Wie ein Hauch im Wind - Josephine Tey - E-Book

Wie ein Hauch im Wind E-Book

Josephine Tey

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Beschreibung

Die Bewohner von Salcott St Mary haben es nicht leicht. In dem einst beschaulichen Dörfchen haben sich die überspanntesten Künstler*innen Londons angesiedelt: Lavinia Fitch, Autorin romantischer Frauenromane, Bühnenstar Marta Hallard und Miss Easton-Dixon, die jährlich ein Buch mit Weihnachtsmärchen veröffentlicht, sind noch die Harmlosesten. Hinzu kommen ein verlogener Rundfunkjournalist, ein arroganter Dramatiker, ein verkrachter Balletttänzer und ein hasserfüllter naturalistischer Schriftsteller. Der Besuch eines kalifornischen Starfotografen mischt die Künstler*innenkolonie gehörig auf: Alle sind sich einig, dass von Leslie Searle eine schier übermenschliche Attraktivität ausgeht. Und dann verschwindet der geheimnisvolle Schöne spurlos. Alan Grant, Inspector von Scotland Yard und enger Freund von Marta Hallard, wird hinzugezogen. Beinahe jede*r der schrulligen Künstler*innen hätte ein Motiv – und keine*r hat ein Alibi. Aber wer von ihnen wäre raffiniert genug für einen so ausgeklügelten Mord, dessen Opfer sich in Luft aufgelöst zu haben scheint?

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Seitenzahl: 348

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Josephine Tey

Wie ein Hauch im Wind

Roman

Aus dem Englischen von Manfred Allié

Oktopus

1

Grant hielt inne, den Fuß auf der untersten Treppenstufe, und horchte auf die schrillen Schreie, die vom oberen Stockwerk herunterdrangen. Neben den Schreien hörte er ein dumpfes, gleichmäßiges Grollen; ein elementarer Klang wie ein Waldbrand oder ein Fluss, der Hochwasser führt. Widerwillig stieg er hinauf und kam zu dem unvermeidlichen Schluss – die Party war ein Erfolg.

Er kam nicht als Gast. Literarische Sherrypartys, selbst die besseren darunter, waren nichts für Grant. Er wollte lediglich Marta Hallard abholen und sie dann zum Essen ausführen. Zugegeben, es war nicht gerade üblich, dass Polizisten mit großen Schauspielerinnen ausgingen, deren Leben sich zwischen dem Haymarket und dem Old Vic abspielt; nicht einmal, wenn es sich bei diesem Polizisten um einen Detective-Inspector bei Scotland Yard handelte. Drei Gründe gab es für seine privilegierte Stellung, und Grant kannte sie alle drei. Zunächst einmal konnte er sich als Begleiter sehen lassen, zum anderen konnte er es sich leisten, bei Laurent’s zu Abend zu essen, und zum Dritten fiel es Marta Hallard nicht leicht, jemanden zu finden, der mit ihr ausging. Wegen ihrer Eleganz und des großen Ansehens, das sie genoss, fürchteten sich die Männer ein wenig vor Marta. Deshalb hatte sie auch, als Grant, zu der Zeit noch ein kleiner Detective-Sergeant, in ihr Leben getreten war – es war damals um gestohlene Diamanten gegangen –, darauf geachtet, dass er nicht wieder ganz daraus verschwand. Und Grant war gerne geblieben. So nützlich er Marta war, wenn sie einen Kavalier brauchte, so viel nützlicher war sie für ihn als ein Fenster zur Welt. Je mehr Fenster zur Welt ein Kriminalbeamter hat, desto mehr steigen die Chancen, dass er erfolgreich bei seiner Arbeit ist, und Marta war Grants Guckloch in die Welt des Theaters.

Das Getöse der rauschenden Party schwallte Grant durch die offenen Türen vom Treppenabsatz her entgegen, und er hielt inne, um die wie Sardinen in den lang gestreckten klassizistischen Raum gepackte kreischende Menge zu betrachten und sich zu überlegen, wie er Marta da herausbekommen sollte.

Gleich hinter der Tür stand ein junger Mann, dem diese dichte Mauer aus schwatzenden und trinkenden Menschen offenbar die Sprache verschlagen hatte, und machte einen verlorenen Eindruck. Er hatte den Hut noch in der Hand und war wohl eben erst eingetroffen.

»Schwierigkeiten?«, fragte Grant, als sich ihre Blicke trafen.

»Ich habe mein Megaphon vergessen«, antwortete der junge Mann.

Er sagte es mit einer sanften, schleppenden Stimme und versuchte gar nicht erst, gegen den Lärm anzukommen. Doch gerade dieser Unterschied im Tonfall ließ seine Worte durchdringender erscheinen, als wenn er gebrüllt hätte. Grant warf ihm einen zweiten, anerkennenden Blick zu. Nun, als er sich ihn genauer ansah, stellte er fest, dass der junge Mann wirklich ausgesprochen gut aussah. Zu blond für einen reinrassigen Engländer. Womöglich ein Norweger?

Oder Amerikaner. Etwas an der Art, wie er »vergessen« ausgesprochen hatte, ließ darauf schließen, dass er von der anderen Seite des Atlantiks stammte.

Es dämmerte bereits an diesem Nachmittag im Vorfrühling, und die Lampen brannten. Durch den Zigarettenrauch konnte Grant Marta am entgegengesetzten Ende des Raumes sehen; sie lauschte dem Dramatiker Tullis, der ihr von seinen Tantiemen erzählte. Er brauchte nicht zu hören, was Tullis sagte, um zu wissen, dass er über seine Tantiemen sprach; Tullis sprach nie über etwas anderes. Tullis konnte einem auf Anhieb sagen, was sein Abendessen für drei am Ostermontag 1938 in Blackpool eingespielt hatte. Marta tat nicht einmal mehr so, als ob sie zuhören würde, und machte ein mürrisches Gesicht. Wenn ihr Adelstitel noch lange auf sich warten ließ, dachte Grant, würde die Enttäuschung Marta noch so zusetzen, dass sie sich liften lassen müsste. Er beschloss, an Ort und Stelle zu bleiben, bis es ihm gelänge, sie auf sich aufmerksam zu machen. Sie waren beide groß genug, um über die Köpfe einer gewöhnlichen Menschenmenge hinwegzublicken.

