Herz aus Kristall - Juliane Seidel - E-Book

Herz aus Kristall E-Book

Juliane Seidel

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Beschreibung

Es könnten die perfekten Sommerferien sein. Lynn, Marie und Lia haben sich vorgenommen, jeden Tag am Ufer des Stechlinsees faul in der Sonne zu liegen und nichts zu tun. Wenn nur Lynns Albträume nicht wären. Nacht für Nacht warnen geisterhafte Gestalten vor dem Grauen in der Tiefe des Sees und bitten das Mädchen um Hilfe. Als ein pferdeähnliches Monster am Ufer auftaucht, verschwinden Lynns Freundinnen spurlos. Ihre Albträume scheinen wahr zu werden … Als ob das nicht genug wäre, bringt auch noch die geheimnisvolle Daja Lynns Gefühlsleben durcheinander, während sie die Suche nach einem blauen Herz aus Kristall in Lebensgefahr, aber auch einem uralten Geheimnis näher bringt.

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Veröffentlichungsjahr: 2020

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Herz aus Kristall

 

 

Juliane Seidel

 

Roman

 

Klappentext

 

Es könnten die perfekten Sommerferien sein. Lynn, Marie und Lia haben sich vorgenommen, jeden Tag am Ufer des Stechlinsees faul in der Sonne zu liegen und nichts zu tun. Wenn nur Lynns Albträume nicht wären. Nacht für Nacht warnen geisterhafte Gestalten vor dem Grauen in der Tiefe des Sees und bitten das Mädchen um Hilfe. Als ein pferdeähnliches Monster am Ufer auftaucht, verschwinden Lynns Freundinnen spurlos. Ihre Albträume scheinen wahr zu werden …

 

Als ob das nicht genug wäre, bringt auch noch die geheimnisvolle Daja Lynns Gefühlsleben durcheinander, während sie die Suche nach einem blauen Herz aus Kristall in Lebensgefahr, aber auch einem uralten Geheimnis näher bringt.

 

Die Autorin

 

Juliane Seidel wurde 1983 in Suhl/Thüringen geboren und lebt seit mehreren Jahren in Wiesbaden. Neben ihrer Arbeit als Teamassistentin steckt sie viel Zeit und Herzblut in verschiedene queere Projekte (z.B. den Rezensionsblog "Like a Dream", das Lesefestival "QUEER gelesen" und das Filmfestival "Homonale") und schreibt seit knapp zehn Jahren fantastische Kinder- und Jugendbücher. Unterdessen hat sie, neben den ersten Bänden der Kinderbuchreihe "Assjah" und der im Selfpublishing erschienenen Urban Fantasy-Reihe "Nachtschatten", auch erste Veröffentlichungen im queeren Bereich vorzuweisen.

 

www.juliane-seidel.de

 

 

 

Herz aus Kristall

 

Juliane Seidel

 

1. Auflage Februar 2020

Copyright © Juliane Seidel 2020

65195 Wiesbaden

www.juliane-seidel.de

[email protected]

 

Umschlaggestaltung:

Marie Graßhoff (marie-grasshoff.de)  

Lektorat/Korrektorat:

Tobias Keil, Susanne Eisele

 

Alle Rechte vorbehalten. Inhalte, Illustrationen und Layout unterliegen dem Urheberrecht. Sie dürfen ohne meine Zustimmung weder für Handelszwecke oder zur Weitergabe kopiert, noch verändert und anderweitig verwendet werden.

 

Inhalt

 

Kapitel 1 – Die Warnung 

Kapitel 2 – Verzweifelter Hilferuf 

Kapitel 3 – Der Angriff des Schattens 

Kapitel 4 – Schlafwandeln 

Kapitel 5 – Hilfeschreie 

Kapitel 6 – Die Frau im Wasser 

Kapitel 7 – Das Kelpie 

Kapitel 8 – Auf Entdeckungstour 

Kapitel 9 – Algenplage 

Kapitel 10 – Daja 

Kapitel 11 – Emily 

Kapitel 12 – Traumgeständnisse 

Kapitel 13 – Das Herz der Flere 

Kapitel 14 – Zwei Finger 

Kapitel 15 – Flucht in die Freiheit 

Kapitel 16 – Geheimnisse werden gelüftet 

Kapitel 17 – Die zweite Legende 

Kapitel 18 – Das Herz erwacht 

Kapitel 19 – Ein verzweifelter Plan 

Kapitel 20 – Kampf auf Leben und Tod 

Kapitel 21 – Die Rache der Geisterkinder 

Kapitel 22 – Drei rettende Worte 

Epilog 

Nachwort 

Danksagung 

Vorstellung Aktion Fischotterschutz 

Leseprobe „Maschinenseele“ 

Weitere Bücher / eBooks der Autorin 

 

 

 

 

Gewidmet allen, die Otter lieben und für deren Schutz und Freiheit kämpfen

Kapitel 1 – Die Warnung

 

Blut. Rot und klebrig quoll es aus zwei Stümpfen seiner Finger und tropfte zu Boden. Es verschwand in dem dichten Nebel, der es Lynn unmöglich machte, ihre eigenen Füße zu sehen. Die Schwaden stiegen bis zu ihren Oberschenkeln hinauf und tauchten die unwirkliche Umgebung in eine gespenstige Atmosphäre. Außer den fahlen Umrissen einiger Bäume sah sie nichts. Sie fröstelte. Ein Schauer kroch ihr über den Rücken, als der Junge seine blutigen Hände hilfesuchend nach ihrem Gesicht ausstreckte. Im ersten Moment war sie wie gelähmt, konnte den Blick nicht von den schreckgeweiteten, grünen Augen des Jungen lösen. Unbändiger Schmerz spiegelte sich in ihnen wider.

„Geh nicht zum See hinab“, murmelte der Junge mit blassem Gesicht. Tränen rannen über seine bleichen Wangen. „Es ist gefährlich dort!“

In Lynn wallte eine seltsame Mischung aus Angst und Faszination auf, gepaart mit dem Wissen, in ihrem Bett zu liegen und zu schlafen. Der Gedanke nahm der Szenerie ein wenig den Schrecken. Sie fixierte die verunstaltete Hand, beobachtete mit fast wissenschaftlichem Interesse, wie das Blut aus der Wunde floss.

„Wieso?“, fragte sie leise. Ihre eigenen Worte halfen ihr, wieder zur Besinnung zu kommen. Sie wich von ihm fort. Von einer Sekunde zur anderen entsetzte es Lynn, wie neugierig sie die Verstümmelung des Jungen gemustert hatte, Traum hin oder her. Sie wollte diesen armen Jungen nicht anstarren, als sei er ein seltenes Tier in einem Zoo.

Sie wandte sich ab, bereit, so schnell wie möglich davonzulaufen, doch kaum hatte sie ihm den Rücken zugedreht, stand er wieder vor ihr. Sein verängstigter Blick ging ihr durch Mark und Bein. Tränenspuren zeigten sich auf seiner grauen Haut. Seine Lippen bebten. Er hielt ihr die blutigen Stümpfe entgegen. „Sieh, was sie mir angetan hat, Lynn! Sie wird dich töten, wenn sie dich findet! Sie sucht dich schon so lange … so unendlich lange …“

„Wer denn?“, krächzte sie. Die Angst des Jungen griff auf sie über, nahm ihr die Luft zum Atmen. Sie schluckte trocken und schloss die Augen, um sich zu beruhigen. Wenn sie sich fest genug darauf konzentrierte, verschwanden vielleicht der Junge und diese unwirkliche nebelige Unendlichkeit. Immerhin war das ihr Traum …

Als sich eine eisige Hand auf ihre Wange legte, fuhr sie zurück, doch es gelang ihr nicht, den Jungen abzuschütteln. Er strich über ihre Wange zum Kinn hinab und hinterließ eine feuchte Spur in ihrem Gesicht. Der metallische Geruch von Blut wehte ihr in die Nase. Übelkeit stieg in ihr auf, legte sich pelzig auf ihre Zunge. Lynn wollte den Jungen von sich stoßen, doch er war verschwunden. Lediglich der kalte Nebel war geblieben. Sie fuhr sich über die Wange und betrachtete das klebrige Blut, das an ihren Fingern haften blieb.

„Meide den See!“

 

Mit einem Aufschrei fuhr Lynn aus dem Traum auf. Ihr Herz raste. Das Schlafshirt klebte an ihrem Körper wie eine zweite Haut. Mit einer schnellen Handbewegung strich sie sich die langen roten Haarsträhnen zurück, die ihr zerzaust ins Gesicht hingen. Hektisch sah sie sich in ihrem kleinen Zimmer um. Sie konnte weder unheimliche Nebelschwaden noch ein verstümmeltes Geisterkind ausmachen. Erleichtert schloss sie die Augen und sog die kühle Morgenluft ein, die durch das geöffnete Fenster strömte. Nach und nach klärten sich ihre Gedanken und ihr Herzschlag beruhigte sich. Was für ein Albtraum! Seit Wochen verfolgte sie dieses Kind und ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Zum ersten Mal hatte der Junge sie berührt, Blut auf ihrer Wange zurückgelassen. Sie konnte es selbst jetzt noch riechen. Ihre Nackenhärchen stellten sich auf, als sie daran dachte.

„Es ist nur ein Traum“, flüsterte sie in die Stille ihres Zimmers hinein, konnte aber die warnenden Worte des Jungen nicht aus ihren Gedanken vertreiben.

Meide den See!

