der Wiese. Im Gras standen mehrere Körbe, aus denen Kleidung quoll. Da waren der Umhang des Prinzen, die Papphelme der Wachen und ein paar Holzschwerter. Johanna kramte weiter in dem Durcheinander und die anderen Mädchen halfen ihr dabei. Kasper hatte sich die zottige Maske des Ungeheuers aufgesetzt und die Hände zu Klauen geformt. Er brüllte wie ein Löwe. Lachen und Rufe flirrten in der warmen Luft.
»Die Prinzessin hat eine Menge Text zu lernen«, rief Herr Pahl über die Köpfe hinweg. »Schaffst du das bis zum Erntemond?«
Johanna reckte das Kinn höher. Ihre runden Wangen waren rot vor Aufregung. »Gar kein Problem, Herr Pahl«, rief sie überzeugt und in diesem Moment, als alle sie ansahen, streckte Raph die Hand nach dem Hut aus.
Das alte Ding war einmal prächtig gewesen. Jetzt hatte der grüne Samt schon ein paar kahle Stellen und es gab eine Delle. Aber am Hutband steckten immer noch drei geschwungene Federn. Das Schauspiel wurde jedes Jahr von den älteren Kindern zum Erntemond aufgeführt und deshalb wusste Raph, dass auch schwarze Handschuhe dazugehörten. Genau wie der Umhang, den Oma aus einer alten Decke genäht hatte. Raph hatte den Umhang schon einmal heimlich anprobiert. Der schwere Stoff schwang bei jedem Schritt!
»Kasper übernimmt die Rolle Ungeheuers«, rief Herr Pahl und Kasper antwortete mit einem Brüllen. Seine Freunde johlten und Raph zog die Schultern etwas höher, obwohl keiner von ihnen herübersah.
Es war natürlich eine Unverschämtheit, der Prinz sein zu wollen. Das war eine der besten Rollen überhaupt. Mit großen Auftritten und den ganzen guten Sprüchen. Raph kannte sie alle auswendig. Den Kampf auf den Zinnen genauso, wie das Treffen mit der Prinzessin. Als hätte Johanna ihr Stichwort gehört, sah sie sich auf der Wiese um. Ihre Augen blitzten fröhlich auf. »Was willst du sein, Ella?«, rief sie hinüber.
Raph zuckte zusammen. Natürlich drehten sich jetzt auch die anderen zu ihr herum.
»Ja, was darf es ein, Raphaella?«, fragte Herr Pahl freundlich. »Eines der Bauernmädchen vielleicht? Oder die alte Hexe?« Er hielt den Stiel des Reisigbesens in die Höhe und die Jungen johlten über irgendetwas. Raph hatte lange über ihre Rolle nachgedacht. Sie hatte sich vorgestellt, wie sie sich den Hut mit einem Schwung auf den Kopf setzte und sich elegant verbeugte. Sie wollte mit jeder Faser ihres Herzens der Prinz sein. So wie früher, als sie und Johanna noch jung genug gewesen waren, um in ihrer Höhle im Wald die alten Geschichten nachzuspielen. Raph hatte der Gefangene sein dürfen, der von der Prinzessin befreit wurde. Oder der arme, aber mutige Dieb, der die Krone stahl. Es war schön gewesen, immer mal wieder für einen Nachmittag Johannas Held sein zu dürfen. Fast wie in den Geschichten, wenn Prinz und Prinzessin am Ende heirateten. Jetzt strich Raph ihre Schürze glatt und stand mit dem Hut in der Hand auf. Das Gras kitzelte an ihren nackten Zehen, die Sonne stach sie in den Nacken.
Sie spürte die neugierigen Blicke der Mädchen und musste nicht hinüber schauen, um zu wissen, dass die Jungen feixten. Und obwohl Herr Pahl freundlich guckte und Johanna strahlte, hing Raphs Arm schwer herab. Unmöglich, ihn in einem eleganten Schwung hochzureißen und sich den Hut auf die langen Zöpfe zu setzen. »Ich wäre gerne …« Ihre Stimme war ganz klein vor Aufregung.
»Etwas lauter!«, rief Hauke herüber.
Raph versuchte, das Kinn so anzuheben, wie Johanna es getan hatte. »Ich wäre gerne der Prinz!«, sagte sie, so laut sie konnte. Einen Moment war es auf der Wiese ganz still, man konnte sogar die dicken Hummeln im Klee hören und das Schwappen des Mühlrads unten am Fluss. Dann brach Kasper in ein gackerndes Lachen aus. Er trug immer noch die zottige Maske des Ungeheuers und seine Freunde fielen ein.