Als eingefleischter Polizist ließ er automatisch den Blick über die Menge zwischen ihnen gleiten, aber er fand nichts, was der Aufmerksamkeit wert gewesen wäre. Es war die übliche Versammlung. Die sehr wohlhabende Firma Ross and Cromarty gab einen Empfang anlässlich der Veröffentlichung von Lavinia Fitchs einundzwanzigstem Buch, und da es hauptsächlich Lavinia zu verdanken war, dass die Firma prosperierte, flossen die Getränke in Strömen, und die Gästeschar war erlesen. Erlesen zumindest, soweit es ihre Kleidung und ihren gesellschaftlichen Bekanntheitsgrad anging. Diejenigen, die durch Leistung wohlverdiente Anerkennung gefunden hatten, feierten weder die Geburt von Maureens Liebhaber, noch tranken sie den Sherry der Messrs Ross and Cromarty. Auch Marta, deren Erhebung in den Adelsstand nur noch eine Frage der Zeit war, war nur hier, weil sie und Lavinia auf dem Lande Nachbarn waren. Und Marta mit ihrer Eleganz in Schwarz und Weiß und ihrem grimmigen Gesichtsausdruck war das Vornehmste, was in diesem Saale zu finden war.

Es sei denn, dass dieser junge Mann, den er nicht kannte, zur Party mehr beitragen konnte als nur sein gutes Aussehen. Er überlegte, womit der Fremde wohl sein Geld verdiente. Ein Schauspieler? Aber ein Schauspieler würde nicht hilflos vor einer Menschenmenge stehen bleiben. Und da war etwas in dem indirekten Kommentar gewesen, den er in seiner Bemerkung über das Megaphon hatte anklingen lassen, hatte etwas in der Distanziertheit, mit der er die Szene betrachtete, gelegen, das ihn von den anderen Anwesenden abhob. War es möglich, überlegte Grant, dass jemand mit einem so edel geschnittenen Gesicht im Büro eines Börsenmaklers versauerte? Oder schmeichelte etwa das sanfte Licht der teuren Lampen von Messrs Ross and Cromarty dieser geraden Nase und dem glatten blonden Haar, und bei Tageslicht war der junge Mann gar nicht so gut aussehend?

»Vielleicht können Sie mir sagen«, fragte dieser nun und ließ sich nach wie vor nicht dazu verleiten, die Stimme zu erheben, »welche der Damen Miss Lavinia Fitch ist?«

Lavinia war die kleine rotblonde Frau, die am mittleren Fenster stand. Sie hatte speziell für diese Feier einen modischen Hut erstanden, aber nichts getan, um für ein passendes Umfeld zu sorgen; so hing denn der Hut auf dem rötlichen Haar, das an ein Vogelnest erinnerte, als ob er aus einem Fenster heruntergefallen sei, als sie gerade die Straße entlangging. Sie hatte ihr übliches freudig überraschtes Gesicht aufgesetzt und war ungeschminkt.

Grant zeigte dem jungen Mann, wo sie stand.

»Fremd in der Stadt?«, fragte er und machte sich eine Wendung zu eigen, die in jedem guten Western vorkam. Eine so höfliche Formulierung wie »Miss Lavinia Fitch« verriet unzweifelhaft die amerikanische Herkunft.

»Eigentlich bin ich auf der Suche nach Miss Fitchs Neffen. Ich habe im Telefonbuch nachgeschaut, aber er steht nicht drin, und ich hatte gehofft, ihn hier zu finden. Kennen Sie ihn vielleicht zufällig, Mr …?«

»Grant.«

»Mr Grant?«

»Ich kenne ihn vom Sehen, aber er ist nicht hier. Walter Whitmore meinen Sie, nicht wahr?«

»Ja. Whitmore. Ich kenne ihn überhaupt nicht, aber ich möchte ihn gern kennenlernen, weil wir einen gemeinsamen guten Freund haben … hatten, meine ich. Ich war überzeugt, dass er hier sein würde. Sind Sie sicher, dass er nicht doch da ist? Schließlich sind ja ziemlich viele Leute hier.«

»In diesem Saal ist er jedenfalls nicht. Da bin ich sicher, denn Whitmore ist genauso groß wie ich. Aber er kann natürlich irgendwo in der Nähe sein. Soll ich Sie nicht mit Miss Fitch bekannt machen? Durch die Menschenwand kommen wir schon durch, wenn wir wirklich wollen.«

»Sie stemmen sich dagegen, und ich wusele mich durch«, meinte der junge Mann und spielte auf ihrer beider Statur an. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mr Grant«, sagte er, als sie auf halbem Wege stehen blieben, um Luft zu schnappen, eng aneinandergedrückt zwischen endlosen Reihen von Ellenbogen und Schultern ihrer Mitmenschen, und er lachte hinauf zu dem hilflosen Grant.

Mit einem Male war es Grant beklommen zumute. So beklommen, dass er sich abrupt umwandte und sich weiter durch den Dschungel vorwärtsarbeitete, hin zu der Lichtung, in der Lavinia Fitch am mittleren Fenster stand.

»Miss Fitch«, sagte er, »hier habe ich einen jungen Mann, der Sie gerne kennenlernen möchte. Er ist auf der Suche nach Ihrem Neffen.«

»Nach Walter?«, fragte Lavinia, und ihr kleines, spitzes Gesicht verlor jenen diffusen Ausdruck unbestimmten Wohlwollens und zeigte stattdessen echtes Interesse.

»Ich heiße Searle, Miss Fitch. Ich komme aus den Staaten und mache Urlaub hier, und ich wollte Walter kennenlernen, weil ich mit Cooney Wiggin befreundet war, genau wie er.«

»Cooney! Sie sind ein Freund von Cooney? Oh, Walter wird begeistert sein, mein Lieber, einfach begeistert! Was für eine schöne Überraschung hier mitten unter diesen … so unerwartet, meine ich. Das wird Walter freuen. Searle, sagten Sie?«

»Ja, Leslie Searle. Ich habe Walter nicht im Telefonbuch finden können …«

»Nein, er hat nur ein pied-à-terre in der Stadt. Er lebt draußen in Salcott St Mary – wie wir alle. Er hat seinen Bauernhof dort, wissen Sie. Der Bauernhof, über den er seine Radiosendungen macht. Eigentlich gehört der Hof mir, aber er betreibt ihn und redet darüber und … Heute Nachmittag ist er auf Sendung, deshalb ist er nicht zur Party gekommen. Aber Sie müssen uns dort besuchen kommen, seien Sie unser Gast! Kommen Sie dieses Wochenende. Wir fahren heute Nachmittag zurück.«

»Aber Sie wissen doch gar nicht, ob Walter …«

»Sie haben doch nichts anderes vor am Wochenende, oder?«

»Nein. Nein, das nicht. Aber …«

»Na also. Walter fährt vom Studio direkt zurück, aber Sie können mit Liz und mir in unserem Wagen fahren, und wir überraschen ihn. Liz! Liz, meine Liebe, wo steckst du? Wo wohnen Sie, Mr Searle?«

»Im Westmorland.«

»Na, besser könnte es doch gar nicht sein. Liz! Ich möchte wissen, wo Liz steckt!«