Wieso um alles in der Welt sollte sie das tun? Nie hatte sie etwas Schlechtes erlebt, wenn sie im Stechlinsee Schwimmen oder Tauchen ging. Gerade jetzt, wo die Sommerferien vor der Tür standen, hatte sie Besseres zu tun, als Warnungen aus Träumen ernst zu nehmen. Ihre Freunde und sie hatten feste Pläne – Marie, Lia und sie wollten in den entlegenen Buchten des Sees in der Sonne liegen, quatschen, schwimmen und die ein oder andere abendliche Party mit den Jungs aus ihrer Klasse feiern. Da war kein Platz für Geister und seltsame Träume.

Lynn genoss die warmen Sonnenstrahlen, die in ihr Zimmer fluteten und die letzten Fäden des Albtraums vertrieben. Es versprach ein heißer Tag zu werden, der wie geschaffen für einen Ausflug an den See war. Marie und Lia wollten heute nach der Zeugnisausgabe das Ende des Schuljahrs am Ufer des Sees feiern. Schon seit Wochen freute Lynn sich auf diesen Tag, schließlich waren die Jungs mit von der Partie, allen voran Kai, der ihr seit Wochen nicht mehr aus dem Kopf ging. Mit seinem charmanten Lächeln brachte er ihr Herz zum Rasen und ließ Schmetterlinge in ihrem Bauch tanzen. So leicht und beschwingt hatte sie sich seit Monaten mehr gefühlt. Sie musste nur an diese braunen Augen denken und all ihre Sorgen waren vergessen. Während der Sommerferien wollte sie ihn endlich für sich gewinnen.

Ein leises Fiepen lenkte ihren Blick zu dem Korb, der neben ihrem Bett stand. Su blinzelte verschlafen unter der alten, geflickten Decke hervor. Ihre schwarzen Knopfaugen waren leicht zusammengekniffen und mit einem Schmatzen schüttelte sie den Kopf. Lynn streckte dem kleinen Fischotter ihre Hand hin.

„Hab ich dich geweckt?“ Sie streichelte das kurze, weiche Fell der Otterdame. Ein leises Knurren antwortete ihr und Su räkelte sich. Sie genoss die Streicheleinheiten, gähnte ausgiebig und kratzte sich am Bauch.

Lynn lächelte und kraulte das Tier unter dem Kinn. Ruhe durchströmte sie, verdrängte die letzten Traumfetzen. Es war nicht das erste Mal, dass Sus Nähe ihr half, einen Albtraum abzuschütteln. Lynn fühlte sich von dem Tier beschützt und verstanden.

Für einige Minuten hielt Su still, dann wurde ihr langweilig und sie biss Lynn spielerisch in die Finger. Schließlich hopste sie aus dem Körbchen, steuerte auf die geschlossene Tür zu und kratze fordernd daran. Sie wollte baden und würde nicht eher aufgeben, bis Lynn aufstand und sie ins Badezimmer ließ. Der Wecker zeigte zwar erst sechs Uhr morgens an, doch an Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken.

Lynn erhob sich, nahm ihren Bademantel vom Stuhl und verließ das Zimmer. Wenn sie schon wach war, konnte sie ebenso gut duschen.

Der Flur wirkte in dem morgendlichen Licht fremd und unheimlich. Die Sonnenstrahlen, die am Ende des Ganges durch ein schmales Fenster fielen, erhellten die dunkle Diele kaum. Verzogene Schattenbilder huschten über die Wände, und als der Wind durch die Blätter des Baumes vor dem Haus fuhr, schienen groteske Figuren über den Boden zu tanzen. Lynn fröstelte, als sie zum Badezimmer huschte. Der alte Holzboden knarrte bei jedem Schritt, egal wie behutsam sie einen Fuß vor den anderen setzte.

Sus leises Trippeln begleitete sie und die durch die Schatten ausgelöste seltsame Atmosphäre wich der alltäglichen Normalität. Der Otter stieß die Tür mit der flachen Schnauze auf und steuerte auf die alte Wanne zu, die auf kleinen Füßchen stand.

Wie jeden Morgen ließ Lynn Wasser in die Badewanne und setzte ihre Gefährtin hinein. Su quietsche vor Vergnügen, drehte sich auf den Rücken und trieb unter den Wasserstrahl, um spielerisch danach zu schnappen.

Lynn trat vor den Spiegel und betrachtete sich nachdenklich. Ihr lockiges Haar stand in alle Richtungen ab. Dunkle Ringe gruben sich unter ihren grünen Augen in die Wangen und verliehen ihr ungewollt das Aussehen eines Zombies. Auch sonst war sie blass, die Sommersprossen auf ihrer schmalen Stupsnase wirkten farblos. Sie seufzte. Sah man ihr die Albträume an? Lynn entschied sich, diese Frage aufzuschieben. Nach einer warmen Dusche sah sie gewiss wacher und weniger tot aus.

Eine gute Stunde später fühlte sich Lynn wohler. Ihr Haar lag in einem ordentlichen Zopf über der rechten Schulter und sie hatte mittels Make-up die Augenringe wegkaschiert. Zur Feier des letzten Schultages trug sie ein leichtes Sommerkleid und die weißen Sandalen, die ihr Lia beim letzten Einkaufsbummel in Berlin aufgeschwatzt hatte. Im Gegensatz zu Lia, die es liebte, sich mit neuen Klamotten einzudecken oder aktuellen Trends zu folgen, mochte Lynn ausgedehnte Shoppingtouren nicht so gerne, doch hin und wieder entdeckte sie Dinge, die ihr gefielen. Und wenn es neue Bücher waren, die sie nach Hause schleppte.

„Na Su, was denkst du? Sieht man mir die schlechten Träume noch an?“ Sie beobachtete das Tier im Spiegel. Su schwamm auf dem Rücken und tauchte kurz, als sie bemerkte, dass sie beobachtet wurde. Lynn richtete den Blick wieder auf ihr Spiegelbild und erschrak zutiefst. Mit einem Aufschrei fuhr sie zusammen, wich zurück bis zur Badewanne. Instinktiv hielt sie sich an der kalten Emaille fest, um nicht wegzurutschen.

Dunkles Blut lief über ihre Wange. Deutlich erkannte sie zwei parallel verlaufende Spuren. Sie wirkten wie von abgetrennten Fingern hinterlassen. Ihr Herz machte einen entsetzten Sprung und hämmerte doppelt so schnell weiter.

„Lynn? Ist alles in Ordnung?“ Ihre Mutter klopfte an die Tür.

Lynn wischte sich mit dem Handrücken über die Wange, doch das Blut war verschwunden. „Ja …“, antwortete sie mit heiserer Stimme und fügte rasch hinzu: „Hier war nur eine Spinne, aber jetzt ist sie weg.“

„Dann ist ja gut.“

Erneut betrachtete sie ihr aschfahles Gesicht. Es wurde Zeit, dass sie etwas gegen diese Träume unternahm – was auch immer sie dagegen tun konnte.

 

***

 

Es war früher Nachmittag, als Lynn nach Hause kam. Erschöpft lehnte sie sich gegen die hölzerne Eingangstür und schloss die Augen. Der letzte Schultag hatte sich in einen absoluten Albtraum verwandelt. Dabei hatte er so schön begonnen – das Wetter war traumhaft, die Stimmung ihrer Klassenkameraden gelöst, selbst ihr Lehrer war zu Scherzen aufgelegt. Alles war perfekt, bis der Geisterjunge mit der verstümmelten Hand hinter Herrn Schwarz aufgetaucht war, während sie ihr Zeugnis holte. Danach hatte sie das Gefühl verfolgt zu werden, als sie mit Marie und Lia die Schule verließ. Selbst jetzt hatte sie Gänsehaut. Diese latente Bedrohung kombiniert mit den Albträumen raubten ihr den letzten Nerv. Sie hatte sogar die Party am Ufer des Stechlin abgesagt, weil der Eindruck, beobachtet zu werden, stärker wurde, je näher sie dem See kam. Statt Spaß in der Nordbucht zu haben und Kai näherzukommen, würde sie den Nachmittag zu Hause verbringen – in Sicherheit, wie sie hoffte.

„Verdammt!“, fluchte sie. Da ging sie dahin – ihre Chance Kai kennenzulernen. Aber so verkrampft und unsicher, wie sie sich verhielt, hätte sie ihn eher verschreckt, anstatt ihm näherzukommen. Hoffentlich lief das in den Ferien besser. Sie konnte sich nicht die nächsten sechs Wochen verkriechen, nur wegen dieser Albträume.

Sie schüttelte den unliebsamen Gedanken ab und stemmte die schwere Eingangstür auf. Kühle, abgestandene Luft empfing sie. Die schwüle Hitze hatte glücklicherweise den Flur nicht erobert, doch der muffige Geruch war nur bedingt besser.

Su kam ihr freudig entgegen, um Futter zu erbetteln. Sie richtete sich auf die Hinterbeine auf und stützte ihre Vorderpfoten gegen Lynns Unterschenkel. Dabei stieß sie ein herzzerreißendes, hohes Fiepen aus, das Lynn ein wenig an ein weinendes Kind erinnerte.

„Hat man dich einfach vergessen?“, fragte sie und tätschelte dem Otter den Kopf. Su fiepte und begleitete sie in die Küche. Sie angelte einen der letzten in Zeitungspapier eingewickelten Fische aus dem Kühlschrank. Futterküken waren ebenfalls keine mehr da. Es wurde Zeit, dass sie sich auf den Weg zur Fischerei Glöckner machte, die direkt am See lag. Seitdem sich herumgesprochen hatte, dass sie einen Otter besaß, brachte der achtjährige Tim nahezu täglich einen Teil des Fangs vorbei und übernahm voller Begeisterung das Füttern. Lediglich in den letzten Wochen vor den Sommerferien waren seine Besuche seltener geworden. Wahrscheinlich war er lieber am See und spielte mit seinen Freunden.

