Nachtschatten: Ungebrochen - Juliane Seidel - E-Book

Nachtschatten: Ungebrochen E-Book

Juliane Seidel

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Beschreibung

***NEUAUFLAGE DER REIHE "NACHTSCHATTEN"*** Jedes Wesen, gleich ob Mensch, Vampir, Sidhe oder Werwesen, besitzt einen Schutzengel. Die Jägerin Lily sucht nach ihrer Vergangenheit. Durch den Magier Damian erhält sie erste Antworten, ihr Schutzengel Adrian schweigt sich jedoch weiterhin aus. Im Hintergrund spinnt Lilys Gegner Rasmus mit Hilfe des Ordens Tenebrae Intrigen und manipuliert den hohen Rat, um die Jagd auf Lily und ihre Verbündeten zu verschärfen. Die Gruppe ist gezwungen unterzutauchen, um sich neu zu formieren. Als sie einen Verräter in den eigenen Reihen vermuten, droht das Team endgültig zu zerbrechen und Lily glaubt, dass es nicht schlimmer werden könnte. Doch dann gerät ihre große Liebe Silas in Gefangenschaft, ihre Erinnerungen kehren vollständig zurück, und sie muss feststellen, dass Adrian ein schrecklicheres Geheimnis hütet, als sie geahnt hat … Der zweite Band der Urban Fantasy Trilogie “Nachtschatten” enthält den Kurzroman “Fuchsgeister”, in dem japanische Geisterwesen lebendig werden.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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ImpressumCopyright © 2016 / 2024 Juliane Seidel Zietenring 1265195 Wiesbaden2. Auflage, [email protected]

Umschlaggestaltung: Marie GrasshoffInnenillustrationen: Tanja MeurerLektorat/Korrektorat: Brunhilde WitthautAlle Rechte vorbehalten. Inhalte, Illustrationen und Layout unterliegen dem Urheberrecht. Sie dürfen ohne meine Zustimmung weder für Handelszwecke oder zur Weitergabe kopiert, noch verändert und anderweitig verwendet werden.

Für Tanja

Du weißt warum

Prolog - Die Höhle

Der Boden, auf dem Lily lag, war kalt und hart. Erbarmungslos bohrten sich die Spitzen und Unebenheiten des felsigen Untergrundes in ihren Rücken, sorgten dafür, dass sich ihr kompletter Körper wie eine einzige Verspannung anfühlte. Feuchte Kälte kroch unter ihre verdreckte, zerrissene Kleidung. Sie schauderte. Mühsam hob sie den Kopf, ließ ihren Blick zu ihrem Lieblingsshirt wandern, das mit etlichen Blutspritzern übersät war. Wie waren sie dorthin gekommen? Hatte sie sich geschnitten?

Ein scharfer Schmerz raste durch ihre Schläfen. Nur mühsam unterdrückte sie einen Aufschrei. In ihrer Brust tobte ein Feuer, dessen Ursprung sie nicht kannte. Taubheit fuhr in ihre Glieder.

Lily sank zurück und schloss die Augen. Angestrengt überlegte sie, was geschehen und wie sie hierhergekommen war, doch ihre Erinnerungen waren wie ausradiert. Träumte sie vielleicht nur? Sie verwarf den Gedanken, als das Pochen in ihrem Schädel zunahm und leichte Übelkeit in ihr aufstieg.

Ihr müsst hier weg. Die leise, melodische Stimme vertrieb einen Teil der Schmerzen, obwohl sie sie nicht einordnen konnte. Dennoch versprach sie Frieden. Nicht einschlafen, Lily. Rose braucht deine Hilfe.

Dieser Name brachte etwas in ihr zum Klingen. Die Müdigkeit, die sie zurück in die Dunkelheit zu ziehen drohte, fiel von ihr ab. Mit geschlossenen Lidern sammelte sie ihre Kräfte und stemmte sich mühsam in eine sitzende Position. Ein seltsames Klirren erklang, als sie dabei ihre Hände bewegte. Sie erstarrte. Schwere Ketten lagen um ihre Handgelenke, ihre Beine waren auf dieselbe Weise gefesselt. Mit stockendem Atem zog sie an dem breiten Eisenband und dem Ring, der mit den Kettengliedern verbunden war. Nichts rührte sich. Die Kette war stark genug, um einem Elefanten zu trotzen.

Eiskalte Angst kroch in ihr Herz und brachte eine Welle von Panik mit sich. Tränen schossen ihr in die Augen. Obwohl sie wusste, dass es sinnlos war, zerrte sie an den Fesseln, bis sie ihr ins Fleisch schnitten. Sie ignorierte den Schmerz, der die Ausweglosigkeit unterstrich, in der sie sich befand.

Wo war sie?

Wer hatte sie gefesselt?

Wie war sie hierhergekommen?

Beruhige dich, Lily. Ich erkläre dir alles, wenn wir in Sicherheit sind.

Endlich erkannte Lily die beruhigende Stimme wieder, die ihre Panik vertrieb und einen Schutzpanzer um ihre Seele zu legen schien. Augenblicklich suchte sie die Umgebung nach ihrem Schutzengel ab. Ihre Angst drohte zurückzukommen, als sie ihn nirgendwo ausmachen konnte. Sie sah nichts außer steinigem Boden und einigen Fackeln, die an Halterungen in der Wand steckten. Das spärliche, diffuse Licht konnte die Dunkelheit kaum durchdringen. Langsam schälte sich mehr von ihrer Umgebung aus dem unwirklichen Zwielicht. Sie befand sich in einer Höhle, im Zentrum eines Bannkreises, der in einem weiten Bogen um sie herum gezogen war. Soweit sie es beurteilen konnte, war sie allein.

›Wo bist du?‹ Kaum hatte sie ihm mental diese Worte gesandt, entdeckte sie ihn auf der anderen Seite der Höhle, außerhalb des Bannkreises. Erleichterung durchströmte sie. Das sanfte Leuchten seiner Aura brachte ihr nervös schlagendes Herz zur Ruhe, wenngleich es seltsam war, dass er sich nicht an ihrer Seite befand. Er schien beim Schutzengel ihrer Schwester zu sein. Auf die Entfernung erkannte sie die strahlenden Flügel, die Roses Begleiter so besonders machten.

Rose? Wo war sie? War sie dort? Sie kniff die Augen zusammen und spähte zu der Gestalt, die reglos auf dem Boden lag. Ihr Herz zog sich zusammen, als ihre Vermutung schreckliche Gewissheit wurde.

»Rose!« Lily wollte aufspringen, doch ein Ruck ging durch ihren Körper und riss sie zurück. Der eiserne Ring grub sich tief in ihre Haut.

»Du bist wach, wie schön.« Die Worte klangen, als rollten sie über Sandpapier. Die kalte, krächzende Stimme kam ihr vage vertraut vor, doch sie war zu verwirrt, um sie einordnen zu können.

Lily zuckte zusammen, als sie die Person bemerkte, die scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht war. Die Flammen erhellten einen hageren Mann. Schatten huschten über sein kantiges Gesicht, in dem tiefliegende, unheilvoll funkelnde Augen glühten. Sein kurzes, graues Haar und die gebeugte Haltung ließen ihn wesentlich älter erscheinen, als er wahrscheinlich war. Ein falsches Lächeln umspielte seine Lippen. Es dauerte, bis sie in dem Mann den Ordensmeister erkannte, dem ihr Vater nur wenig Respekt und Achtung entgegenbrachte.

Rasmus, denkst du wirklich … Die zaghafte Stimme seines entstellten Schutzengels wirkte so zerbrechlich wie Glas. Sie schwebte neben dem Mann, eine dürre, kleine Gestalt, die sich kaum aufrecht halten konnte. Sie besaß keine Flügel mehr, ihr linkes Auge fehlte, wenngleich sie es mit ihren weißen Haarsträhnen zu verstecken versuchte. Dennoch konnte man das dunkle Loch sehen, das ihr Gesicht verunstaltete.

»Sei still«, fauchte der Mann seinen Schutzengel an und trat näher an den Bannkreis. Aus Lilys Perspektive war er groß und Furcht einflößend, wie der ultimative Bösewicht in den Sagen, die ihre Mutter ihr und Rose vor dem Schlafengehen vorgelesen hatte. Im flackernden Licht der Fackeln gerann er zu einer düsteren Monstrosität.

»Was willst du von mir?«, presste sie hervor und verfluchte sich für den weinerlichen Klang ihrer Stimme.

»Es tut mir leid, dass es ausgerechnet dich erwischt, Lily. Dein Vater und sein elender Vertrauter haben dein Schicksal besiegelt, als sie entschieden, dass du Magie erlernen sollst und Rose als normaler Mensch aufwächst.« Sein keckerndes Lachen klang, als würde er unter einem schlimmen Husten leiden. »Aber sei dir gewiss, dass du dein Leben etwas Großartigem opferst. Wie viele Zehnjährige können das schon von sich behaupten.«

»Elf«, rutschte es aus Lily heraus.

»Oh, verzeih. Natürlich elf.« Seine Augen blitzten auf. Er strich sich das Gewand glatt und richtete seinen Blick auf Rose, die noch immer ohne Bewusstsein war. Lily spürte die Sorge ihres Schutzengels, die ihrer eigenen in nichts nachstand.

Sie mussten hier verschwinden, solange Rasmus noch nichts unternommen hatte. Was auch immer der Ordensführer plante, sie wollte nicht Teil seines magischen Experimentes werden. Fieberhaft überlegte sie, doch einzig die Erinnerung an den Überfall kehrte zurück. Sie hatte gemeinsam mit Rose in der Küche über ihren Hausaufgaben gebrütet, während ihre Mutter das Essen vorbereitete. Ihr Vater war mit Damian von Rasmus zum Magierrat beordert worden, aus welchen Gründen auch immer. Vielleicht wollte er erfahren, welche Ergebnisse die beiden Männer aus ihren Forschungen vorzuweisen hatten. Lily wusste es nicht.