»Hier, Tante Lavinia.«

»Liz, meine Liebe, dies hier ist Leslie Searle. Er fährt mit uns zurück und bleibt übers Wochenende. Er möchte Walter kennenlernen, sie waren beide mit Cooney befreundet. Heute ist Freitag, und am Wochenende fahren wir alle nach Salcott und erholen uns von dieser … Da wird es schön und ruhig und friedlich sein, das könnte doch gar nicht besser passen. Also, Liz, meine Liebe, du fährst ihn zum Westmorland und hilfst ihm packen, und dann kommst du wieder her und holst mich ab, ja? Bis dahin wird diese … wird die Party sicher vorbei sein, und du kannst mich mitnehmen, und wir fahren zusammen nach Salcott und überraschen Walter.«

Grant bemerkte, mit welchem Interesse der junge Mann Liz Garrowby studierte, und wunderte sich ein wenig darüber. Liz war ein kleines, unauffälliges Mädchen mit blassem Teint. Sicher, sie hatte bemerkenswerte Augen – schalkhaft und vergissmeinnichtblau –, und sie hatte eins jener Gesichter, die in einem Mann den Wunsch wecken könnten, mit ihr zusammenzuleben; Liz war ein nettes Mädchen, aber sie war nicht von der Art Mädchen, die einen jungen Mann auf Anhieb fasziniert hätte. Vielleicht hatte Searle ja auch von ihrer Verlobung reden hören und erkannte in ihr Walter Whitmores Verlobte.

Grant verlor das Interesse an Miss Fitchs Sippschaft, als er sah, dass Marta ihn bemerkt hatte. Er gab ihr ein Zeichen, dass er an der Tür auf sie warten werde, und stürzte sich ein zweites Mal in die erdrückenden Fluten. Marta, die Skrupellosere von beiden, legte die doppelte Strecke in der halben Zeit zurück und wartete schon am Ausgang auf ihn.

»Wer ist dieser schöne junge Mann?«, fragte sie und blickte sich noch einmal um, als sie zur Treppe gingen.

»Er ist auf der Suche nach Walter Whitmore. Sagt, er sei ein Freund von Cooney Wiggin.«

»Sagt?«, wiederholte Marta, und es war nicht der junge Mann, sondern Grant, der sie irritierte.

»Berufskrankheit«, entschuldigte Grant sich.

»Und wer ist das überhaupt, Cooney Wiggin?«

»Cooney war einer der bekanntesten Pressefotografen in den Staaten. Ist vor ein oder zwei Jahren umgekommen, als er eine Reportage über eine dieser Krisen auf dem Balkan machte.«

»Du weißt aber auch alles, was?«

Es lag Grant auf der Zunge zu sagen: »Jeder, der nicht gerade Schauspielerin ist, hätte das gewusst«, aber er hatte Marta gern. Stattdessen sagte er: »Wie ich höre, nehmen sie ihn fürs Wochenende mit hinaus nach Salcott.«

»Den hübschen jungen Mann? Na, na. Ich hoffe, Lavinia weiß, was sie tut.«

»Was soll denn falsch daran sein, ihn mit aufs Land zu nehmen?«

»Ich weiß nicht, aber mir kommt es vor, als ob sie ihr Glück herausfordert.«

»Glück?«

»Alles ist doch genau so gekommen, wie sie es sich gewünscht haben, nicht wahr? Walter, aus den Klauen Marguerite Merriams befreit, heiratet Liz und wird häuslich; trautes Familienglück, alles so gemütlich im alten Heim, dass es sich kaum in Worte fassen lässt. Wirklich der unpassendste Augenblick, um einen atemberaubend gut aussehenden Mann ins Haus zu holen, findest du nicht auch?«

»Atemberaubend«, murmelte Grant und überlegte erneut, was an Searle ihn so aus der Fassung gebracht hatte. An seinem guten Aussehen allein konnte es nicht liegen. Ein Polizist lässt sich nicht vom guten Aussehen beeindrucken.

»Ich wette, Emma wirft einen einzigen Blick auf ihn und sorgt dann dafür, dass sie ihn am Montagmorgen direkt nach dem Frühstück aus dem Haus hat«, meinte Marta. »Ihre kleine Liz wird Walter heiraten, und nichts wird dazwischenkommen, solange Emma es verhindern kann.«

»Ich finde, Liz Garrowby sieht nicht so aus, als ob sie sich leicht beeindrucken ließe. Ich wüsste nicht, warum Mrs Garrowby sich Sorgen machen sollte.«

»Tatsächlich? Mir hatte es dieser Junge in dreißig Sekunden angetan – und das aus über zwanzig Metern Entfernung –, und ich gelte ja als praktisch unentflammbar. Außerdem glaube ich nicht, dass Liz sich wirklich in diesen Holzklotz verliebt hat. Sie wollte ihm nur das gebrochene Herz verarzten.«

»War es sehr gebrochen?«

»Ziemlich angegriffen, würde ich sagen. Verständlicherweise.«

»Hast du jemals zusammen mit Marguerite Merriam auf der Bühne gestanden?«

»O ja. Mehrfach. Wir haben lange gemeinsam in Spaziergang im Dunkeln gespielt. Da kommt ein Taxi.«

»Taxi! Was hattest du für einen Eindruck von ihr?«

»Marguerite? Oh, sie war natürlich verrückt.«

»Wie verrückt?«

»Hundert Prozent.«

»Inwiefern?«

»Oh, ihr war einfach alles gleichgültig, außer dem, was sie in dem Augenblick gerade wollte.«

»Das ist kein Wahnsinn; das ist nichts als die kriminelle Psyche in ihrer einfachsten Form.«

»Na, das solltest du ja am besten wissen, mein Lieber. Vielleicht war sie eine Verbrecherin, die ihren Beruf verfehlt hatte. Fest steht jedenfalls, dass sie nicht alle Tassen im Schrank hatte, und nicht einmal Walter Whitmore hätte ich gewünscht, mit ihr verheiratet zu sein.«

»Was hast du eigentlich gegen diesen Liebling des britischen Publikums?«

»Mein Lieber, ich finde ihn unerträglich schmalzig. Es war schon schlimm genug, wenn er vom Thymian auf einem Hügel in der Ägäis schwärmte, wo ihm die Kugeln um die Ohren pfiffen – dafür hat er ja stets gesorgt, dass wir die Schüsse hören konnten; ich hatte ohnehin immer den Verdacht, dass er dafür eine Peitsche verwendet hat …«

»Marta, ich bin entsetzt.«

»Das bist du nicht; nicht im Geringsten. Du weißt es genauso gut wie ich. Als auf uns alle geschossen wurde, da brachte Walter sich in einem hübschen muffigen Büro in Sicherheit, fünfzehn Meter unter der Erde. Doch kaum ist es wieder etwas Besonderes, in Gefahr zu sein, da taucht unser Walter auf aus seinem sicheren Loch und setzt sich auf einen Hügel in den Thymian mit einem Mikrophon und einer Peitsche, mit der er einen Kugelhagel nachmacht.«

»Eines Tages werde ich dich noch gegen Kaution aus dem Gefängnis holen müssen.«

»Totschlag?«

»Nein, böswillige Verleumdung.«

»Kommt man dafür ins Gefängnis? Ich dachte, das gehört zu den kleinen diskreten Vergehen, für die man nur eine Vorladung bekommt.«

Wie wenig man sich doch auf Martas Ahnungslosigkeit verlassen konnte, dachte Grant.