»Das geht nicht«, sagte Herr Pahl und machte ein freundliches Gesicht. »Das ist eine Rolle für einen der Jungen, verstehst du?«
»Du könntest die Amme sein und meine Schleppe tragen.« Jetzt war auch Johanna herangetreten, noch immer die Stoffblumen im Haar. Sie war wunderschön und unerreichbar zugleich, obwohl sie doch direkt vor Raph stand. Johanna fügte freundlich lächelnd hinzu: »Es ist eine kleine Rolle. Du müsstest auch nicht so viel sagen.«
Alle wussten, dass Raph nicht gerne vor der ganzen Dorfschule sprach. Sie presste die Lippen aufeinander und sah auf ihre nackten Zehen hinab. Angst und Ärger zogen ihr den Magen zusammen, sie hielt den Hut etwas fester.
»Ich wäre gerne der Prinz!« Kasper hatte seine Stimme verstellt, damit sie hell klang und ahmte ein Stottern nach. Seine Vorstellung erntete das nächste Lachen.
»Halt dein verdammtes Drecksmaul«, rief Johanna zu ihm hinüber.
»Keine Schimpfwörter!«, verlangte Herr Pahl von ihr. »Sonst bekommst du die Rolle der Prinzessin nicht!« Und dann wandte er sich an das Ungeheuer: »Das ist nicht die Art von Theater, die wir hier wollen, Kasper!«
Hauke nahm Raph den Hut aus der Hand und probierte ihn selbst auf. »Wie sehe ich aus?«, rief er seinen Freunden zu. »Hey Paule, gib sofort den Umhang her, der gehört dazu!«
Eine von Johannas neuen Freundinnen wurde die Amme und aus irgendeinem Grund war es völlig in Ordnung, dass Paule die Hexe spielte. Es schien auch ausgemacht, dass Hauke der Prinz wurde. Obwohl das nur logisch war, stach die Enttäuschung Raph wie mit scharfen Nadeln.
Sie versteckte sich wieder im hohen Gras zwischen den Körben und wühlte lustlos darin herum. Da war der Lumpenmantel des Bettlers. Und das Betttuch mit dem aufgemalten Wald. Vielleicht konnte sie die Kulissen übernehmen? Irgendjemand musste ja auch die Mondlaterne hochhalten, im Dorfchor singen oder im Hintergrund die Trommel schlagen. Ihre Finger stießen gegen etwas Hartes, Glattes. Sie zog es heraus. Es war eine Ledermaske mit spitzen Ohren und einer dünnen, langen Schnauze, dort, wo die Nase hingehörte. Sie war für die obere Hälfte des Gesichts gedacht, zu beiden Seiten der Maske baumelten Bänder zum Festbinden herab.
Es raschelte im Gras, als Herr Pahl herantrat. Er hatte einen Sonnenbrand auf der Nase und die Hemdärmel hochgekrempelt. »Wegen deiner Rolle, Raphaella«, begann er. »Vielleicht möchtest du die Mondlaterne halten? Wir könnten dein Gesicht weiß anmalen und dich in ein dunkles Tuch hüllen. Du müsstest kein Wort sprechen.«
Raph senkte den Blick auf die Maske und spürte, wie all die ungesagten Worte in ihrer Kehle zu einem Kloß anschwollen. Dass sie überhaupt noch Luft bekam! Dort drüben drehte sich Hauke mit dem Umhang des Prinzen und brachte den Stoff zum Flattern. Er verneigte sich vor Johanna, genau so, wie Raph es hatte tun wollen. Mit einer entschlossenen Bewegung drückte sie sich die Maske aufs Gesicht und schnürte sich die Bänder am Hinterkopf zusammen. »Ich bin der Fuchs!«, erklärte sie schroff.
»Was?«, fragte Herr Pahl überrascht, aber da war sie schon aufgestanden. Sie griff nach ihren Schuhen, so entschlossen, als würde ihr das Herz nicht bis zum Halse klopfen.
»Der Fuchs ist der König im Volke«, zitierte Raph das Stück, obwohl sie jede Silbe herauszwingen musste. »Der ewige Wanderer und überall zuhause.«
»Du kennst den Text?« Herr Pahl schien noch etwas sagen zu wollen, aber am anderen Ende der Wiese war gerade ein Kampf mit Holzschwertern ausgebrochen. Als der Lehrer sich umdrehte, begann Raph zu laufen. Sie begriff selbst nicht warum, nur, dass sie fort musste. Fort von dem Gelächter und dem wehenden Mantel des Prinzen. Fort von Johannas glücklichem Strahlen und der freundlichen Verständnislosigkeit des Lehrers.
Ihr Herz schlug hart in ihrer Brust. Irgendwas pikste sie in den nackten Fuß. Herr Pahl rief ihren Namen, doch Raph rannte nur schneller. Sie hielt auf den hohen Waldsaum zu und blieb auch nicht stehen, als ihre Seiten schmerzten und stachen. Dann hatte sie die Bäume erreicht. Die Schatten hüllten sie ein. Raph blieb stehen, um die Schuhe überzustreifen. Sie hörte Herr Pahls Stimme hinter sich und wusste, dass sie umdrehen sollte. Noch konnte sie sich dafür entschuldigen, dass sie einfach von der Probe weggelaufen war. Sie konnte die Fuchsmaske zurücklegen und weiße Farbe für das Mondgesicht anrühren. Der Mond hatte eine hübsche Rolle. Nicht wichtig, aber schön anzusehen.