Schon als es an der Tür klingelte, hatte sie ein mulmiges Gefühl gehabt. Ihr Schutzengel war zusammengefahren und hatte sich mit gerunzelter Stirn aufgerichtet. Im nächsten Moment überschlugen sich die Ereignisse. Männer stürmten den Raum. Binnen eines Augenblickes rissen sie Lily und ihre Schwester von den Stühlen und fesselten sie. Roses Schrei erstarb, als man ihr einen Knebel in den Mund schob. Auch Lily wurde hart zu Boden gestoßen, doch sie wehrte sich verbissen gegen die Eindringlinge. Sie biss einem der Männer in die Hand, trat einem anderen mit aller Kraft gegen das Schienbein.

Zaubere, Lily!

Die Aufforderung ihres Schutzengels in den Ohren, murmelte sie die ersten Worte, als plötzlich ein heftiger Schmerz durch ihren Kopf raste. Sekunden später versank auch ihre Welt in Dunkelheit.

Als sich diese lichtete, hatte sich ihre Situation nicht wirklich verbessert – im Gegenteil. Rasmus‘ irrer Blick zeigte ihr, dass es noch viel schlimmer werden würde.

»Wollen wir beginnen, Lily?«

Kapitel 1 - Damian

Aufwachen, Lily.«

Jemand rüttelte sanft an ihrer Schulter und riss sie aus ihren Träumen. Für mehrere Sekunden wusste sie weder, wo sie sich befand, noch warum sie so schwer atmen konnte. Auf ihrer Brust musste ein Felsbrocken liegen oder die dicken Ketten, die sie in diesen Bannkreis fesselten und verhinderten, dass sie …

»Wie kann man in der Situation überhaupt schlafen?« Amüsement schwang in der Stimme mit, die sie erst im zweiten Anlauf der Werwölfin Hannah zuordnete. Die letzten zähen Traumfäden fielen von ihr ab und hinterließen ein befreiendes Gefühl.

Lily blinzelte. Mühsam orientierte sie sich. Sie saß auf dem Beifahrersitz eines Wagens, der soeben eine schmale Straße entlangholperte. Silas lag halb auf ihr, was erklärte, warum sie so nach Luft schnappen musste. Bei jedem Schlagloch presste seine Schulter ihr die Luft aus den Lungen und sein Beckenknochen bohrte sich unangenehm in ihren Oberschenkel. Im ersten Moment wollte sie ihn von sich stoßen, dann kam ihr in den Sinn, was geschehen war. Der Anruf. Aldwyns Anwesen. Die Falle, in die man sie gelockt hatte. Silas‘ Vater Tomas. Er hatte seinem Sohn so viel Energie geraubt, dass dieser noch immer nicht bei Bewusstsein war. Wenigstens war seine Ohnmacht in einen tiefen Schlaf übergegangen.

Seufzend umschlang sie Silas mit beiden Armen und versuchte in dem Sitz eine bequeme Position zu finden.

»Wenigstens sind wir gleich da«, murmelte Radu, der zusammen mit den anderen auf dem Rücksitz saß. Sein bleiches Gesicht spiegelte seinen Unmut deutlich wider. Eingequetscht wie eine Sardine hockte er zwischen Hannah und Cion, die nicht sonderlich glücklicher wirkten. Cions Begleiter Sorcha saß in Gestalt einer kleinen roten Katze auf seinem Schoß, Charon hatte sich in seiner wölfischen Form einen Platz zwischen den Beinen seines Schützlings Hannah gesucht. Adrian und die übrigen Schutzengel mussten außerhalb des Wagens sein, wahrscheinlich schwebten sie über ihnen.

»Ich kann mir auch Angenehmeres vorstellen«, sagte Hannah.

»Warum haben wir nicht einfach zwei Autos genommen?«, fragte Cion und versuchte eine bequemere Position zu finden.

»Euer Wagen steht noch beim Rat und meiner ist inzwischen zu bekannt, um ihn zu nutzen.« Damian warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel. »Blieb nur der Mietwagen von Silas.«

»Auf die restlichen Erklärungen bin ich wirklich gespannt.« Radus Kehle entwich ein leises Knurren.

»Bekommst du, Radu. Sobald wir da sind.«

»Und wo?«, mischte sich Lily ein, während sie Silas eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich.

»Das Weingut. Adrian hat mir davon erzählt. Ich denke, das ist für den Moment ein gutes Versteck. Zumindest lang genug, um zu überlegen, wie wir weiter vorgehen.«

Als endlich das Anwesen des Weingutes im Licht der gelben Scheinwerfer auftauchte und sie auf den gekiesten Stellplatz fuhren, atmete Lily auf. Das Hauptgebäude lag vollkommen dunkel da, die Vermieter schliefen wahrscheinlich schon. Sie würde morgen früh zu ihnen gehen und ihre Freunde anmelden. Ausreichend Platz war schließlich vorhanden und man würde sich gewiss darüber freuen, die Wohnung zum vollen Preis vermieten zu können.

Schweigend schälten sich Damian und ihre Freunde aus dem Wagen, während Lily warten musste, bis sich jemand um Silas kümmerte. Letztendlich trat Damian an die Beifahrertür und befreite Lily aus ihrer unbequemen Lage. So sehr sie Silas liebte, sie war froh, ihre Beine ausstrecken zu können. Mit kribbelnden Muskeln stieg sie aus und atmete tief durch.

»Wohin?«, fragte Damian, der Silas geschultert hatte und nachdenklich den Blick schweifen ließ.

»Dort oben«, flüsterte Lily und winkte ihn mit sich. Hannah, Cion und Radu folgten ihnen die Treppe hinauf. Nacheinander betraten sie den langen Flur der Wohnung. Während sich Lilys Freunde neugierig umsahen, lotste Felina Damian in den Raum, den sich Lily mit Silas teilte. Behutsam legte er den Magier auf dem breiten Bett ab, zog ihm die Schuhe aus und deckte ihn zu. Er nickte Felina zu, die an Silas‘ Seite Stellung bezog. Eleonore gesellte sich zu ihr und ein leises Gespräch entspann sich zwischen den beiden Schutzengeln.

»Lassen wir ihn schlafen. Felina wird sich um ihn kümmern und Eleonore behält ihn ebenfalls im Auge«, sagte Damian, als er zu Lily trat.

Obwohl alles in ihr danach schrie, an Silas’ Seite zu eilen, wusste sie, dass Damian recht hatte. Er brauchte Ruhe und Felinas Nähe. Außerdem war sie Radu, Hannah und Cion eine Erklärung schuldig, und auch Damian würde einiges zu erzählen haben. Sie musste sich sammeln und die Ereignisse bewerten: das Auftauchen von Silas‘ Vater, Damians Unterstützung und die seltsamen Visionen, die sie überrumpelt hatten. Ihre ganze Rettungsaktion war zwar erfolgreich gewesen, doch inzwischen türmten sich weitere Fragen in ihrem Kopf auf. Sie brauchte Antworten – und zwar dringend.

»Lily, alles okay?« Hannah stand im Türrahmen zum Wohnzimmer und musterte sie besorgt. Sie war ungewöhnlich blass um die Nase und ihre Augen wirkten stumpf. Von ihrer Fröhlichkeit und Stärke war nichts geblieben.

»Ja.« Lily streifte sich die Turnschuhe von den Füßen und wankte an Damian vorbei auf die Werwölfin zu. Adrian folgte ihr schweigend. Seit einer Weile war er ungewöhnlich still und nachdenklich, doch Lily verzichtete darauf, gedanklich nachzubohren. Zum einen hatte sie es ihm versprochen, zum anderen war ihre Sorge um Silas größer.

»Was ist das hier?«, wurden sie von Radu begrüßt, als sie den Raum betraten. Der Vampir saß in einem der Sessel und blätterte lustlos durch eine Akte. »Wo habt ihr das her?«

»Das weißt du doch«, murmelte Cion und ließ sich auf dem Sofa nieder. Sorcha sprang auf seinen Schoß und rollte sich zu einem schnurrenden Fellball zusammen. »Hannah hat uns doch von Lilys Aktion erzählt.«

»Ja, aber …«

»Ich denke, ab sofort übernehme ich die Erklärungen.« Damian zog sich einen Stuhl vom Esstisch heran und platzierte ihn vor dem Sofa. Er ließ den Blick über die Bücher, Mappen und Papiere schweifen, sagte jedoch nichts dazu. Stattdessen ließ er sich verkehrt herum auf dem Stuhl nieder. Seine Arme auf der Lehne überkreuzt, betrachtete er einen nach dem anderen. »Setzt euch. Das wird eine lange Erklärung.«

»Na endlich!« Radu legte die Mappe beiseite und schlug die Beine übereinander. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, als er den Magier musterte. Misstrauen und Abscheu standen ihm sichtlich ins Gesicht geschrieben.

Hannah und Lily nahmen neben Cion Platz, während sich ihre Begleiter am Fenster positionierten.

»Mein Name ist Damian und ich gehörte einst dem Magierorden Tenebrae an. Dort hatte ich die Position des Stellvertreters inne, bis ich verstoßen wurde und Silas‘ Vater Tomas dieses Amt übernahm. Letzteren habt ihr bereits kennengelernt – er ist nach dem Ordensmeister der mächtigste Magier und ein Gegner, den man nicht unterschätzen sollte.«

»Und du bist ungefährlicher als sie?«, unterbrach Radu ihn. Ein Knurren entrang sich seiner Kehle, ansonsten blieb er bemerkenswert ruhig.

