Nachtschatten: Unbezwingbar - Juliane Seidel - E-Book

Nachtschatten: Unbezwingbar E-Book

Juliane Seidel

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Beschreibung

***NEUAUFLAGE DER REIHE "NACHTSCHATTEN"*** Jedes Wesen, gleich ob Mensch, Vampir, Sidhe oder Werwesen, besitzt einen Schutzengel. Nach ihrer letzten, blutigen Auseinandersetzung mit dem magisch begabten Vampir Nazar gehen Lily und ihre Freunde zum Angriff über. In den Karpaten, der Heimat ihres Verbündeten Radu, folgen sie den Spuren ihres übermächtigen Gegners und legen seine Geheimnisse frei. Doch auch ihr Erzfeind Rasmus bleibt nicht untätig und setzt alles daran, Lily in seine Gewalt zu bringen, um seine grausamen Experimente fortzuführen. Als Rasmus seinen allerletzten Trumpf gegen Lily ausspielt, muss sie den Dämonen ihrer Vergangenheit stellen und riskiert damit, alles zu verlieren … Der dritte Band der Urban Fantasy Trilogie “Nachtschatten” enthält die Kurzgeschichten "Damians Geheimnis", "Unendliche Liebe" und "Geisterspuren".

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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ImpressumCopyright © 2017 / 2024 Juliane Seidel Zietenring 1265195 Wiesbaden2. Auflage, [email protected]

Umschlaggestaltung: Marie GrasshoffInnenillustrationen: Tanja MeurerLektorat/Korrektorat: Brunhilde WitthautAlle Rechte vorbehalten. Inhalte, Illustrationen und Layout unterliegen dem Urheberrecht. Sie dürfen ohne meine Zustimmung weder für Handelszwecke oder zur Weitergabe kopiert, noch verändert und anderweitig verwendet werden.

Für jeden, der an Schutzengel glaubt

Prolog - Gespräche um Mitternacht

Schwaches Licht erhellte die untersten Treppenstufen und beleuchtete den Flur, der vor ihnen lag. Der geflieste Boden gab diesem eine kalte, abweisende Atmosphäre. Lily wäre am liebsten wieder zu ihren Freunden nach oben gegangen. Sie war sich sicher, dass es Silas ähnlich ging. Er wirkte unsicher und nervös. Dennoch war dieser Gang notwendig. In der letzten Woche hatte ihr Freund immer wieder neue Ausreden gefunden, um seinen Vater nicht aufsuchen zu müssen: Gespräche mit dem Rat, Planungen für ihre Reise nach Rumänien und gemeinsame Nachmittage im Bett mit gänzlich nicht-jugendfreien Spielen. Sie verstand Silas, konnte seine Ängste bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen, doch es wurde allmählich Zeit, den Gefangenen zu befragen. Dann würde Silas endlich einen Schlussstrich ziehen und ohne Reue mit seinen neuen Freunden zu Radus Heimat aufbrechen können, um mehr über den magischen Vampir Nazar herauszufinden. Das war für die kommenden Wochen ihre Mission.

»Alles in Ordnung?« Lily tastete nach Silas‘ Hand und umschloss seine Finger. Sie spürte, dass er leicht zitterte, sprach ihn jedoch nicht darauf an.

»Wie man es nimmt …« Ein Seufzen kam über seine Lippen. »Um ehrlich zu sein, möchte ich am liebsten weglaufen. Ich habe keine Ahnung, wie ich ihn zum Reden bringen soll. Tomas und ich …«

Du bist nicht allein, Silas. Felina nahm Lily die Worte aus dem Mund. Lily wusste, wie stark Silas` Schutzengel trotz ihres kläglichen Aussehens und des fehlenden Flügels war. Sie mochte optisch nicht einem typischen Begleiter entsprechen, doch sie war ihrem Schützling treu und wich selten von seiner Seite.

Ein unangenehmer Stich begleitete diesen Gedanken. Sofort wanderten ihre Gedanken zu Adrian, der seit ihrem letzten Kampf verschwunden war. Sie spürte zwar ein leises Echo, wenn sie mental nach ihm rief, doch er hatte sich in den letzten Tagen weder materialisiert, noch mit ihr Kontakt aufgenommen. Dabei stand so vieles zwischen ihnen. Sie betete, dass ihnen eine weitere Chance gewährt wurde. Inzwischen bereute sie ihre harschen Worte zutiefst. Die Ereignisse und der Stress hatten sie Dinge sagen lassen, für die sie sich schämte. Sie wollte sich entschuldigen.

»Lily?« Silas war stehen geblieben. Es fiel Lily schwer, seinen Blick zu deuten, doch sie glaubte, eine Spur Mitleid zu erkennen. Er wusste ganz genau, woran sie gedacht hatte. »Er wird wiederkommen, da bin ich mir sicher.«

Lily ließ die Schultern hängen. Sie wünschte, sie könnte Silas‘ Zuversicht teilen. Vielleicht bildete sie sich Adrians Gegenwart nur ein und er war schon längst verschwunden. Der Gedanke schmerzte in ihrer Brust. Damian hatte auf ihre Nachfrage hin erzählt, was mit Menschen geschah, deren Schutzengel die Seele nicht zum Ursprung zurückbringen konnten – sie wandelten als Geister auf Erden, auf ewig zwischen den Welten gefangen. Würde das auch mit ihr geschehen, wenn sie ohne Adrian starb? War das mit ihrer Schwester Rose passiert?

Lily schob den grausigen Gedanken von sich, versiegelte ihn im hintersten Winkel ihres Herzens. Ihr graute vor einer Antwort, weswegen sie Damian nie darauf angesprochen hatte. Ihre Schwester … ein Geist?

Der Zauber hat ihm viel Kraft entzogen, riss Felina sie aus ihren Gedanken. Lily brauchte ein wenig, bis sie wusste, dass Silas‘ Begleiter von Adrian und ihrem Feuerzauber sprach, den sie gegen den Vampir Nazar gewirkt hatte. Du hast doch mal gesagt, dass so etwas schon einmal vorgekommen ist. War das nicht bei einem Kampf gegen ein Rudel Werwölfe?

Lily nickte. »Da haben wir uns aber nicht vorher gestritten und … es gab nicht so viel Unausgesprochenes. Außerdem hat da Addy gezaubert, nicht ich …«

»Du wirst doch jetzt nicht aufgeben! Du musst Vertrauen in Adrian und dich haben. Er ist nicht fort.« Silas legte seinen Arm um sie und zog sie fester an sich. »Felina hat dir schon mehrfach versichert, dass er noch da ist. Gib ihm die Zeit, die er braucht, um seine Kräfte zu regenerieren. Bis dahin haben wir eine neue Aufgabe, die es zu erfüllen gilt.«

»Das Gespräch mit deinem Vater?«

Silas verzog das Gesicht. »Eigentlich meinte ich unsere Reise nach Rumänien. Oder einen gewissen Radu davon zu überzeugen, dass es wichtig ist, seine Heimat aufzusuchen …«

Ein kurzes Lächeln huschte über Lilys Gesicht. Silas und Radu verhielten sich, was ihre Familie anging, vollkommen gleich. Während sich Silas am liebsten vor dem Gespräch mit Tomas gedrückt hätte, wollte Radu überhaupt nicht in die Heimat zurückkehren, die er vor zweihundert Jahren verlassen hatte. »Da seid ihr Brüder im Geiste«, sagte Lily und sah den Flur entlang, der in das unterirdische Gefängnis unter Aldwyns Palast mündete. Nur noch wenige Schritte trennten sie von dem Gewölbe, in dem man Tomas untergebracht hatte. Vor einigen Wochen waren ihre Freunde die Gefangenen des Feenkreises gewesen, jetzt beherbergte Aldwyns Zauber Silas‘ Vater.

Drei Sidhe bewachten den Gefangenen, der in einem leuchtenden Kreis hockte und ins Nichts starrte. Sein Haar stand wirr in alle Richtungen ab. Er wirkte schmaler und ausgemergelter als bei ihrer letzten Begegnung. Sein Schutzengel war kaum noch zu erkennen. Sie glich einem Geist – blass und unscheinbar. Für Lily war dies ein schrecklicher Anblick. Die verkrüppelte Gestalt tat ihr leid.

»Können wir unter vier Augen mit ihm reden?«, fragte Silas mit zitternder Stimme.

»Lord Aldwyn hat euch bereits angekündigt«, war die Antwort eines großgewachsenen Sidhe mit langem blondem Haar. Ein Falke hockte auf seiner Schulter, die Knopfaugen auf Lily und Silas gerichtet. Die beiden anderen Feenwesen – ein Dachs und ein Fuchs – gaben ohne zu zögern ihren Posten auf. Zusammen verließen sie das Gewölbe. Sie verschwanden hinter einer der wuchtigen, verzierten Säulen, die die gewaltige Kuppeldecke trugen.

Als ihre Schritte verklungen waren, hob Tomas den Kopf. In seinen Augen blitzte Hass und Zorn auf, doch er rührte sich nicht. Weder begrüßte er seinen Sohn, noch ließ er einen abfälligen Kommentar fallen. Lediglich die Anspannung in seinen Schultern verriet Tomas. Er wirkte ebenso nervös wie Silas.

»Es wird Zeit zu reden«, setzte Silas an. Er blieb dicht vor dem Feenkreis stehen. Sein Blick wanderte kurz zu den irdenen Schalen, die Knochen, Federn und Erde enthielten und Aldwyns Macht bündelten.