Raph zog den Rotz durch die Nase hoch und hickste leise. Unter dem Leder der Fuchsmaske liefen ihr Tränen über die Wangen. Sie blickte auf die Wiese zurück. Das Lachen und die Rufe klangen jetzt nur noch in Fetzen zu ihr herüber. Und Herr Pahl war stehen geblieben. Er winkte zwei der Jungen heran und zeigte in Richtung Waldrand.
Das gab den Ausschlag. Raph raffte ihre langen Röcke, um besser laufen zu können. Sie hetzte durchs Unterholz, das Laub des letzten Herbsts raschelte unter ihren Füßen. Kleine Zweige streiften ihre Schultern. Einer peitschte ihr ins Gesicht und gegen die Maske. Durch die Augenschlitze konnte sie an den Seiten weniger sehen. Aber sie lief trotzdem weiter. Ihre Seiten begannen wieder zu stechen. Sie hörte die Rufe der Jungen und rannte noch verbissener, noch schneller. Die Stimmen blieben hinter ihr zurück, aber die ungesagten Worte in ihrer Kehle trieben Raph weiter. Tiefer in den Wald hinein.
Früher hatte sie mit Johanna an dem kleinen Bach eine Höhle aus Ästen gebaut. Es war ihr Geheimversteck gewesen und eine Mutprobe von einem Ufer des Baches an das andere zu springen. Es war leicht, hineinzufallen, und dann gab es zu Hause Ärger wegen der nassen Röcke und dem Dreck. Aber jetzt rannte Raph auf den Bach zu, so schnell sie konnte. Sie setzte mit einem großen Sprung ans andere Ufer. Steinchen und Erde fielen unter ihren Schuhen hinab. Sie stürzte auf die Knie, der Schmerz schoss ihr in die Beine.
Raph fing den Sturz mit den Händen auf und keuchte, als sich etwas Spitzes in ihre Haut bohrte. Das Schluchzen kam jetzt abgehackt und schüttelte ihren Oberkörper. Sie hörte die Jungen irgendwo weit hinter sich zwischen den Bäumen und stemmte sich in die Höhe, obwohl ihre Knie schmerzten und ihre Beine zitterten.
»Wir sind dieses Jahr noch kein einziges Mal zusammen in den Wald gegangen …«, raunte sie den Baumstämmen zu. »Und letztes Jahr auch nur, um das Moos für die Osternester zu holen.«
Und selbst da waren Johannas neue Freundinnen mitgekommen. Ein Schwarm aus Mädchen mit Bändern im Haar und sauberen Schürzen. Raph hatte das Geflüster nicht verstanden und das Kichern auch nicht. Es gab da etwas unter Johannas Freundinnen, das sich ihr entzog. Sie konnte den Finger nicht darauf legen und immer, wenn sie versuchte, es zu fassen zu kriegen, war es schon weg. So, als würden die Mädchen ein Geheimnis kennen, das sie ausschloss.
»Du fehlst mir, Jo«, würgte Raph hoch und humpelte weiter. Früher hatten sie sich mit einem Blick verstanden. Sie waren in schallendes Gelächter ausgebrochen über Witze, die nur sie beide teilten. Und sie waren im Wald vor der Welt in Sicherheit gewesen. Es hatten den ganzen Sommer über Abenteuer und Geschichten in der Luft gehangen. Und Raph hatte sein dürfen, wer sie wollte.
»Warum bist du zu alt dafür geworden?« Raph wischte mit dem Handballen über ihre tränennasse Wange, da wo die Maske aufhörte, und verteilte dabei Dreck auf ihrer Haut. Irgendwann hatte Johanna nicht mehr im Wald spielen wollen. Sie hatte sich mit den anderen Mädchen im Dorf getroffen, Kränze geflochten und Geheimnisse geteilt. Raph hatte das genauso wenig verstanden, wie die neuen Witze, die sie plötzlich ausschlossen. Sie hatte noch eine Weile mit ihren Brüdern weiter im Wald gespielt, aber bei ihnen musste sie immer die Prinzessin sein. Oder die Hexe.
Ein Zweig brach mit einem lauten Knacken unter ihrem Fuß. Das Geräusch scheuchte eine Krähe auf, die schimpfend über ihr in den Baumkronen aufflog. Als der Flügelschlag nicht mehr zu hören war, drehte Raph sich langsam um ihre eigene Achse. Zu allen Seiten ragten Baumstämme auf, einige breit und mächtig, andere noch schlank und jung. Das Sonnenlicht fiel nur an wenigen Stellen bis auf den dichten Laubteppich und der Wald sah überall gleich aus. Dabei konnte sie gar nicht so weit gegangen sein, oder? Nicht mit den schmerzenden Knien und ganz ohne Ziel!