»Aber vielleicht wird es ja doch noch ein Totschlag«, sagte Marta mit jener gurrenden und doch ernsthaften Stimme, für die sie als Schauspielerin so berühmt war. »Den Thymian und die Schüsse konnte ich gerade noch verkraften, aber nun, seit er die ersten Kornfelder des Frühlings und die klopfenden Spechte und all dieses Zeug in Erbpacht genommen hat, ist er zu einem öffentlichen Ärgernis geworden.«

»Warum hörst du dir denn dann seine Sendungen an?«

»Tja, weißt du, es ist etwas fürchterlich Faszinierendes daran. Man denkt sich: Na gut, das ist nun also das Absolute an Abscheulichkeit, was vorstellbar ist, und es gibt nichts Schlimmeres. Und in der folgenden Woche hört man wieder zu, um zu sehen, ob es tatsächlich noch schlimmer werden kann. Er hat einen in seiner Gewalt. Er ist so abscheulich, dass man es nicht einmal fertigbringt, abzuschalten. Fasziniert sitzt man da und wartet auf die nächste Abscheulichkeit – und dann wieder auf die nächste. Und so sitzt man noch da, wenn er sich verabschiedet.«

»Es könnte nicht sein, Marta, dass da der schiere Berufsneid aus dir spricht?«

»Willst du etwa behaupten, dass dieser Kerl ein Profi ist?«, fragte Marta und senkte ihre Stimme dabei um eine volle Quinte, sodass Jahre des Tourneetheaters darin mitschwangen, Jahre der armseligen Provinzunterkünfte, der sonntäglichen Zugfahrten und des Vorsprechens in ungeheizten, dunklen Theatern.

»Nein, was ich sagen will, ist, dass er ein Schauspieler ist. Die Schauspielerei liegt ihm im Blut, er tut es unbewusst, er hat es innerhalb weniger Jahre geschafft, in aller Munde zu sein, ohne wirklich etwas dafür zu tun. Ich könnte es dir schon verzeihen, wenn dir das nicht gefällt. Was fand denn Marguerite so wunderbar an ihm?«

»Das kann ich dir sagen. Seine Unterwürfigkeit. Marguerite war jemand, der gern Fliegen die Flügel ausriss. Walter ließ sich von ihr in kleine Fetzen reißen, kam immer wieder zurück und konnte gar nicht genug davon bekommen.«

»Aber einmal ist er dann doch nicht zurückgekommen.«

»Stimmt.«

»Worum ging es bei dem letzten Streit, weißt du das?«

»Ich glaube nicht, dass es einen Streit gab. Ich denke mir, er hat ihr einfach nur gesagt, er sei fertig mit ihr. Das war es jedenfalls, was er bei der gerichtlichen Untersuchung behauptete. Hast du eigentlich damals die Nachrufe gelesen?«

»Muss ich seinerzeit wohl. Im Einzelnen kann ich mich nicht mehr daran erinnern.«

»Wenn sie noch zehn Jahre älter geworden wäre, hätte sie eine winzige Notiz unter ›Vermischtes‹ auf der letzten Seite bekommen. Aber so bekam sie bessere Nachrufe als die Duse. ›Eine Flamme des Genius ist erloschen, und die Welt ist ärmer geworden.‹ ›Sie war leicht wie ein Herbstblatt und hatte die Anmut einer Weide im Wind.‹ Und noch mehr in dieser Art. Ein Wunder, dass die Zeitungen nicht mit Trauerrand erschienen. Es hatte beinahe etwas von Staatstrauer.«

»Ein weiter Schritt von da zu Liz Garrowby.«

»Die liebe, gute Liz. Wenn Marguerite Merriam selbst für Walter Whitmore zu schlecht war, dann ist Liz zu gut für ihn. Viel zu gut für ihn. Es wäre mir eine Freude, wenn der schöne junge Mann sie ihm vor der Nase wegschnappen würde.«

»Irgendwie sehe ich deinen ›schönen jungen Mann‹ nicht als Ehemann, und Walter kann ich mir in der Rolle ausgezeichnet vorstellen.«

»Aber mein Guter, Walter wird es in seiner Radiosendung verkünden. Er wird alles über ihre Kinder erzählen und von dem Regal, das er für die Speisekammer gezimmert hat, er wird erzählen, wie die Blumenzwiebeln seines Frauchens sprießen, und er wird von den Eisblumen am Kinderzimmerfenster berichten. Da wäre sie schon besser aufgehoben bei … wie hieß er doch gleich?«

»Searle. Leslie Searle.« Geistesabwesend betrachtete er das blassgelbe Neonschild mit der Aufschrift Laurent’s, dem sie sich näherten. »Irgendwie habe ich das Gefühl, dass der Ausdruck ›gut aufgehoben‹ nicht zu Searle passte«, meinte er nachdenklich; von da an dachte er nicht mehr an Leslie Searle bis zu dem Tage, an dem er nach Salcott St Mary geschickt wurde, um nach der Leiche des jungen Mannes zu suchen.

2

»Licht!«, rief Liz, als sie hinaus auf den Bürgersteig trat. »Gutes, helles Tageslicht.« Wohlig sog sie die Nachmittagsluft ein. »Der Wagen steht auf dem Parkplatz um die Ecke. Kennen Sie sich aus in London, Mr … Mr Searle?«

»Ja, ich habe schon öfter Urlaub in England gemacht. Allerdings noch nicht oft so früh im Jahr wie diesmal.«

»Sie haben nichts von England gesehen, wenn Sie es nicht im Frühling gesehen haben.«

»So sagte man mir.«

»Sind Sie mit dem Flugzeug gekommen?«

»Von Paris, wie jeder ordentliche Amerikaner. Auch der Pariser Frühling ist sehenswert.«

»So sagte man mir«, antwortete sie und ahmte seine Worte und den Tonfall nach. Und dann, nachdem sie durch den Blick, den er ihr zuwarf, etwas eingeschüchtert worden war, fuhr sie fort: »Sind Sie Journalist? Haben Sie so Cooney Wiggin kennengelernt?«

»Nein, ich arbeite in derselben Sparte wie Cooney.«

»Pressefotografie?«

»Keine Presse. Einfach nur Fotografie. Den größten Teil des Winters verbringe ich an der Küste und mache Porträtaufnahmen.«

»An der Küste?«

»Kalifornien. Das hält meinen Bankdirektor bei Laune. Und die zweite Hälfte des Jahres bin ich auf Reisen und fotografiere alles, wonach mir der Sinn steht.«

»Hört sich nach einem schönen Leben an«, meinte Liz, während sie die Autotür aufschloss und einstieg.

