Nur der Mond war Zeuge - Josephine Tey - E-Book

Nur der Mond war Zeuge E-Book

Josephine Tey

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Beschreibung

Milford ist ein idyllisches Provinznest in England, in dem nie etwas passiert. In der einzigen Anwaltskanzlei vor Ort führt der junge Robert Blair in 41. Generation die Geschäfte. Seine einzige Abwechslung sind die Kekse, die täglich zur tea time gereicht werden – bis eines Abends das Telefon klingelt. Marion Sharpe und ihre Mutter, die ein abgelegenes Herrenhaus bewohnen, haben Besuch von Scotland Yard. Ein junges Mädchen behauptet, von den beiden entführt und in ihr Haus verschleppt worden zu sein. Einen Monat lang wurde die 15-Jährige dort festgehalten, sagt sie, und musste als Haushälterin arbeiten, ehe ihr schließlich die Flucht gelang. Ein unerhörte Behauptung, eine Unverschämtheit! Allerdings: Das Mädchen kann jedes Detail im Innern des Hauses beschreiben. Der Anwalt, der sonst nur Testamente aufsetzt (für eine schrullige alte Dame jede zweite Woche ein neues), steht vor einer großen Herausforderung: Er soll die Unschuld der Frauen beweisen.

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Josephine Tey

Nur der Mond war Zeuge

Roman

Mit einem Vorwort von Louise Penny

Aus dem Englischen von Manfred Allié

Kampa

Louise PennyMein Lieblingskrimi

Es dauerte unverschämt lang, bis ich das Buch las, das mein Lieblingskrimi werden sollte, und der Grund dafür ist äußerst beschämend.

Ich hatte bereits sämtliche Bücher von Josephine Tey gelesen – bis auf eines –, und liebte sie alle. Mit Ausnahme von The Daughter of Time (Alibi für einen König), das ich nicht nur liebte, sondern geradezu vergötterte, weil es Spannung und Historie, Verbrechen und Bizarrerie vereinte. Zweifellos ein Meisterwerk. (Tatsächlich hat die Crime Writers’ Association The Daughter of Time zum besten Kriminalroman aller Zeiten gewählt, zurecht.) Aber eines von Teys Büchern reizte mich gar nicht. Es stand unangetastet in meiner Bibliothek. Nicht einmal den Umschlagtext hatte ich gelesen.

Warum ich dieses Buch mied?

Der Titel. Grundgütiger, ja, aber es ist wahr. Es lag am Titel.

Auf Englisch lautet er The Franchise Affair.

Natürlich wusste ich, dass der Krimi unmöglich in irgendeiner Fastfood-Kette spielen konnte, aber ich wurde den Verdacht nicht los, dass das Buch vielleicht irgendwie …

Keine Ahnung, warum ich es schließlich doch aufgeschlagen habe: Vielleicht war es Langeweile oder Neugier oder irgendeine höhere Macht, die meine Kleinlichkeit durchschaute. Wie in allen Büchern von Josephine Tey ist auch hier jedes Wort ein Juwel, perfekt gesetzt. Teys Prosa ist kristallklar, scharfsinnig und facettenreich, wie Prismen auf Papier, und mit diesen klaren Worten erschafft sie ebenso facettenreiche Figuren. Aber was ich an ihren Romanen am meisten bewundere, ist deren Ambivalenz. Als Leser weiß man nie, welche Figur die Wahrheit sagt, wer zu den Guten gehört und wer nicht. Man möchte bestimmten Figuren Glauben schenken, aber es bleibt doch immer ein leiser Zweifel.

Es ist verstörend.

Aufgefallen ist mir das sofort, und das Gefühl ließ mich während der zunehmend berauschenden und angsteinflößenden Lektüre nicht mehr los.

Ich sage angsteinflößend. Dabei sollte man aber nicht an messerschwingende Psychopathen oder sadistische Serienkiller denken. Es tauchen keine Ghule oder Vampire auf, keine hinter Türen lauernden, geistesgestörten Mörder.

Aber Geister. Die Vergangenheit erhebt sich, nimmt Gestalt an und wandelt über die Seiten: in Form von Erinnerungen, Wahrnehmungen und den von ihnen geschürten Ängsten.

Worum geht es also in dem Buch?