„Na komm.“ Lynn lockte Su hinter sich her, die ihr bereitwillig in den großen Garten folgte. Seitdem Su die Küche bei der ersten Fütterung übel zugerichtete hatte, weil sie die Fische und Futterküken quer über den Boden verteilt hatte, musste der Otter draußen fressen. Lediglich im Winter wurden Ausnahmen gemacht.

Eine Weile beobachtete sie Su beim Fressen und lauschte dem Summen der Insekten, dann betrachtete sie die Villa, in der sie seit zwei Jahren lebte. Diese stand lange leer, bevor ihre Eltern das Herrenhaus und die anliegenden Gebäude erworben hatten. Zu Beginn war es fast unmöglich gewesen, in dem halb verfallenen Gebäude zu leben, doch ihr Vater arbeitete jede freie Minute an der Sanierung, um dem Anwesen aus der Jahrhundertwende den alten Glanz zurückzugeben. Da die finanziellen Mittel der Familie begrenzt waren, zog sich die Instandsetzung hin, so dass selbst jetzt noch einige Teile des Hauses sowie die Nebengebäude verfallen und unbewohnbar waren. Aus diesem Grund nutzten Lynn und ihre Eltern nur die untersten zwei Etagen.

Das Gebäude atmete den Geruch von Alter, Staub und Feuchtigkeit aus, gepaart mit wilden Abenteuern und düsteren Geheimnissen. Letztes Jahr noch hatte sie täglich Streifzüge unternommen, nach alten Schätzen und geheimen Türen gesucht – leider ohne Erfolg. Sie durchstöberte Keller, Dachboden und die angrenzenden Gebäude, fand jedoch weder verborgene Kostbarkeiten, noch erlebte sie aufregende Abenteuer wie die Helden ihrer Lieblingsbücher. Unterdessen lachte sie über ihre kindischen Wunschträume. Egal wie verwunschen die Villa aussah, wenn das Laub der umstehenden Eichen und Kastanien die große, ehemals weiße Veranda bedeckte und sich der Efeu an den Holzsäulen das alte Mauerwerk emporrankte – das Herrenhaus umgab kein mysteriöses Geheimnis.

Lynn mochte ihr Zuhause, auch wenn sie in einem kleinen, verschlafenen Dorf fernab ihrer Freundinnen wohnte und jeden Morgen fast eine Stunde mit dem Bus zur Schule fahren musste.

Su fiepte leise. Offenbar war sie noch nicht satt. „Tut mir leid, momentan ist nichts mehr da. Du hast alles gefressen, was wir noch hatten.“ Sie hielt dem Otter das leere Papier hin, damit er sich selbst davon überzeugen konnte. Als Su beleidigt den Kopf abwandte, knüllte Lynn die Zeitung zusammen und warf sie in den bereitstehenden Müllsack. Sie überlegte eine Weile, dann fasste sie den Entschluss, ihre seltsamen Ängste von sich zu schieben. Sie würde Su nicht hungern lassen, weil sie Angst vor dem See hatte oder die Warnungen eines Traumes ernst nahm. „Holen wir dir neuen Fisch. Ich muss sowieso bei den Glöckners vorbeischauen und mich bedanken.“

 

***

 

Knapp zehn Minuten später machte sich Lynn auf den Weg. Su begleitete sie und lief immer wieder ein Stück voraus. Die Mittagshitze klang endlich ab. Frischer Wind kühlte die Luft und der angenehme Geruch des Wassers stieg ihr in die Nase. Es lockte sie zum Ufer hinab. Zögernd sah sie sich um. Sie hatte den Eindruck, beobachtet zu werden. Ihre Haut im Nacken kribbelte und die feinen Härchen stellten sich auf. Es war nicht das erste Mal, dass sie dieses beklemmende Gefühl heimsuchte. In den letzten Wochen hatte sie es oft gehabt. Manchmal glaubte sie sogar einen Schatten zu sehen – in der Nähe der Schule, in einer kleinen Gasse oder auf dem Weg zum See hinab. Jedes Mal fühlte sie bohrende Blicke auf ihrer Haut.

Sie ließ den Blick schweifen, doch wie immer entdeckte sie niemanden. Vielleicht verbarg sich diese Person zwischen den Bäumen oder beobachtete sie aus einem der anderen Häuser heraus. In der Straße, in der sie wohnten, gab es einige Gebäude, die leer standen. Es war leicht, sich Zugang zu verschaffen und von den Fenstern aus die Umgebung im Blick zu behalten. Der Eindruck, nicht allein zu sein, verschwand – das Kribbeln im Nacken fehlte. War sie einfach nur überdreht? Schließlich reagierte Su überhaupt nicht auffällig. Ihre kleine Gefährtin war ein Garant für das Entdecken von Gefahren – wie jedes Tier hatte sie einen siebten Sinn dafür. Stattdessen trottete der Otter seelenruhig die Straße entlang und bog auf einen kleinen Pfad ab. Sie folgte dem Weg zum See hinunter, den sie beide üblicherweise gingen. Lynn zögerte einen Moment, dann schlug sie die Warnungen des Geisterjungen in den Wind. Es wurde Zeit, sich nicht länger von ihren Ängsten beherrschen zu lassen.

Nicht einmal fünf Minuten später erreichten sie den See. Die Sonne glitzerte auf den Wellen und ein Windhauch fuhr raschelnd durch die Baumkronen. Buchen säumten das Ufer, teilweise standen sie im Wasser. Ihre Äste küssten den See fast, so weit hatten sich die Pflanzen dem Stechlinsee zugewandt. Kleine Fische huschten zwischen den Wurzeln entlang oder versteckten sich im nahen Schilf, das aus dem Wasser hoch in den blauen Sommerhimmel ragte. Vögel kreisten über Lynn, auf der Jagd nach Mücken und Fliegen, die sich über der Wasseroberfläche tummelten.

Lynn atmete tief durch und eine angenehme Ruhe erfasste sie. Hier gab es nichts, was ihr gefährlich werden konnte. Während Su keckernd an ihr vorbeischoss, zog Lynn die Sandalen aus. Als das Wasser ihre Füße umspülte, schloss sie die Augen und genoss die angenehme Atmosphäre, die der See verströmte. Irgendwo hinter ihr radelten einige Leute den Weg entlang, direkt vor ihr tollte Su durch die Fluten. Immer wieder verschwand das Ottermädchen zwischen den Wellen, tauchte im tieferen Gewässer unter und jagte Fischen hinterher. Manchmal fing sie sogar einen und verspeiste ihn genüsslich auf einer Wurzel. Dieses Mal hatte sie kein Glück, obwohl sie hungrig war.

Lynn wandte sich ab und ging im Wasser Richtung Fischerei, die nur einen knappen Kilometer entfernt war. Bereits nach wenigen Metern hörte sie ausgelassenes Gelächter und die Geräusche einer wilden Wasserschlacht. Unwillkürlich beschleunigte sie ihr Tempo.

Sie umrundete einen Baum und spähte zwischen den Ästen hindurch zu einigen Jugendlichen, die ausgelassen im Wasser tobten. Lynn entdeckte Lia sofort. Sie wehrte sich standhaft gegen zwei Jungs, die sie unter Wasser drücken wollten. Einer von ihnen war Daniel, ihr neuer Freund, ein großer, kräftiger Typ mit sonnengebräunter Haut und blondem Haar. Der andere war Kai, aus dessen schwarzen Locken Wasser perlte und über sein lachendes Gesicht rann. Ein Prickeln machte sich in ihr bemerkbar, als sie Kai betrachtete – die schmale, drahtige Statur, die verhältnismäßig blasse Haut und die langen Beine. Auf seiner Hüfte, knapp über dem Bund der Badehose entdeckte sie ein Muttermal, von dem sie bisher nichts gewusst hatte. Zu gerne würde sie nähertreten, um es sich genauer anzusehen. Lias Lachen hielt sie davon ab, vielleicht auch ihre eigene Unsicherheit.

Neid und Wut auf sich selbst loderten in Lynn auf. Sie ärgerte sich, nicht mitgegangen zu sein. Anstelle sich im Schatten der Bäume zu verstecken, könnte sie an Lias Stelle sein. Und alles nur wegen dieser verdammten Albträume und Visionen.

Mit verbissenem Gesicht sah sie sich nach Marie um. Ihre Freundin saß zwischen einer Baumgruppe am Ufer. Neben ihr hockten noch ein paar andere Jungs und Mädchen, die sich unterhielten. Anscheinend beteiligte sich Marie nicht an den Gesprächen, sondern beobachtete stattdessen Lia und die beiden Jungs.

Eine Weile folgte Lynn dem Blick ihrer Freundin und musterte den lachenden Kai erneut. Wie gut er doch aussah. Glitzernde Wassertropfen schmückten den schlanken Körper, die rote Badehose saß locker auf seinen Hüften. Lynns Herzschlag verdoppelte sich. Vielleicht sollte sie sich zu ihnen gesellen. Mit Ausnahme ihrer besten Freundin würde sich niemand darüber wundern, dass sie verspätet bei der Ferienstart-Party auftauchte. Marie war bereits vorhin skeptisch gewesen, als sie ihnen auf dem Heimweg abgesagt hatte. Ihr besorgter Blick hatte Lynn deutlich gemacht, dass Marie ahnte, dass etwas nicht stimmte. Zum Glück hatte sie nicht nachgefragt, wahrscheinlich wegen Lias Neugier und ihres Hangs zum Tratsch. Sie hätte alles Mögliche vermutet.