»Es ist ein ausgezeichnetes Leben.«

Der Wagen war ein zweisitziger Rolls, ein wenig altmodisch in der Form, wie die Rolls, die ewig halten, zwangsläufig wirken. Liz gab Erläuterungen, während sie den Parkplatz verließen und sich in den Spätnachmittagsverkehr einreihten.

»Das Erste, was Tante Lavinia sich kaufte, als sie Geld verdiente, war eine Zobelstola. Sie hatte immer geglaubt, eine Zobelstola sei das Nonplusultra der guten Kleidung. Und das Nächste, was sie haben wollte, war ein Rolls. Den kaufte sie sich dann von ihrem zweiten Buch. Die Stola hat sie nie getragen; sie fand es furchtbar lästig, immer etwas um den Hals baumeln zu haben; aber der Rolls war ein voller Erfolg, und deshalb fahren wir ihn noch heute.«

»Was geschah mit dem Zobelpelz?«

»Sie hat ihn gegen zwei Queen-Anne-Stühle und einen Rasenmäher eingetauscht.«

Als sie vor dem Hotel anhielten, sagte sie: »Hier darf man nicht parken. Ich fahre zu dem Parkplatz drüben und warte dort auf Sie.«

»Aber wollen Sie denn nicht meine Sachen packen?«

»Ihre Sachen packen? Ganz gewiss nicht.«

»Aber Ihre Tante sagte, Sie würden es tun.«

»Das war nur so eine Redewendung.«

»Das habe ich aber anders verstanden. Dann kommen Sie doch wenigstens mit hinauf, und schauen Sie zu, wie ich packe. Stehen Sie mir zur Seite, und haben Sie ein Auge auf mich. Ein hübsches Auge.«

Am Ende war dann doch tatsächlich Liz diejenige, die die Sachen in seine zwei Koffer packte, während er sie aus den Schubladen holte und ihr zuwarf. Es waren, wie ihr auffiel, durchweg sehr teure Sachen, allesamt maßgeschneidert und aus den besten Stoffen.

»Sind Sie schwerreich oder einfach nur ein großer Verschwender?«, fragte sie.

»Sagen wir, verwöhnt.«

Als sie das Hotel verließen, verzierten bereits die ersten Straßenlampen das Tageslicht.

»Ich finde, das ist die schönste Art von Lampenlicht«, sagte Liz. »Wenn die Sonne noch nicht untergegangen ist. Narzissengelb und zauberhaft. Gleich, wenn es dunkel ist, werden die Lampen weiß und gewöhnlich.«

Sie fuhren zurück nach Bloomsbury, nur um dort zu erfahren, dass Miss Fitch inzwischen gegangen war. Ross, die eine Hälfte der Firma, lag völlig erschöpft in einem Sessel und labte sich versonnen an dem, was vom Sherry noch übrig geblieben war; er raffte sich zu einem schwachen Abglanz seiner üblichen Bonhomie auf und teilte ihnen mit, dass Miss Fitch entschieden habe, in Mr Whitmores Wagen sei mehr Platz, und dann zum Studio gefahren sei, um ihn dort abzuholen, wenn er seine halbstündige Sendung beendet habe. Miss Garrowby und Mr Searle sollten ihnen nach Salcott St Mary folgen.

Während der Fahrt aus London heraus schwieg Mr Searle, wohl um die Fahrerin nicht abzulenken, wie Liz annahm, und das gefiel ihr an ihm. Erst als rechts und links grüne Felder erschienen, begann er über Walter zu sprechen. Cooney hatte offenbar große Stücke auf Walter gehalten.

»Sie waren also nicht mit Cooney Wiggin auf dem Balkan?«

»Nein, ich kannte Cooney von zu Hause, von den Staaten her. Aber in seinen Briefen hat er mir viel von Ihrem Vetter erzählt.«

»Das war lieb von ihm. Aber wissen Sie, eigentlich ist Walter gar nicht mein Vetter.«

»Nicht? Aber Miss Fitch ist doch Ihre Tante, oder?«

»Nein. Ich bin mit keinem von ihnen verwandt. Lavinias Schwester – Emma – heiratete meinen Vater, als ich noch ein kleines Kind war. Das ist alles. Ehrlich gesagt, Mutter – das heißt, Emma – hat ihn praktisch überrumpelt. Er hatte gar keine Chance. Sie hatte Lavinia großgezogen, müssen Sie wissen, und es war ein furchtbarer Schock für sie, als Vinnie erwachsen wurde und sich auf eigene Füße stellte … und dann auch noch etwas so Gewagtes tat, wie Bestsellerautorin zu werden. Emma sah sich um, um jemanden anderes zu finden, für den sie die Glucke spielen konnte, und da saß Vater, hilflos mit einer kleinen Tochter, einfach geschaffen dazu, unter die Fittiche genommen zu werden. Und so wurde sie Emma Garrowby, meine Mutter. Ich habe in ihr nie meine Stiefmutter gesehen, denn ich kenne ja keine andere. Als mein Vater starb, zog Mutter nach Trimmings, um bei Tante Lavinia zu leben, und als ich mit der Schule fertig war, bekam ich die Stelle als Sekretärin. Deshalb auch der Auftrag, ich solle für Sie packen.«

»Und Walter? Was spielt der für eine Rolle dabei?«

»Er ist der Sohn der ältesten Schwester. Seine Eltern sind in Indien gestorben, und Tante Lavinia hat ihn dann aufgezogen. Seit er fünfzehn war oder so, meine ich.«

Er schwieg eine Weile, offenbar damit beschäftigt, die Fäden dieser Familiengeschichte zu entwirren.

Sie fragte sich, warum sie ihm das erzählt hatte. Warum hatte sie ihm gesagt, dass ihre Mutter eine alte Glucke war – auch wenn sie keinen Zweifel daran gelassen hatte, dass sie eine liebenswerte Glucke war? Konnte es sein, dass sie nervös war? Sie, die niemals die Nerven verlor und niemals dummes Zeug plapperte? Was gab es denn, weswegen sie nervös sein sollte? An der Anwesenheit eines gut aussehenden jungen Mannes war doch gewiss nichts, was einen aus der Fassung bringen konnte. Sowohl privat als Liz Garrowby wie auch in ihrer Rolle als Miss Lavinia Fitchs Sekretärin war sie im Laufe der Zeit mit einer Vielzahl gut aussehender junger Männer zusammengekommen und war niemals – soweit sie sich erinnern konnte – sonderlich beeindruckt von einem gewesen.