Die Geschichte spielt in einem Kentucky Fried Chicken … Nein, Spaß: Sie spielt in einem Dorf in Großbritannien kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Mittelpunkt steht ein Anwalt namens Robert Blair: ein biederer, behäbiger Mann mittleren Alters. Eines Tages erhält er einen Anruf von einer ihm unbekannten Frau. Marion Sharpe bittet um seine Hilfe. Sie und ihre Mutter leben noch nicht lange im Dorf; vor einigen Monaten sind sie in das Haus namens »Franchise« gezogen.

Das Leben dort ist trostlos. Die Einwohner haben sich eingeigelt und interessieren sich nicht für Fremde, schon gar nicht für das genauso zurückgezogen lebende Mutter-Tochter-Gespann.

Als Blair den Anruf entgegennimmt, erfährt er etwas Sonderbares, Rätselhaftes: Den beiden Sharpe-Frauen wird vorgeworfen, ein Schulmädchen entführt zu haben. Die Polizei und ein Beamter von Scotland Yard sind im Franchise und ermitteln. Die Frauen behaupten, sie hätten das Schulmädchen nie zuvor gesehen. Das Mädchen behauptet, es sei tagelang von den beiden festgehalten worden und hätte nur mit Mühe entkommen können. Zum Beweis beschreibt sie das gesamte Innere des Franchise, samt dem Zimmer, in dem sie angeblich gefangen gehalten wurde.

Und jedes Detail stimmt.

Nun soll Robert Blair, ein unwahrscheinlicher Ritter in der Not, die Wahrheit herausfinden und die beiden asketischen, unfreundlichen Frauen, die sich mit ihrem Verhalten in keiner Weise einen Gefallen tun, entlasten. Aber als er beginnt, nach Hinweisen zu graben, kommen auch ihm Zweifel.

Warten Sie nicht so lange wie ich mit der Lektüre dieses meisterlichen Kriminalromans über die menschliche Natur. Wie alle guten Krimis stellt er nicht das Delikt, sondern die Figuren in den Vordergrund. Und wie The Daughter of Time basiert er auf einer wahren Begebenheit: dem Fall Elizabeth Canning aus dem 18. Jahrhundert.

Josephine Tey ist das Pseudonym der schottischen Schriftstellerin Elizabeth MacKintosh. Sie schrieb auch unter dem Namen Gordon Daviot. Bedauerlicherweise, für uns wie für sie, starb Ms MacKintosh 1952 bereits im Alter von 56 Jahren. Acht Kriminalromane schrieb sie unter dem Namen Josephine Tey: acht wunderbare Geschichten, die mich inspiriert haben und die beweisen, dass weniger mehr ist – dass das Grauen weit mächtiger ist, wenn es nicht ausbuchstabiert wird, sondern nur angedeutet.

Nur der Mond war Zeuge

1

Es war ein Frühlingstag, vier Uhr nachmittags, und Robert Blair trug sich mit dem Gedanken, nach Hause zu gehen.

Die Kanzlei würde natürlich erst um fünf Uhr schließen. Aber wenn man der einzige Blair in der Firma Blair, Hayward und Bennet ist, dann geht man nach Hause, wenn einem danach zumute ist. Und wenn man es hauptsächlich mit Testamenten, Geld- und Grundstücksangelegenheiten zu tun hat, dann hat man am späten Nachmittag nicht mehr groß mit Klienten zu rechnen. Und wenn man in Milford lebt, wo die letzte Post um Viertel vor vier herausgeht, dann verliert ein Tag lange vor vier Uhr seinen Schwung, sofern er überhaupt je welchen hatte.

Es war sogar recht unwahrscheinlich, dass sein Telefon noch einmal klingeln würde. Seine Golfkumpane würden mittlerweile irgendwo zwischen dem 14. und dem 16. Loch angelangt sein. Niemand würde ihn zum Abendessen einladen, denn in Milford werden solche Einladungen nach wie vor mit der Hand geschrieben und per Post zugestellt. Auch Tante Lin würde nicht anrufen und ihn bitten, auf dem Rückweg den Fisch mitzubringen, denn sie saß, wie sie das alle 14 Tage einmal zu tun pflegte, im Kino und war zu diesem Zeitpunkt gerade erst 20 Minuten in den Hauptfilm versunken, um es einmal so zu sagen.