Raph wischte sich die Hände an der Schürze sauber und versuchte, etwas Vertrautes zu entdecken. Das Rauschen des Baches vielleicht oder die alte Eiche, die umgestürzt am Hang lag und ihre Wurzeln in die Luft reckte. Doch alles, was Raph entdeckte, waren Brombeergestrüpp, Moos und noch mehr Baumstämme. Sie legte den Kopf in den Nacken und versuchte, die Sonne über den Wipfeln zu erahnen. Es war später Nachmittag. Die Sonne stand schräg links von ihr, also musste dort Westen sein, oder? Nur, dass das kein bisschen half, weil Raph keine Ahnung hatte, wo sie war, oder in welcher Himmelsrichtung das Dorf lag.
»Ich drehe mich einfach um«, teilte sie den Baumstämmen trotzig mit. »Und gehe in die Richtung, aus der ich gekommen bin.« Wenn sie lange genug lief, dann würde sie am Ende wieder im Dorf ankommen. Vielleicht nicht genau dort, wo sie losgegangen war, aber so ungefähr.
Raph humpelte entschlossen los. Ihre Knie schmerzten und ihr Magen grummelte vor Hunger. Sie fischte ein Milchbrötchen aus ihrer Schürzentasche, das sie am Morgen aus Gewohnheit eingesteckt hatte. Genauso wie früher immer, als sie sich noch mit Johanna im Wald getroffen hatte. Es war beim Sturz zerdrückt worden, aber der erste Bissen schmeckte süß und luftig. Und da war der Zimt, den ihre Mutter immer hinein rührte. Das half ein bisschen gegen den Schrecken und die Angst.
Mit jedem weiteren Bissen fühlte Raph sich etwas mutiger. Sie malte sich aus, wie erleichtert ihre Eltern sein würden, wenn sie nach Hause kam. Natürlich würden sie schimpfen. Und Raph würde sich morgen bei Herrn Pahl entschuldigen müssen und … Bei dieser Vorstellung blieb sie stehen und zerdrückte den Rest des Milchbrötchens zwischen ihren Fingern. Sie konnte sich nicht entschuldigen. Natürlich musste sie das, aber die Vorstellung schnürte ihr die Kehle zu und zog alle Kraft aus ihrem Körper. Nicht so sehr, weil es eine Strafarbeit geben würde, sondern wegen all der Dinge, die sie nicht sagen konnte. Wegen der Worte, die auf dem Weg durch ihre Kehle verloren gingen. Wegen des Geheimnisses, das sie selbst nicht benennen konnte.
Es war, als würde Raph sich selbst nicht mehr kennen. Als hätte sie sich nicht nur im Wald verlaufen. Sie hob eine Hand und tastete nach der Fuchsmaske in ihrem Gesicht. Los, reiß sie herunter, flüsterte ihr eine gehässige kleine Stimme zu. Das ist doch nur ein albernes Theaterspiel!
Aber Raph wollte nicht. Sie wollte nicht wieder Raphaella werden oder gar Ella. Sie wollte nicht wieder unsichtbar sein, wie ein Geist inmitten der anderen Kinder. Sie war lieber der schnelle, schlaue Fuchs als das unglückliche Mädchen. All das war wie ein wirres Durcheinander in ihrer Brust. Es machte keinen Sinn, egal wie lange sie darüber nachdachte. Aber es schmerzte zu sehr, um es nicht zu tun.
Am Ende blieb die Maske wo sie war. Raph stolperte nur ein paar Schritte weiter, bis zu den breiten Wurzeln einer gewaltigen Rotbuche. Sie hockte sich auf den Boden und lehnte den Rücken an die raue Rinde. Ein kleines Zittern lief durch ihren Körper und dann noch eines. Sie zog die Knie an, versteckte ihr Gesicht in den schmutzigen Röcken und weinte heiße Tränen. Es zehrte sie aus, so viel auf einmal zu fühlen und keinen Ausweg zu finden. Am Ende fiel sie darüber in einen wirren Halbschlaf.
Das Rauschen des Windes zupfte an ihren Gedanken und scheuchte Traumfetzen auf. Raph trieb rastlos dahin. Herr Pahl rief in der Ferne ihren Namen, aber der Wald schob sich zwischen sie. Auf einmal stand Kasper mit der Maske des Ungeheuers vor ihr und grinste sie an. Gleich würde er wieder das abgenagte Gehäuse eines Apfels nach ihr werfen oder sie nachäffen. Plötzlich spürte Raph, wie ihr ein rotes Fell wuchs.