Von dem schwarzen, makellosen Band der Hauptstraße bog sie in einen Seitenweg ein. Die letzten Neubausiedlungen hatten sie hinter sich gelassen und befanden sich nun in einer Welt, die durch und durch ländlich war.

Die kleinen Landstraßen verzweigten sich und führten wieder zusammen, namenlos und scheinbar ohne Ziel, doch Liz schien den Weg im Schlaf zu kennen.

»Woher wissen Sie, wo es langgeht?«, fragte Searle. »Für mich sehen diese kleinen Feldwege alle gleich aus.«

»Für mich auch. Aber ich bin die Strecke so oft gefahren, dass meine Hände den Weg ganz von selbst wählen, genau wie meine Finger wissen, wo die Tasten auf der Schreibmaschine liegen. Ich wäre nicht in der Lage, Ihnen die Reihenfolge zu sagen, wenn ich versuche, mir die Maschine bildlich vorzustellen, aber meine Finger wissen, wo jede Taste liegt. Kennen Sie diesen Teil der Welt?«

»Nein, das ist alles Neuland für mich.«

»Eine langweilige Gegend, finde ich. Irgendwie konturenlos. Walter sagt, es wechseln sich immer wieder dieselben sieben Requisiten ab: sechs Bäume und ein Heuschober. Er sagt, es gibt sogar eine Zeile im offiziellen Regimentsmarsch dieser Grafschaft, in der es wörtlich heißt: ›Sechs Bäume und ein Heuschober!‹« Sie sang es ihm vor. »Aber da vorn, wo die Straße über den kleinen Hügel geht, beginnt Orfordshire, und da gibt es schon mehr zu sehen.«

Orfordshire war tatsächlich eine sehenswerte Gegend. In der beginnenden Abenddämmerung flossen ihre Linien in immer neuen Kombinationen ineinander, und in ihrer Vollkommenheit wirkten sie wie ein Traum. Kurz darauf hielten sie am Rande eines weitläufigen Tales und blickten hinunter auf einen dunklen Fleck von Dächern und die verstreuten Lichter des Dorfes.

»Salcott St Mary«, stellte Liz es ihm vor. »Einst ein schmuckes englisches Dörfchen, heute ein besetztes Gebiet.«

»Besetzt von wem?«

»Von dem, was die wenigen verbliebenen Einheimischen ›das Künstlervolk‹ nennen. Sie haben’s nicht leicht, die Ärmsten. Mit Tante Lavinia sind sie noch fertiggeworden, denn die wohnte im Herrenhaus und hatte im Grunde nichts mit ihnen zu tun. Außerdem ist sie mittlerweile so lange hier, dass sie beinahe schon als Einheimische zählt. Irgendwie hat das Herrenhaus die letzten hundert Jahre über nie richtig zum Dorf gehört, deshalb spielte es keine große Rolle, wer darin lebte. Der Niedergang begann, als die Mühle ihren Betrieb einstellte, und eine Firma wollte sie als Fabrik kaufen. Ich meine, sie wollte eine Fabrik daraus machen. Marta Hallard hörte davon und kaufte sie als Wohnhaus – sie schnappte sie den Geschäftshaien vor der Nase weg, und jedermann war begeistert und glaubte, sie seien gerettet. Sie sahen es nicht gerade gern, dass eine Schauspielerin in der Mühle wohnte, aber alles war besser als eine Fabrik mitten in ihrem Dorf. Die armen Herzchen, hätten sie nur gewusst, was sie erwartete.«

Sie setzte den Wagen wieder in Gang und fuhr langsam parallel zum Dorf den Hügel entlang.

»Ich nehme an, es dauerte ungefähr ein halbes Jahr, bis ein Trampelpfad von London hierherführte«, sagte Searle.

»Woher wissen Sie das?«

»Ich beobachte so etwas immer wieder an der Westküste. Jemand findet ein hübsches, ruhiges Plätzchen, und bevor noch die Wasserleitung gelegt ist, kann man schon einen Bürgermeister wählen.«

»So ist es. In jedem dritten Haus dort wohnt inzwischen ein Fremder. Wohlstand aller Schattierungen, von Toby Tullis – Sie wissen schon, der Dramatiker –, der ein wunderschönes Haus aus der Zeit Jakobs des Ersten direkt an der Dorfstraße hat, bis hin zu Serge Ratoff, dem Tänzer; der wohnt in einem umgebauten Stall. Sündiges Leben in allen Schattierungen, von Deenie Paddington, der niemals denselben Wochenendgast zweimal beherbergt, bis zur armen alten Atlanta Hope und Bart Hobart, die nun schon fast dreißig Jahre in Sünde zusammenleben, die Guten. Talent in allen Schattierungen, von Silas Weekley mit seinen düsteren Romanen vom ländlichen Leben mit dampfenden Misthaufen und dem Regen, der in Sturzbächen fällt, bis hin zu Miss Easton-Dixon, die einmal im Jahr ein Märchenbuch fürs Weihnachtsgeschäft schreibt.«

»Das klingt ja reizend«, meinte Searle.

»Es ist abscheulich«, antwortete Liz erregter, als sie es eigentlich beabsichtigt hatte; und wiederum fragte sie sich, was an diesem Abend mit ihren Nerven los war. »Und wo wir schon von Abscheulichkeiten sprechen«, sagte sie und nahm sich zusammen, »ich fürchte, es ist zu dunkel, um den Anblick von Trimmings noch genießen zu können, aber es wird wohl auch genügen, wenn Sie es am Morgen in seiner ganzen Schönheit sehen. Sie können gerade noch die Umrisse am Abendhimmel erkennen.«

Sie wartete, damit der junge Mann die dunklen Konturen der Türmchen und Zinnen im letzten Tageslicht auf sich wirken lassen konnte. »Das eigentliche Juwel ist das gotische Gewächshaus, aber das sieht man jetzt nicht mehr.«

»Warum hat Miss Fitch sich ausgerechnet so etwas ausgesucht?«, fragte Searle verwundert.