Da saß er also, in der schläfrigen Nachmittagsstimmung eines Landstädtchens, und betrachtete den letzten Streifen Sonnenlicht auf seinem Schreibtisch – jenem Mahagonitisch mit Messingintarsien, mit dem sein Großvater die ganze Familie in Aufruhr versetzt hatte, als er damit aus Paris zurückkehrte – und überlegte, ob er nach Hause gehen solle. Der Sonnenstrahl beschien das Tablett mit seinem Teegeschirr, und es war bezeichnend für Blair, Hayward und Bennet, dass es sich, wenn es um Tee ging, nicht um ein schwarzes Blechtablett mit einer x-beliebigen Tasse handelte. An jedem Arbeitstag betrat Miss Tuff Punkt Viertel vor vier mit einem Lacktablett und einem schmucken weißen Deckchen darauf sein Büro und servierte ihm den Tee in einer blau gemusterten Porzellantasse, dazu gab es auf einem passenden Teller zwei Kekse: Butterplätzchen montags, mittwochs und freitags, Haferplätzchen am Dienstag und Donnerstag.

Als er das Tablett nun so in aller Ruhe betrachtete, ging ihm durch den Kopf, wie sehr darin die Beständigkeit von Blair, Hayward und Bennet zum Ausdruck kam. An das Porzellan konnte er sich erinnern, so weit seine Erinnerung überhaupt zurückreichte. Mit dem Tablett hatte, als er noch ein kleiner Junge war, die Köchin zu Hause das Brot vom Bäcker geholt, und seine Mutter hatte es in jungen Jahren in Sicherheit gebracht und mit in die Kanzlei genommen, wo dann die blau gemusterten Tassen darauf serviert wurden. Das Deckchen war erst Jahre später – zusammen mit Miss Tuff – dazugekommen. Miss Tuff war ein Produkt des Krieges: die erste Frau, die jemals in einer respektablen Milforder Anwaltskanzlei hinter einem Schreibtisch gesessen hatte. Unverheiratet, linkisch, dürr und ernst, war das Auftreten Miss Tuffs eine Revolution gewesen. Doch die Firma hatte die Revolution fast ohne jeden Aufruhr überstanden, und jetzt, fast ein Vierteljahrhundert später, konnte sich niemand mehr vorstellen, dass die schmale, graue, würdevolle Miss Tuff jemals eine Sensation gewesen war. Ja, die einzige Veränderung, die sie in die unerschütterliche Routine gebracht hatte, war die Einführung des Deckchens auf dem Tablett gewesen. Bei Miss Tuff zu Hause wurde niemals ein Gedeck unmittelbar auf das Tablett gestellt, ebenso wenig wie kein Kuchen direkt auf der Kuchenplatte serviert wurde – stets gehörte ein Deckchen oder eine Serviette dazwischen. Folglich hatte das nackte Tablett Miss Tuffs Missfallen erregt. Außerdem hatte sie das Lackmuster störend, unappetitlich und »komisch« gefunden. Und so kam es, dass sie eines Tages ein Deckchen von zu Hause mitgebracht hatte – solide, einfach und weiß, wie es sich für etwas gehörte, von dem man essen wollte. Und Roberts Vater, der das Lacktablett gern gehabt hatte, besah sich das einfache weiße Tuch und war gerührt, dass die junge Miss Tuff sich so um das Wohl der Firma sorgte. Das Deckchen war geblieben, wo es war, und gehörte nun ebenso zum Leben der Firma wie die Schatullen mit ihren Dokumenten, das Messingschild und Mr Heseltines alljährlicher Schnupfen.

Und dann, als sein Blick auf dem blauen Teller ruhte, auf dem die Kekse gelegen hatten, hatte Robert wieder dieses seltsame Gefühl in der Brust. Das Gefühl hatte nichts mit den beiden Haferkeksen zu tun, jedenfalls nicht im physischen Sinne. Es war die Unveränderlichkeit dieser Keksroutine – die stille Gewissheit, dass er am Donnerstag Haferkekse und am Montag Butterkekse bekommen würde. Bis zum vergangenen Jahr hatte er nichts Unangenehmes an Unveränderlichkeit und stiller Gewissheit finden können. Er hatte niemals ein anderes Leben gewollt als dieses – das angenehme, ruhige Leben in dem Ort, in dem er groß geworden war. Auch heute noch wünschte er sich nichts anderes. Doch dann und wann war ihm in letzter Zeit ein seltsamer, fremder Gedanke in den Sinn gekommen, belanglos und unerwünscht. Soweit er ihn in Worte fassen konnte, lautete er: Das ist alles, was du jemals bekommen wirst. Und mit dem Gedanken verspürte er dann für einen Augenblick dieses Gefühl der Beklemmung in der Brust. Ein beinahe panisches Gefühl, ein Stich, wie er ihm einst als Zehnjähriger durchs Herz gegangen war, wenn er an den Termin beim Zahnarzt dachte.