»Mein Weg der Magie ist anders – friedlicher und harmloser. Außerdem kenne ich euch alle aus Alinas Erzählungen.« Aus seinem Mund klang das, als sei es ein unumstößlicher Beweis für seine guten Absichten.

»Alina?«, fragte Cionaodh überrascht.

Damian nickte. »Ich war eng mit ihr befreundet und stand seit Jahren mit ihr in Kontakt. Es tut mir sehr leid, dass sie auf diese schreckliche Art ihr Leben lassen musste. Ich hätte es verhindert, wenn ich in der Nähe gewesen wäre. So wusste ich zwar von Silas‘ Eintritt in den Rat und ahnte, dass er Lily überwachen sollte, doch er schien mir ungefährlich.« Sein Blick flackerte und er senkte den Kopf. Trotz der dunklen Haarsträhnen, die in sein Gesicht fielen, glaubte Lily Traurigkeit und Schmerz zu sehen.

»Er ist auch ungefährlich!«, fuhr Lily dazwischen. »Er hat mir alles erklärt. Zudem folgt er ebenfalls dem sanften Weg der Magie …«

Hannah legte ihr eine Hand auf die Schulter und zwang sie, ihren fragenden Blick zu erwidern. »Was genau meinst du damit? Und was ist überhaupt alles vorgefallen? Mit Ausnahme der wenigen Telefonate wissen wir nichts.«

Lily zögerte. In den letzten Tagen hatte sie eine Menge herausgefunden und erfahren. Es war an der Zeit, ihre Freunde einzuweihen. Automatisch sah sie zu Damian, der ihr auffordernd zunickte.

»Wo fang ich da am besten an?«, grübelte sie.

»Wie wäre es, wenn du uns erzählst, warum du mit Silas gegangen bist«, schlug Radu vor. Ein Schatten huschte über sein ebenmäßiges Gesicht. »Was hat dich dazu bewogen, ihn zu begleiten, nachdem er Alina getötet hat?«

Lily hatte das Gefühl, eine eiskalte Hand lege sich um ihr Herz. Trotz der sommerlichen Temperaturen, die selbst nachts kaum sanken, fröstelte sie. Hatte sie nicht Hannah während eines Telefonats deutlich gemacht, dass Silas nicht der Mörder ihrer Anführerin war? Oder hatte sie den anderen diesen Umstand verschwiegen? Sie schielte zu der Werwölfin, die an ihrer Unterlippe nagte. »Ich habe keine Ahnung, ob Hannah es euch erzählt hat oder nicht, aber Silas hat Alina nicht umgebracht. Der Magier Marek hat sie auf dem Gewissen.«

»Hannah hat uns davon erzählt.« Radu ballte die Fäuste und schnalzte mit der Zunge. »Aber du verzeihst, wenn ich dir in diesem Punkt nur bedingt Glauben schenke. Für mich ist dieser Magier für ihren Tod verantwortlich.«

»Ich war dabei«, warf Lily entrüstet ein. »Ich habe gesehen, was passiert ist. Silas hat mich beschützt, als Marek auf mich losgehen wollte. Er hat …«

»Ich weiß!«, unterbrach er sie barsch. »Mag sein, dass er der Retter in der Not für dich ist, aber genau deswegen stelle ich dein Urteilsvermögen in Frage.«

»Radu!«, zischte Hannah scharf.

»Was, Hannah? Sieh sie dir doch an! Sie ist vollkommen in ihn vernarrt. Ich rieche bis hierher, dass …« Er unterbrach sich mit einem fremdartig klingenden Fluch und schüttelte den Kopf. Sein Schutzengel neigte sich zu ihm und flüsterte ihm etwas zu. Etwas gefasster fuhr Radu fort: »Dabei hat er uns in die Irre geführt, damit er sich mit diesem Marek treffen kann. Nicht zu vergessen Lilys Entführung.« Mit den Fingern setzte er das letzte Wort in Gänsefüßchen, dann lehnte er sich verärgert zurück. »Mein Vertrauen hat dieser Mistkerl nicht. Er mag Alina nicht direkt angegriffen haben, aber er ist für ihren Tod verantwortlich.«

»Übertreib es nicht!«, mischte sich Cionaodh ein. »Du verhältst dich wie ein Kleinkind, dem das gewünschte Stück Kuchen verwehrt wird. Jeder von uns weiß, dass du Lily für dich haben willst. Jetzt, wo sie sich Silas geangelt hat, hast du für ihn natürlich kein gutes Wort mehr übrig.«

Radus Grollen wurde lauter. In seinen dunklen Augen blitzte etwas Gefährliches auf.

Er ist verwirrt und fühlt sich unverstanden. Adrian gab seinen Platz am Fenster auf und schwebte langsam näher. Einzig Florica, der zierliche Schutzengel des Vampirs, schien ihn davon abzuhalten, sich zu Radu zu gesellen. Sein Blick fing Lilys auf.

›Sein Ego verkraftet es nicht, dass ich ihn zurückgewiesen habe‹, sandte Lily stumm ihrem Begleiter, während sie besorgt beobachtete, wie sich ein Streit zwischen Hannah und Radu anbahnte.

Nicht nur. Ich gebe zu, Radu ist unheimlich von sich selbst überzeugt, aber was ihm am meisten zu schaffen macht, ist die Tatsache, dass du dich für einen Magier entschieden hast. Erinnere dich, was ihm einer von ihnen vor Jahrhunderten angetan hat.

›Aber ich bin selbst …‹

Arian schüttelte den Kopf. Das verwirrt ihn nur noch mehr. Er braucht Zeit, um sich mit der Situation zu arrangieren. Radu liebt dich, gleichzeitig verabscheut er jeden, der mit Hilfe eines Schutzengels zaubern kann.

›Woher willst du das wissen?‹

Ein trauriges Lächeln umspielte Adrians Lippen. Ich beobachte ihn schon so lange, dass ich in seinem Gesicht lesen kann wie in einem Buch. Unterdessen verstehe ich ihn fast so gut wie Florica es tut, auch wenn ich nur Bruchteile seiner Vergangenheit kenne. Sein Blick wanderte zu dem Vampir und eine tiefe Liebe spiegelte sich in seinen farblosen Augen wider. Er ist verletzt, also beißt er um sich.

Lily zweifelte nicht daran, dass Adrian recht hatte. Schon seit Monaten schmachtete er Radu an. Mehrere Male hatte er versucht, ihn Lily schmackhaft zu machen, doch sie empfand nicht mehr als Freundschaft für ihn. Auch wenn Adrian es nicht nachvollziehen konnte, so hatte sie ihr Herz doch an Silas verloren.

»Schluss jetzt!«, unterbrach Damian Hannah inmitten einer wütenden Schimpftirade. »Wir haben genug Probleme und können uns eine solche Uneinigkeit in der Gruppe nicht leisten. Ich verstehe, dass ihr unter Strom steht, aber wir haben uns den Rat und den Orden zum Feind gemacht.«

»Wer hat dich zum Anführer ernannt?« Radus Stimme glich einer einzigen Drohung.

»In gewisser Weise Alina. Wir haben vor einigen Jahren zusammengearbeitet und blieben auch in Kontakt, nachdem ich Wiesbaden verlassen musste. Sie bat mich darum, mich um euch zu kümmern, wenn ihr etwas zustoßen sollte.«

»Das glaube ich nicht!«

Noch bevor Damian etwas entgegnen konnte, mischte sich Lily wieder ins Gespräch. »Radu, hör bitte auf. Ich verstehe, dass du wütend bist, aber Streit bringt uns nicht weiter. Dafür ist die Situation wirklich zu brenzlig.«

Mit geschlossenen Augen atmete Radu mehrfach tief durch. Als er zu den anderen sah, wirkte er vollkommen ruhig. Lediglich seine Schultern blieben so angespannt, dass sich die Muskeln seiner Oberarme unter dem hellen Shirt abzeichneten. »In Ordnung. Aber eine Frage musst du mir noch beantworten, Lily. Warum hast du mit diesem Magier diese Scharade aufgeführt? Wir hätten euch unterstützt, wenn ihr uns eingeweiht hättet. Wir wären nicht mal zum Ratsgebäude gefahren, wenn du uns gegenüber ehrlich gewesen wärst.«

»Wegen dir«, erwiderte Lily ohne zu zögern. Sie sah keinen Sinn darin, Radu zu schonen. Wenn er Ehrlichkeit verlangte, würde er sie bekommen.

»Wie bitte?« Der Vampir sprang auf und fegte dabei einige Akten vom Tisch.

»Ich weiß besser als jeder andere, wie sehr du Magier hasst. Hättest du uns denn zugehört? Insbesondere nach Alinas Tod und dieser unmöglichen Situation im Wald. So zornig wie du warst, hättest du Silas niedergemäht, anstatt uns ausreden zu lassen.«

»Wo sie recht hat …«, gab Cion zu. Er streichelte unablässig Sorcha, wahrscheinlich, um sich selbst zu beruhigen.