»Wir haben nichts zu bereden, Verräter!«

»Du irrst dich. Aldwyn ist bereit, mit dir zu verhandeln, wenn du seine Fragen offen und ehrlich beantwortest. Er würde dich sogar gehen lassen, wenn …«

»Und er schickt ausgerechnet dich als Unterhändler?« Ein keckerndes Lachen erklang. Tomas richtete sich auf und strich sich das strähnige Haar aus dem Gesicht. Er verzog die Lippen zu einem spöttischen Grinsen. »Als würde ich ausgerechnet mit dir reden wollen, mein Sohn!« Die letzten Worte stieß er so abfällig aus, dass Silas sichtlich zusammenzuckte. »Wenn er verhandeln will, soll der edle Lord selbst in dieses elende Gewölbe kommen.«

Silas schüttelte den Kopf. »Aldwyn wird nicht kommen, Vater. Aber vielleicht beantwortest du zunächst erst einmal meine Fragen. Unter anderem, warum du Rasmus‘ Plan zugestimmt und mich hierher geschickt hast. Du musst zugeben, dass ich eine denkbar schlechte Wahl war.«

Worauf willst du hinaus, Silas?, fragte Felina leise.

Was auch immer er ihr mental antwortete, ihr sanftes Gesicht nahm einen betrübten Ausdruck an.

»Du solltest deine Treue unter Beweis stellen, nachdem du dich für Damians verfluchten sanften Weg …« Er setzte die Worte mit den Fingern in Gänsefüßchen. »… entschieden hast. Ich habe Rasmus darum gebeten, immerhin bist du mein Sohn. Er sollte sehen, dass du trotzdem ein Magier bist, auf den man sich verlassen kann.«

»Und das kann man!«, mischte sich Lily verärgert ein. Alles in ihr begehrte gegen Tomas Worte auf, der seinen Sohn und dessen Ideale wie Dreck behandelte. »Er ist ehrlich und treu. Und sein sanfter Weg ist gerechter und besser als der, den du eingeschlagen hast.« Ein kurzer Seitenblick von Silas brachte sie zum Schweigen.

»Was weißt du schon, Mädchen.« Tomas schüttelte den Kopf. Er ballte die Fäuste und sah zu seinem verkrüppelten Begleiter, der ängstlich zurückwich. »Wir sind Magier, da ist es normal, die Energie zu nutzen, die uns zur Verfügung steht.«

»Nur leider steht euch diese nicht endlos zur Verfügung. Ihr tötet willentlich eure eigenen Schutzengel.« Lily trat näher an den Kreis, unfähig sich zurückzuhalten. Sie ertrug es nicht, wenn jemand so abfällig über Schutzengel sprach.

»Deswegen zaubern wir auch mit Hilfe anderer Begleiter.« Ein böses Grinsen huschte über seine Lippen. »Ich könnte deine Seelenenergie nutzen, wenn ich will.«

Lily bemerkte den Blick, den Rasmus‘ Schutzengel ihr zuwarf. Sie schien etwas sagen zu wollen, schwieg jedoch. Scheinbar wollte sie ihren Schützling nicht einmal darauf aufmerksam machen, dass Lily zurzeit keinen Schutzgeist besaß, den man hätte anzapfen können. Lily konzentrierte sich auf andere, weniger deprimierende Gedanken und antwortete auf Tomas‘ verbalen Angriff: »Solange du in dem Bannkreis stehst, ist dir das nicht möglich. Aldwyn hat dafür gesorgt, dass du niemandem schaden kannst. Und mit der Kraft deines Schutzengels steht dir Magie nicht mehr offen, oder? Sie ist zu schwach, um …«

»Aus diesem Grund hat Rasmus nach einem Weg geforscht, diesen Umstand zu korrigieren«, unterbrach Tomas sie barsch. »Gerade du müsstest ihm dankbar sein. Bei dir ist ihm sein Vorhaben erstmals geglückt.«

Lily biss sich auf die Unterlippe. Sie wusste, worauf Silas‘ Vater hinaus wollte. Schmerz flutete ihren Verstand, gepaart mit einer Traurigkeit, die ihr den Atem nahm. Sie erinnerte sich an Adrians Geständnis, die grausame Wahrheit, die alles auf den Kopf gestellt hatte.

»Du bist der lebende Beweis, dass es funktioniert. Dass sein Weg und seine Ideale richtig sind. Wie kannst du all das als falsch hinstellen?« Er trat so dicht an den Bannkreis heran, dass Lily nur die Hand ausstrecken musste, um den Magier zu berühren. Oder er sie …

»Das genügt.« Silas schob Lily hinter sich. Er stieß zischend die Luft zwischen den Zähnen aus. »So reibungslos hat euer Experiment nämlich nicht geklappt.«

»Anfängerfehler. Kein Experiment funktioniert beim ersten Mal einwandfrei. Natürlich muss man weiter forschen, indem man das Ergebnis auswertet und Fehler ausmerzt.«

Silas ballte die Fäuste. »Lily ist kein Experiment! Ihr befindet euch auf einem Irrweg. Würdet ihr eine friedliche Koexistenz mit euren Schutzengeln anstreben, müsstet ihr jetzt nicht nach Wegen suchen, diese auszutauschen. Denn nichts anderes schwebt euch vor, nicht wahr?«

»Du bist nicht so dumm, wie ich dachte«, entgegnete Tomas. »Aber du bist dennoch eine einzige Enttäuschung. Nach allem, was ich getan habe, um Rasmus zu überzeugen, dass du das Zeug zu seinem Nachfolger hast – sanfter Weg hin oder her. Ich hatte gehofft, du siehst irgendwann die Notwendigkeit unserer Experimente. Doch du bist mit Blindheit geschlagen.« Seine Augenbrauen waren zusammengezogen und in seinem Gesicht zeichnete sich Wut ab. Mit einem Schnauben wandte er sich ab. Seine Schultern bebten vor unterdrücktem Zorn. Im nächsten Moment stieß er mit dem Fuß einen Teller mit Essen gegen die unsichtbare Wand des Bannkreises. Er zerbrach mit einem lauten Scheppern. »All meine Hoffnungen hast du zerstört, weil du diesem Weib verfallen bist, weil sie dir leidtut. Dabei ist sie nur…«

»Rede nicht so über Lily!«, unterbrach Silas seinen Vater mit scharfer Stimme.

Der Magier wirbelte herum, Funken sprühten aus seinen Augen. »Du hast keine Ahnung, was auf dem Spiel steht, Silas!« Er atmete tief durch. Seine Schultern sackten herab und die Anspannung schien von ihm abzufallen. Wesentlich ruhiger fügte er hinzu: »Ich werde keine weiteren Fragen mehr beantworten - weder deine noch die von diesem Feigling Aldwyn, der nicht einmal den Anstand hat, persönlich aufzutauchen. Richte ihm aus, dass ich kein Interesse an einem Angebot habe, ganz gleich, was er mir anbietet. Im Gegensatz zu dir werde ich Rasmus nicht in den Rücken fallen.«

»Ist das dein letztes Wort?«

Tomas schwieg, doch sein Blick sprach Bände. Er verschränkte die Arme vor der Brust. Sein wütend verzerrtes Gesicht hatte sich in eine kühle Maske verwandelt. Was auch immer in seinem Kopf vorging, er verbarg seine Gedanken und Gefühle.

»Und jetzt?«, fragte Lily, nachdem eine Minute vergangen war und niemand etwas gesagt hatte.

Silas seufzte. »Gibt es nichts mehr, was wir tun können. Mein Vater ist stur – er wird schweigen, selbst wenn ich ihn provozieren würde.«

»Aldwyn wird nicht zufrieden sein.« Lily überlegte, ob sie es vielleicht schaffen konnte, den Magier zum Reden zu bringen. Sie hatte Fragen – viele konnte Tomas ihr beantworten. Doch sie zweifelte nicht an Silas Worten - wahrscheinlich würde sein Vater jeden Versuch eines Gesprächs mit Ignoranz strafen und niemanden an sich heranlassen. Ob sie es später noch einmal versuchen sollte? Sie hatte nicht viele Chancen, mehr über diese Experimente zu erfahren. Notfalls würde sie ohne Silas herkommen – vielleicht war Tomas gesprächiger, wenn sein Sohn nicht dabei war.

Aus dem Augenwinkel bemerkte sie eine schwache Handbewegung von Tomas‘ Schutzengel. Sie gab ihr ein Zeichen näherzutreten und deutete mit dem Kinn auf ihr linkes Handgelenk. Obwohl ein Schutzengel keine Uhr tragen konnte, war Lily klar, was die verstümmelte Kiria sagen wollte. Sie sollte anscheinend später noch einmal kommen. Lily schenkte ihr ein kurzes Lächeln, das zum Glück niemand bemerkte.

Silas deutete zum Gang hinüber. »Gehen wir, Lily.« Mit forschem Schritt steuerte er den Ausgang des Gewölbes an. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Bevor sie den Raum verließen, richtete Silas erneut einige Worte an seinen Vater. »Ich werde Lord Aldwyn ausrichten, was du gesagt hast. Vielleicht hast du Glück und er gibt dir die Möglichkeit, mit ihm zu sprechen. Wenn nicht, kann ich nichts mehr für dich tun.«

Mitten in der Nacht machte sich Lily erneut auf den Weg in die unterirdischen Gewölbe, nachdem Silas in ihren Armen eingeschlafen war. Auch in den benachbarten Zimmern schien alles ruhig, von leisem Schnarchen einmal abgesehen.

Wo willst du hin? Felina runzelte die Stirn, als Lily sich behutsam von Silas löste und aus dem Bett schlüpfte. Ihr Blick huschte zu Silas, der sich auf die andere Seite rollte. Statt Lily umarmte er das Kissen und murmelte etwas vor sich hin.