Noch bevor sie sich entschieden hatte, tauchte ein seltsamer Schatten im Wasser hinter den Badenden auf. Im ersten Augenblick wirkte er wie ein riesiger Fisch, doch sie verwarf den Gedanken sofort. Dazu war die Silhouette zu breit und wirkte überhaupt nicht stromlinienförmig. Zudem lebten solch große Tiere nicht im Stechlin, sonst hätte man schon längst darüber berichtet. Ein Schauder rann ihren Rücken hinab und die Härchen an ihren Armen stellten sich auf. Sie schloss die Augen, um sich zu sammeln, und als sie erneut einen Blick riskierte, wirkte die Schwärze noch bedrohlicher. Lynn erschrak. Sahen die anderen dieses Ding nicht, das sich auf sie zubewegte?

Meide den See!

Die Worte des Jungen dröhnten in ihrem Kopf. Sie stürmte los, blieb umgehend an einer Wurzel hängen und stürzte fast. Ihr Herz schien einen Schlag auszusetzen, während die Panik kribbelnd Adrenalin durch ihren Körper pumpte. Mit Mühe fing sie sich und kletterte auf den Uferweg, um schneller zu ihren Freunden zu gelangen. Sie musste sie vor diesem Ding warnen!

Plötzlich tauchte Su aus dem Wasser auf und sprang ihr laut fauchend vor die Füße. Sie grollte und biss sogar in den Saum ihres Kleides. Nie zuvor hatte Lynn ihre kleine Begleiterin derart aggressiv gesehen. Hatte sie diesen Schatten ebenfalls bemerkt? Wollte der Otter sie vor dem Ding aus dem Stechlin beschützen? Lynn schüttelte den Gedanken ab. Sie durfte keine Zeit verlieren. Kurzerhand nahm sie Su auf die Arme und eilte weiter.

„Raus aus dem Wasser!“, rief sie der Gruppe im Wasser zu, als sie an Marie und den anderen vorbeistürmte und ein Stück ins Wasser watete. Entgeisterte Blicke richteten sich auf sie, dann brachen alle in schallendes Gelächter aus. Sie schienen das für einen Scherz zu halten! Lynn verdrängte das Gefühl, sich lächerlich gemacht zu haben, und suchte den See mit den Augen nach dem Schatten ab.

Nichts war zu sehen.

Der unförmige Fisch war verschwunden, wenn es ihn je gegeben hatte. Plötzlich war sie sich nicht mehr sicher, überhaupt etwas Bedrohliches gesehen zu haben. Das Gelächter der anderen trieb ihr die Schamesröte ins Gesicht. Sie wollte im Erdboden versinken, insbesondere, als sich Kai zu Lia beugte und ihr grinsend etwas ins Ohr flüsterte. Sie fühlte sich seltsam bloßgestellt. Kai hielt sie garantiert für total bescheuert. Es würde sie nicht wundern, wenn er sie jetzt für einen Freak hielt. Der Gedanke tat weh und bescherte ihr einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Sie war so ein Idiot!

Su entwand sich ihren Armen und verschwand im Wasser, als wäre nichts gewesen.

„Was ist denn los?“ Marie kam zu ihr und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Ihre braunen Augen waren schreckgeweitet, Blässe überzog ihre Wangen. Hatte sie etwas gesehen? Oder war sie einfach nur erschrocken? Lynn war sich nicht sicher, wie sie die besorgten Blicke ihrer Freundin einordnen sollte.

Lynn starrte zu dem schmalen Sandstreifen des Ufers hinab. Sie setzte zu einer Erklärung an, biss sich dann auf die Unterlippe. Egal was sie jetzt sagen würde, es klänge falsch und die anderen würden sie endgültig zu einem durchgeknallten Freak abstempeln.

„War etwas im See?“, fragte Marie mit leiser Stimme, so dass nur Lynn sie hören konnte.

„Nein.“ Lynn schüttelte den Kopf. Sie musste sich schleunigst eine Ausrede einfallen lassen – die anderen starrten sie noch immer an.

„Geht’s dir gut?“, flüsterte Marie und suchte mit den Augen den See ab. Sie rieb sich die Oberarme.

„Blödsinn! Mir ging es nie besser.“ Lynn zwang sich zu einem Lächeln und warf Lia und den anderen einen frechen Blick zu. „Ich wollte euch nur ein bisschen erschrecken. Eure Gesichter hättet ihr sehen sollen. Als hätte euch der Schlag getroffen!“

 

Kapitel 2 – Verzweifelter Hilferuf

 

„Geht es dir heute wieder besser?“, frage Marie, als Lynn zu ihren Freundinnen auf die Veranda trat. Dieselbe Sorge, die sich gestern in Maries Gesicht abgezeichnet hatte, schimmerte auch jetzt in ihren Augen. Während ihre Klassenkameraden über Lynns Streich gelacht hatten und ihren kurzen Anfall von Panik während der gemeinsamen Party rasch vergaßen, war Marie den restlichen Nachmittag ungewöhnlich still geblieben. Sie schien es Lynn nicht abzukaufen, dass sie die Gruppe nur auf den Arm nehmen wollte. Sie kannten einander einfach zu gut, als dass Lynn sie belügen konnte. Dabei hatten sie sich erst vor zwei Jahren kennengelernt, kurz nachdem sie nach Neuglobsow gezogen waren. Marie hatte im Regen an der Bushaltestelle gestanden und auf einen Bus gewartet, der wegen des Unwetters ausfiel. Lynn hatte nicht lang gezögert – sie hatte Marie zu sich eingeladen und die nächsten Stunden hatten sie nur über Bücher und Filme geredet. Es war, als hätte sie eine Seelenverwandte gefunden, die ähnlich dachte wie sie. Und der sie nichts vormachen konnte.

„Ich wünsche dir auch einen guten Morgen“, entgegnete Lynn fröhlich und ignorierte Maries skeptischen Blick. Für den Anfang würde sie sich normal verhalten, auch wenn sie wusste, dass ihre Freundin sie noch ausfragen würde. „Du brauchst dich nicht zu sorgen – mir geht es schon viel besser.“

Mit einem breiten Lächeln zog sie sich ihre Sandalen an. Sie war bester Laune, nachdem sie in der letzten Nacht gänzlich von Albträumen verschont geblieben war. Kein blutendes Kind folgte ihr durch eine weiße Nebellandschaft; kein seltsamer Schatten lauerte im See auf sie. Sie fühlte sich wie neu geboren. Die Sonne schien und Lynn freute sich auf einen unbeschwerten Tag.

„Ich gehe jetzt!“, rief sie laut.

„Viel Spaß“, erklang die gedämpfte Antwort ihrer Mutter eine Etage über ihr. „Sei zum Abendessen wieder da.“

Lynn schnappte sich ihre Tasche und zog die Tür hinter sich ins Schloss.

„Wo hast du denn Su gelassen?“, fragte Marie.

„Die ist nach dem Füttern Richtung See verschwunden. Ich denke, sie will den Tag allein verbringen.“ Lynn hob die Achseln – sie war es gewohnt, dass der Otter manchmal eigene Wege ging. Als Su das erste Mal verschwunden war, hatte sie voller Panik und mit Tränen in den Augen nach ihr gesucht. Sie hatte Angst gehabt, Su wäre davongelaufen und sie würde ihre Gefährtin nie wiedersehen. Letztendlich war das Tier wenige Stunden später wieder da gewesen und verhielt sich vollkommen normal. Seitdem verschwand Su hin und wieder, kam jedoch stets zu ihr zurück. Sie war wie eine Katze, die tagsüber durch ihr Revier streifte.

„Wenn es weiterhin so warm und sonnig bleibt, sind wir in einer Woche richtig braun“, wechselte Lia das Thema, als sie durch den schmalen, von niedrigen Bäumen gesäumten Pfad zum See hinabliefen.

„Ich ganz bestimmt nicht. Lediglich meine Sommersprossen vermehren sich.“ Lynn betrachtete die Flecken an ihren Armen, die mit jedem Tag deutlicher wurden. Sie hasste sie.

„Es gibt Jungs, die stehen auf Sommersprossen.“ Lia grinste und stieß sie in die Seite. „Vielleicht steht Kai ja auf Mädchen mit Sommersprossen!“

„Das glaubst du doch selbst nicht!“

„Woher willst du das wissen?“ Marie streckte sich und ließ ihre bunte Tasche durch die Luft kreisen. Der sorgenvolle Ausdruck war endlich von ihrem Gesicht verschwunden. Lynn atmete erleichtert auf. Jetzt stand einem schönen Tag am See nichts mehr im Wege.

„Apropos Kai!“, fuhr Lia dazwischen, bevor Lynn etwas sagen konnte. „Gestern hatte ich das Gefühl, dass er die Augen nicht von dir lassen konnte, Lynn. Vielleicht lag das nur an deinem schlechten Scherz, aber irgendwie …“ Sie zuckte vielsagend mit den Schultern. „Was denkst du, Marie? Glaubst du, Lynn hat Chancen bei ihm?“

„Ich weiß nicht“, flüsterte Marie. Ein seltsamer Unterton schwang in ihrer Stimme mit, den Lynn nicht einordnen konnte. „Versuchen solltest du es auf jeden Fall.“

Wenn das so leicht wäre, hätte ich schon längt den ersten Schritt getan, grübelte Lynn im Stillen und blendete die Diskussion ihrer Freundinnen aus. Tags zuvor hatte sie sich von dem Schatten und dem Traum fast verrückt machen lassen. Jetzt fand sie den bloßen Gedanken daran lächerlich. Ein Abend am Stechlin ohne Zwischenfälle und eine Nacht ohne Albträume genügten offenbar, um wieder klar denken zu können.