»Es ist unglücklich gelaufen – das gebe ich zu«, fuhr Lily unbeirrt fort. »Aber jetzt sollten wir alle an einem Strang ziehen. Der Orden Tenebrae entwickelt sich zu einem Problem. Rasmus hat seinen Stellvertreter losgeschickt, um mich zu fangen. Man hat sogar euch festgesetzt, um das zu erreichen. Ich muss wissen, wieso.«

»Vielleicht kann ich diesbezüglich Licht ins Dunkel bringen«, schlug Damian vor. Sein Blick richtete sich auf einen Punkt hinter Lily und ein leichtes Lächeln huschte über seine Züge. Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er Adrian ansah. Es war ungewohnt, jemanden zu kennen, der ebenfalls über die Fähigkeit des Erkennens verfügte. Wie es ihm wohl damit ergangen war? Es musste einem Fluch gleichkommen, als Magier alle Schutzengel wahrzunehmen. »Die Hintergründe sind weitreichend und betreffen Lily und ihre Herkunft. Dass sie eine Magierin des Ordens Tenebrae war, sollte unterdessen jedem bewusst geworden sein.«

»Sorcha hat es uns erzählt«, sagte Cion leise. »Auch, wenn ich das noch immer nicht begreifen kann.«

Damian fixierte Lily mit einem Blick, den sie nicht deuten konnte. »Ich will nicht um den heißen Brei herumreden, daher die wichtigsten Informationen: Lily wurde am 24. August 1996 in den Ordenshöfen geboren. Ich bin ein guter Freund ihres Vaters gewesen und kenne sie daher von klein auf.« In seinen dunklen Augen glomm ein warmer Funke auf, als er Lily betrachtete. »Deine Familie starb im November 2007 bei einem Autounfall, den du als einzige überlebt hast. Seitdem leidest du unter Amnesie. Du erinnerst dich weder an deine Familie noch an deine Kindheit, am wenigsten an deine geliebte Zwillingsschwester Rose.«

Lilys Herz setzte einen Schlag lang aus. Eine Gänsehaut kroch über ihre Arme, während sie den Namen wiederholte und sich an den neuen und gleichzeitig altbekannten Klang gewöhnte. Eine Vision drängte sich mit aller Macht in ihre Erinnerung zurück und brachte dieselbe Unsicherheit und Angst mit sich, die sie vor wenigen Stunden in Aldwyns Garten ereilt hatte. Das Bild des blondgelockten, grinsenden Mädchens zuckte durch ihre Gedanken, begleitet von einem neckenden Lachen, das ihr das Herz schwer machte. Weitere Erinnerungen erwachten in ihr: gemeinsame Abenteuer und Entdeckungstouren durch das kleine Dörfchen inmitten der Wälder und Felder Mecklenburgs, lange Busfahrten mit den anderen Kindern des Ortes zur Schule und die täglichen Hausaufgaben, die sie immer zusammen mit Rose erledigt hatte.

Der düstere Alptraum, in dem sie Rasmus in der Dunkelheit eines alten Gewölbes ausgeliefert war, flammte in ihr auf. Ein Schauder kroch ihr eiskalt den Rücken hinunter. Sie wusste nicht, was diese Vision für sie bedeutete. War es ein Einblick in ihre Vergangenheit gewesen oder schlicht ein Alptraum, der sich von ihren Ängsten nährte?

»Lily hat eine Zwillingsschwester?«, brach Hannah die Stille.

»Hatte«, korrigierte Damian mit schwerer Stimme und fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. »Sie starb bei dem Autounfall vor sieben Jahren.«

»Was ist damals passiert?«, fragte Lily. Ihre Hand zitterte, als sie mechanisch nach den Akten griff, die Radu vom Tisch geworfen hatte. Sie wusste nicht, ob sie Trauer, Wut oder Neugier empfinden sollte. Es fühlte sich unwirklich an, plötzlich eine Schwester zu haben. Zeitgleich schämte sie sich dafür, Rose vergessen zu haben, obwohl sie Zwillinge waren. Sagte man ihnen nicht nach, eine besondere Verbindung zueinander zu haben? »War es überhaupt ein Unfall?«

Damian nickte. »Dein Vater kam bei Nebel von der Straße ab und kollidierte mit einem Baum. Von der Polizei erfuhr ich, dass er und deine Mutter sofort tot waren, deine Schwester …« Er stockte und sah zu Adrian, der sich kaum gerührt hatte. »… ebenfalls. Du bist die einzige, die diese Tragödie überlebt hat.«

»Das ist doch nicht alles, oder?« Lily klammerte sich an das unbestimmbare Gefühl in ihrer Brust. Es schnürte ihr zwar die Luft ab, doch sie musste mehr wissen, alles erfahren.

»Nein. Es gibt einen Grund, weswegen dein Vater zu so später Stunde unterwegs war und so unvorsichtig gefahren ist. Er ist mit seiner Familie aus dem Orden Tenebrae geflohen … und ich habe ihm dazu verholfen.«

Niemand wagte es, ihn zum Weitersprechen zu animieren, als er verstummte. Damian vergrub den Kopf in den Händen. Lily sah ihm deutlich an, wie schwer es ihm fiel, die damaligen Ereignisse zu schildern.

»Ich wollte später zu euch stoßen, doch …« Er geriet ins Stocken und atmete tief durch. »… es war zu spät. Als ich bei unserem vereinbarten Treffpunkt ankam und ihr nicht da wart, habe ich alles unternommen, um euch zu finden. Erst zwei Tage nach dem Unfall, habe ich erfahren, was passiert ist. Hätte ich auch nur geahnt, dass es soweit kommt, hätte ich deinen Vater davon abgehalten, den Orden so … plötzlich zu verlassen. Doch nach all den Vorkommnissen hielten wir beide es für besser …«

»Welche Vorkommnisse?«, hakte Hannah nach.

»Finn und ich haben uns mit Rasmus angelegt. Wir haben uns nie sonderlich gut mit ihm verstanden, aber nachdem er kurz vor der Jahrtausendwende zum Oberhaupt des Ordens aufstieg, kam es immer häufiger zu Reibereien. Dass ich damals zu seinem Stellvertreter gewählt wurde, kam für ihn einer Katastrophe gleich. Er ist sehr konservativ, hält an alten Regeln und Gebräuchen fest. Im Gegenzug dazu haben Finn und ich den sanften Weg der Magie begründet.«

»Davon habt ihr vorhin schon gesprochen, diesen Begriff aber nicht erklärt. Was bedeutet das?« Die Werwölfin sah zwischen Damian und ihr hin und her.

»Für Rasmus sind Schutzengel Energielieferanten. Er benötigt sie zum Zaubern und nutzt ihre Macht kompromisslos für seine Zwecke. Die meisten Magier machen das, wenngleich sich viele davor scheuen, sich an Experimenten zu versuchen.« Er hob die Hand, als Radu etwas einwerfen wollte, und fixierte Lily. »Ich habe dieselben Fähigkeiten wie Lily. Ich bin in der Lage, alle Schutzengel zu sehen, die mich umgeben, und kann mich mit ihnen verständigen.«

»Das muss schrecklich sein«, murmelte Lily und zog damit die überraschten Blicke ihrer Freunde auf sich. Natürlich konnten sie nicht verstehen, warum diese Fähigkeit sowohl Segen als auch Fluch sein konnte. Allein bei der Vorstellung, die vielen verstümmelten Schutzengel der anderen Magier zu sehen, wurde ihr flau im Magen. Zum ersten Mal war sie froh, unter Amnesie zu leiden. So erinnerte sie sich wenigstens nicht an die entstellten Schutzengel, die sie als Kind gesehen haben musste.

»Ist es«, stimmte Damian zu. »Mein Leben lang habe ich das Leid der Schutzengel um mich herum wahrgenommen. Für einen Magier gibt es keine schlimmere Fähigkeit.«

»Was hast du dagegen gemacht?«, fragte Cion neugierig.

»Schon Mitte der 80er Jahre, kurz nach meinen Magieprüfungen, habe ich nach einem Weg gesucht, das Leiden meines Begleiters zu mindern. Finn hat sich mir sofort angeschlossen, als ich ihm von meinen Plänen erzählte. Gemeinsam beschlossen wir, keine Magie mehr zu wirken, die unseren Schutzengeln schadeten, sondern strebten eine Koexistenz mit ihnen an, in der sie uns ihre Macht freiwillig zur Verfügung stellten. Im Laufe der Zeit entwickelten wir etliche Zauber, die unseren Schutzengeln nur begrenzt Schaden zufügten, und gewannen so ihr Vertrauen.

Nachdem wir unsere Forschungsergebnisse innerhalb des Ordens publik gemacht hatten, schlossen sich viele Gleichgesinnte diesem sanften Weg an. Der damalige Ordensmeister stand der Entwicklung zwar skeptisch gegenüber, zeigte jedoch reges Interesse an einem Teil unserer unseligen Forschungen, die die ganze Katastrophe erst losgetreten haben.«

Lily runzelte die Stirn. »Was meinst du?«

Damian verzog die Lippen zu einem fast spöttischen Lächeln. »Wir haben nach Möglichkeiten gesucht, unsere Schutzengel zu heilen.«

Damians Antwort sorgte für atemlose Stille. Niemand wagte es, sich zu dieser Eröffnung zu äußern oder weitere Fragen zu stellen.

Lily betrachtete stumm die Gesichter ihrer Freunde: Radu schüttelte fassungslos den Kopf, Hannah nagte unschlüssig an ihrer Unterlippe und Cion hatte die Stirn in Falten gelegt. Seltsamerweise wirkten ihre Schutzengel nicht erleichtert oder neugierig. Lily hätte schwören können, dass sie solche Forschungen positiv aufnehmen würden, doch das Gegenteil schien der Fall zu sein. Charons goldene Augen funkelten, während er Hannah eine seiner breiten Hände auf die Schulter legte, Sorchas Nackenfell war so gesträubt, dass nicht einmal Cions leise Worte die rotgetigerte Katze beruhigten, und Florica schien geistig auf ihren Schützling einzureden.

Auch wenn der Plan der beiden edel war, so ist es doch Magie, die Schaden zufügt. Selbst um zu heilen, muss man einem fremden Schutzengel Seelenenergie entziehen und dem eigenen zukommen lassen, erklärte Adrian, der ihre Verwirrung mitbekommen hatte. Es verringert das Leid nicht – im Gegenteil.

›Verstehe … hast du …?‹ Ein kurzer Blick zu Adrian gab ihr bereits die Antwort auf ihre Frage – er hatte von den Forschungen ihres Vaters gewusst.