Lily warf dem Schutzengel einen flehenden Blick zu und legte die Finger auf die Lippen. Rasch schlüpfte sie in Jeans und Shirt und kämmte sich mit den Fingern das Haar. Sie deutete zur Tür und glücklicherweise folgte Felina ihr. Dennoch antwortete Lily erst, als sie das Zimmer verlassen hatten.

»Ich muss mit Tomas …«

Er wird dir nicht antworten, unterbrach Felina sie entrüstet.

»… Schutzengel reden«, vervollständigte Lily den Satz und sah sich um. Bis auf einen Lichtschein, der sich unter Radus Tür abzeichnete, war der Flur dunkel. Scheinbar konnte der Vampir nicht schlafen, was wohl zum einen an der Nacht lag, zum anderen am Ziel ihrer bevorstehenden Mission. Radu hatte Rumänien vor zwei Jahrhunderten aus gutem Grund verlassen, jetzt zurückzukehren … sie schob den Gedanken von sich. Für den Moment bedeutete Radus Schlaflosigkeit, dass sie noch leiser und vorsichtiger sein musste.

Du willst … mit Kiria sprechen? In Felinas Gesicht zeichneten sich Unsicherheit und Verwirrung ab.

»Sie hat mir vorhin ein Zeichen gegeben«, flüsterte sie so leise, dass sie sich selbst kaum hörte. Felina schien sie dennoch verstanden zu haben.

Aber …

»Verstehst du nicht, dass ich es versuchen muss? Dieser Schutzengel kann mir die Antworten geben, die Tomas mir verweigert.« Lily schlich sich den Gang entlang, setzte mit Bedacht einen Fuß vor den anderen.

Felina schüttelte den Kopf, folgte ihr aber. Das ist nicht so einfach, wie du es dir vorstellst, Lily. Sie kann nicht über den Willen ihres Schützlings hinweg agieren. Wir sind unfrei in solchen Entscheidungen. Es könnte eine Falle sein, die er dir stellt.

»Trotzdem muss ich es riskieren. Er befindet sich in einem Bannkreis. Viel kann er eh nicht ausrichten. Du kannst ruhig zurückgehen, Felina. Ich weiß, dass du Silas informieren müsstest.«

Ich begleite dich. Solange ich auf dich aufpasse, kann ich Silas nicht Bescheid geben. Sie schloss zu Lily auf und blieb an ihrer Seite, als sie durch den Flur schlichen. Aber spätestens morgen werde ich ihn über deinen nächtlichen Ausflug in Kenntnis setzen.

»Ist in Ordnung …«

Als sie die Treppe erreichte, gab sie ihre Vorsicht auf und huschte schnell ins Erdgeschoss hinunter. In der Dunkelheit der Nacht wirkten die verwachsenen Wände des Foyers mit all den Schlingpflanzen ein wenig unheimlich, doch Lily ließ sich davon nicht abschrecken. Selbst als sich einige Blumen in ihre Richtung bewegten und die bunten Blüten schwach aufleuchteten, setzte sie ihren Weg fort. Wahrscheinlich würde es keine zehn Minuten dauern, bis Aldwyn von seinen Pflanzen informiert wurde.

Im Gewölbekeller bewachten zwei Sidhe den Gefangenen. Sie unterhielten sich leise und reagierten sofort, als Lily durch den schwach beleuchteten Gang kam. Ein Wolf knurrte leise und das Schlagen von Flügeln deutete auf einen großen Vogel hin, der zu einer der Wachen gehörte. Ein heiseres Krächzen war zu hören.

»Was machst du hier?«, fragte eine junge Frau, als Lily in den Schein einer Fackel trat. Der Wolf an ihrer Seite sträubte das Nackenfell und fletschte die Zähne. »Um diese Zeit darf sich hier niemand aufhalten.«

Lily sah nur kurz zu den Wächtern, dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den Schutzengel des Magiers, der auf einem notdürftigen Lager auf der anderen Seite lag. Kiria trat sofort näher, verharrte dicht vor dem Bannkreis. Kurz sah sie zu ihrem Schützling zurück, doch dieser rührte sich nicht. »Ich muss mit ihr reden«, antwortete Lily automatisch.

Die Frau zog die Brauen hoch, bis sie unter ihrem blonden Pony verschwanden. »Ihr? Von wem sprichst du?«

Ihr Begleiter zischte ihr zu: »Das muss das Mädchen mit der Gabe des Erkennens sein. Sie meint bestimmt den Schutzengel des Magiers, oder?« Als Lily nickte, machte sich Unruhe in dem anderen Wächter, einem hageren Mann breit. Sein Adler löste sich von seiner Schulter und flog einen engen Bogen über sie hinweg, darauf achtend, dem Bannkreis nicht zu nahe zu kommen.

»Aber Aldwyn hat doch …«, setzte die Sidhe an und strich dem Wolf über den Kopf.

»Sie kann mit dem Begleiter des Magiers reden. Vielleicht kommen wir so an Informationen für Lord Aldwyn heran, die der Gefangene nicht sagen will, wenn er bei Bewusstsein ist. Das wäre die Chance!« Er hob die Hand und der riesige Vogel landete auf seinem Unterarm.

»Deswegen bin ich hier«, fügte Lily hinzu. »Ich muss mit ihr reden … allein.«

»Ich weiß nicht.« Die Frau schien unschlüssig zu sein. Ihr Blick wanderte von ihrem Freund zu Lily und zurück. »Wer weiß, ob das nicht eine Falle des Magiers ist. Begleiter dürfen ihre Schützlinge schließlich nicht verraten.«

Genau das habe ich dir ja gesagt, Lily, stimmte Felina zu, wenngleich nur Lily sie hören konnte. Es könnte eine Falle sein.

»Aber er schläft. Außerdem könnten diese Regeln für Magier nicht gelten. Ihr Band zu Schutzengeln ist ganz anders. Vielleicht können die ihren freier entscheiden.« Etwas leiser fügte er hinzu, während er mit dem Finger auf Lily deutete: »Es geht das Gerücht, dass ihr Schutzengel sich sogar in einen Vampir verliebt hat, Gigi. Wenn das nicht freier Wille ist …«

Lily mochte die Richtung nicht, in die das Gespräch der Sidhe ging, doch sie mischte sich nicht ein. Sie war lediglich überrascht, dass Aldwyns Gefolgsleute so gut über Adrian informiert waren. Wahrscheinlich hatten die Schutzengel über Adrians Gefühle für Radu getratscht.

Der Mann nickte zum Gang hinüber. »Geben wir ihr eine Chance. Wenn sie dem Bannkreis nicht zu nahe kommt, kann nichts passieren.«

Die Sidhe zögerte einen Moment, dann gab sie sich geschlagen. »In Ordnung, aber ich behalte dich im Blick, Mädchen«, sagte sie und gab dem Wolf einen leichten Stoß. Das große dunkle Tier trottete neben ihr her zum Ausgang. Ihr Kollege folgte ihr, nachdem er Lily aufmunternd zugenickt hatte.

Als sie außer Hörweite waren, meldete sich Kiria zu Wort. Sie wirkte erleichtert, gleichzeitig war sie aufs Äußerste angespannt. Ich bin froh, dass du gekommen bist. Mir bleibt nicht viel Zeit, bis Tomas aufwacht, also hör mir gut zu und unterbrich mich nicht.

Lily wollte schon aufbegehren, doch ein Gefühl sagte ihr, dass es besser war, Tomas‘ Schutzengel ausreden zu lassen. Was auch immer Kiria zu sagen hatte, es schien wichtig genug zu sein, um sie nachts hierher zu bitten und den Zorn ihres Schützlings in Kauf zu nehmen. Oder fürchtete sie sich vor jemand anderem, der sie in Angst und Schrecken versetzte? Vielleicht Rasmus? War dieser Wahnsinnige in der Nähe und überwachte sie?

Lily drängte die Gedanken zurück und konzentrierte sich auf Kiria. Aus der Nähe betrachtet, wirkten ihre Verstümmelungen noch schlimmer – die beiden Stümpfe auf ihrem Rücken, der fehlende rechte Arm und die tiefliegenden Augen. Von allen Schutzengeln, die sie kannte, sah Kiria am schlimmsten aus. Selbst Damians Eleonore war durch das Wirken von Magie nicht so grausam zugerichtet. Sie entschied, sich anzuhören, was Tomas‘ Begleiter zu sagen hatte. Mit etwas Glück blieb noch Zeit für wichtige Fragen über den Orden, die Experimente und den magischen Vampir.

Ich will dir helfen, Lily. Auch wenn du mir nicht glaubst, so möchte ich dir einen Hinweis geben, wie du deinen Schutzengel zurückholen kannst.

»Wie …?« Lily war so überrascht, dass sie nicht wusste, wie sie auf diese Worte reagieren sollte. Unsinnigerweise fühlte sie sich von Kirias Worten fast persönlich angegriffen. Sie sollte sich um sich selbst kümmern, statt sich in Lilys Probleme mit Adrian einzumischen. Wobei Sorgen passender war …

Du musst …

Wut wallte in Lily auf. Von all den Themen, die sie aktuell besprechen wollte, stand Adrian an letzter Stelle – nicht dass er ihr nicht wichtig war, im Gegenteil. Es war lediglich zu schmerzhaft, über diese unsägliche Situation nachzudenken, und mit Tomas‘ Schutzengel wollte sie erst recht nicht darüber reden. »Wie kommst du darauf, dass ich mit dir über Adrian sprechen will?«, fuhr Lily sie ungewollt barsch an.