Robert ärgerte sich darüber, ja, er war verwirrt, denn er hielt sich für einen glücklichen und vom Leben bevorzugten Menschen, und sicherlich war er auch kein Kind mehr. Warum sollte sich ihm plötzlich dieser fremde Gedanke aufdrängen und dafür sorgen, dass es sich tief in ihm so elend zusammenzog? Was hatte denn seinem Leben gefehlt, was ein Mann womöglich vermissen konnte?

Eine Frau?

Aber er hätte ja heiraten können, wenn ihm danach zumute gewesen wäre. Zumindest nahm er das an – es gab in der Umgebung eine ganze Reihe von weiblichen Wesen, die nicht gebunden waren, und sie hatten ihm niemals zu verstehen gegeben, dass sie ihn unattraktiv fanden.

Eine treu sorgende Mutter?

Aber welche Mutter hätte ihn treuer umsorgen können, als Tante Lin das tat – die gute Tante Lin, die ihn vergötterte?

Reichtum?

Aber was hatte er jemals gewollt, dass er sich nicht auch hatte kaufen können? Wenn das kein Reichtum war, dann wusste er nicht, was das sein sollte.

Ein aufregendes Leben?

Aber er hatte sich niemals Aufregung gewünscht. Jedenfalls keine größere Aufregung als die, die man bei einem Tag auf der Jagd erlebte oder wenn man am 16. Loch gleichzog.

Was war es also?

Was sollte dieser »Das ist alles, was du jemals bekommen wirst«-Gedanke?

Vielleicht, dachte er, während er auf den blauen Teller starrte, auf dem die Kekse gelegen hatten, hielt sich im Unterbewusstsein eines Mannes einfach nur die kindliche Erwartung, dass immer am nächsten Tag etwas ganz Wunderbares geschehen werde. Solange es denkbar war, dass der Traum Wirklichkeit wurde, und erst wenn man die 40 überschritten hatte und eine Erfüllung immer unwahrscheinlicher wurde, drängte sich diese Erwartung ins Bewusstsein, ein verlorenes Stück Kindheit, das nun Beachtung finden wollte.

Es stand ganz außer Frage, dass er, Robert Blair, sich aus vollem Herzen wünschte, sein Leben möge bis zu seinem Todestag so weitergehen, wie es war. Er hatte schon zu Schulzeiten gewusst, dass er in die Firma eintreten und eines Tages die Stelle seines Vaters übernehmen würde, und mit gutmütigem Mitleid hatte er diejenigen Jungen betrachtet, für die keine Nische im Leben bereitstand – auf die kein Milford wartete, voller Freunde und Erinnerungen; kein zugewiesener Platz in der englischen Tradition, wie ihn Blair, Hayward und Bennet bereitstellte.

In diesen Tagen gab es keinen Hayward in der Firma – seit 1843 gab es keinen mehr; doch ein junger Spross der Bennets hielt sich gerade jetzt im Hinterzimmer auf. »Sich aufhalten« war die angemessene Bezeichnung, denn es war sehr unwahrscheinlich, dass er tatsächlich arbeitete; was ihn in seinem Leben am meisten beschäftigte, war der Wunsch, Gedichte von so erlesener Originalität zu schreiben, dass niemand außer Nevil selbst daraus schlau werden konnte. Robert fand die Gedichte fürchterlich, doch über die Nichtstuerei sah er hinweg, denn er erinnerte sich noch gut, dass er, als er selbst sich in jenem Hinterzimmer aufgehalten hatte, die Zeit damit verbracht hatte, übungshalber mit dem Mashie Bälle in den ledernen Lehnstuhl zu schlagen.