Sie erreichten das Ufer binnen weniger Minuten. Es war fast windstill und das Wasser wirkte wie ein riesiger Spiegel. Der kleine Ausläufer der Nordbucht, den sie wählten, lag ein wenig abseits des Hauptweges und war um diese Uhrzeit noch menschenleer.

Lynn setzte ihre Tasche ab und ließ den Blick über den See schweifen. Der Stechlin faszinierte sie noch immer so sehr wie vor einigen Jahren, als sie mit ihren Eltern nach Neuglobsow gezogen war. Damals stand der Winter vor der Tür, doch die wärmenden Strahlen der Herbstsonne vertrieben die ersten Anzeichen der kalten Jahreszeit. Bunte Blätter schwammen auf dem Wasser und die Nebelschwaden, die wie Geisterhände durch die Lüfte zogen, verliehen dem Stechlin eine geheimnisvolle Atmosphäre. Auch jetzt, in der Hitze des Sommers, wirkte der See fast magisch.

Ob Lia und Marie manchmal ähnliche Gedanken hegten? Die beiden breiteten bunte Decken im Schatten der Bäume aus und schälten sich aus ihren Kleidern. Noch immer unterhielten sie sich kichernd über Kai und die anderen Jungs. Lynn seufzte. Offensichtlich nahm nur sie die Schönheit des Stechlins wahr – das glasklare Wasser, die Bäume am Ufer, in denen sich der Wind fing und das Licht, das sich auf den Wellen spiegelte. Vögel zogen über dem See dahin. Der See wirkte wie ein mit Photoshop bearbeitetes Bild. Wie gut, dass Instagrammer diesen Ort noch nicht entdeckt hatten – er wäre perfekt für Selfies und würde hunderte Nachahmer anziehen.

Mit einem Lächeln gesellte sie sich zu ihren Freundinnen. Schnell entledigte sie sich ihres Sommerkleides und streckte sich wohlig seufzend neben Marie aus.

Die Sonne brannte heiß auf sie hinunter. Mit geschlossenen Augen genoss Lynn die Wärme und Ruhe, die nur vom Schrei eines Vogels oder dem sanften Plätschern des Wassers gestört wurde. Lia blätterte in einem Modemagazin, Marie beschäftigte sich mit ihrem Smartphone. Das war wohl der einzige Punkt, an dem sie sich unterschieden. Lynn schenkte ihrem Handy nur selten Aufmerksamkeit. Ihr genügte ein altes Gerät, mit dem sie telefonieren und Nachrichten verschicken konnte, auch wenn sie damit in der Schule einem Paradiesvogel glich. Da hatte jeder das neuste Gerät und die Themen drehten sich öfters um Spiele und Apps.

Fast eine Stunde verging, bis es Lynn zu langweilig wurde. „Ich gehe schwimmen. Kommt ihr mit?“

Marie schüttelte den Kopf, ohne sie anzusehen. Lia gab nicht einmal eine Reaktion von sich. Der Bericht eines Starletts zog sie gänzlich in den Bann.

„Dann geh ich eben allein.“ Sie griff sich Taucherbrille und Schnorchel und lief zum Ufer hinunter. Sie ignorierte das ungute Gefühl, das kurzzeitig in ihr aufflammte, als sie den ersten Schritt ins Wasser wagte. Voller Vorfreude watete sie langsam weiter. Sie erkannte den sandigen Boden unter ihren Füßen und kleine Fische, die ihre Beine kitzelten. Als sie einen Schilfteppich hinter sich ließ, fiel der Untergrund steil ab. Lynn schwamm ein Stück weiter und tauchte unter, um der Mittagshitze zu entfliehen. Für einen Augenblick glaubte sie, der Stechlinsee heiße sie willkommen, und nur zu gerne gab sie dem leisen Ruf nach.

Nur kurz kam sie zurück an die Oberfläche, setzte sich die Taucherbrille auf und klemmte sich den Schnorchel zwischen die Lippen. Dann ließ sie sich erneut unter Wasser gleiten.

Es fühlte sich an, als würde sie eine andere Welt betreten. Sonnenlicht fiel durch den Unterwasserwald bis zu den Algen hinab, die den Grund wie ein weicher Teppich bedeckten und sich in den wechselnden Strömungen wiegten. Unweit von ihr ragte eine alte Buche aus dem Nichts in die Höhe, erreichte jedoch nicht mehr die Wasseroberfläche. Die Äste des Baumes boten ein perfektes Versteck für Hechte. Verschieden große Fische huschten an ihr vorbei und versteckten sich zwischen den Pflanzen. Dank der Sonne und des klaren Wassers schimmerten die Schuppen der Hechte, Forellen und Aale in allen erdenklichen Farben.

Einen kurzen Moment tauchte Lynn auf, um Luft zu holen, dann ließ sie sich wieder in diese fremdartige Welt entführen. Sie schwamm an seltsam gewundenen Pflanzen mit großen Blättern vorbei, die ein wenig an Efeu erinnerten, und ließ eine ganze Kolonie Hornkraut hinter sich. Weiter entfernt sah sie Algen, die sie an wehendes Haar erinnerten und Richtung Oberfläche wuchsen.

Urplötzlich schob sich ein Schatten über sie. Im ersten Moment glaubte sie, Wolken wären aufgezogen, doch über ihr trieb etwas, das sie zunächst für einen Baumstamm hielt. Neugierig schwamm sie näher, um das Treibholz zu untersuchen. Doch statt faulender Rinde sah sie langes schwarzes Haar und ein graues, zerrissenes Kleid, das sich um einen leblosen Körper schmiegte.

Voller Panik wich sie zurück. Sie wollte schreien, schluckte allerdings kaltes Wasser, als sie den Mund öffnete. Mit einer Handbewegung riss sie den Schnorchel weg und presste die Lippen zusammen. Lynn verlor die Orientierung und schwamm einfach drauf los, Hauptsache weg von diesem leblosen Körper. Als sie den Grund des Sees erreichte, wusste sie, dass sie abgetaucht war. Geistesgegenwärtig stieß sie sich ab.

Sekunden später durchbrach sie die Wasseroberfläche. Gierig atmete sie die schwüle Luft ein und hustete krampfhaft. Vor ihren Augen drehte sich alles und es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie sich wieder unter Kontrolle hatte. Was um alles in der Welt …? Trieb mitten im Stechlin eine Leiche? Lynn zog sich die Taucherbrille vom Kopf und sah sich hektisch um – nichts. Bis auf ihre wilden Bewegungen war der See ruhig. Vielleicht befand sich der aufgedunsene Leib unter Wasser. Angst und Ekel überkamen Lynn. So schnell sie konnte, schwamm sie auf das sichere Ufer zu!

„Lynn? Ist alles in Ordnung?“ Marie stand bis zu den Knien im Wasser und sah ihr entgegen. Ihre Freundin war erschreckend weit von ihr entfernt. Lynn schätzte die Entfernung auf knapp einhundert Meter, was ihre Angst nur steigerte. Wieso war sie derart weit vom Ufer entfernt?

Plötzlich berührte etwas Kaltes ihre Schulter. Ein Schrei entwich ihrer Kehle und instinktiv schlug sie mit den Armen um sich. Doch keine aufgequollene Leiche stieß gegen sie, kein Seeungeheuer war hinter ihr aufgetaucht. Es war Su, die sie aus dunklen Knopfaugen betrachtete. Erleichterung durchströmte Lynn, am liebsten hätte sie Su in die Arme geschlossen und ihre Nase in dem feuchten Fell vergraben. Wenn der Otter hier war, bedeutete das, dass keine unmittelbare Gefahr drohte. Innerlich aufgewühlt schwamm sie Richtung Land.

Als sie mit mechanischen Schwimmbewegungen endlich das flache Wasser erreichte, machten sich Erschöpfung und Müdigkeit in ihr breit. Lia und Marie empfingen sie und halfen ihr aus dem Wasser.

„Was ist denn los?“, fragte Marie und legte ihr ein Handtuch um die Schultern.

„Wir müssen die Polizei rufen! Ich habe gerade die Leiche eines Mädchens gesehen.“

 

***

 

Den gesamten Abend und die Nacht hindurch suchten Polizisten, freiwillige Helfer und die Feuerwehr systematisch den See ab. Von ihrem Fenster aus sah Lynn immer wieder blaue Lichter zwischen den Bäumen aufblitzen. Nachdem Marie die Polizei verständigt hatte, war alles sehr schnell gegangen. Binnen zwanzig Minuten tauchte die erste Streife auf und vernahm sie. Zunächst wollte man ihr kein Wort glauben, doch Lynn beharrte so lange auf ihrer Geschichte, bis man Verstärkung aus Rheinsberg holte.

Lynn fröstelte und versuchte, die Erinnerung aus ihrem Kopf zu verbannen, doch das Ereignis ließ sie nicht mehr los.

„Lynn, geht es dir besser?“ Ihre Mutter stand in der Tür, eine heiße Tasse Tee in der Hand. Seitdem sie in Begleitung zweier Polizisten nach Hause gekommen war und ihre Geschichte mehrfach erzählt hatte, fragte ihre Mutter in regelmäßigen Abständen nach ihrem Befinden. Ihr Vater hatte sich den freiwilligen Helfern angeschlossen und suchte die Gegend ab. Natürlich sorgte sie sich, doch Lynn wollte allein sein und in Ruhe über alles nachdenken.

„Ja, es geht mir schon besser“, antwortete sie mit einiger Verspätung und sah wieder zu den Lichtern hinaus. Leise kam ihre Mutter auf sie zu.