Kiria zuckte zurück. Sie wandte sich zu Tomas um, der sich unruhig auf die andere Seite drehte, jedoch nicht aufwachte. Beschwichtigend legte der Schutzengel einen Finger an die Lippen.

»Ich habe ganz andere Fragen«, fuhr Lily etwas leiser fort, auch wenn es ihr nicht leicht fiel, sich zurückzuhalten. Sie atmete mehrmals tief durch, um sich zu beruhigen und den Kloß zu vertreiben, der sich in ihrem Hals festgesetzt hatte.

Kiria ließ sich weder beirren, noch von ihrem ursprünglichen Kurs abbringen. Die sind momentan nicht wichtig, Lily. Dein Schutzengel ist nicht an deiner Seite, was dich in Gefahr bringen kann. Ich spüre, dass er nicht gänzlich verschwunden, sondern lediglich geschwächt ist, aber es ist von immenser Wichtigkeit, dass du ihn zu dir rufst.

»Das mache ich doch. Jeden Tag versuche ich, Kontakt zu ihm aufzubauen.« Lily ließ die Schultern hängen. Es schmerzte, dass sie ihn nicht erreichen konnte. Inzwischen hatte sie sogar den Eindruck, das Echo wurde schwächer. Sie fühlte sich hilflos, weil dieser Hauch seiner Präsenz immer weniger wurde.

Es genügt nicht, nach ihm zu rufen. Dafür ist er zu schwach. Du bist eine Magierin, also musst du aktiver werden, wenn du das Band wieder aufbauen willst. Sie nagte an der Unterlippe und sah zu Felina. Unsicherheit sprach aus ihren Augen. Ich kann dir erklären, wie du ihn zurückholen kannst.

»Warum solltest du das machen?«, fragte Lily skeptisch. Auch Felina legte die Stirn in Falten. Sie schüttelte leicht den Kopf. »Ich bin quasi der Feind. Du könntest mich und meine Freunde in Schwierigkeiten bringen oder mir Lügen auftischen. Womöglich schlägst du mir vor, mich an Rasmus zu wenden oder lässt mich etwas machen, was uns an ihn verrät.«

Das habe ich nicht vor. Ich gebe zu, dass ich bei all dem auch das Wohl meines Schützlings im Sinn habe … Aber niemand kann mir das zum Vorwurf machen. Außerdem kann Felina bezeugen, dass ich es ehrlich mit dir meine. Sie weiß, dass ich nicht lügen kann. Sie sah zu Silas‘ Begleiter. Und sie weiß genau, worauf ich hinaus will, nicht wahr?

Silas‘ Schutzengel wiegte den Kopf und hob schließlich die Achseln. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht genau, auf was du anspielst, Kiria, murmelte sie schließlich. Aber in einem Punkt hat sie recht, Lily. Sie kann nicht lügen. Wenn sie sagt, dass sie nicht vorhat, dich in eine Falle zu locken, dann kannst du ihr zumindest in diesem Punkt Vertrauen schenken.

»Gut …« Lily schloss die Augen, um nachzudenken. »Und worauf will sie hinaus?«

Ich weiß es nicht, gestand Felina.

Auf einen Engelsrufer, mischte sich Kiria ein. Du musst doch von ihnen wissen, Felina. Magier erschaffen sie, um ihre Schutzengel zu erreichen, wenn diese weit entfernt sind oder zu viel Energie verloren haben. Hat Silas nie davon gehört?

Felina schüttelte den Kopf. Sie schwebte ein wenig näher an den Bannkreis und betrachtete Kiria eingehend. Ihre Neugierde schien geweckt zu sein.

Dann muss Silas sich von seinem Vater abgewandt haben, bevor er ihm davon erzählt hat. Ich habe wirklich gedacht … Ein trauriges Lächeln stahl sich auf Kirias schmale Lippen. Es tut mir leid, Erinnerungen bereiten mir schon seit geraumer Zeit Probleme. Manchmal vergesse ich Ereignisse oder bringe Dinge durcheinander.

Ein Zeichen dafür, dass Tomas sein Erinnerungsvermögen verliert. Die Zauber fordern ihren Tribut. Wenn er nicht aufhört, wird er irgendwann dement und alles vergessen, was wichtig ist, setzte Felina aufgebracht hinzu. Sorge schlich sich in ihre Züge und sie begann, nervös auf und ab zu gehen. Ich hatte keine Ahnung, dass es schon so schlimm um euch steht.

Kiria hob lediglich die Achseln. Tomas und Rasmus läuft die Zeit davon. Lily ist ihre einzige Hoffnung, deswegen setzen sie alles auf eine Karte, um das Unausweichliche abzuwenden.

»Was meinst du damit?«, mischte sich Lily ein. Ihre Hände wurden feucht, während sie überlegte, was Kiria damit sagen wollte. »Was habe ich damit zu tun?«

Kiria betrachtete sie, schüttelte jedoch den Kopf. Das ist momentan nicht wichtig. Ich will dir helfen, weil ich meinem Schützling helfen will – in gewisser Weise bist du nämlich seine Rettung.

Lilys Gedanken wirbelten wild durcheinander, während sie das Gesagte verarbeitete. Sie sollte diesen Wahnsinnigen retten? Da standen unzählige Menschen und Wesen vor Rasmus und Tomas, denen sie eher helfen wollte.

Kiria kümmerte sich nicht um Lilys verdutztes Gesicht und fuhr fort: Glaubst du wirklich, dass dein Schutzengel aus eigener Kraft zu dir zurück findet? Das kann er gar nicht schaffen! Du musst ihm den Weg weisen, denn ohne deine Hilfe wird er in der Unendlichkeit zwischen den Welten verloren gehen. Und je länger du wartest, desto weiter wird er sich von dir entfernen, desto schwieriger wird es werden, ihm zu helfen. Wenn du Adrian zurückholen willst, musst du einen Engelsrufer erschaffen!

Ein Schauder rann Lily über den Rücken und sorgte für eine Gänsehaut auf den Armen. Sie wollte widersprechen, doch Kirias Mahnung brachte etwas in ihr zum Klingen. Sie spürte, dass Tomas‘ Schutzengel recht hatte. Allein die Tatsache, dass Adrians Präsenz schwächer wurde … Er würde nicht zurückkommen – eine Horrorvorstellung, die ihr Herz zum Stocken brachte.

Wesentlich sanfter fuhr Kiria fort: Entgegen aller Aussagen ist der Weg, dem mein Schützling folgt, nicht nur schlecht. Natürlich zaubern sie mit unserer Energie und jedes Mal besteht die Gefahr, dass sie uns so sehr schwächen, dass wir den Kontakt zu ihnen verlieren. Deswegen schaffen hochrangige Magier bei ihren Abschlussprüfungen einen Engelsrufer, um ihre Begleiter zu sich zu rufen.

Silas hat es nie soweit geschafft …, warf Felina ein. Er hat sich vorher Damians Weg angeschlossen und dort wird das scheinbar nicht unterrichtet.

Wozu auch? Beim sanften Weg besteht gar nicht die Gefahr, dass ein Schutzengel seine Kräfte verliert. Daher sind Engelsrufer für diese Magier nicht unbedingt notwendig. Kiria trat so nahe an den Schutzschild, dass blaue Funken stoben. Aber Lily braucht einen, sonst wird ihr Begleiter irgendwann verschwinden. Und dann passiert mit ihr das Schlimmste, was man sich vorstellen kann.

Lily spürte, dass sie blass wurde. Sie wusste, worauf Kiria hinaus wollte, und der Gedanke daran fuhr wie Eis in ihren Körper. Plötzlich war ihr kalt und nur mühsam konnte sie verhindern, dass ihre Zähne klapperten. Sie atmete tief durch und schob den beängstigenden Gedanken an eine Existenz als Geist weit von sich. »Was muss ich machen.«

Du weißt, was ein Engelsrufer ist?

Lily nickte. Sie kannte die Schmuckstücke, die teilweise in den Schaufenstern von Modegeschäften hingen – mitunter wundervoll ausgearbeitet, filigrane Meisterwerke mit farbigen oder kristallenen Klangkugeln in der Mitte. Sprach Kiria davon, oder meinte sie etwas Anderes? »Redest du von diesen kleinen Anhängern?«

Ja. Jeder hochrangige Magier trägt einen Engelsrufer. Tomas hat einen, Rasmus ebenfalls und sogar Damian. Sie deutete zu ihrem Schützling, doch Lily konnte keinen Anhänger entdecken. Wahrscheinlich trug er ihn unter seinem Hemd. Du musst deinen selbst und ohne Hilfe eines anderen Magiers herstellen, Lily.

»Aber kann Damian nicht …«

Er könnte dir helfen. Ich bin mir nur nicht sicher, ob er das machen wird.

»Und warum?« Lily ließ kein böses Wort auf den besten Freund ihrer Eltern zu. Damian war ehrlich, loyal und absolut treu. Ihr Patenonkel würde sie gewiss nicht im Stich lassen, wenn etwas so Wichtiges auf dem Spiel stand.

Weil du Magie dafür brauchen wirst, um das Silber zu formen. Da Adrian nicht da ist, bist du gezwungen, auf fremde Energie zurückzugreifen. Kiria verzog die Lippen zu einem schiefen Grinsen und seufzte. Im Grunde wird es ohne ihn nicht gehen. Damian muss dir zeigen, wie du die Kraft fremder Begleiter anzapfst und damit Zauber webst.