Sie wurde der Fuchs.
Und der Fuchs war im Wald zuhause.
Das Unterholz begrüßte sie wie einen alten Freund. Zweige reckten sich ihr entgegen und strichen sanft über ihr Fell. Eine Krähe krächzte irgendwo über ihr und dann begannen die Schatten zu flüstern und zu kichern. Schemen bewegten sich und das Ungeheuer floh.
Kasper, wisperte ihr Verstand im Traum. Er ist nicht wirklich ein Ungeheuer, sondern nur ein Junge. Das Kichern und Flüstern schwoll an, und Raph hob den Kopf, um nachzusehen, woher die Stimmen kamen.
Ihre Wangen schmerzten an den Stellen, an denen sich die Maske im Schlaf in ihre Haut gedrückt hatte. Durch die Sehschlitze wirkte der Wald düsterer und enger. Sie hielt immer noch den Rest des Milchbrötchens in der Hand, aber es war nicht länger ein sommerschwerer Nachmittag. Dafür waren die Schatten viel zu tief. Der Himmel zeichnete sich nur noch als fernes Graublau hinter dem schwarzen Blätterdach ab. Die Sonne war verschwunden.
Verdammt! Der Schreck fuhr Raph so plötzlich in die Glieder, dass sie erstarrt sitzen blieb. Und das, obwohl eine knorrige Wurzel in ihren Hintern drückte und ihr linker Fuß eingeschlafen war. Es gab eine Regel im Dorf, die so alt war, wie der Ort selbst.
Geh niemals nach Sonnenuntergang allein in den Wald.
Herr Pahl hatte gelacht, als er zum ersten Mal davon gehört hatte, aber er kam aus der Stadt und hatte keine Ahnung. Er wusste nichts von dem feinen Wispern und dem hohen Kichern in den Schatten bei Nacht. Er hatte niemals ein Paar Augen zwischen den Bäumen aufblitzen sehen, ganz kurz nur. Er trug keinen Talisman aus Eisen bei sich, wenn er das Dorf verließ.
Herr Pahl hielt all die Geschichten für Märchen, aber Raph wusste es besser. Sie kannte die Spuren der Spinnenweber in den Baumwipfeln und die Nester der Irrlichter im Moor. Deshalb war sie nach Sonnenuntergang noch nie weiter als bis zum Gartentor gegangen.
Jetzt wandte sie langsam den Kopf und spähte in die Schatten. War das Rascheln dort drüber nur eine Feldmaus? Oder ein Wurzelmännchen? Und wenn sie jetzt aufstand, würden die Fae sie dann bemerken? Raph streckte vorsichtig die Beine aus. Ihre Knie schmerzten etwas, doch es war zu ertragen. Vielleicht würde sie es rechtzeitig aus dem Wald schaffen, wenn sie einfach nur in eine Richtung rannte?
Noch herrschte ein Rest blasses Dämmerlicht zwischen den Bäumen. Gerade genug, um die Umrisse zu verwischen. Raph richtete sich langsam auf. Sie tastete nach dem Lederband um ihren Hals und zog es hervor. Daran baumelte ein rostiger Schlüssel. Nicht gerade viel Eisen, aber besser als nichts. Sie schloss die Finger darum. Etwas huschte im Halbdunkel an ihr vorbei. Ein feines Wispern lag in der lauen Abendluft, genauso wie in ihrem Traum. Raph holte tief Luft und begann zu laufen. Doch anders als heute Nachmittag, sah sie jetzt kaum die Hand vor Augen.
Sie prallte gegen einen Baumstamm. Äste zogen an ihren Röcken. Waren es Äste? Oder Finger? Ihr Herz trommelte in ihrer Brust und trieb sie vorwärts. Sie stolperte über Wurzeln und Gestrüpp. Fiel hin und rappelte sich wieder hoch. Ließ den Schlüssel nicht los. Das Wispern schwoll hinter ihr an, ein Chor aus winzigen Stimmen. Plötzlich war das Kichern direkt vor ihr.
Sie schlug einen Bogen, stolperte um einen mächtigen Baum herum, duckte sich unter tiefhängenden Zweigen hindurch und wagte nicht, zurückzuschauen. Hatte sich da etwas bewegt? Ein Schemen? Oder mehrere?
Plötzlich gab der Waldboden unter ihr nach. Raph geriet ins Rutschen und purzelte in einem Durcheinander aus Laub, Matsch und Röcken einen Hang hinab. Sie hielt die Arme vor ihr Gesicht. Verlor fast die Maske. Krallte sich am Schlüssel fest. Als sie endlich auf dem Bauch liegen blieb, drückte sie sich so dicht wie möglich an den Waldboden. Ganz so, als könne sie eins mit ihm werden.