Der Sonnenstrahl glitt vom Ende des Tabletts hinunter, und Robert beschloss, dass es Zeit war zu gehen. Wenn er jetzt aufbrach, dann konnte er auf dem Weg nach Hause noch die High Street hinuntergehen, bevor die Ostseite im Schatten lag – und die Hauptstraße von Milford hinunterzugehen, das zählte nach wie vor zu den Dingen, die ihm ausgesprochene Freude bereiteten. Nicht dass Milford besonders sehenswert gewesen wäre. Man konnte Hunderte solche Städtchen südlich des Trent finden. Doch in seiner unauffälligen Art war es ein Beispiel dafür, welch gutes Leben man in England in den vergangenen 300 Jahren geführt hatte. Von dem ehemaligen Wohnhaus, in dem Blair, Hayward und Bennet seine Räume hatte, das in den letzten Jahren der Regierungszeit Karls II. erbaut worden war und von dessen Eingang man unmittelbar hinaus auf den Bürgersteig gelangte, erstreckte sich die High Street sanft abfallend nach Süden – klassizistische Backsteinhäuser, elisabethanisches Fachwerk, viktorianischer Naturstein, der Stuck der Regency-Zeit bis hin zu den edwardianischen Villen, die am anderen Ende hinter Ulmen verborgen lagen. Hier und da erschien zwischen dem Rot und Weiß und Braun eine Fassade mit schwarzem Glas, protzig wie ein herausgeputzter Parvenü auf einer Party; doch die übrigen Häuser sahen mit Takt darüber hinweg. Selbst die Kaufhausketten hatten bei Milford Milde walten lassen. Zwar lockte ein amerikanischer Ramschladen am Südende der Straße grell in Dunkelrot und Gold und war ein Quell täglicher Empörung für Miss Truelove, die gegenüber in einem Relikt aus der elisabethanischen Zeit mithilfe der Backkünste ihrer Schwester und des wohlklingenden Namens der Anne Boleyn eine Teestube betrieb, doch hatte die Westminster Bank mit einer Bescheidenheit, die man seit den Tagen der heimlichen Wucherer selten findet, ohne auch nur eine Spur von Marmor das Haus der Webergilde für ihre Zwecke umgebaut, und Soles, die Drogeriekette, hatte das alte Wisdom-Haus übernommen und die hohe, verlegen wirkende Fassade bewahrt.

Es war eine schöne, fröhliche, geschäftige kleine Straße, der die gestutzten Lindenbäume, die den Gehweg säumten, ihren besonderen Reiz verliehen, und Robert Blair liebte sie.

Er hatte die Füße schon aufgestützt, um sich von seinem Stuhl zu erheben, als das Telefon klingelte. Wie man hört, werden in anderen Teilen der Welt die Telefone so installiert, dass sie in Vorzimmern klingeln, wo eine Untergebene sich meldet, sich erkundigt, was man wünsche, und verkündet, dass sie einen, wenn man sich bitte einen Augenblick lang gedulden wollte, durchstellen werde, und dann wird man mit demjenigen verbunden, mit dem man sprechen wollte. Nicht so in Milford. Nichts dergleichen wäre in Milford geduldet worden. Wenn man in Milford John Smith anruft, dann erwartet man, dass John Smith persönlich am Apparat ist. Und folglich klingelte das Telefon, als es an jenem Frühlingsnachmittag bei Blair, Hayward und Bennet klingelte, auf Roberts Messing- und Mahagonischreibtisch.

Später fragte Robert sich oft, was wohl geschehen wäre, wenn dieser Anruf auch nur eine Minute später gekommen wäre. Eine Minute später – 60 harmlose Sekunden – hätte er seinen Mantel vom Haken im Flur genommen und einen Blick in das gegenüberliegende Zimmer geworfen gehabt, um Mr Heseltine zu sagen, dass er Feierabend mache; er wäre in das bleiche Sonnenlicht hinausgetreten und die Straße hinunter davongegangen. Mr Heseltine hätte das Gespräch angenommen und der Frau mitgeteilt, dass er nicht mehr im Hause sei. Und sie hätte eingehängt und es anderswo versucht. Und alles, was dann kam, wäre für ihn von rein akademischem Interesse gewesen.

Doch das Telefon klingelte zur rechten Zeit – und Robert streckte die Hand aus und griff zum Hörer.