»Das wird er nie machen.« Lily biss sich auf die Unterlippe. Sie hatte keine Ahnung, wie Damian und Silas darauf reagieren würden, dass sie diese Unart der Magie erlernen wollte. Im Grunde konnte sie nicht einmal von ihnen verlangen, dass sie es ihr beibrachten.

Ohne geht es nicht. Das Silber muss mit Hilfe von Magie geformt werden, nicht von Hand. Dein Herz bestimmt bei diesem Zauber die Form, was sehr wichtig für die Klangkugel ist, die später eingefügt wird. Dabei muss es sich nicht zwangsläufig um eine Kugel handeln - die Magie des Anhängers kann alles in das passende Format umwandeln, vom Kuscheltier bis zum Ehering. Deswegen kann der Anhänger nicht von Hand gefertigt werden. Magie ist notwendig! Kiria machte eine Pause und strich sich eine zerzauste Strähne aus den Augen. Dieser Gegenstand muss allerdings etwas Persönliches von dir sein – etwas, was dir viel bedeutet und einen Teil deiner Seele in sich trägt. Um die Verbindung zu deinem Engel herzustellen, musst du diesen Gegenstand mit deinem Blut beträufeln. Das ist wichtig, Lily, also vergiss diesen Schritt nicht. Der Anhänger symbolisiert dein Herz, die Kugel deinen Schutzengel, denn in gewisser Weise ist dein Begleiter deine Seele und das Blut ist die Verbindung zwischen euch. Wenn du ihn nutzt, wirst du Adrian erreichen und ihn zurückführen können.

Nachdem Kiria ihre Ausführungen beendet hatte, wagte niemand etwas zu sagen. Lily fühlte sich von den Anweisungen des Schutzengels überfahren; Felina zog es vor, sich nicht zu äußern. Schließlich wandte sich Lily an Silas‘ Begleiter: »Hat sie recht?«

Ich weiß nicht …

Lily überlegte einen Moment und formulierte ihre Frage neu: »Hast du so ein Schmuckstück jemals bei Tomas oder Damian gesehen?«

Felinas Blick richtete sich ins Leere, sie schien nachzudenken. Ich glaube schon. Ich erinnere mich an einen Anhänger, den Tomas stets bei sich trägt und nicht mal beim Schlafen oder Waschen abnimmt. Er ist ihm heilig.

»Aber Damian trägt keinen Schmuck. Ich habe nie etwas bei ihm gesehen.«

Vielleicht weil er ihn nicht braucht. Sein Band zu Eleonore ist auch sehr fest und er zaubert kaum noch. Du könntest ihn danach fragen. Dann wissen wir es ganz genau.

Du wirst diesen Engelsrufer brauchen, Lily. Kiria wandte sich von ihnen ab und brachte mehrere Meter zwischen sich und den Bannkreis. Sie wirkte noch müder und erschöpfter als zuvor. Ihr inneres Leuchten hatte stark abgenommen. Und je eher du ihn anfertigst, umso leichter wird es dir fallen, Adrian zu erreichen, bevor es zu spät ist.

Kapitel 1 - Erinnerungsstücke

Die Landung in Cluj-Napoca war hart und rüttelte Lily aus dem Halbschlaf, in den sie verfallen war, nachdem sie München verlassen hatten. Es war früher Abend und auf dem kleinen Flughafen in Siebenbürgen herrschte mäßiger Betrieb. Das zweckmäßige, aber baulich hässliche Flughafengebäude lag fast verlassen da und die Start- und Landebahn wirkte verwaist – keine wartenden Flugzeuge oder emsigen Mitarbeiter. Auch die Maschine war nicht voll besetzt gewesen, was ihnen zumindest eine Menge Freiraum brachte. Cionaodh und Hannah saßen etwas abseits – die Werwölfin versuchte Cionaodh zu beruhigen, der noch immer wütend darüber war, dass man seinen Schutzengel Sorcha im Gepäckraum untergebracht hatte. Die rotgetigerte Katze war beim Umstieg in München gereizt und aggressiv gewesen, was zu einer längeren Diskussion mit der Fluglinie geführt hatte. Radu hatte sich ebenfalls zurückgezogen und starrte aus dem kleinen Fenster. Wahrscheinlich dachte er über seine Heimat nach und die Ereignisse, die vor mehr als zweihundert Jahren für seine Flucht gesorgt hatten – damals hatte er Rumänien zu Fuß verlassen. Lily hatte ihn darauf ansprechen wollen, doch Florica hatte den Kopf geschüttelt und ihren Schützling auf ihre Art vor den anderen bewahrt – die Arme um seinen Hals geschlungen und jeden Schutzengel böse angefunkelt.

Lily war ihr nicht böse. Sie verstand Floricas Beweggründe. Darüber hinaus hatte sie eigene Probleme – Felina drängte darauf, dass sie mit Damian und Silas sprach und ihnen von dem Gespräch mit Kiria erzählte. Bisher hatte sich Lily noch nicht dazu durchringen können, mit den beiden zu reden. Sie wusste nicht, wie sie Kirias Worte und die Tatsache, dass sie einen Engelsrufer unter Zuhilfenahme fremder Energie anzufertigen hatte, passend verpacken sollte. Beide verabscheuten Magier, die mit gestohlener Kraft zauberten – nichts anderes würde sie machen müssen. Aber es ging um Adrian. Sie spürte, dass er sich wirklich immer weiter von ihr entfernte und dass er irgendwann nicht mehr zu ihr finden würde. Fast zwei Wochen war er nun schon weg und bisher gab es keine Anzeichen für seine Rückkehr.

Sie konnte es nicht länger verheimlichen – früher oder später würde Felina mit der Wahrheit herausrücken, da sie vor Silas keine Geheimnisse hatte.

Das Flugzeug kam mit einem Ruck zum Stehen. Ein uralter Bus schaukelte über die betonierte Startbahn auf sie zu. Unruhe machte sich breit. Die ersten Passagiere erhoben sich und räumten ihre Sachen zusammen. Einige holten das Gepäck aus der Ablage und machten sich auf den Weg zum Ausgang.

»Da wären wir«, murmelte Silas und streckte die Beine aus. Gähnend fuhr er sich durch das dunkle Haar. »Ich bin gespannt, was uns hier erwartet.«

»Hoffentlich Antworten«, sagte Damian, der auf der anderen Seite des Ganges saß. »Aldwyn wird nicht begeistert sein, wenn wir wieder mit leeren Händen kommen.«

»Wieder …« Silas stand auf und fischte ihr Gepäck herunter. Mit einem verärgerten Gesichtsausdruck fügte er hinzu: »Ich habe ihm gesagt, dass es keinen Sinn macht, mich mit meinem Vater reden zu lassen. Er verachtet mich und ich ihn.«

»Umso mehr Erfolg sollten wir hinsichtlich des magischen Vampirs haben.« Damian sah sich um, sein Blick blieb auf Radu haften, der schweigend dem Ausgang zustrebte. »Ich hoffe, dass er uns keine Probleme macht.«

»Für Radu ist das alles nicht so einfach. Wenn man bedenkt, was ihm hier widerfahren ist …« Lily ließ den Satz offen – inzwischen wusste das gesamte Team, was vor zweihundert Jahren in dem verschlafenen Dörfchen Ramet vorgefallen war. Lily ahnte, wie schwer es dem Vampir fiel, sich seiner Familie zu stellen. Dass sie sich erst morgen mit zwei Mietwagen auf den Weg machen würden, half wenig. Radu würde in der kommenden Nacht kein Auge zutun und garantiert durch Cluj-Napoca streifen. Einmal mehr wünschte sie sich Adrian zurück. Ihr Begleiter war schwer in Radu verliebt und konnte in dem verschlossenen Gesicht des Vampirs lesen wie in einem Buch. Er hätte gewiss gewusst, wie man mit ihm umgehen musste. Ein Grund mehr, mit Damian und Silas zu sprechen, sobald sie im Hotel ankamen. Sie musste sich dringend an die Herstellung des Engelsrufers setzen.

Allerdings dauerte es fast zwei Stunden, bis sie das gut zehn Kilometer entfernte Hotel in der Innenstadt erreichten. Die meiste Zeit verstrich, als sie auf ihr Gepäck warteten und Sorcha aus dem Transportkäfig befreiten – was für skeptische Blicke der anderen Passagiere, des Personals und der Beamten sorgte. Glücklicherweise ließ sie sich klaglos Geschirr und Leine umlegen und blieb treu an Cionaodhs Seite, als sie das Flughafengebäude verließen. Dank Radus Redegeschick fanden sie sogar zwei Taxen, die sie günstig zum Hotel fuhren. Auch das Einchecken musste der Vampir übernehmen, da kaum einer der Mitarbeiter verständlich Deutsch oder Englisch sprach. Selbst Radu hatte Probleme mit seinem recht antiquierten Rumänisch, doch es genügte, um die Zimmer zu bekommen und die Mietwagen für den kommenden Morgen zu bestellen.

Lily war froh, als sie hinter Silas und sich die Tür schloss und sich auf das einfache Doppelbett fallen ließ. Silas stellte ihre Taschen neben den robusten Kleiderschrank und trat ans Fenster. Er betrachtete die kleine Straße, die ins prachtvolle Zentrum der Stadt führte. Lily war überrascht, wie erhaben und sauber die Gebäude, Kirchen und Häuserblocks waren.