»Weil sie dachte, es sei großartig«, antwortete Liz, und ihre Stimme war warm und liebevoll. »Wissen Sie, sie ist in einem Pfarrhaus groß geworden; die Art von Pfarrhaus, die um 1850 erbaut wurde; deshalb ist ihr Geschmack ganz auf viktorianische Gotik eingestellt. Ehrlich gesagt, eigentlich versteht sie bis heute nicht, was damit nicht in Ordnung ist. Sie merkt, dass Leute darüber lachen, und sie nimmt es gelassen auf, aber im Grunde versteht sie nicht, warum sie lachen. Als sie Cormac Ross, ihren Verleger, zum ersten Mal mit hierherbrachte, machte er ihr Komplimente, wie angemessen der Name sei, und sie hatte keine Ahnung, wovon er sprach.«

»Na, ich bin nicht in der Stimmung, etwas zu kritisieren«, meinte der junge Mann, »nicht einmal viktorianische Gotik. Es war ausgesprochen freundlich von Miss Fitch, mich hierher einzuladen, ohne dass sie auch nur einen einzigen Blick ins Who’s Who geworfen hatte. Drüben in den Staaten stellen wir uns die Engländer irgendwie zurückhaltender vor.«

»Eigentlich ist es keine Zurückhaltung, was die Engländer pflegen; es ist eher eine Frage der Haushaltskasse. Tante Lavinia konnte Sie von einem Augenblick auf den anderen einladen, weil sie nicht zu überlegen brauchte, ob sie es sich leisten kann. Sie weiß, dass genug Bettwäsche da ist und ein Gästebett, das man damit beziehen kann, und dass genug Vorräte und genug Arbeitskräfte da sind, um Sie zu versorgen, und deshalb hat sie keinen Grund zu zögern. Macht es Ihnen etwas aus, wenn wir direkt zur Garage fahren und Ihre Sachen durch den Nebeneingang hineinbringen? Es ist eine Tagesreise von der Vordertür zum Dienstbotentrakt, denn die große Halle liegt unglücklicherweise dazwischen.«

»Von wem ist denn dieses Haus erbaut worden, und wofür?«, fragte Searle und blickte hinauf zu den hoch aufragenden Mauern, an denen sie nun vorbeifuhren.

»Ein Mann aus Bradford, soviel ich weiß. Früher stand ein sehr schönes klassizistisches Haus an dieser Stelle – im Jagdzimmer kann man noch einen Stich davon sehen –, aber er fand, es mache nicht genug her, und ließ es abreißen.«

Und so kam es, dass Searle seine Koffer durch hässliche, schlecht beleuchtete Gänge trug; Gänge, die Liz, wie sie sagte, immer an ein Internat erinnerten.

»Lassen Sie sie einfach da stehen«, sagte sie und wies auf eine Dienstbotentreppe, »es wird gleich jemand kommen, der sie hinaufträgt. Folgen Sie mir nun in vergleichsweise zivilisierte Bereiche, wärmen Sie sich auf, nehmen Sie sich etwas zu trinken, und lernen Sie Walter kennen.«

Sie stieß eine mit Stoff bezogene Tür auf und führte ihn in die vorderen Räume des Hauses.

»Fahren Sie Rollschuh?«, fragte er, als sie die absurde Weite der Halle durchmaßen.

Darauf sei sie, antwortete Liz, noch nicht gekommen, aber der Saal sei gut für Tanzveranstaltungen. »Einmal im Jahr trifft sich die örtliche Jagdgesellschaft hier«, fügte sie hinzu. »Sie werden es nicht glauben, aber es ist weniger zugig als in der Getreidebörse von Wickham.«

Sie öffnete eine Tür, und von den grauen Äckern Orfordshires und den bedrückenden düsteren Korridoren des Hauses traten sie in die Wärme und den Feuerschein und die Freundlichkeit eines Zimmers, das von Leben erfüllt war, voller abgenutzter Möbel und durchdrungen vom Duft der Narzissen und des brennenden Holzes im Kamin. Lavinia war tief in einen Sessel versunken, ihre hübschen kleinen Füße lagen auf der Kante des stählernen Kamingitters, und ihr wirrer, unordentlicher Schopf ergoss sich zwischen den Haarnadeln hindurch in alle Richtungen über die Kissen. Ihr gegenüber stand Walter Whitmore in seiner Lieblingshaltung – einen Ellenbogen auf dem Kaminsims und einen Fuß auf dem Gitter –, und Liebe und Erleichterung durchströmten Liz, als sie ihn sah.

Warum war sie erleichtert?, fragte sie sich, während man sich begrüßte. Sie hatte doch gewusst, dass Walter hier sein würde. Warum also diese Erleichterung?

Lag es nur daran, dass sie die Last, sich um ihren Begleiter zu kümmern, nun Walter überlassen konnte?

Aber solche gesellschaftlichen Pflichten waren ihr täglich Brot, und nie hatte es ihr etwas ausgemacht. Und es war auch ungerecht, Searle als eine Last zu bezeichnen. Sie hatte selten jemanden getroffen, der so unkompliziert im Umgang war und so wenige Ansprüche stellte. Warum war sie also so glücklich, Walter zu sehen, warum hatte sie das absurde Gefühl, dass nun alles gut sein würde? Wie ein Kind, das von einem fremden Ort zurück in das Zimmer kommt, das es kennt.

Sie sah die Freude auf Walters Gesicht, als er Searle begrüßte, und liebte ihn dafür. Er war menschlich, er war unvollkommen, sein Gesicht zeigte bereits die ersten Falten, und sein Haar wich an den Schläfen schon ein wenig zurück, aber er war Walter, er war echt – niemand von übermenschlicher Schönheit, der vom Morgen der Welt zu kommen schien, an den sich niemand mehr erinnerte.

Es machte ihr Freude zu sehen, dass neben der Statur Walters der Neuankömmling beinahe schmächtig wirkte. Und seine Schuhe, so teuer sie auch gewesen sein mochten, waren für englische Begriffe geradezu lächerlich.

»Schließlich ist er ja nur ein Fotograf«, sagte sie sich, und gleichzeitig wurde ihr bewusst, wie absurd ihre Gedanken waren.

Hatte Leslie Searle sie so beeindruckt, dass sie Schutz vor ihm brauchte? Doch gewiss nicht.

Diese reine, ursprüngliche Schönheit fand man gar nicht so selten unter den nordischen Völkern; und es war auch nicht weiter verwunderlich, dass man dabei an jene Sagen von den Seehundsjägern denken musste. Der junge Mann war nichts weiter als ein gut aussehender Amerikaner skandinavischer Herkunft, der einen abscheulichen Geschmack in puncto Schuhen hatte und der wusste, welches Objektiv jeweils das richtige war. Es bestand ganz und gar kein Grund, sich zu bekreuzigen oder ihn mit Zaubersprüchen zu bannen.

Trotzdem verspürte sie, als ihre Mutter ihn beim Abendessen fragte, ob er Familie in England habe, ein vages Erstaunen darüber, dass er etwas so Gewöhnliches wie Verwandtschaft haben sollte.

Er habe eine Cousine, sagte er, sonst niemanden.

»Wir mögen uns nicht. Sie malt.«

»Hängt beides denn ursächlich zusammen?«, fragte Walter.

»Oh, ihre Bilder gefallen mir gar nicht so schlecht – was ich davon gesehen habe. Wir gehen uns einfach gegenseitig auf die Nerven, und deshalb kümmern wir uns nicht umeinander.«

Lavinia fragte, was sie male; Porträts vielleicht?