Ihr Atem ging schwer. Der Wind wehte ferne Musik herüber, wie von einem Fest, zu dem sie nicht eingeladen war. Raph lugte hinauf in die Dunkelheit. War da ein Licht irgendwo zwischen den Bäumen? Sie wollte rufen, traute sich aber nicht. Was, wenn das niemand aus dem Dorf war?
Ein Krächzen hallte über ihr durch die Dämmerung. Raph presste ihr Gesicht in den Ärmel ihres Kleides und versuchte leise zu atmen. Flügel schlugen in der kühlen Abendluft. Laub raschelte, dann pickte etwas Spitzes nach ihrer Faust. Raph umklammerte den Schlüssel mit der anderen Hand fester, als das Ding nach ihrem Daumen und ihrem Zeigefinger pickte. Und dann dazwischen. Raph öffnete die Faust und das Ding pflückte den zerdrückten Rest des Milchbrötchens aus ihrer Hand. Sie hob den Kopf an, nur ein kleines bisschen. Dort drüben zwischen den Bäumen tanzten jetzt drei, vier goldene Lichter. Und direkt vor ihr hockte eine Gestalt, etwas größer als eine Krähe. Mehr konnte Raph in den tiefen Schatten der Dämmerung nicht erkennen.
»Deine Gedanken sind sehr laut«, raunte die Gestalt mit rauer Stimme. »Sie jagen deinen Gefühlen hinterher.«
Raph unterdrückte ein Wimmern. In ihrem ganzen Leben hatte sie noch nie solche Angst gehabt. Das spitze Ding zupfte an einem ihrer Zöpfe.
»Geh weg«, würgte sie hervor.
»Aber dann wärst du ganz allein.« Jetzt streiften Federn sanft ihr Gesicht. Dazwischen dünne Finger, Finger und Federn und Klauen. Wie war das möglich?
Die Fae nehmen viele Gestalten an, groß und klein, schön und schrecklich. Aber sie alle beherrschen mächtige Zauberei. Traue keinem von ihnen! Das wussten alle im Dorf, bis auf Herrn Pahl, aber der zählte nicht.
»WegWegWeg«, murmelte Raph wie ein Gebet und die Federfinger verschwanden.
»Das war ein wirklich kleines Stück«, antwortete die Gestalt, als würde das irgendeinen Sinn machen. »Früher hast du mir mehr mitgebracht.«
Raph presste ihr Gesicht ins Laub und sog den Duft nach feuchter Erde und Moder ein. Vielleicht wurde dem Wesen langweilig, wenn sie nur ganz still hielt?
»Ihr habt die süßen Dinger immer aus den Brötchen gepullt und für mich über den Bach geworfen. Die sind nicht mehr drin.« Jetzt strich das Wesen über den Rand der Maske, Raph konnte die federleichte Berührung auf der Haut spüren und hörte das leise Schaben auf dem Leder.
»Rosinen«, murmelte Raph. »Meine Mutter lässt sie weg, weil ich sie nicht mag.«
»Das ist nicht sehr nett«, fand das gefiederte Wesen und zog sich etwas zurück. »Aber ihr kommt ja auch nicht mehr her, du und die Prinzessin.«
»Das war doch nur ein Spiel. Jo ist in Wahrheit die Tochter vom Schmied.«
»Ich werde doch wohl eine Prinzessin erkennen, wenn ich sie sehe«, raunte es neben ihr. »Sie hat den Mut, den Stolz und das Herz, kleiner Prinz.«
»Nenn mich nicht so«, verlangte Raph und ihre Stimme war heiser vor heruntergeschluckten Geheimnissen.
»Wie soll ich dich dann nennen?«, fragte das Geschöpf zurück.
»Nicht so«, platzte Raph heraus und hatte plötzlich die Warnung ihrer Oma im Ohr. Verrate den Fae niemals deinen wahren Namen! Das gibt ihnen Macht über dich. Aber die Namen drängten geradezu aus ihr heraus. Ella, wie Jo sie immer genannt hatte, die Stimme warm vor Freundschaft. Raphaella, wie sie wirklich hieß. Nein, das war alles falsch.
»Raph.« Sie setzte sich auf und spähte in die Schatten, dem Geschöpf entgegen. »Nenn mich Raph.«
»Das gefällt mir.« Es schien ihren Blick zu erwidern. Auf seinem Kopf ragte ein Federkamm auf, gerade zu erahnen im Halbdunkel. Dort, wo die Arme beginnen sollten, glaubte Raph ein Paar Schwingen zu erkennen. Und war das ein Schnabel im Gesicht? »Gibt es noch mehr süßes Zeug?«
»Nein, das war alles.« Raph sah sich unsicher um. Jetzt, wo sie saß, erkannte sie noch mehr tanzende Lichter zwischen den Bäumen. Als sie den Kopf zurücklegte, sah sie, dass der Himmel fast ganz dunkel geworden war. Oder so dunkel, wie es im Juni eben wurde, wenn die Mittsommernacht immer näher rückte. Ob ihre Eltern schon nach ihr suchten? Sie hielt den Schlüssel jetzt mit beiden Händen fest.