»Irgendwie hab ich mir Rumänien anders vorgestellt«, sagte Silas nach einer Weile und nahm damit Lily die Worte aus dem Mund. »Irgendwie … ländlicher.«

»Ramet dürfte eher dem entsprechen, was wir uns vorstellen.« Sie hielt ihr Handy hoch. »Ich hab mir das Dorf mal online angesehen und es sieht dort aus wie vor hundert Jahren. Weit verteilte, strohgedeckte Häuschen, einfache Straßen und alles noch sehr traditionell. Liegt vielleicht an den Vampiren, die dort leben …«

»Ich bin gespannt.« Silas ließ sich neben ihr nieder und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Sein Blick wanderte zu Felina, die versuchte, auffällig gelassen zu wirken. »Weißt du, Lily, jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, mir von deinem nächtlichen Streifzug vor paar Tagen zu erzählen.«

Lily warf einen bösen Blick auf Silas‘ Schutzengel, nickte jedoch. Es war wirklich an der Zeit … »Können wir Damian hinzuholen?«

»Damian?« Silas runzelte die Stirn. »Warum?«

»Weil das Thema auch ihn betrifft«, antwortete Lily.

Ich hole ihn, bot Felina an und schwebte durch die geschlossene Tür.

»Sie weiß also Bescheid …«, murmelte Silas und verzog das Gesicht. Er streifte sich die Schuhe ab und ließ sie neben das Bett fallen.

»Felina hat dich nicht angelogen – sie hat mir nur Zeit gegeben, um mich zu sammeln und es euch zu erzählen. Sei bitte nicht böse auf sie.« Lily drehte sich zu ihm und betrachtete sein markantes Profil, das so gar nicht dem klassischen Schönheitsideal entsprach.

»Ich weiß, aber es ärgert mich trotzdem. Du hättest mir heute früh sagen können, was passiert ist. Wir waren lang genug mit dem Packen beschäftigt.«

Lily seufzte und strich ihm über die Wange. »Ich brauchte einfach Zeit. Und glaub mir – Felina hat mich immer wieder daran erinnert, den Mund aufzumachen. Deswegen will ich jetzt mit Damian und dir reden.« Sie drückte ihm einen kurzen Kuss auf die Lippen. »Auch wenn ich mir sicher bin, dass euch nicht gefallen wird, was ich zu sagen habe.«

»Dann möchte ich es erst recht wissen.«

»Ich auch«, warf Damian ein. Er stand in der Tür, die Hände in die Hüften gestemmt. Sein Blick wanderte über Lily und ihren Freund. »Eleonore liegt mir seit Tagen damit in den Ohren, dass du nachts im Gewölbe warst. Sie hat wohl erwartet, dass ich dich darauf anspreche. Allerdings wollte sie mir nicht verraten, was du gemacht hast.« Er schob einen unbequem wirkenden Holzstuhl ans Bett und ließ sich nieder. »Sie meinte, du müsstest uns ohne Zwang erzählen, was passiert ist.«

»Du bist mir gefolgt?«, fragte Lily entrüstet.

Damian hat mir den Auftrag gegeben, dich im Auge zu behalten, bis … Sie geriet ins Stocken. Hätte sie Flügel gehabt, sie hätte sie um sich gelegt, wie Adrian es immer tat, wenn er unsicher war. … Adrian zurückkommt.

»Ein guter Aufhänger.« Lily beschloss, nicht lange um den heißen Brei herum zu reden. Sie behielt Damian im Blick, suchte unwillkürlich nach dem Anhänger, den er einst geschaffen hatte, um Eleonore zu erreichen. »Laut Kiria wird er es ohne meine Hilfe nicht schaffen, zurückzukommen. Es liegt an mir, ihm zu helfen.«

»An dir?« Silas richtete sich auf die Ellenbogen auf. »Wie soll das …«

Ein tiefes Seufzen seitens Damians unterbrach ihn. Der Magier fuhr sich durchs Haar und sah kurz aus dem Fenster. »Ich hatte gehofft, dass es nicht notwendig ist …«

»Was notwendig ist?« Silas stand endgültig auf und begann, nervös im Zimmer auf und ab zu gehen.

»Einen Engelsrufer herzustellen«, entgegnete Damian und schob den Ärmel des Hemdes nach oben. An seinem Handgelenk trug er ein stabiles Armband, an dem ein Anhänger baumelte. Er war silbern und recht einfach gefertigt. Die braune Kugel in der Mitte war fast nicht zu sehen. »Kiria hat dir davon erzählt, nicht wahr?«

Lily nickte und betrachtete fasziniert das Schmuckstück. »Du trägst ihn nicht um den Hals …«, murmelte sie. »Moment mal – du weißt die ganze Zeit, dass ich einen Engelsrufer brauche, um Addy zu erreichen …«

Damian hob die Achseln. Ein trauriges Lächeln huschte über sein Gesicht. »Ehrlich gesagt, habe ich es nur vermutet. Eleonore und ich waren uns nicht sicher, ob es nicht auch ohne geht, doch inzwischen ist viel Zeit vergangen und er ist immer noch nicht wieder aufgetaucht. Ich hätte dich in den nächsten Tagen darauf angesprochen, aber da war Kiria wohl schneller als ich.«

»Worüber genau redet ihr?«, mischte sich Silas ein. »Bin ich der Einzige, der nicht weiß, was los ist?«

»Entschuldige.« Lily schob sich aus dem Bett und trat zu ihm. Leise berichtete sie ihm von Kirias Worten, ihren Erklärungen zum Engelsrufer und den Hintergründen. Sie spürte, dass Silas zu Beginn wütend, zuletzt aber eher besorgt war. Wie es Lily geahnt hatte, gefiel ihm die Tatsache, Lily das Anzapfen fremder Seelenenergie für einen Zauber beibringen zu müssen, überhaupt nicht.

»Gibt es keinen anderen Weg?« Silas sah zu Damian. »Kannst du nicht den Anhänger formen?«

»Das geht nicht. Ein Engelsrufer muss komplett vom Magier selbst hergestellt werden. Das ist wichtig, da er ansonsten nicht funktioniert.« Er schien zu überlegen und sich mental mit Eleonore auszutauschen. »Es gibt leider keinen anderen Weg, als Lily diesen unschönen Zauber beizubringen. Und damit niemand seine Energie opfern muss, werden Eleonore und ich uns zur Verfügung stellen. Wir sind gefestigt genug, um den Verlust ausgleichen zu können.«

Lily beobachtete ihren Freund. Es war offensichtlich, dass er mit dieser Lösung nicht einverstanden war. Er schielte zu Felina, betrachtete den fehlenden Flügel und das zerzauste Haar. Sie nickte ihm zu. »Felina stellt ebenfalls ihre Energie zur Verfügung.«

»Ich denke nicht …«

»Du solltest Lily eher anleiten, Damian. Sie wird nicht nur erstmals fremde Energie in einen Zauber weben, sondern auch etwas wie dieses Schmuckstück erschaffen müssen. Es wäre besser, wenn derjenige, der darum weiß, sie notfalls unterstützen kann.« Seine Schultern verrieten seine Anspannung. »Außerdem gehört Lily zu mir! Wir stehen uns durch die Ereignisse der letzten Wochen viel näher als ihr beide. Es wird ihr leichter fallen, auf meine Kräfte zuzugreifen.«

Außerdem ist es persönlicher … ihre Seelen haben sich bereits berührt, als Lily in der magischen Dunkelheit nach Silas gesucht hat. Das schweißt zusammen. Felina schwebte zu Eleonore und blickte sie direkt an.

Damians Begleiter wiegte den Kopf. So leid es mir tut, sie hat recht, Damian. Der Anhänger muss von Lily eigentlich mit der Energie ihres Schutzengels geschaffen werden – da Adrian nicht da ist, wäre es wirklich besser, wenn sie auf Felina zurückgreift. Ihre Bindung zu Silas ist wesentlich stärker …

»Auch in Ordnung«, gab sich Damian geschlagen. »Wir sollten das so schnell wie möglich angehen. Mit jedem Tag wird es schwieriger werden, Adrian zu erreichen.« Er strich sich grübelnd über das Kinn und wandte sich ab. »Zunächst brauchen wir Silber - glücklicherweise habe ich etwas, was uns helfen könnte.«

Im nächsten Moment war er aus dem Zimmer verschwunden und polterte den Gang entlang. Eleonore folgte ihm. Was sie sagte, konnte Lily nicht mehr verstehen.

»Bist du dir sicher, dass du das machen willst?« Lily tastete nach Silas‘ Hand und schob ihre Finger zwischen seine. »Ich will Felina nicht wehtun. Und dir auch nicht.«

Ein Lächeln erhellte Silas‘ Gesicht. Mit der freien Hand strich er über Lilys Wange und hauchte ihr einen Kuss auf die Lippen. »Ich weiß, aber du darfst nicht vergessen, dass wir zusammengehören. In so einer Angelegenheit unterstütze ich dich, niemand sonst. Das ist gewissermaßen mein Privileg.«

Sein Kuss war sanft und doch fordernd. Lily verlor sich in dem betörenden Duft und der angenehmen Wärme. Ein wohliges Gefühl breitete sich kribbelnd in ihrem Magen aus und ließ sie Zeit und Raum vergessen. Für sie gab es nur Silas, seine Nähe und die Liebe, die aus seinen Blicken und Berührungen sprach.

Erst das leise Räuspern von Damian brachte sie ins Hier und Jetzt zurück. Behutsam löste sich Silas von ihr, nicht ohne ein letztes Mal durch Lilys blonde Locken zu streichen. »Soll ich morgen wiederkommen?«

»Neidisch?«, fragte Silas mit einem breiten Grinsen.