Als die Stimmung zu kippen drohte, fuhr Damian schließlich fort: »Leider hatten wir keinen Erfolg, da sich Seelenenergie nicht ersetzen lässt. Man kann zwar mit den Kräften eines anderen Schutzengels zaubern, aber diese seinem Begleiter zuführen, um ihn zu heilen …?« Er schüttelte den Kopf. »Nur beim Tod des Schützlings ist ein Schutzengel in der Lage, sich zu regenerieren.«

»Von der Tatsache abgesehen, dass man mit diesem Konzept anderen Begleitern schadet …«, murmelte Hannah.

»Das mag spannend sein, doch wir kommen vom Thema ab! Warum jagt dieser verfluchte Orden Lily?«, fragte Radu barsch. In einer hilflosen Geste ballte er die Fäuste, sein zorniger Blick richtete sich auf Damian. »Verdammt, sogar der Rat unterstützt sie dabei. Aldwyn hat uns eingesperrt, damit sie Lily diesem Mistkerl ausliefern können.«

»Bist du dir da sicher?«, murmelte Cionaodh. »Ich würde den Rat jetzt nicht automatisch als Gegner abstempeln. Wenn ich ehrlich bin, denke ich nicht, dass Aldwyn aus freien Stücken gehandelt hat. Für mich sah es eher so aus, als stünde er unter Kontrolle.«

Ein Stahlband schien sich um ihre Brust zu legen. Sie erinnerte sich an die maskenhaften Gesichter der Ratsmitglieder und Aldwyns Regungslosigkeit, als die Schlacht in seinem geliebten Garten tobte. Zudem waren die Schutzengel der mächtigen Männer und Frauen nicht in ihrer Nähe und …

Er hat recht. Adrian schenkte ihr einen auffordernden Blick. Erinnere dich an die Sache mit den Werwölfen – sie wurden kontrolliert.

›Aber das war doch Marek.‹

Und was beweist das? Er ist doch nicht der einzige Magier, der über solche Fähigkeiten verfügt. Was, wenn da noch jemand war …?

Lily runzelte die Stirn. So plausibel es klang, es dürfte kaum möglich sein. Die Ratsmitglieder waren alt und mächtig – allein einen von ihnen dauerhaft zu kontrollieren, war wahrscheinlich kaum zu bewerkstelligen, geschweige denn alle vier gleichzeitig. ›Kein Magier würde das hinbekommen.‹

Ich hoffe, du behältst recht, aber mein Gefühl sagt mir, dass da nicht nur Tomas war.

Während Lily im Stillen mit Adrian gesprochen hatte, schienen auch die anderen über Cions Vermutung diskutiert zu haben – mit demselben Ergebnis. Dennoch sträubte sich Cion sichtlich gegen den Gedanken, dass Aldwyn sie aus freien Stücken verraten hatte.

»Kommen wir zu meiner ursprünglichen Frage zurück«, bog Radu das Thema schließlich ab. »Wieso wird Lily gejagt?«

Damians dunkle Augen wanderten zu Lily. Für einen Moment flackerte Unsicherheit in ihnen, doch der Magier fing sich bemerkenswert schnell. »Weil Rasmus an Lilys besonderer Begabung interessiert ist.«

»Was meinst du?«

»Du hast keine Ahnung, welch hohen Stellenwert ein Magier hat, der die Fähigkeit des Erkennens besitzt. Für einen Orden ist er schier unersetzlich.«

»Aber du bist doch mit derselben Fähigkeit geschlagen …«, setzte Lily an.

»Deswegen wurde ich ja auch trotz meiner neuen Denkansätze zum Stellvertreter gewählt. Aber gleich zwei Magier mit dieser Fähigkeit im Orden sind …« Er machte eine weit ausholende Handbewegung und schüttelte den Kopf. »… wie ein Geschenk des Himmels. Eine solche Macht würde jeder Orden unter allen Umständen halten und für sich nutzen wollen. Die Möglichkeit zu erkennen, wann ein Schutzengel zu viel Energie verloren hat und Ruhe braucht, ist unersetzbar. Auch Magier wissen, dass es unklug ist, sich bei der Ausübung von Zaubern selbst zu schaden. Die Tatsache, dass man einen Gegner viel besser angreifen kann, wenn man weiß, womit man es zu tun hat, ist ein weiterer Pluspunkt. Denn all die Magie hilft ihnen nicht dabei, herauszufinden, ob der Gegner ein Mensch, Vampir oder Werwesen ist. Das erfährt man normalerweise erst, wenn sie sich verwandeln, es sei denn, man hat jemanden wie Lily oder mich bei sich.«

Allmählich begann Lily zu begreifen. »Jagt er mich deswegen, weil du verbannt wurdest und der Orden dadurch einen Magier einbüßte, der diese Fähigkeit besitzt?«

Ein freudloses Lächeln huschte über Damians Lippen und er hob die Schultern. »Nicht ganz. Ich wurde kurz nach dem tödlichen Unfall deiner Familie verbannt, Rasmus begann erst vor knapp zwei Jahren, dich ins Visier zu nehmen. Daher schickte er Silas, um dich zu überwachen.«

Radu knurrte verärgert, doch er ersparte sich jeden weiteren Kommentar. Er verschränkte die Arme vor der Brust und starrte finster Richtung Flur.

»Warum erst so spät? Wieso ist er nicht hier aufgetaucht, als Lily noch ein Kind war?« Zwischen Hannahs Augenbrauen bildete sich eine steile Falte. »Wenn ich mich nicht irre, hat Rasmus fünf Jahre gewartet … das ergibt keinen Sinn.«

Lily konnte ihre Skepsis nachvollziehen. Warum sollte dieser Mann so lange warten? Wäre es nicht besser gewesen, Lily gleich zurückzuholen? Wenn Menschen wie Damian und sie so selten waren, warum hatte der Ordensmeister sie mit Alina ziehen lassen?

»Weil ich Rasmus nie erzählt habe, dass Lily den Autounfall überlebt hat. Er hätte alles daran gesetzt, sie in seine Finger zu bekommen, aber wenn er sie tot wähnte … Ich wusste, er würde sich nicht um die Aufklärung des Unfalls kümmern, wenn er mich stattdessen festsetzen konnte. Immerhin hat er nur auf eine passende Gelegenheit gewartet, um mich anzuklagen und aus dem Orden zu verbannen – ganz gleich, welche Fähigkeiten in mir schlummerten.«

»Das muss doch Selbstmord gewesen sein«, murmelte Hannah.

Wie recht sie hat, sagte Eleonore leise.

»War es in gewisser Weise auch.« Damian erhob sich und trat zum Fenster. Wind fuhr ihm durch das lange Haar und verbarg einen Teil seines Gesichtes. Ohne sich von dem Gespräch ablenken zu lassen, gab er Eleonore einen Wink. Der entstellte Schutzengel schwebte durch die Wand nach draußen – wahrscheinlich, um die nähere Umgebung nach Verfolgern oder fremden Schutzengeln abzusuchen. Kaum war sie verschwunden, fuhr er fort: »Die folgende Woche war nichts, worauf ich gern zurückblicke, aber es war der einzige Weg, Lily aus der Schussbahn zu bekommen. Während sich Rasmus auf mich und meinen Prozess konzentrierte, konnte Aldwyn sie in Sicherheit bringen und die Spuren verwischen.«

»Aldwyn?« Cionaodhs Stimme überschlug sich.

»Aber woher wusste er von Lily?«, fragte Radu.

»Ich habe ihn kontaktiert«, erwiderte Damian. »Nach Finns Unfall und einem kurzen Besuch im Krankenhaus habe ich mich auf die Suche nach einem Rat gemacht, der möglichst weit vom Hauptsitz des Ordens entfernt ist. Unser Dorf liegt nördlich von Berlin und ich wollte zwischen Lily und Rasmus so viele Kilometer wie möglich bringen. Wiesbaden erschien mir weit genug entfernt. Ich berichtete dem dortigen Ratsoberhaupt von dir und deinen Fähigkeiten und gab ihm einen groben Überblick über die Ereignisse. Er sicherte mir seine Unterstützung zu und versprach, sich um alles Notwendige zu kümmern. Immerhin war jemand mit Lilys Fähigkeiten auch für einen Jägerrat von Interesse. Erst als das geklärt war, ging ich zurück in den Orden und stellte mich Rasmus und den anderen Magiern. Es gipfelte in meiner Verbannung, doch sie glaubten mir wenigstens, dass Lily tot sei.«

Lily schluckte den bitteren Geschmack hinunter, der sich in ihrem Mund ausgebreitet hatte. Ihre Gedanken überschlugen sich und eine Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Sie atmete tief durch, bevor sie ihre Frage in Worte packte: »Und Alina? Ich dachte, sie … ist meine Patentante.«

Damian schüttelte den Kopf. »Der Rat hat sie ins Krankenhaus nach Berlin geschickt und sich um den leidigen Papierkram gekümmert. Anschließend wurdest du in ihre Obhut gegeben. In Wirklichkeit war sie nie deine Patentante.«

Lily sackte in sich zusammen. Sie hatte es geahnt. Alina, die kaum etwas über ihre Eltern hatte erzählen können, die ihren Fragen seit jeher auswich und sie mit seltsamen Ausflüchten und Entschuldigungen abspeiste. Jetzt machte all das Sinn: Alina hatte ihre Familie nie gekannt.

»Es tut mir leid, Lily.«

»Noch mehr Lügen …«, murmelte sie. Unwillkürlich sah sie zu Adrian. Wie viel wusste er über diese Ereignisse? Hatte Damian ihn womöglich eingeweiht?