»Warum bist du heute wieder in den Wald gekommen, nach all der Zeit?«, krächzte das gefiederte Wesen. »Ohne Rosinen und ohne die Prinzessin.«
»Weil ich nicht der Prinz sein darf.« Die Worte waren heraus, bevor Raph sie zurückhalten konnte, und jetzt waren auch die Tränen wieder da. »Weil ich ein Mädchen bin und Mädchen … keine Prinzen sind und keine Prinzessinnen retten. Nicht einmal in den Geschichten.«
»Klingt wie Menschenkram«, fand das Wesen.
»Ich wollte Jo früher immer heiraten, aber das geht natürlich nicht.« Raph umschlang ihre Beine. Sie erinnerte sich noch an den Tag, als sie begriffen hatte, dass all die Liebesgeschichten immer von einem Mann und einer Frau handelten. Und dass sie nicht darin vorkam. »Jetzt ist Hauke der Prinz. Und ich …«, sie holte tief Luft, »… ich weiß nicht, was ich bin. Nur, was ich sein sollte.«
Ella, wisperte Johannas Stimme in ihrer Erinnerung, warm und strahlend.
Raphaella, rief ihre Mutter abends immer aus der offenen Tür, mit einem Schwall Küchendunst und einer Umarmung voller Geborgenheit.
»Raph«, krächzte das Wesen und die Federfinger strichen haucheben über die Fuchsmaske und ihre Wange. »Du musst diese Entscheidung nicht treffen. Ich weiß nicht einmal, ob du das könntest, denn du trägst es ja in dir. Deine Liebe für Jo, das Herz des Prinzen und vielleicht auch das der Prinzessin. Was immer du bist und wen du liebst, all das ist längst ein Teil von dir.«
Raph hickste und wischte sich die Nase am Ärmel ab. Es gab keine Worte, um das auszudrücken, was sie fühlte, aber plötzlich wog das Durcheinander in ihrer Brust ein bisschen leichter, obwohl sie noch immer in der Finsternis des Waldes saß und die gefiederten Umrisse eines Ungeheuers neben sich erahnte. »Ich habe mich verirrt«, sagte sie und sah zu den tanzenden Lichtern hinüber.
»Nein, das stimmt nicht, denn du trägst den Weg ja schon in dir«, widersprach das gefiederte Wesen.
»Das ist nicht hilfreich«, fand Raph. Der Wind wehte wieder einen Hauch von Musik herüber. »Dieser Gesang, woher kommt der?«
»Feenreigen«, krächzte das Federwesen. »Die warmen Sommernächte machen sie ganz trunken.«
Raph hatte den Schlüssel schon fast losgelassen, aber jetzt packte sie ihn fester. »Noch mehr Fae?«, fragte sie erschrocken und spähte misstrauisch in die Nacht.
»Höchstens ein paar Dutzend.«
Sie sprang auf die Füße, noch bevor sie wusste, was sie tat und plötzlich wuchs das Federwesen neben ihr in die Höhe, bis sie gleich groß waren. Raph zuckte zurück. »Was bist du?«
»Ich bin ich«, gab es zurück. »Federn und Wind, Rauch und Freiheit. Ein Flügelschlag und eine Geschichte. Ein Fae und eine Krähe. Und ich mag Rosinen.«
»Magst du auch Menschenknochen und gestohlene Träume?«, fragte Raph mit mehr Mut, als sie tatsächlich verspürte. Die Geschichten über die Fae waren alle ziemlich blutig.
»Nein, Rosinen sind besser als Knochen und Träume bringt mir der Wind.«
»Was ist mit den anderen Fae?« Raph deutete auf die tanzenden Lichter, die immer mehr wurden.
»Schwer zu sagen. Ein paar sind blutrünstige Biester, andere würden dir Decken aus Moos und Sehnsucht weben.« Das Federwesen klang nicht allzu besorgt, aber nun war das Wispern im Unterholz viel lauter. Ein glockenhelles Lachen wehte herüber und Raph wäre am liebsten wieder fortgelaufen, nur, dass sie kaum zwei Schritt weit sehen konnte.
»Hilf mir«, bat sie und senkte unwillkürlich die Stimme. »Sie dürfen mich hier nicht finden.«
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie dich schon bemerkt haben. Du warst ja nicht gerade leise.« Das Krächzen klang wie ein Lachen.
»Bitte, ich bring dir auch Rosinen in den Wald. Jede Menge, aber hilf mir.« Raph fasste nach den Federfingern und ja, da waren wirklich Finger und Klauen, warm und stark. Ihr Herz schlug schneller. Jetzt erahnte sie zwischen den Baumstämmen noch mehr Gestalten jeder Form und Größe.