Damian verdrehte die Augen und legte zwei Armbänder auf den Nachttisch. »Die sind beide aus Silber und sollten für einen Anhänger reichen.«

Lily trat näher und betrachtete die grob gearbeiteten Schmuckstücke. Sie waren nichts Besonderes – ebenso schlicht und einfach wie das Armband, das er trug. »Bist du sicher, dass ich die dafür nehmen kann?«

»Wir haben keine Zeit, uns Rohsilber zu besorgen. Das sollte ausreichen.«

Du solltest Lily wenigstens sagen, was es mit den Armbändern auf sich hat. Eleonore verschränkte die Arme vor der Brust. Als Damian schwieg, setzte sie zu einer Antwort an: Das sind Geschenke deiner Eltern. Sie haben sie Damian überreicht, als er euer Pate wurde.

»Das ist nicht wichtig, Eleonore«, sagte Damian und drehte seinem Schutzengel den Rücken zu.

»Aber sie sind dir wichtig«, widersprach Lily. Das warme Kribbeln, das Silas Kuss ausgelöst hatte, verwandelte sich allmählich in ein unangenehmes Ziehen. »Es wäre falsch, sie dafür zu …«

»Wäre es nicht – gerade weil sie von deinen Eltern stammen. Du hast schließlich nichts von ihnen. Auf diesem Weg sind sowohl sie als auch ich immer bei dir.«

»Trotzdem fühlt es sich falsch an. Können wir uns nicht hier umsehen? Cluj-Na…« Lily verdrehte die Augen. Sie würde es nie hinbekommen, die Stadt korrekt auszusprechen. Wie gut, dass die rumänische Metropole auch einen deutschen Namen hatte. »Klausenburg ist nicht so klein, als dass wir in der Stadt keinen passenden Laden finden.«

»Da wir morgen früh bereits nach Ramet aufbrechen, haben wir keine Zeit, nach einem Silberschmied zu suchen. Die Armbänder werden ihren Zweck erfüllen.«

Lily zögerte dennoch. Ihr gefiel der Gedanke nicht, Damian die letzten Erinnerungsstücke an ihre Eltern wegzunehmen, um den Engelsrufer herzustellen. Andererseits war es reizvoll, etwas zu tragen, das ihren Eltern gehört hatte. Immerhin war ihr nichts von ihnen geblieben.

Es ist in Ordnung, Lily, sagte Eleonore. Du musst dich nicht um Damian sorgen. Er hat sich das Ganze gut überlegt.

»Willst du das jetzt direkt angehen, Damian?«, mischte sich Silas ungläubig ein. »Wir sollten das nicht überstürzen. Wir haben beide gesehen, was passieren kann, wenn ein Magier die Kontrolle verliert.«

»Viel Zeit haben wir nicht mehr und es wird garantiert mehrere Tage dauern, bis Lily den Anhänger überhaupt angehen kann. Wir müssen uns beeilen. Je länger wir brauchen, umso schwieriger wird es für Adrian, zurückzufinden.« Er seufzte und fuhr sich durchs Haar. »Deswegen sollten wir heute zumindest mit den Grundlagen anfangen: Dem Anzapfen fremder Energie.«

Silas rollte genervt mit den Augen und begann seine Tasche auszupacken, obwohl sie morgen früh weiterfuhren und er sich unnötig Arbeit machte.

Damian ignorierte ihn und setzte zu einer Erklärung an: »Das Anzapfen fremder Energie ist leider ziemlich simpel – ganz besonders, wenn der Zauberer auf keinen Widerstand stößt. Dass du die Gabe des Erkennens hat, wird es dir leichter machen, glaub mir. Ich hatte nie Schwierigkeiten damit, fremde Seelenenergie zu nutzen …« Er räusperte sich. Ein Schatten huschte über sein Gesicht. »Zunächst musst du dich auf Felina konzentrieren und ihre Energie erspüren. Hast du das Band zwischen ihr und Silas gefunden, kannst du die Kraft, die daraus entspringt, für dich nutzen und in deine Zauber einweben.«

»Und das Formen des Anhängers?«, fragte Lily.

»Das gestaltet sich etwas schwieriger.« Damian strich über den Engelsrufer an seinem Handgelenk und schien zu überlegen. »Dafür gibt es nämlich keine Anleitung. Jeder Zauberer hat da eine eigene Vorgehensweise. Da dein Herz die Form bestimmt, entspricht der Zauber deiner Natur. Das bedeutet, dass du für dich entscheiden musst, wie du vorgehen möchtest. Ich kenne Magier, die dafür ein Ritual durchgeführt haben mit viel Theater und Brimborium. Andere haben das mit wenigen Worten geschafft, still und leise. Deswegen ist das Herstellen eines Engelsrufers nicht so einfach, denn es gibt keine allgemein gültige Vorgehensweise, die man erlernen kann.« Er geriet ins Stocken. »Um ehrlich zu sein, gibt es auch Magier, denen es gar nicht glückt.«

Ein Schauder rann über Lilys Rücken. Sie atmete tief durch, um den Anflug von Panik abzuschütteln. Allein der Gedanke, dass es ihr nicht gelang, einen Engelsrufer herzustellen, brachte ihre Entschlossenheit ins Wanken. Was, wenn sie scheiterte? Würde Adrian dann nie zu ihr zurückkehren?

Silas ließ von seinen Klamotten ab und trat zu ihr. Er zog sie in den Arm und drückte ihr einen federleichten Kuss auf die Stirn. »Du schaffst das, Lily. Du hast schon ganz andere Dinge hinbekommen.«

Außerdem hast du den Vorteil, keine magische Ausbildung genossen zu haben, entgegnete Felina. Wenn ich das richtig verstanden habe, musst du die Magie aus dir heraus wirken, sprich einen natürlichen Weg dafür finden. Ausgebildete Zauberer versteifen sich viel schneller auf gelernte Sprüche und versuchen, mit ihrem Wissen etwas zu erzwingen, anstatt ihrer Intuition zu folgen.

»Aber ihre Intuition ist Adrian und der ist nicht hier«, warf Silas ein.

Ein nachsichtiges Lächeln huschte über Felinas Gesicht. Sie schüttelte den Kopf. Wir führen und leiten euch, aber das bedeutet nicht, dass Menschen keinerlei Intuition, Gefühl und Eigenverantwortung mehr haben, wenn ihre Schutzengel nicht an ihrer Seite sind. Wenn ich die Gegend auskundschafte oder von einem Zauber geschwächt bin, bist du nicht automatisch hilflos.

»Trotzdem wäre es einfacher, wenn Adrian hier wäre«, führte Damian den Gedankengang fort und nickte Felina zu. Lily war stets aufs Neue überrascht, dass auch Damian die Gabe des Erkennens besaß. Nur Silas musste sich die Worte der anderen Begleiter von Felina weitergeben lassen, um die Gespräche nachvollziehen zu können.

»Ist er aber nicht …«, murmelte Lily traurig. Noch immer tat es ihr leid, wie sie ihren Begleiter nach dessen Offenbarung behandelt hatte. Sie war arrogant und unleidlich gewesen, hatte sich nicht einmal die Zeit genommen, sich in seine Lage hineinzuversetzen. Sie musste sich bei Adrian entschuldigen und alles wiedergutmachen, was sie ihm an den Kopf geworfen hatte. Sie war bereit, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um ihren Schutzengel zurückzuholen. Sie nahm Damians Armbänder und drehte sie zwischen den Fingern. Trotz Damians ausführlicher Erklärung wusste sie weder, wie man fremde Energie für einen Zauber nutzte, noch wie sie den Engelsrufer herstellen sollte.

»Wollen wir es versuchen?« Damian nahm ihr die Schmuckstücke aus der Hand und legte sie aufs Bett. »Ein erster Anlauf, um zu sehen, wie weit du bist. Wäre das okay für dich, Silas?«

»Sicher … machen wir Nägel mit Köpfen.« Seufzend löste er sich von Lily und trat beiseite, um ihr genügend Raum zu geben. Ihm schien alles ein wenig zu schnell zu gehen, doch er flüsterte ihr lediglich zu: »Du schaffst das. Felina und ich geben dir unsere Energie freiwillig. Such‘ unser Seelenband … du hast es schon einmal gefunden.«

Damian nickte lächelnd und trat einige Schritte zurück. »Schließ die Augen und konzentriere dich auf das Band zwischen Felina und Silas. Es sollte als blauer Lichtstrom sichtbar werden. Sobald du es vor deinem inneren Auge siehst, greif nach der Energie und forme einen simplen Zauber. Ich denke, ein Schutzschild ist nicht zu schwierig und braucht nur wenig Kraft, wenn es nicht durch einen Zauber beschädigt oder zerstört wird.«»

Lily nickte und versuchte ihr Glück. Überraschend schnell wurde die Verbindung zwischen den beiden vor ihrem geistigen Auge sichtbar. Sie ähnelte dem Pfad aus Licht, dem sie gefolgt war, um Silas in der magischen Dunkelheit seines Vaters wiederzufinden und erinnerte sie zeitgleich an das Band, das sie mit Adrian verband.

»Siehst du ihn?«, fragte Damian.