»Es war eine extreme Situation und es musste schnell gehen. Selbst heute bin ich mir nicht sicher, ob ich mich für den richtigen Weg entschieden habe, aber wenigstens warst du die letzten Jahre in Sicherheit. Mit dem hier ansässigen Rat blieb ich in losem Kontakt und informierte mich immer wieder über dein Befinden.«

»Und wie hat Rasmus herausgefunden, dass Lily noch lebt?« Radus Miene war unergründlich. In seinen Augen standen Zorn und unterdrückter Hass. Seine Kiefer mahlten.

»Das weiß ich nicht. Ich habe irgendwann zufällig einen von Rasmus‘ Spionen in der Nähe von Aldwyns Palast entdeckt.« Sein Lachen klang bitter. »Das war der ausschlaggebende Grund, dem hiesigen Rat vorerst kein Vertrauen mehr entgegen zu bringen. Stattdessen habe ich mich an Alina gewandt und ihr alles über Lily erzählt. Sie war sofort bereit, mir zu helfen. Wir begannen, Nachforschungen anzustellen, um herauszufinden, warum sich Rasmus‘ Spione hier herumtreiben, doch unsere Suche blieb erfolglos. Alinas Nachfragen beim Rat brachten keine Antworten und ich war gezwungen, unterzutauchen, nachdem mich Rasmus‘ Leute entdeckten. Ich hinterließ Alina meine gesamten Aufzeichnungen und einen Brief, in dem ich ihr meine Gründe erklärte. Ich wollte wiederkommen, wenn Gras über die Sachen gewachsen war, doch als Silas einen Platz im Rat bekam, war mir klar, dass ich kaum noch Möglichkeiten hatte, mich hier frei zu bewegen. Rasmus hat sich inzwischen gut positioniert, um problemlos reagieren zu können, wenn ich wieder auftauche. Deswegen hielt ich mich bisher im Hintergrund – um Lily und Alina nicht zusätzlich in Gefahr zu bringen.« Er seufzte. »Viel gebracht hat es leider nicht …«

»Jemand muss uns alle verraten haben«, zischte Radu, als Damian geendet hatte.

»Es muss Aldwyn gewesen sein«, schloss Hannah aus Damians Bericht. »Eine andere Möglichkeit …«

»Blödsinn! Das würde er niemals tun«, unterbrach Cionaodh sie barsch. Mit einem Schnauben sprang er auf und baute sich vor Hannah auf. Sorcha fauchte aufgebracht. »Ich kenne Aldwyn besser als jeder von euch.«

»Beruhige dich, Cion«, lenkte Hannah sofort ein. Ihre Stimme nahm einen sanften Ton an, der sich kaum mit ihrer wilden Natur in Einklang bringen ließ. »Vielleicht war es auch jemand anderes – Adora?«

Radu zischte einen unverständlichen Fluch, ließ sich jedoch nicht zu einer Antwort reizen. Dennoch knirschte er mit den Zähnen, ein sicheres Zeichen dafür, dass er kurz davor war, die Beherrschung zu verlieren. Inzwischen musste ihm davon sogar der Kiefer schmerzen.

»Haltlose Verdächtigungen bringen uns aktuell nicht weiter«, versuchte Lily den sich anbahnenden Streit zu unterbinden. »Wir kennen nur Damians Seite und auch er kann teilweise nur Vermutungen anstellen. Bevor wir das Gespräch fortführen, brauchen wir weitere Informationen und Beweise über die Machenschaften des Rats und des Ordens.«

Aber es würde beweisen, dass Aldwyn und Rasmus schon damals kooperierten. Diesen Umstand sollten wir nicht aus den Augen lassen – sicher, sie könnten kontrolliert werden, aber genauso gut könnten sie seit Jahren zusammenarbeiten.

›Hast du nicht eben noch versucht, mich davon zu überzeugen, dass da noch jemand war, Adrian?‹, hakte Lily mental bei ihrem Schutzengel nach.

Schon, aber es wäre dumm, sich bereits festzulegen und die Informationen der Theorie anzupassen, die man sich aufgebaut hat. Wir wissen zu wenig, um uns sicher sein zu können, dass sie kontrolliert wurden. Genauso gut kann der Fremde der Spion sein, der uns im Namen des Rates verraten hat, stellte Adrian klar.

›Du hast recht – das müssen wir also demnächst klären. Und ich will herausfinden, was damals wirklich passiert ist‹, fügte sie hinzu. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass Damian ihr etwas Wichtiges verschwieg, wenngleich seine Erläuterungen schlüssig klangen.

Zweifle nicht an ihm, Lily, murmelte Adrian, der ihre Gedankengänge mitbekommen hatte. Er würde dich nie belügen. Ich weiß es.

›Mag sein, aber mein Bauchgefühl sagt mir, dass da trotzdem noch etwas ist. Er sagt mir nicht alles!‹

»Was schlägst du vor, Lily?«, riss Hannah sie aus ihrem stillen Gespräch mit Adrian. Die Werwölfin gähnte hinter vorgehaltener Hand und schüttelte sich. Weder Cionaodh noch Radu sahen nennenswert besser aus. Die Ereignisse in Aldwyns Palast forderten ihren Tribut.

»Gehen wir schlafen. Es ist weit nach Mitternacht und bevor wir weitere Pläne schmieden, sollten wir halbwegs wach sein.« Dass sie Zeit brauchte, um das Erfahrene zu verarbeiten, verschwieg sie lieber.

»Eine gute Idee«, stimmte Damian zu und schloss das Fenster. »Morgen ist gewiss auch Silas wieder auf den Beinen und kann uns ein wenig mehr über den Orden und Rasmus‘ Beweggründe sagen.«

Kapitel 2 - Eifersucht und Flucht

Milchig weißes Licht umgab Lily, als sie die Augen aufschlug. Dunstiger Nebel hüllte die Welt in ein farbloses Nichts. Im ersten Moment hatte sie das Gefühl, erblindet zu sein, dann tauchten dunkle Silhouetten auf, die sich als verwachsene Bäume entpuppten. Der Mond schimmerte zwischen den Ästen hindurch und allmählich zogen sich die Nebelschwaden zurück, verblassten im fahlen Licht.

Als Lily sich weiter umblickte, wurde ihr bewusst, dass sie ein gutes Stück über dem Boden schwebte. War sie tot? So entsetzlich der Gedanke im ersten Moment war, außer einer gewissen Gleichgültigkeit wallten keine weiteren Gefühle in ihr auf. Sollte sie nicht panisch und hysterisch reagieren? Sie horchte in sich hinein, doch ihr Herz schien verstummt. Möglicherweise stumpfte der Tod alle Gefühle ab und ließ einen in einem gleichgültigen Dämmerzustand zurück. Und was kam danach? Sollte nicht …

Aufgeregte Rufe und Schreie wallten zu ihr hinauf, zwangen sie dazu, den Blick nach unten zu richten. Eine bizarre, schreckliche Szenerie breitete sich unter ihren nackten Füßen aus.

Blaues Licht flackerte über dem zerbeulten Wrack eines Autos. Der Kotflügel war vollkommen zerquetscht, gespalten von einer massiven Eiche, deren Stamm stark beschädigt war. Blechteile und Glassplitter lagen überall auf der Wiese verstreut. Ein kleiner Fleck auf dem Boden brannte, vermutlich Benzin. Menschen schwärmten um das Wrack herum, bahnten sich einen Weg durch die Überreste, um nach Überlebenden zu suchen.

Plötzlich glommen kurze Erinnerungsfetzen in ihrem Unterbewusstsein auf. Ein mechanisches Klicken, flüsternde Stimmen und ein unmenschlicher Schrei. Eine silbrig schimmernde Gestalt hatte sich über sie geneigt, ihr einen federleichten Kuss auf die Stirn gegeben und sich, mit einem Lächeln auf den Lippen, aufgelöst. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte Lily das vertraute Gesicht erkannt, doch sie war nicht in der Lage gewesen, das Bild festzuhalten. Es war ihr entglitten und hatte einen brennenden Schmerz und die tiefe Trauer des Verlustes in ihrem Inneren hinterlassen.

»Kommt hierher!« Der Ruf eines Mannes holte Lily aus ihren Gedanken. Die herumhetzenden Sanitäter und Polizisten hatten sich in einen Ameisenhaufen verwandelt. Ein Feuerwehrmann schnitt die rechte Hintertür auf, um sich Zugang zum Wagen zu verschaffen.

Erst jetzt erkannte Lily in den zerbeulten Überresten den alten Opel ihrer Eltern. Noch immer fühlte sie nichts weiter als den Hauch von Entsetzen. Warum empfand sie nicht mehr? Warum sorgte die Erinnerung an diese schimmernde Gestalt für so viel Schmerz, während der Anblick ihrer toten Familie für kaum mehr als einen Schauder sorgte? Sie stolperte über ihre eigenen Gedanken. Der Tod ihrer Familie …

Widerwille und Trotz regten sich in ihr und verdrängten die betäubende Apathie, die sie wie ein Kokon umgab. Plötzlich drang all der Schreck in sie, breitete sich in ihrem Geist aus. Sie wusste, dass ihre Eltern den Unfall nicht überlebt hatten. Tränen brannten in ihren Augenwinkeln, doch sie schob das nagende Gefühl der Trauer von sich. Zunächst musste sie einen Weg zurück in ihren Körper finden. Sie wollte nicht mit elf Jahren bei einem Autounfall ums Leben kommen. Ihr ganzes Leben lag doch noch vor ihr. Sie wollte Ärztin werden, Kindern und Menschen helfen und zusammen mit Rose eine Praxis eröffnen.

Rose …

Ihr Entschluss zu leben bröckelte und machte tiefer Verzweiflung Platz, als sie an ihre Zwillingsschwester dachte. Ein Leben ohne ihre fröhliche, offenherzige und gutmütige Seelengefährtin, ohne ihre zweite Hälfte? Rose konnte einen trüben Novembertag in einen strahlenden Sommertag verwandeln. Sie brachte Lily zum Lachen, riss sie mit ihrer unbeschwerten Art mit sich und ließ sie träumen. Tränen rannen über ihre Wangen, tropften hinunter. Wenn es jemand verdiente zu leben, dann Rose.