»Rosinen, hm? Wirf aber erst das Eisending weg, Raph.«
Sie zögerte und sah zu den Lichtern hinüber, spürte gleichzeitig Sehnsucht und Furcht. Spürte, dass ihre Füße mittanzen und weglaufen wollten, beides zur selben Zeit. Dann riss sie mit einem Ruck den Schlüssel ab und warf ihn ins Laub.
Im selben Moment strichen die Federfinger durch ihr Haar und ließen das Fuchsfell wachsen. Die Maske verschmolz mit ihrem Gesicht. Die Welt wurde größer oder vielleicht schrumpfte Raph auch nur. Plötzlich war der Wald nicht mehr so finster, sondern ihr Freund. Sie lief auf allen Vieren dicht über dem Boden durchs Unterholz. Ein Fae wirbelte im Tanz vorbei, mit Haaren aus Zweigen und einem Umhang aus Laub. Zwei fingergroße Wesen, die Raph für weiblich hielt, küssten sich in einem Schwarm aus Glühwürmchen. Raph lief an einem silbrigen Nebelschweif vorbei, der die Gestalt eines Mannes annahm und eine Frau aus schlängelnden Efeuranken zum Tanzen aufforderte. Eine überirdische Musik schien sie alle durch den Wald zu locken. Doch der Reigen der Fae ängstigte sie nicht mehr, denn Raph war jetzt ein Fuchs, der ewige Wanderer und gleichzeitig überall zu Hause. Der König im Volke, schlau und schnell, genau wie in dem Stück, das sie zum Erntemond gemeinsam mit den anderen Kindern aufführen würde. Sie schnellte unter Büschen dahin, setzte mit einem Sprung über den Bach und hielt auf den Waldrand zu. Jenseits der Bäume war ein tiefblauer Himmel zu erahnen. Eine Schleppe aus Sternen funkelte über ihr. Und dann war ein Flügelschlag zu hören.
»Du trägst den Weg schon in dir, folge ihm.«
Der Wind trug die Worte mit sich und Raphs Herzschlag tanzte im Takt der Musik, die immer weiter hinter ihr zurückblieb. Sie hetzte über die Wiesen und Felder, scheuchte eine Feldmaus auf und entdeckte zwischen den Weiden einen Wurzelgnom. Eine dünne Mondsichel ging über einer Scheune auf. Jetzt witterte Raph den Rauch der Herdfeuer im Dorf vor ihr. Sie sah den goldenen Schein der Fenster zwischen den Hügeln aufblitzen. Da waren auch vereinzelt Laternen, und mehrere Gestalten, die auf Feldwegen nach ihr riefen. Aber es war der falsche Name und Raph kannte den Weg nach Hause. Sie schlüpfte durch den Gartenzaun und streifte dabei das Fell ab. Eine Laterne brannte neben der Tür. Raph zog sich die Fuchsmaske vom Gesicht. Ihre Finger streiften eine schwarze Feder, die an der Maske hängen geblieben war. Die Worte des Faewesens waren nur noch ein Wispern im Wind. »Prinz oder Prinzessin, das eine oder das andere, keins von beiden oder beides. Es ist alles schon da, kleiner Fuchs.«
Siehst du einen
Regenbogen
Jannis Plastargias
Liebe Sophie,
findest du es auch creepy, dass ich dir einen Brief schreibe?
Mama sagt, dass ich dir meine Worte vorlesen kann, vielleicht sogar mehrmals. Mal schauen …
Bevor DAS passiert ist, hast du immer gewusst, was ich denke und fühle. Du hättest keine Briefe, keine WhatsApp- oder Snapchat-Messages gebraucht. Du hättest meine Worte, meine Gefühle gespürt.
Alles hat sich geändert, seit DAS passiert ist. Ich kann es nicht einmal aussprechen. Oder schreiben. Du bist weit weg. Nicht nur in meinen Gedanken, sondern auch tatsächlich.
Liegst in einem Bett umgeben von Schläuchen, kannst nicht reden, nicht essen oder trinken. Nicht einmal ohne Hilfe atmen.
Und ich spüre nichts mehr von dir, einfach nur Dunkelheit und Schwärze, sonst gar nichts. Dunkelschwarz.
Bist du noch da? Bist du für immer fort von meinen Gedanken? Wird es ever wieder so sein wie früher?
Ich soll dir von meinem Leben schreiben. Von meinem NORMALEN Leben. Gibt es das überhaupt noch? Was soll denn normal sein, wenn du nicht mehr an meiner Seite bist? Ich war noch nie allein zuvor. Noch nie!
Ich kann nicht weiterschreiben, ich muss heulen …
Dein Ben
***
∞
Liebe Sophie,
»Never let me down« von VIZE & Tom Gregory gab uns immer voll die guten Vibes, früher, DAVOR.