„Meinst du, sie finden sie?“, fragte Lynn, um die unangenehme Stille zu durchbrechen.

„Bis jetzt haben sie noch nichts entdecken können. Dein Pa hätte sich ansonsten bei uns gemeldet.“ Die Stimme ihrer Mutter verriet Lynn, dass sie zwischen Hoffen und Bangen hin und her gerissen war. Möglicherweise schenkte sie Lynn aber auch keinen Glauben. „Aber bei dem Aufgebot an freiwilligen Helfern wie deinem Pa ist es nur eine Frage der Zeit.“

„Sie war dort.“ Sie nahm den Tee entgegen und krampfte ihre Finger um die Tasse. Ihr Blick fiel auf Su, die sich in ihrem Körbchen zusammengerollt hatte. Seitdem sie zu Hause waren, rührte sich der Otter kaum. Sie hatte nicht einmal lautstark nach ihrem Abendessen verlangt. „Su benimmt sich auch merkwürdig. Ich bin mir sicher, dass sie das Mädchen ebenfalls bemerkt hat!“

„Gibt es keinen Zweifel daran, dass du eine …“ Ihre Mutter brach ab und räusperte sich. „Dass du sie gesehen hast?“

„Du meinst die Leiche?“ Lynn verzog trotzig das Gesicht. „Ja, ich habe ein totes Mädchen gesehen!“ Wut stieg in ihr auf. Hätte sie die Tote ans Ufer zerren sollen, damit man ihr glaubte? Bei diesem Gedanken lief Lynn ein Schauer über den Rücken.

Ihre Mutter knetete ihre Hände und starrte aus dem Fenster. „Egal wie, ich will nicht, dass du die nächsten Tage zum See gehst oder in die Stadt fährst. Vielleicht treibt sich hier in der Nähe ein Verbrecher herum. Ich habe vorhin mit Maries Vater telefoniert. Sie darf vorerst ebenfalls nicht aus dem Haus und ich bin mir sicher, bei Lia sieht es genauso aus. Schrecklich … ausgerechnet jetzt, wo die Ferien beginnen.“

Lynn nickte und nippte geistesabwesend an ihrem Tee. Er vermochte kaum etwas gegen die eisige Kälte auszurichten, die sich in ihr festgesetzt hatte.

„Du solltest schlafen. Morgen müssen wir zur Polizei nach Rheinsberg. Man möchte sich in Ruhe mit dir über die Leiche und die Sache unterhalten.“

Wahrscheinlich eine Psychologin, schoss es Lynn durch den Kopf. Sie kannte genug Filme, in denen Opfer und Zeugen entsprechend betreut wurden. Momentan hatte sie kein Bedürfnis, alles erneut zu erzählen. Ihr schwirrte der Kopf. Sie wusste nicht einmal, was ihr lieber war – ein Irrtum ihrerseits oder ein totes Mädchen?

Dennoch folgte sie der Aufforderung ihrer Mutter, zog sich aus und kroch ins Bett.

Als ihre Mutter das Zimmer verließ, war Lynn schon fast eingeschlafen. Sie hoffte, dass die Albträume sie diese Nacht verschonten. Oder würde der Geisterjunge bereits auf sie warten?

 

***

 

Dichter Nebel umgab sie. Sie konnte weder den Boden unter ihren Füßen noch die Umgebung erkennen. Dennoch wusste sie, wo sie sich befand.

Lynn rieb sich über die Oberarme. Ihr war kalt. Sie hasste diesen Ort. Normalerweise sollte der Geisterjunge längst da sein, doch bis auf die weiße Unendlichkeit gab es nichts. Plötzlich änderte sich die Umgebung. Wind trieb die Schwaden zusammen und formte sie zu einer schmalen Silhouette. Der kleine Körper nahm menschliche Züge an. Zu ihrem Entsetzen schälte sich das Mädchen aus dem Nebel, das sie erst vor wenigen Stunden im See gesehen hatte. Schwarzes langes Haar, teils von einem fadenscheinigen Häubchen bedeckt, verbarg ihr bleiches Gesicht.Das graue Hemd umspielte ihren zierlichen Körper, bewegt von einem leichten Windhauch. Als Lynn sich abwandte, um wegzulaufen, bemerkte sie, dass nicht nur das tote Mädchen aus dem Nichts aufgetaucht war. Weitere Geisterkinder umschwirrten sie, hatten sich unbemerkt aus dem Nebel geschält. Sie war umzingelt.

Mit rasendem Herzen schlug sie die Hände vors Gesicht. „Das ist nur ein Traum!“, redete sie sich ein. „Zwar anders als sonst, aber dennoch nur ein Traum.“

„Hilf uns.“

Lynn ließ die Hände sinken. Wie unter Zwang starrte sie das Mädchen an. Ihre Augen wirkten wie schwarze Perlen in dem schneeweißen, zierlichen Gesicht. Sie schwebte vor ihr in der Luft, als würde sie im Wasser treiben. „Nur du kannst uns befreien!“

Um ihre Worte zu bekräftigen, streckte sie ihre Hände aus. Lynn wich zurück, bis sie eine kühle Berührung im Nacken spürte. Zu Tode erschrocken wirbelte sie herum. Die anderen Kinder kamen näher, die Hände hilfesuchend erhoben. Sie alle ähnelten dem Mädchen, das gesprochen hatte – leichenblasse Haut, eingefallene Gesichtszüge, strähniges Haar.

„Geht weg“, flüsterte sie. Ihre Knie gaben nach und sie sank zu Boden. Was wollten die Kinder von ihr? Wie sollte sie ihnen helfen können? „Ich kann nichts für euch tun!“

„Nur du kannst uns retten“, wisperten sie und wiederholten ihr Flehen, das wie eine kaputte Schallplatte klang. Die eindringlichen Worte krochen in Lynns Kopf und nahmen jeglichen Raum ein. Dieser Traum war schlimmer als der mit dem blutenden Jungen. Vor dem konnte sie wenigstens davonlaufen. Jetzt umringten sie fast ein Dutzend Geisterkinder und machten eine Flucht unmöglich.

Sie wollte diesem Albtraum entfliehen, doch es gab keinen Weg an den Geistern vorbei. Zu dicht umringten sie Lynn. Und aus irgendeinem Grund schreckte sie nicht aus dem Albtraum, ganz gleich wie sehr sie es versuchte.

Als sich eine Hand des Geistermädchens auf ihre Wange legte, schrie sie in Todesangst auf. Im nächsten Moment starrte sie in unergründliche Augen, die bis in ihre Seele zu blicken schienen …

 

Kapitel 3 – Der Angriff des Schattens  

 

Der scharfe Schmerz von feinen Raubtierkrallen, die die Haut ihrer Oberarme aufrissen, weckte sie. Mit einem Stöhnen kam sie zu sich. Su hockte neben ihr und stupste sie nervös mit ihrer flachen Schnauze an.

Lynn betrachtete irritiert die leicht blutenden Kratzer. Im ersten Moment keimte Wut in ihr auf, dann besann sie sich und warf Su einen dankbaren Blick zu. Der Otter hatte sie aus dem Albtraum befreit und Lynn war erleichtert, den Geisterkindern entkommen zu sein.

Als Blut auf das weiße Laken tropfte, erhob sie sich schnell. Sie fand ein Taschentuch, drückte es auf die Wunde und ließ sich wieder auf ihr zerwühltes Bett sinken. Nachdenklich beobachtete sie den pastellfarbenen Morgenhimmel vor ihrem Fenster.

Was war nur geschehen? Wieso tauchten plötzlich weitere Kinder in ihren Träumen auf? Das Mädchen aus dem See war dabei gewesen – sie war sich sicher, obwohl sie nur einen kurzen Blick auf sie erhascht hatte. Was bedeutete das? Es wurde immer schlimmer – erst der Junge mit den fehlenden Fingern, dann diese Gruppe Geisterkinder. Sie musste endlich etwas unternehmen, wusste allerdings nicht, wo sie ansetzen sollte. Lag ein Fluch auf dem See? Gab es irgendwelche Legenden rund um den Stechlin, die ihr möglicherweise weiterhalfen?

„Was glaubst du, was sich hinter all dem verbirgt, Su?“, fragte Lynn und hob den Otter auf ihren Schoß. Mit zitternden Fingern fuhr sie durch das weiche Fell. Allmählich machte sich Ruhe in ihr breit, je länger sie Su kraulte. Diese Wirkung hatte der Otter meistens auf sie. „All das macht mir Angst.“

Sie schloss die Augen und gab sich ihren Gedanken hin. Heute standen ein Besuch bei der Polizei und das Gespräch mit einer Psychologin auf dem Programm. Ihre Anspannung stieg. Hatte man die Leiche in der vergangenen Nacht geborgen oder trieb sie immer noch im Wasser? Ein Schauder rieselte ihren Rücken hinab. Die dunklen Augen des Geistermädchens kamen ihr in den Sinn, gepaart mit den flehenden Worten.

Es brauchte Hilfe. Ihre Hilfe!

Lynn fühlte sich wie die Hauptperson einer Gruselgeschichte. Ein Teil von ihr war sogar neugierig und fragte sich, was als Nächstes passieren würde.