»Das Mädchen lebt noch!« Vage Hoffnung keimte in Lily auf. Hatte Rose den Unfall womöglich überlebt? Lily klammerte sich verzweifelt an den winzigen Hoffnungsschimmer, den der Sanitäter in ihr geweckt hatte. Dabei wusste sie es in ihrem Inneren besser. Die Seite des Wagens, in der Rose gesessen hatte, war vollkommen zerstört. Sie verdrängte den Gedanken vehement. Rose musste es schaffen! Lily würde ihr Leben für sie geben. Ihre Schwester musste weiterleben. Alles würde sie dafür tun.

»Wo bleibt der Notarzt?«

»Holt sie vorsichtig da raus!«

Lily näherte sich dem Unfallort, um mehr zu erkennen. Zwei Männer bargen einen übel zugerichteten Körper und legten ihn behutsam auf einer Trage ab. Sofort schwirrten Ärzte und Assistenten herbei, schirmten den Verletzten vor Lilys Blicken ab. Lediglich die Überreste einer verdreckten, blutigen Jeansjacke, einer roten Sporthose und ehemals weiße Sneakers blitzten zwischen dem Notarztteam auf. Das war nicht Rose. Ihre Schwester liebte Kleider.

Lily wandte sich kurz ab, um sich zu sammeln. Als ihre Gedanken nicht mehr durcheinander wirbelten, schwebte sie über die Köpfe der Männer und Frauen hinweg und betrachtete ihren eigenen Körper. Es war ein seltsames Gefühl, sich in diesem Zustand zu sehen, und sie war froh, dass die dumpfe Gleichgültigkeit zurückkehrte und den Schock dämpfte.

Ihr blondes Haar war blutverschmiert und schmutzig, ihre Arme seltsam verdreht und von langen Kratzern und Schnittwunden verunstaltet. Das rechte Bein stand in einem unmöglichen Winkel ab, ihr Unterschenkelknochen bohrte sich durch ihre Sporthose, auf der sich tiefrote Flecken ausbreiteten. Sie sah aus, als wäre eine wilde Bestie über sie hergefallen und hätte sie zerfleischt. Wie viele Knochen wohl gebrochen waren? Hatte sie überhaupt eine Chance zu überleben?

Lily wandte sich mit einem Schaudern ab. Nur beiläufig bemerkte sie, dass man sie zum Transport in eines der Krankenhäuser fertigmachte, auf die Trage schnallte und zum Rettungswagen brachte.

Sie wollte sich gerade dem Wrack zuwenden, als sie plötzlich vom Unfallort weggerissen wurde. Sofort wehrte sie sich gegen den unsichtbaren Sog, der sie zu ihrem lädierten Körper zog. Sie musste wissen, ob Rose den Unfall überlebt hatte. Mit brennenden Augen fixierte sie den Feuerwehrmann, der soeben die zweite Hintertür aufstemmte und sich ins Wageninnere beugte. Gerade als der Drang, dem Rettungswagen zu folgen unerträglich wurde, trat der Mann zurück und schüttelte mit einer Mischung aus Enttäuschung und Resignation den Kopf. Lily wusste, was das bedeutete.

Tiefe Trauer und ein glühender Schmerz breiteten sich in Lily aus. Ihr Wunsch zu sterben verdrängte jeden anderen Gedanken. Was für einen Sinn hatte ein Leben in Einsamkeit, ohne Rose und ohne ihre Eltern?

Ich lasse dich nicht sterben! Rose hätte das nicht gewollt.

Die feste Stimme schien direkt zu ihrer Seele zu sprechen, sandte pulsierende Wärme durch sie hindurch und vertrieb die Kälte. Woher auch immer diese Worte kamen, sie schenkten ihr Kraft und neuen Mut.

Ich setze alles daran, dich am Leben zu erhalten. Noch einmal verliere ich meinen Schützling nicht! Du wirst leben! Das verspreche ich dir!

Noch bevor sie fragen konnte, wer sich hinter der ruhigen, klaren Stimme verbarg, verschwamm die Szenerie vor ihren Augen. Die letzten Worte ihres selbst ernannten Beschützers ebbten zu einem leisen Flüstern ab und schließlich versank alles in Dunkelheit.

Sanfte Küsse vertrieben die dunklen Traumschwaden und die Erinnerungen an den Albtraum. Langsam dämmerte Lily zurück in das kleine Zimmer, das sie sich mit Silas teilte. Weiche Sonnenstrahlen malten rote Schatten auf ihre geschlossenen Lider und streichelten ihr Gesicht ebenso wie die Hand, die über ihre Wange fuhr.

»Silas …?«, murmelte sie schlaftrunken. Jedes weitere Wort wurde in einem heftigen Kuss erstickt, der ihr fast den Atem nahm. Automatisch erwiderte sie ihn, genoss die Berührungen und die vorwitzigen Finger, die über ihre Brüste glitten. So sehr sie sich einfach fallen lassen und genießen wollte, es war der falsche Zeitpunkt. Zu viele Fragen wirbelten durch ihren Kopf, zu viele Dinge, die besprochen werden mussten: Der gestrige Kampf, das Gespräch mit Damian, Silas‘ allgemeiner Gesundheitszustand und der Traum, der allmählich verblasste.

Mit Nachdruck schob sie Silas zurück und betrachtete das schmale Gesicht des Magiers. Stechend grüne Augen erwiderten ihren Blick. Eine leichte Röte lag auf seinen Wangen. Sein schneller Atem und die angespannte Haltung zeigten ihr, dass er sich nur mühsam zurückhielt.

»Wie geht es dir?« Lily bemühte sich darum, einen neutralen Ton anzuschlagen, auch wenn es ihr schwerfiel. Im Grunde hatte sein Kuss bereits ein Feuer in ihr entfacht, das sie nur schwer unter Kontrolle behalten konnte.

»Ist das eine Fangfrage?« Silas musterte sie sehnsüchtig, während seine Hände über ihre Seiten wanderten. Er berührte sie kaum, doch allein der Lufthauch genügte, um sie beinah aus dem Konzept zu bringen.

Ein Schauder kroch über ihren Rücken. Hitze sammelte sich in ihrem Unterleib. »Du weißt aber schon, dass du gestern gegen deinen Vater gekämpft hast?«, murmelte sie und biss sich auf die Unterlippe, um ein Stöhnen zu unterdrücken.

»Müssen wir jetzt wirklich von ihm reden?« Silas schob sich über sie und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Im Moment möchte ich gar nicht reden, sondern dich genießen.«

»Aber …«

Silas presste seine Lippen auf ihre und unterband jedes weitere Wort. Für den Bruchteil einer Sekunde meldete sich die Stimme der Vernunft in Lily, doch Silas hungriger Kuss und seine forschen Berührungen erstickten alle Bedenken im Keim. Mit einem leisen Aufstöhnen verschob Lily all ihre Fragen auf später und genoss Silas‘ Leidenschaft in vollen Zügen.

Findest du nicht, dass du extrem unsensibel warst, Lily? Adrians anklagende Stimme riss sie aus dem Halbschlaf. Du liebst Silas, schön und gut, aber du hättest wenigstens daran denken können, dass Radu das Zimmer neben euch hat?

Lily rieb sich über die Augen und blinzelte zu Adrian, der auf der Matratze hockte und den Blick zum Fenster gerichtet hatte. Sie brauchte einen Moment, um sich zu sammeln und die letzten Stunden Revue passieren zu lassen. Eine angenehme Mattigkeit steckte in ihren Gliedern und das Summen in ihrem Bauch brachte sie zum Lächeln. Ihr Blick wanderte zur leeren Bettseite. Silas war schon auf den Beinen? Wie lange hatte sie überhaupt geschlafen, nachdem sie …?

Hast du mir zugehört, Lily?

›Sicher, Addy. Kannst du mir nicht ein paar Minuten gönnen, um mich zu sammeln?‹ Sie schob sich das zerzauste Haar zurück und setzte sich auf.

Seit wann brauchst du so lange, um aus dem Bett zu kommen?

›Das muss ich dir jetzt nicht wirklich erklären, oder?‹ Mit geschlossenen Augen atmete sie die stickige Luft ein und erhob sich, um das Fenster zu öffnen. Adrian machte ihr bereitwillig Platz, doch er ließ sie keinen Moment aus den Augen. Die leuchtenden Flügel lagen eng um der schlanken, schimmernden Gestalt ihres Schutzengels. Leichter Wind verfing sich in seinen langen Strähnen.

Nein, aber ich denke, dass die anderen darauf brennen, mehr zu hören … Er stutzte und schenkte ihr ein breites Grinsen. Wobei sie im Grunde genug gehört haben. Ihr wart nicht gerade leise …

»Mist!« Daran hatte sie vorhin keinen Gedanken verschwendet – einzig Silas‘ Leidenschaft war wichtig gewesen. Waren sie wirklich so laut gewesen, wie ihr Schutzengel behauptete? Sie schüttelte den Kopf. Selbst wenn nicht – dem feinen Gehör eines Vampirs oder Werwolfs entging nichts.

Ob das auch auf optionale Verfolger zutraf? Sie erinnerte sich an Eleonore, die gestern Nacht mitten im Gespräch losgeschickt worden war. Ob sie jemanden entdeckt hatte? Nachdenklich schaute sie auf den Hof und die schmale Zufahrtsstraße hinab. Nichts regte sich, lediglich die Luft flirrte vor Hitze. Dennoch nistete sich ein unangenehmes Gefühl in ihrem Magen ein, als sie an den Kampf dachte. Suchten sie nach ihnen? Waren sie ihnen womöglich bis zum Weingut gefolgt?