»Ja.« Lily straffte die Schultern und behielt das Licht im Blick. »Ging ganz leicht.«

»Ihr steht euch sehr nahe, deswegen ist es einfach für dich. Bei Fremden hättest du viel mehr Probleme.« Damians Stimme klang angespannt, während er mit seinen Erklärungen fortfuhr. »Du kannst danach greifen. Geh behutsam und ohne Hast vor. Erforsche zunächst die Verbindung, lerne sie kennen. Das ist ein wenig wie bei dem Band zwischen dir und Adrian. Sobald du ein Gefühl dafür hast, versuche, die Energie für deinen Zauber zu nutzen.«

Lily gab ihr Bestes, die Ratschläge des Magiers umzusetzen. Mit zusammengepressten Lippen konzentrierte sie sich auf den Strom aus Licht, folgte ihm von Felina zu Silas und näherte sich langsam dem Seelenband. Es fiel ihr nicht so leicht wie das Sehen, aber irgendwann bekam sie ein Gefühl für Silas‘ Seele und die Energie, die in ihr schlummerte. Es glich einem warmen Pulsieren, lebendig und stark. Eine ganze Weile genoss sie die angenehme Wärme, die die enge Bindung zwischen Felina und Silas ausstrahlte. Ihre Seele hatte bereits die von Silas berührt und das Kribbeln, das sich in ihrem Magen ausbreitete und bis in ihre Fingerspitzen strahlte, fühlte sich einfach unglaublich an. Sie spürte Silas‘ tiefe Liebe und hatte fast den Eindruck, dessen Gedanken zu hören.

Schließlich tastete sie nach der verborgenen Energie und murmelte leise: »Pericula Coerce.«

Nichts geschah.

Lily startete einen weiteren Versuch, während sie mehr von der Kraft abzweigte, die dem Band aus Licht innewohnte. Für wenige Sekunden flammte ein blauer Schild auf, dann verpuffte er mit einem kläglichen Seufzen.

»Für das erste Mal war das wirklich gut«, beschied Damian und klopfte ihr auf die Schulter.

Lily fühlte sich an den Moment erinnert, als sie unter Damians Anleitung den Schutz mit Adrians Energie aufgebaut hatte. Da war der Schild auch binnen weniger Augenblicke in sich zusammengefallen. Dennoch hatte sie gehofft, dieses Mal schneller von der Stelle zu kommen.

»Probiere es gleich nochmal«, schlug Damian vor. »Lass dir vielleicht mehr Zeit, um die Energie besser zu fassen zu bekommen, bevor du sie für deine Magie nutzt.«

Der nächste Zauber hielt länger, doch der Schutz war so winzig, dass er gegen einen Angriff kaum geholfen hätte. Zudem zuckte Felina zusammen und wurde für einen Moment noch blasser und durchscheinender.

»Alles in Ordnung?«, fragte Lily besorgt. Ihr Blick fiel auf Silas, dessen Gesicht sichtbar Farbe verloren hatte.

»Dafür, dass der Schild zu mickrig war, hast du eben eine Menge Energie genommen.«

Damian runzelte die Stirn. »Klingt, als würdest du die Kraft, die du dir borgst, nicht richtig umsetzen. Es geht zu viel beim Transfer von Silas zu dir verloren.«

Wenn sie näher beieinander stünden, könnte das vielleicht helfen, schlug Felina vor und legte ihren Flügel um sich. Sie rieb sich die Oberarme.

Ich denke nicht, dass das wirklich etwas bringt, aber wir können es probieren. Eleonora legte einen Arm um Silas‘ Schutzengel und strich ihr behutsam über den Rücken.

Lily folgte der Anweisung und trat näher zu Silas. Sofort stieg ihr der angenehm würzige Duft seiner Haut in die Nase und brachte sie unweigerlich auf falsche Gedanken.

Vielleicht hilft sogar ein Kuss. Dann seid ihr euch wirklich nah. Eleonore sah zu Damian, der zögerlich nickte.

›Dann kann ich mich aber nicht richtig auf den Zauber konzentrieren …‹, schoss es Lily durch den Kopf, doch sie hütete sich davor, ihre Gedanken in Worte zu packen. Da Silas keine Anstalten machte, sie zu küssen, probierte sie es auf normalem Wege. Sie atmete tief durch, versuchte die Präsenz ihres Freundes auszublenden und tastete nach dem Band zwischen Silas und Felina.

Dieses Mal gelang es ihr tatsächlich, mehr Energie in den Zauber zu leiten und ein stärkeres Schild zu erschaffen. Es hielt zwar nur eine halbe Minute, doch es wirkte resistent und stabil. Auch schienen Silas und Felina ihren Zauber besser zu vertragen als zuvor.

»Ein interessanter Effekt«, murmelte Damian. »Vielleicht liegt es daran, dass Adrian nicht da ist, um dich beim Nutzen fremder Seelenenergie zu unterstützen. Normalerweise nimmt der Schutzengel dem Magier einiges an Arbeit ab. Ein Kuss als zusätzliche Verbindung ist wahrscheinlich nicht verkehrt, wenn du dich an den Anhänger machst.«

Lily verzog das Gesicht, was dazu führte, dass Silas die Augenbrauen hob und einen Schritt zurücktrat. »Du verstehst das falsch … ich fürchte, meine Konzentration wird immens darunter leiden, wenn wir uns dabei küssen.« Sie spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht schoss. »Wer weiß, was ich dann für einen Zauber wirke und was dabei herauskommt.«

Silas nickte, konnte sich ein breites Grinsen jedoch nicht verkneifen.

»Das dürfte eigentlich kein Problem sein, im Gegenteil. Der Anhänger spiegelt dein Herz wieder – Silas nimmt einen großen Teil davon ein. Mit etwas Glück fällt es dir sogar leichter, den Anhänger zu erschaffen, wenn dir Silas so nah ist«, nahm Damian ihr den Wind aus den Segeln.

Lily hatte das Gefühl, krebsrot zu sein. Sie wusste nicht, wie sie auf diesen Vorschlag reagieren sollte. Einerseits klang es logisch, andererseits hatte Lily keine Ahnung, wie sie vernünftig zaubern sollte, wenn Silas mit seiner Zunge ihren Mund erkundete. Und das auch noch während Damian dabei zusah …

»Wollen wir gleich anfangen?«, fragte Silas neckisch und zog Lily mit einem Ruck an sich heran. Sie spürte deutlich, dass ihn der Gedanke an einen derartigen Kuss erregte. Dabei hätte er garantiert keinerlei Kraft mehr, wenn Lily mit dem Anhänger fertig war.

»Ich denke, das verschieben wir erstmal … zunächst sollte Lily noch daran arbeiten, deine Seelenenergie kontrollierter einzusetzen. Ein Schild ist kräfteschonender als das Formen von Silber. Deinetwegen sollte sie zunächst sicherer werden, bevor wir den Anhänger in Angriff nehmen …«

»Und Adrian?«, fragte Lily. Kiria klang danach, als sollte sie sich beeilen.

»Ein paar Tage wirst du dich gedulden müssen. Du brauchst mehr Übung, Lily, denn für den Engelsrufer hast du nur einen Anlauf. Es nützt niemandem etwas, wenn du bei deinem Zauber Silas und Felina ernsthaft Schaden zufügst.«

Der nächste Morgen begann viel zu früh – es mochte erst sieben Uhr sein, als sich Radu mit einem Klopfen und den Worten »Guten Morgen. In einer guten Stunde fahren wir los!« bemerkbar machte.

Lily hatte das Gefühl, gerade erst vor wenigen Minuten eingeschlafen zu sein. Die halbe Nacht hatte sie sich mit Üben um die Ohren geschlagen, die restliche Zeit hatten sie und Silas für andere Dinge genutzt. Natürlich war es nicht nur beim Küssen geblieben, wenngleich Damian recht behielt – die Zauber fielen Lily wirklich leichter, wenn sie Silas nahe war. Dennoch musste sie sich in den kommenden Tagen, wenn nicht Wochen zusammenreißen. In Ramet hatten sie garantiert kein Zimmer, in das sie sich zurückziehen konnten.

Da Silas noch schlief, nutzte Lily die Gelegenheit, das Bad aufzusuchen und zu duschen. Auch das war mit etwas Pech in Radus Heimatdorf nicht möglich, denn laut Google war das Dörfchen noch sehr altertümlich, fast schon rückständig. Vielleicht irrte sie sich auch, doch sie wollte auf alles vorbereitet sein.

Als sie frisch geduscht und angezogen aus dem Badezimmer trat, hatte sich Silas zumindest aufgesetzt und blinzelte verschlafen in die aufgehende Sonne. Sein Haar stand ihm kreuz und quer vom Kopf ab, auf seiner blassen Haut zeichneten sich rote Muster der Bettdecke ab. Er wirkte zerknittert, aber sehr zufrieden.

»Du bist schon fertig …«, stellte er mit leichtem Bedauern in der Stimme fest.

»Radu will binnen der nächsten halben Stunde aufbrechen.«

»Ich weiß – er hat laut genug gebrüllt.« Silas schlug die Decke beiseite und stand auf. Dass er vollkommen nackt war, störte ihn überhaupt nicht. »Wir hätten zusammen duschen können.«

»Und Radu damit vollkommen in den Wahnsinn getrieben?« Lily schüttelte den Kopf und warf ihm einige frische Klamotten zu. »Du hattest letzte Nacht deinen Spaß.«

»Tu nicht so, als hätte dir nicht gefallen, was ich gemacht habe.« Er trat näher und fing Lily ein, bevor sie sich über das Bett hermachen konnte. Er gab ihr einen stürmischen Kuss und schmiegte sich eng an ihren Körper. »Du hast dich zumindest nicht beschwert, als ich …«

»Genug jetzt«, unterbrach Lily ihn kichernd und ließ ihre Finger über seine Seiten wandern. Den leichten Schauder, der Silas erfasste, spürte sie nur allzu deutlich. »Du solltest dich wirklich beeilen, oder willst du, dass Radu beim nächsten Besuch die Tür eintritt?«

»Nein, das wäre dann doch zu viel Stress am frühen Morgen.« Er stahl sich einen weiteren Kuss, den Lily mit einem Klaps auf seinen Hintern quittierte, und verzog sich dann ins angrenzende Badezimmer.