Sofort schüttelte sie den Kopf. An diesen schrecklichen Ereignissen gab es nichts Aufregendes. Eine Kinderleiche trieb im Stechlinsee! Ob es ein Verbrechen war oder nicht, sie musste mehr darüber herausfinden. Immerhin war ihr das tote Mädchen im Traum erschienen und hatte sie um Hilfe gebeten. War das nun den gestrigen Begebenheiten geschuldet oder hatte sie plötzlich die Fähigkeit bekommen, in ihren Träumen Geister zu sehen? So etwas passierte normalerweise nur in den Jugendthrillern oder Fantasybüchern, die sie las. Ein normales Mädchen bekam plötzlich besondere Fähigkeiten, um ein Verbrechen aufzuklären oder sich einem mächtigen Feind entgegenzustellen …

Wie gingen diese Heldinnen vor? Sie lüfteten zunächst die unzähligen Geheimnisse – also würde sie genauso vorgehen. Vielleicht fand sie in den Legenden und Sagen rund um den Stechlinsee Erklärungen für die Ereignisse, die ihr widerfuhren – die Geisterkinder, das Mädchen im Wasser und der unheimliche Schatten …

Allerdings würde sie all das nicht allein bewältigen können. Es war an der Zeit, ihre seltsamen Visionen mit jemandem zu teilen. Keine Heldin stellte sich gefährlichen Monstern allein entgegen. Sie brauchte jemanden, der sie bei der Suche nach der Wahrheit unterstützte. Und es gab nur eine Person, die ihr Glauben schenken würde.

„Ich rufe Marie an!“ Sie setzte Su aufs Bett und angelte ihr altes Handy aus der Tasche. Mit zitternden Fingern scrollte sie durch das Adressbuch und wählte die Nummer. Wie nicht anders zu erwarten, nahm Marie das Gespräch fast sofort entgegen.

„Lynn?“ Ein leises Rauschen erklang. „Schön, dass du dich meldest. Ich wollte dich gerade anrufen und mit dir über die gestrigen Vorfälle sprechen. Meine Eltern sind ausgerastet, als ich aus einem Polizeiauto gestiegen bin. Die nächsten Tage kannst du vergessen. Ich darf nicht einmal in die Nähe von Neuglobsow! Könnte ja ein Mädchenmörder rumlaufen, der nur auf mich wartet.“ Marie schnaubte so laut, dass es in der Leitung knackte. „Dabei müssten wir uns so dringend über alles unterhalten …“

„Ich weiß“, murmelte Lynn. Am liebsten wäre sie mit dem nächsten Bus nach Rheinsberg gefahren. Sie wollte mit ihr sprechen, ihr alle unheimlichen Einzelheiten direkt erzählen und sich mit ihr auf die Suche nach der Wahrheit machen. Anscheinend mussten sie sich vorerst mit Telefonanrufen begnügen. „Es gibt da etwas, das ich dir …“

„Die Leiche?“, unterbrach Marie sie mit zitternder Stimme.

„Nicht nur.“ Lynn zögerte. Sollte sie wirklich von ihren Träumen erzählen? Was, wenn Marie ihr keinen Glauben schenkte? Sie schob den unliebsamen Gedanken beiseite und fuhr fort: „Seit einiger Zeit geschehen seltsame Dinge.“

Marie schwieg einen Moment, dann fragte sie leise: „Was meinst du?“

„Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll … zum einen habe ich schreckliche Albträume, in denen mich entweder ein verstümmelter Geisterjunge oder ein Dutzend Geisterkinder verfolgt. Und jeder will etwas anderes von mir. Mal soll ich den Stechlin meiden, dann ihnen helfen – wobei auch immer.“ Lynn unterbrach sich, um Marie die Chance zu geben, etwas zu sagen, doch ihre Freundin schwieg. Sie entschied sich alles auszusprechen, was ihr auf der Seele brannte. „Außerdem fühle ich mich beobachtet, sobald ich das Haus verlasse. Als ich mit Su zum See bin … vielleicht bilde ich mir das nur ein, aber ich glaube, dass mich jemand verfolgt.“

„Lynn …“ Skepsis bestimmte Maries Stimme. „Du wirst doch nicht paranoid werden …“

„Ich bin nicht verrückt! Als Lia vor einigen Tagen mit den Jungs badete, sah ich einen riesigen Schatten im Wasser, der direkt auf sie zu schwamm. Und gestern trieb eine Leiche im See.“ Lynn atmete tief durch, um sich zu beruhigen, bevor sie in Hysterie ausbrach. „Das hängt miteinander zusammen – ich spüre es.“

„Bist du sicher, dass du dir das nicht nur einbildest? Einen Verfolger hätten Lia und ich ebenfalls bemerkt, denkst du nicht?“

„Meistens seid ihr nicht dabei! Einmal hab ich sogar einen Schatten gesehen.“ Lynn ballte die Hände zu Fäusten.

„Wann?“

„In der Gasse vor der Eisdiele.“

„Hast du nachgesehen?“

„Natürlich nicht. Wer würde das denn machen, wenn er sich verfolgt fühlt? Aber ich spüre, dass da jemand ist – ganz besonders, wenn ich am See bin.“ Lynn atmete tief durch und versuchte ihr wild schlagendes Herz zu beruhigen. „Die Träume, dieser Stalker, der Schatten im Wasser, die Leiche. Wenn ich das alles miteinander in Zusammenhang bringe …“ Sie ließ ihren Satz bewusst offen und wartete, ob Marie in dieselbe Richtung dachte.

„… bist du grad ein wenig überspannt?“

Lynn seufzte und raufte sich mit einer Hand das Haar. „Nein, dann hängt das alles mit dem Stechlin zusammen. Verstehst du nicht? In meinen Träumen geht es um den See, diesen riesigen Schatten und diese Leiche.“

Marie schwieg eine Weile und als sie antwortete, klang ihre Stimme ernster und gefasster. Endlich schien sie Lynn Glauben zu schenken. „Wenn du mich wirklich nicht anflunkerst, dann ist der See der Dreh- und Angelpunkt. Dann muss sich etwas hinter den Vorfällen verbergen. Vielleicht ein uraltes Rätsel oder ein mysteriöses Geheimnis. Wie in dem Roman, den ich dir neulich ausgeliehen habe.“

Lynn wiegte den Kopf, konnte sich aber nicht direkt an den Titel erinnern. Dafür tauschten sie untereinander zu viele Bücher.

„Erzähl mir erst mal alles, was passiert ist – der Reihe nach.“

Ohne zu zögern, berichtete Lynn von ihren Träumen, dem Schatten im See, der Gestalt in der Gasse und den vielen absonderlichen Ereignissen. Sie war erleichtert, dass sie sich all ihre Sorgen endlich von der Seele reden konnte. Insbesondere, da sie jemanden einweihte, der ihr helfen wollte.

 

Nach ihrem zweistündigen Telefonat beschlossen Marie und Lynn mehr Informationen über den See einzuholen und im Internet nach Morden zu suchen, die mit Lynns Träumen in Zusammenhang standen oder sich mit der Mädchenleiche deckten – vielleicht waren in den anderen Seen der Gegend ebenfalls tote Kinder gefunden worden. Auch der Schatten stand ganz oben auf ihrer Liste. Loch Ness barg immerhin auch solch ein Wesen, um das sich Sagen und Geschichten rankten. Möglicherweise umgab den Stechlin ein ähnliches Geheimnis – nur dass das nicht medienwirksam ausgeschlachtet worden war.

Marie versprach, passende Bücher in der Bibliothek zu suchen und sich zu melden, sobald sie mehr über den Stechlin und die zugehörigen Sagen und Legenden in Erfahrung gebracht hatte. Lynn wollte sich auf das Internet konzentrieren und alte Zeitungsberichte durchforsten, in denen es um verschwundene und ermordete Kinder ging.

Da ihr Laptop seit einer Weile Probleme hatte, sich ins Netz einzuwählen, blieb nur der alte Computer ihres Vaters. Er stand in seinem Arbeitszimmer im Erdgeschoss, das wie immer aussah, als hätte eine Bombe eingeschlagen – Papiere, Briefe und Rechnungen lagen kreuz und quer auf dem Schreibtisch, in der Mitte war ein Grundriss ausgerollt – ihr Vater war zwar kein richtiger Architekt, hatte sich jedoch genug Wissen angeeignet, um mit den riesigen Plänen etwas anfangen zu können. Er zeigte die oberste Etage, wenn Lynn sich nicht irrte.

Der alte Computer brauchte eine gefühlte Ewigkeit, um zu starten. Lynn betrachtete gelangweilt den blauen Balken, der sich in Zeitlupe bewegte, und lauschte auf Geräusche im Haus. Ihre Eltern schliefen zum Glück noch und Su plantschte in der Badewanne. Der Otter würde sich erst in einer Viertelstunde bemerkbar machen, wenn ihm langweilig wurde. Lynn sah zum Fenster hinüber. Es schien ein heißer, sonniger Tag zu werden, ideal um sich im Stechlin abzukühlen. Leider hatte die Polizei den See gesperrt, bis die Suche abgeschlossen war. Sie stand auf, als sie das leise Gebell von Hunden und gedämpfte Gespräche hörte. Eine Gruppe Polizisten lief die Straße hinunter, zwei Hunde mit sich führend. Ein breit gebauter Mann schüttelte den Kopf.

„Noch nichts …“, schnappte Lynn auf, als sie nur wenige Meter entfernt am Haus vorbeigingen.

„… Suche ausweiten … unter Wasser …“

„Taucher …“

Offenbar hatten sie trotz aller Anstrengung bisher keinerlei Spuren oder Anhaltspunkte gefunden. Hoffentlich fanden sie das arme Mädchen bald.

Lynn wollte zum Schreibtisch zurückgehen, als sie einmal mehr ein Prickeln auf der Haut wahrnahm. Ihre inneren Alarmglocken schrillten. Sie war sich sicher, dass der seltsame Beobachter sie fixiert hatte. Ohne sich zu bewegen, ließ sie den Blick wandern.