»Sind Sie Mr Blair?«, erkundigte sich eine Frauenstimme – eine Altstimme, die, wie er dachte, unter normalen Umständen selbstbewusst geklungen hätte, die aber nun atemlos und gehetzt wirkte. »Ach, was bin ich froh, dass ich Sie noch erreicht habe. Ich hatte schon gefürchtet, Sie hätten für heute Feierabend gemacht. Sie kennen mich nicht, Mr Blair. Ich heiße Sharpe, Marion Sharpe. Ich lebe mit meiner Mutter im Franchise – diesem Haus draußen an der Straße nach Larborough.«

»Ja, ich weiß«, antwortete Blair. Er kannte Marion Sharpe vom Sehen, so wie er jeden in Milford und Umgebung kannte: eine hagere, hochgewachsene, dunkelhaarige Frau von ungefähr 40, die eine Schwäche für bunte Seidentücher hatte, womit sie ihren dunklen zigeunerhaften Typ noch betonte. Sie hatte einen klapprigen alten Wagen, mit dem sie morgens einkaufen fuhr, wobei ihre weißhaarige alte Mutter stets auf dem Rücksitz saß – aufrecht, zerbrechlich und fehl am Platze, irgendwie erweckte sie den Eindruck, als würde sie wortlos protestieren. Im Profil sah die alte Mrs Sharpe aus wie das berühmte Bild von Whistlers Mutter; wenn sie sich einem zuwandte und man von ihrem klugen, kalten Blick – sie hatte die Augen einer Möwe – getroffen wurde, dann kam sie einem vor wie eine Sibylle. Die Alte konnte einem wirklich Angst machen.

»Sie kennen mich nicht«, fuhr die Stimme fort, »aber ich habe Sie in Milford gesehen und glaube, Sie sind ein freundlicher Mensch, und ich brauche einen Anwalt. Ich meine, ich brauche sofort einen, auf der Stelle. Der einzige Anwalt, mit dem wir sonst zu tun haben, ist in London – eine Londoner Firma, meine ich –, und eigentlich ist es auch gar nicht unser Anwaltsbüro. Wir haben es nur übernommen, zusammen mit einem Vermächtnis. Aber jetzt bin ich in Schwierigkeiten und brauche einen Rechtsbeistand, und da dachte ich an Sie, ob Sie nicht vielleicht –«

»Wenn es um Ihren Wagen geht …«, hob Robert an. ›In Schwierigkeiten‹ konnte in Milford nur zweierlei bedeuten: eine Vaterschaftsklage oder ein Verkehrsdelikt. Da es im vorliegenden Fall um Marion Sharpe ging, musste es sich um Letzteres handeln; es spielte auch keine Rolle, denn in keinem von beiden Fällen war es wahrscheinlich, dass Blair, Hayward und Bennet daran interessiert war. Er würde sie an Carley verweisen, den gewitzten Burschen am anderen Ende der Stadt, der sich der Strafsachen mit Gusto annahm und von dem es überall hieß, er könne selbst den Teufel aus der Hölle freibekommen. (»Freibekommen!«, hatte einmal jemand im Rose and Crown gesagt. »Damit gäbe der sich nicht zufrieden. Der würde uns allesamt dazu bringen, dass wir eine Bürgschaft für Luzifer unterschrieben.«)

»Wenn es sich um Ihren Wagen handelt …«

»Wagen?«, sagte sie abwesend – so, als fiele es ihr unter den augenblicklichen Umständen schwer, sich zu erinnern, was ein Wagen sei. »Ach so, ich verstehe. Nein. Aber nein, es ist nichts dergleichen. Die Angelegenheit ist schwerwiegender. Es handelt sich um Scotland Yard.«

»Scotland Yard!«

Für Robert Blair, den sanftmütigen Gentleman und Anwalt vom Lande, war Scotland Yard etwas ebenso Exotisches wie Xanadu, Hollywood oder das Fallschirmspringen. Als anständiger Bürger hatte er ein gutes Verhältnis zur örtlichen Polizei, doch weitergehende Kontakte zur Welt des Verbrechens pflegte er nicht. Das, was ihn noch am ehesten mit Scotland Yard verband, war das Golfspiel mit dem örtlichen Inspector, der sich gelegentlich, wenn man am 19. Loch angelangt war, zu kleinen Indiskretionen über seine Arbeit hinreißen ließ.

»Ich habe niemanden ermordet, falls Sie so etwas denken«, beeilte sich die Stimme zu sagen.

»Die Frage ist: Stehen Sie unter Mordverdacht?« Was immer es war, dessen man sie verdächtigte, es war ohne Zweifel ein Fall für Carley. Er musste sie an Carley abschieben.