Da draußen ist niemand. Sorcha und Eleonore überprüfen regelmäßig die nähere Umgebung und halten nach fremden Schutzengeln Ausschau. Alles ist ruhig …

Lily atmete auf. ›Dann sind wir für den Moment sicher …‹ Sie schnappte sich eine leichte Decke vom Bett und fischte frische Kleidung aus ihrer Tasche. Eine heiße Dusche wäre genau das Richtige, um den Kopf frei zu bekommen und sich gegen die anklagenden Kommentare der anderen zu rüsten. Gerade als sie die Tür ansteuerte, trat Adrian ihr in den Weg.

Lass mich wenigstens nachschauen, ob die Luft rein ist. Oder willst du in diesem Aufzug Cionaodh oder Hannah über den Weg laufen? Ohne auf eine Antwort zu warten, schwebte er durch die Wand. Binnen einer Minute war er zurück. Alles okay. Cionaodh ist draußen, Damian und Hannah im Wohnzimmer und Silas steht vor dem Haus und raucht. Er hat die Vermieter darüber informiert, dass ein paar eurer Freunde überraschend eingezogen sind.

›Und Radu?‹

Hat vor zwei Stunden ziemlich wütend die Wohnung verlassen. Du kannst dir sicher denken, warum. Ein Blick in sein Gesicht genügte, um zu wissen, dass er diese Neuigkeit nur mühsam zurückgehalten hatte. Adrian war verärgert, doch er enthielt sich jedes weiteren Kommentars.

Lily nagte an ihrer Unterlippe. Bevor sich das schlechte Gewissen endgültig in ihr ausbreiten konnte, öffnete sie die Tür und huschte ins Badezimmer. Mit Erleichterung stellte sie fest, dass Adrian ihr nicht folgte. So blieben ihr wenigstens ein paar Minuten, um sich zu sammeln und die letzten Tage Revue passieren zu lassen.

Es war so viel passiert: der Tod ihrer Patentante Alina, die Flucht mit ihrem vermeintlichem Mörder Silas und die Suche nach der Wahrheit. Schließlich der Kampf gegen Tomas und die Ratsmitglieder, Damiens Erzählungen und ihre Familie. Rose … Inzwischen hatte sie eine Menge herausgefunden, doch eine Stimme wisperte ihr zu, dass dies nicht genügte. Noch immer türmten sich Fragen in ihrem Kopf auf, allen voran die, warum sie sich so im Zentrum der Aufmerksamkeit befand. Damian hatte zwar erläutert, warum Rasmus so versessen darauf war, ihrer habhaft zu werden, doch ein unbestimmtes Gefühl sagte ihr, dass da mehr war. Der Magier verschwieg ihr etwas Wichtiges – nur was?

Nicht zu vergessen der Traum, den Silas so leidenschaftlich beendet hatte. Kurz nach dem Unfall war er in jeder Nacht präsent gewesen, verfolgte sie manchmal sogar am Tag. Erst als sie bei Alina ein neues Zuhause fand, verblassten die schrecklichen Bilder. Damian musste ihren Erinnerungen auf die Sprünge geholfen haben, zumindest war der Alptraum detaillierter gewesen als je zuvor: die Bilder hatten sich schärfer in ihr Gedächtnis gebrannt. Sobald sie die Augen schloss, sah sie Roses zerschmetterten Körper und Adrians eindringliche Worte hallten jetzt noch in ihr nach.

Ein eiskalter Schauder kroch ihr über den Rücken. Mühsam schob sie die Gedanken von sich und trat unter den warmen Wasserstrahl. Zufrieden atmete sie auf und lenkte ihre Gedanken in ruhigere Bahnen: auf Silas und ihre frische Beziehung. Der Gedanken an das liebevolle Lächeln, die grünen Augen und die hitzige Leidenschaft, die sich immer wieder Bahn brach, waren etwas, woran sie sich festhalten konnte. Er wirkte wie ein Anker in dieser seltsamen Zeit und während all dieser einschneidenden Ereignisse. Mit dem Magier an ihrer Seite erschien ihr alles möglich, ganz gleich, welche Hindernisse noch vor ihnen lagen. Sie würde kämpfen!

Als sie in ihre Kleidung schlüpfte und sich das Haar hochband, fühlte sie sich fast schon euphorisch und brannte darauf, ihre Nachforschungen fortzusetzen. Ihre kreisenden Gedanken waren zur Ruhe gekommen, die nagenden Zweifel verschwunden – zumindest für den Moment.

Dieses Hochgefühl hielt an, bis sie in die Küche trat, um sich ein spätes Frühstück zu genehmigen. Hannah erwartete sie mit einem breiten Grinsen auf den Lippen und einer Tasse Kaffee in der Hand.

»Na? Wie geht’s dir?«, fragte sie direkt, ohne Lily die Zeit zu geben, sich Erklärungen zurechtzulegen. Sie ahnte bereits, worüber die Werwölfin reden wollte, und wurde nicht enttäuscht. »Du hältst wirklich nicht viel von Zurückhaltung, oder?«

»Wieso?« Lily nahm die Tasse entgegen und ließ sich auf einem Barhocker nieder.

»Spiel nicht die Dumme. Radu ist vor Stunden mit mieser Laune abgezogen und ich bezweifle, dass er vor Einbruch der Nacht zurückkommt. Wie gut, dass keine Gefahr droht, sonst hätte Damian ihn nicht gehen lassen.« Das Grinsen verschwand aus ihren wilden Zügen und machte einer ungewohnten Ernsthaftigkeit Platz. »Mir ist klar, dass das mit Silas frisch und aufregend ist, aber ihr solltet trotzdem nicht so offensichtlich vor einem Vampir herummachen. Du weißt, was Radu für dich empfindet und wie schwer es ihm fällt, eure Beziehung zu akzeptieren. Du musst nicht auf seinem Stolz und seinen Gefühlen herumtrampeln. So wenig ich ihn leiden kann, er hat es nicht verdient, so vorgeführt zu werden, in Ordnung?«

Lily leerte die Tasse bis zu Hälfte und senkte den Blick. Hannah hatte recht. Sie klang fast wie Adrian. Nur im Gegensatz zu Hannah hasste ihr Schutzengel Radu nicht – im Gegenteil. Dennoch hatte sie Silas in diesem Moment gebraucht, seine Nähe genossen. Der Magier hatte sie geerdet und für eine gute Stunde von all ihren Sorgen abgelenkt.

»Entschuldige dich am besten später bei ihm. Gerade jetzt brauchen wir ihn, immerhin ist er der älteste und erfahrenste Kämpfer. Er wird zwar Silas gegenüber voller Hass und Skepsis sein, aber er wird euch nicht absichtlich Steine in den Weg legen. Wenn es Probleme geben sollte, kannst du dich an mich wenden. Ich rück ihm schon den Kopf zurecht, wenn er es übertreiben sollte.«

»Danke, Hannah …« Sie begutachtete das Obst, das jemand auf dem Küchentisch in einer Obstschale platziert hatte, und griff nach einem Apfel. »Sind die anderen schon wach?«

»Es ist früher Nachmittag, Lily.«

Lily ging auf die versteckte Rüge nicht ein und fuhr fort: »Habt ihr schon über die nächsten Tage gesprochen?«

Hannah zuckte mit den Schultern. »Nur bedingt. Wir wollten warten, bis alle zusammen sind.«

»Vielleicht können wir schon einmal anfangen. Und sobald Radu zurückkommt, haben wir ein paar Vorschläge in petto, über die wir nur noch entscheiden müssen.« Lily unterdrückte die Schuldgefühle, die sich als bitterer Geschmack auf ihre Zunge legten. Sie spülte ihn mit ihrem restlichen Kaffee hinunter.

»Ich hoffe, er wird es nicht als Affront ansehen.«

»Wir können nicht ewig auf dem Weingut bleiben. Irgendwann werden die anderen Jäger uns finden.« Von dem Wertiger wollte sie gar nicht erst anfangen. Dieser war wesentlich gefährlicher als die üblichen Werwesen, nicht einmal Radu hätte gegen ein solches Geschöpf eine Chance. »Radu wird das schon verstehen, wenn er zurück ist. Aber damit er sich nicht übergangen fühlt, rufe ich ihn an. Hat er sein Handy dabei?«

Hannah schüttelte den Kopf. »Liegt in seinem Zimmer. Hoffen wir einfach, dass er es nicht als Angriff wertet, dass wir ohne ihn anfangen.« Sie wandte sich zum Gehen. »Ich schau mal, wo Cion steckt. Er wollte nach draußen gehen, um über die Pflanzen und Tiere der Umgebung zu erfahren, ob es in weiterer Entfernung Verfolger gibt. Und ich werde auch nochmals die Ohren spitzen. In zehn Minuten sind wir bei euch. Sag schon mal Damian und Silas Bescheid.« Charon tauchte im Türrahmen auf. Sein bärtiges Gesicht wirkte fahler als sonst und seinen goldenen Augen fehlte der übliche Schimmer.

Lily überlegte, ob sie Hannah auf Charons Zustand ansprechen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Vielleicht war er aufgrund des gestrigen Kampfes einfach nur ausgelaugt. Sie wischte den Apfel an ihrer Hose ab und biss hinein. »Klingt gut. Ihr sagt Bescheid, wenn ihr etwas entdeckt?« Nachdem Hannah ihr zugenickt hatte, steuerte Lily das Wohnzimmer an. Hinter ihr fiel die Tür der Ferienwohnung ins Schloss.

»Guten Morgen, Lily.« Damian nickte ihr zu, dann konzentrierte er sich wieder auf die gestohlenen Akten, die er mit Silas in Augenschein nahm.