Da! Kaum zu erkennen, versteckt durch Büsche und Bäume des Grundstücks schräg gegenüber sah sie eine große, schlanke Silhouette. Auf die Entfernung war nicht auszumachen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, zumal die Person regungslos im Schatten stand.

Ein Kloß bildete sich in Lynns Hals. Sie schluckte trocken. Ob sie rufen sollte? Vielleicht trat ihr Verfolger ins Licht und sie konnte erkennen, wer es war. Doch damit würde sie ihre Eltern wecken und die Polizisten auf den Plan rufen, die noch in der Nähe waren.

Wobei … wäre das so verkehrt? Wäre das nicht das Logischste, was sie machen konnte?

Zum ersten Mal kam ihr in den Sinn, dass der Fremde, der ihr seit Wochen nachstellte, der Mörder des Mädchens sein könnte. Und dass er sie beobachtete, weil er sie als nächstes Opfer auserkoren hatte. Vielleicht bezogen sich die Warnungen des Geisterjungen auf diesen Fremden dort drüben und das Mädchen wollte Gerechtigkeit für ihren Tod.

Ihr wurde schlecht. Sie wollte nach den Beamten rufen, doch mehr als ein Krächzen kam ihr nicht über die Lippen. Sie war nicht einmal in der Lage einen Arm zu heben. Angst wallte in ihr auf, sorgte für ein flaues Gefühl im Magen und schnürte ihr die Brust zusammen. Sie schloss die Augen, um sich auf ihre Atmung zu konzentrieren. Nach und nach ebbte der Druck ab und die Starre fiel von ihr ab. Ihr Blick wanderte zum Garten hinüber.

Nichts. Der Fremde war verschwunden und mit ihm das Gefühl, beobachtet zu werden.

„Mist“, fluchte sie leise und suchte die Straße nach dem Mann oder der Frau ab. Wieso hatte sie nicht einfach nach den Polizisten gerufen? Sie hätten diesem Albtraum vielleicht jetzt schon ein Ende bereitet und vielleicht … mit etwas Glück hätten all diese unheimlichen Dinge aufgehört – die Träume, die Verfolgungen, der Schatten im See. Wobei Letzterer auch nur ein Trugbild gewesen sein konnte.

Lynn wandte sich endgültig ab und kehrte zum Schreibtisch zurück. Am liebsten hätte sie Marie angerufen, doch ihr Handy lag in ihrem Zimmer und ihre Freundin würde eh nicht sprechen können, wenn sie in der Bibliothek war.

Sie würde den Beamten später alles erzählen, wenn sie in Rheinsberg war, um bei der Polizei auszusagen. Lediglich über den Schatten und ihre Träume würde sie schweigen, denn sie bezweifelte, dass man ihr diesen Teil der Geschichte abnahm. Wahrscheinlich würde die Psychologin sie einweisen, wenn sie von Geisterkindern und Seeungeheuern berichtete. Die Reaktionen ihrer Eltern konnte sie sich bildlich vorstellen. Ihr Vater würde ihr vielleicht sogar Glauben schenken – als sie jünger war, waren sie zusammen auf Geisterjagd gegangen oder hatten sich am Ufer des Sees auf Schatzsuche gemacht – er war solchen Dingen gegenüber schon immer offener gewesen. Ihre Mutter wiederum würde durchdrehen und nach einem Weg suchen, sie von hier wegzuschaffen – insbesondere, wenn sie von dem Stalker erzählte. Sie würde Lynn die gesamten Ferien nach Thüringen zu ihrer Großmutter schicken.

Statt Sonne, Partys, Jungs und Mädels würde sie im Thüringer Wald hocken und ihrer Großmutter helfen müssen. Sie liebte ihre Oma – stets mit Zigarette im Mund und einem offenen Ohr für Lynns Probleme. Sie war anders als die biederen Eltern ihres Vaters – ungezwungen und frei. Doch so toll Marianne auch war, unter Sommerferien verstand sie doch etwas anderes.

Lynn kamen plötzlich Zweifel. Tat sie das Richtige, wenn sie der Polizei alles erzählte? Vielleicht irrte sie sich und es gab keinen Verfolger. Marie hatte selbst gesagt, dass ihr nie etwas aufgefallen war und auch sonst hatte niemand von einem Fremden berichtet. In einem Dorf wie Neuglobsow wäre er aufgefallen. Wahrscheinlich ging ihre Fantasie mit ihr durch oder ihre Träume vernebelten die Realität. Den Geisterjungen hatte sie sich schließlich auch bei der Zeugnisübergabe eingebildet, warum nicht auch den Fremden? Niemand hatte ihn bemerkt, selbst Su reagierte nicht. Ein unschöner Gedanke kam ihr in den Sinn: Was, wenn es nicht einmal die Leiche im See gab? Was, wenn die Polizei nichts finden würde? Dann wären ihre Aussagen zu dem Fremden und einem Monster im See in den Augen aller anderen eine Lüge.

Lynn schob die kreisenden Gedanken von sich. Sie würde abwarten, welche Fragen man ihr stellte und wie man sie während der Befragung behandelte. Wenn man ihr keinen Glauben schenkte, was die Leiche betraf, oder wenn man nichts gefunden hatte, würde sie den Rest verschweigen. Und selbst wenn es ihn gab – bei dem Polizeiaufgebot war es nur eine Frage der Zeit, bis er verschwand. Der Stalker wäre verrückt, wenn er ihr nachstellen würde, obwohl so viele Polizisten mit Hunden und freiwillige Helfer in der Gegend unterwegs waren. Und im schlimmsten Fall konnte sie sich verteidigen. Su konnte böse zubeißen, wenn sie sich gegen einen Angreifer wehrte, und Lynn hatte bis vor ein paar Jahren Jiu-Jitsu gelernt. Sie wusste, wie man Angriffe abwehren und einen Gegner zu Fall bringen konnte.

Sie ließ sich auf dem alten Bürostuhl nieder, um endlich mit ihrer Recherche zu beginnen.

Als Erstes nahm sie sich die Onlineportale der hiesigen Tageszeitungen vor und durchforstete die letzten Wochen nach vermissten Kindern, weiteren Todesopfern oder Hinweisen auf einen seltsamen Mann, der sich in der Gegend herumtrieb. Die Schlagwortsuche ergab nichts, weder bei den Lokalzeitungen noch bei den größeren Blättern. Auch im Radio hatte sie nichts gehört und die Dorfgespräche hatten sich in den letzten Wochen eher auf die Touristen konzentriert. Wäre ein Kind aus der Nachbarschaft verschwunden, hätte dies in einem Dorf wie Neuglobsow für reichlich Gesprächsstoff gesorgt. Letztes Jahr hatte sich eine Gruppe Viertklässler im Wald verlaufen – binnen weniger Stunden wussten es alle Anwohner, selbst ihr Vater, der zu diesem Zeitpunkt mit den Bauarbeiten der Veranda beschäftigt war.

Vielleicht kam das Mädchen im See gar nicht aus der Gegend. Was, wenn sie aus Berlin oder Hamburg kam? Allerdings war es unwahrscheinlich, dass ein Mörder solche Umstände auf sich nahm, sein Opfer hierher zu bringen, um es ausgerechnet während der Hauptsaison im Stechlin loszuwerden. Im Sommer besuchten Tausende den See. Einen ungeeigneteren Ort, um eine Leiche verschwinden zu lassen, gab es nicht.

Zum ersten Mal überlegte sie, ob sie sich nicht doch geirrt hatte. Hielt sie einen verrotteten Baumstamm für ein totes Mädchen? Die Sonnenstrahlen hatten sie auch unter Wasser geblendet und als sie auftauchte, war weit und breit nichts außer Wasser gewesen. Trieben Leichen überhaupt auf der Wasseroberfläche?

„Was für ein gruseliges Thema …“, murmelte sie und stand auf, um Su aus dem Bad zu lassen. Das fordernde Kratzen an der Tür gepaart mit dem bettelnden Fiepen nach Futter schallte schon eine Weile durchs Haus – ein Wunder, dass ihre Eltern von dem Lärm nicht aufwachten. Sie lief die Treppe hinauf, befreite den Otter und beseitigte das Chaos im Badezimmer.

Nachdem sie Su auf der Terrasse gefüttert hatte, setzte sich Lynn wieder an den Rechner und überlegte, wonach sie als Nächstes suchen sollte. Vielleicht nach Märchen und Sagen rund um den See? Laut ihrer Großmutter lag in jeder Legende ein Fünkchen Wahrheit. Sie las fast ein Dutzend Mal die bekannte Legende des roten Hahnes, dem Schutzpatron des Sees. Den Geschichten nach bestraft er gierige Fischer, die außerhalb der genehmigten Stellen angelten. Mit gewaltigen Flügeln und scharfen Krallen reißt er die Übeltäter in die Tiefen des Stechlinsees. Hatte sie vor einigen Tagen etwa den riesenhaften Hahn gesehen? War er wütend, weil ihre Freunde ausgelassen durchs Wasser tobten?

Lynn schüttelte den Kopf. Das war doch lächerlich! Es gab keine roten Monsterhähne, die mit ihrem donnerndem Krähen Menschen lähmen konnten.

Aus reiner Verzweiflung gab sie den Begriff Geisterkinder in die Suchmaske ein. Erneut fand sie keine Anhaltspunkte, die mit ihrem Problem zu tun hatten. Auf den ersten Seiten gab es neben seltsamer Werbung Hinweise auf Bücher und Filme; je weiter sie durch die Seiten scrollte, desto mehr Beiträge zu unheimlichen Ereignissen und unerklärlichen Phänomenen kamen hinzu.