Liz überlegte, während sie weitersprachen, ob sie wohl jemals ihren Vetter gemalt hatte. Es musste schön sein, die Fähigkeit zu besitzen, einen Pinsel und einen Farbkasten zu nehmen und zum eigenen Vergnügen und zur eigenen Zufriedenheit eine Schönheit festzuhalten, die einem sonst niemals gehören konnte, die man aufheben und ansehen konnte, sooft man wollte, bis man starb.

»Elizabeth Garrowby!«, ermahnte sie sich. »Wenn das so weitergeht, wirst du dir bald Fotografien von Schauspielern an die Wände hängen.«

Doch nein; es war etwas ganz anderes. Es war nicht tadelnswerter, als ein Werk von Praxiteles zu lieben … zu bewundern. Wenn Praxiteles jemals auf die Idee gekommen wäre, einem Hürdenläufer Unsterblichkeit zu verleihen, dann hätte dieser Läufer gewisslich ausgesehen wie Leslie Searle. Sie musste ihn irgendwann fragen, wo er zur Schule gegangen und ob er jemals Hürdenläufer gewesen war.

Sie war ein wenig betrübt, als sie bemerkte, dass ihre Mutter Searle nicht mochte. Natürlich würde das niemand sonst bemerken; aber Liz kannte ihre Mutter ganz genau und konnte deren verborgene Reaktionen mit der Präzision eines Mikrometers in jedweder Situation messen. Sie spürte das Misstrauen, das hinter der freundlichen Fassade kochte und brodelte, so wie die Lava hinter den schönen Abhängen des Vesuvs brodelt und kocht.

Natürlich hatte sie recht mit ihrer Vermutung. Während Walter mit seinem Gast draußen gewesen war, um ihm das Zimmer zu zeigen, und Liz sich zum Abendessen zurechtmachte, hatte Mrs Garrowby ihre Schwester zur Rede gestellt, warum sie diesen gefährlichen Fremden ins Haus gebracht habe.

»Woher willst du denn wissen, dass er Cooney Wiggin überhaupt jemals gekannt hat?«, fragte sie.

»Wenn er es nicht hat, wird Walter das schnell herausfinden«, entgegnete Lavinia ruhig. »Verschone mich damit. Ich bin müde. Es war eine grauenhafte Party. Alle schrien und kreischten durcheinander.«

»Wenn der Bursche es darauf abgesehen hat, Trimmings auszurauben, dann wird es für Walter morgen früh zu spät sein, um zu bemerken, dass er Cooney überhaupt nicht kannte. Jeder könnte behaupten, er habe Cooney gekannt. Ja, jeder könnte sagen, er sei mit Cooney bekannt gewesen, ohne dass man ihm auf die Schliche käme. Es gab praktisch nichts in Cooney Wiggins Leben, was nicht jeder wusste.«

»Ich verstehe einfach nicht, warum du so misstrauisch ihm gegenüber bist. Wir haben doch schon oft ganz spontan Leute hierher eingeladen, über die wir überhaupt nichts wussten.«

»Allerdings«, antwortete Emma grimmig.

»Und bisher sind sie immer die gewesen, für die sie sich ausgegeben haben. Warum wirst du also ausgerechnet bei Mr Searle misstrauisch?«

»Er hat einfach ein zu gewinnendes Äußeres, das kann nicht gut sein.«

Es war typisch für Emma, dass sie vor dem Wort »Schönheit« zurückschreckte und stattdessen zu einem faulen Kompromiss wie »gewinnendes Äußeres« griff.

Mr Searle bleibe ja nur bis zum Montag, entgegnete Lavinia, und in dieser kurzen Zeit werde er gar nicht in der Lage sein, allzu viel von seinem schlechten Einfluss auszuüben.

»Und wenn du tatsächlich glaubst, er wolle uns ausrauben, dann wird es eine traurige Überraschung für ihn sein, wenn er sich in Trimmings umsieht. Auf Anhieb fällt mir nichts ein, was wert wäre, dass man es auch nur bis Wickham schleppt.«

»Da wäre das Silber.«

»Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass jemand sich die ganze Mühe machen würde, auf Cormacs Party zu kommen und zu behaupten, er habe Cooney gekannt, und sich dann nach Walter zu erkundigen, nur um in den Besitz von ein paar Dutzend Gabeln und ein paar Löffeln und einem Silbertablett zu kommen. Warum hätte er dann nicht einfach in einer finsteren Nacht eine Tür aufbrechen sollen?«

Mrs Garrowby schien noch immer nicht überzeugt.

»Es muss sehr nützlich sein, einen Toten zu haben, wenn man Zugang zu einer Familie finden will.«

»Ach, Em«, sagte Lavinia und brach angesichts der Formulierung und der Einstellung, die dahintersteckte, in Gelächter aus.

Und so kam es, dass Mrs Garrowby dasaß und hinter ihrer freundlichen Fassade düsteren Gedanken nachhing. Natürlich war es nicht das Silber von Trimmings, um das sie sich sorgte. Was ihr Sorgen machte, war das, was sie das »gewinnende Äußere« des jungen Mannes nannte. Sie hasste es und misstraute ihm als solchem, weil es eine potenzielle Bedrohung für ihr Haus war.

3

Doch entgegen der Prophezeiung Marta Hallards sorgte Emma nicht dafür, dass der junge Mann sofort am Montagmorgen das Haus verließ. Als es Montagmorgen wurde, konnten alle, die auf Trimmings lebten – alle außer Emma –, kaum glauben, dass sie noch am Freitag zuvor niemals etwas von Leslie Searle gehört hatten. Niemals zuvor hatte es auf Trimmings einen Gast gegeben, der so vollkommen im Haushalt aufging, wie Searle es tat. Und niemals zuvor hatte es jemanden gegeben, der für jeden Einzelnen von ihnen das Leben so sehr bereicherte.

Er sah sich mit Walter den Bauernhof an und bewunderte die neuen Plattenwege, den Schweinestall und die Dreschmaschine. Er hatte seine Schulferien auf einer Farm verbracht und erwies sich als ebenso kenntnisreich wie aufgeschlossen für alles Neue. Er blieb geduldig auf einem Feldweg stehen, während Walter sich in seinem Büchlein Notizen über den Austrieb einer Hecke oder über eine Vogelstimme machte, die er vielleicht am kommenden Freitag in seiner Radiosendung gebrauchen konnte. Er fotografierte Trimmings in seiner surrealistischen Belanglosigkeit mit ebensolcher Begeisterung wie das kleine Bauernhaus in seiner schlichten Echtheit des siebzehnten Jahrhunderts, und er verstand es, die Eigenart beider in seinen Bildern zum Ausdruck