»Nein, es geht überhaupt nicht um Mord. Ich soll jemanden gekidnappt haben oder entführt oder so was. Am Telefon kann ich das nicht erklären. Jedenfalls brauche ich jetzt auf der Stelle jemanden, sofort, und –«

»Nun, wissen Sie, ich glaube, ich bin da nicht der Richtige«, entgegnete Robert. »Ich weiß so gut wie nichts über das Strafgesetz. Meine Kanzlei ist nicht darauf eingerichtet, sich mit solchen Fällen zu beschäftigen. Was Sie brauchen, ist –«

»Ich brauche keinen Strafverteidiger – ich brauche einen Freund. Jemand, der mir zur Seite steht und dafür sorgt, dass ich nicht in eine Falle gehe. Ich meine, jemand, der mir sagt, welche Fragen ich nicht zu beantworten brauche, wenn ich nicht will, und dergleichen Dinge. Dafür braucht man doch keine Ausbildung in Strafrecht, oder?«

»Das nicht, aber Sie wären wesentlich besser beraten mit einer Kanzlei, die sich im Umgang mit der Polizei auskennt. Eine Kanzlei, die –«

»Sie wollen mir also zu verstehen geben, dass das nicht Ihr Bier ist. Stimmt’s?«

»Aber nein«, antwortete Robert hastig. »Ich habe nur einfach das Gefühl, dass es vernünftiger wäre, wenn Sie –«

»Wissen Sie, wie ich mir vorkomme?«, unterbrach sie ihn. »Ich fühle mich wie jemand, der in einem Fluss ertrinkt, weil er es nicht schafft, das Ufer hinaufzuklettern, und statt dass Sie mir die Hand reichen, sagen Sie mir, dass es sich am anderen Ufer viel besser klettert.«

Es entstand eine kurze Pause.

»Aber im Gegenteil«, sagte Robert, »ich kann Ihnen einen Experten für das Aus-dem-Fluss-Ziehen nennen. Er ist weitaus geschickter als ich Amateur, das versichere ich Ihnen. Wenn es darum geht, einen Angeklagten zu verteidigen, kennt Benjamin Carley sich besser aus als irgendjemand zwischen hier und –«

»Was! Dieser abscheuliche kleine Mann mit dem Nadelstreifenanzug?« Ihre Stimme überschlug sich, und wieder herrschte einen Augenblick lang Schweigen. »Bitte entschuldigen Sie«, sagte sie kurz darauf mit normaler Stimme. »Das war dumm von mir. Aber, verstehen Sie, wenn ich Sie in diesem Augenblick anrufe, dann nicht deswegen, weil ich meine, Sie seien gewitzt in solchen Dingen« – So, so, dachte Robert bei sich –, »sondern, weil ich in der Klemme stecke und mir jemanden als Berater wünsche, der mich versteht. Und Sie sahen danach aus. Mr Blair, bitte kommen Sie her. Ich brauche Sie, und zwar jetzt. Es sind schon Leute von Scotland Yard hier im Haus. Und wenn Sie den Eindruck haben, dass es etwas ist, womit Sie nichts zu tun haben wollen, dann können Sie den Fall doch immer noch an jemand anderen weitergeben, oder? Und womöglich gibt es ja auch gar nichts, in das Sie hineingezogen werden könnten. Wenn Sie nur einfach herkommen könnten, um meine Interessen zu wahren, oder wie Sie das nennen, nur eine Stunde, dann ist vielleicht alles überstanden. Ich bin sicher, es ist irgendein Missverständnis. Könnten Sie das nicht für mich tun?«

Alles in allem hatte Robert Blair doch den Eindruck, dass er könne. Er war zu gutmütig, als dass er eine plausible Bitte um Hilfe hätte abschlagen können – und sie hatte ihm ein Schlupfloch gelassen, falls die Sache zu schwierig würde. Und wenn er es sich nun recht überlegte, hatte er auch nicht die geringste Lust, sie Ben Carley zu überlassen. Bei aller Bissigkeit ihrer Bemerkung über Nadelstreifenanzüge verstand er, was sie meinte. Wenn man etwas angestellt hatte und damit durchkommen wollte, war Carley zweifellos ein Geschenk des Himmels; aber wenn man hilflos war und in Schwierigkeiten und unschuldig, war Carleys Dreistigkeit wahrscheinlich keine große Hilfe.

Trotzdem wünschte er sich, als er den Hörer auflegte, er könnte der Welt ein abweisenderes Gesicht zeigen – ob das von Calvin oder Caliban, war ihm gleich, solange es nur fremde Frauen davon abhielt, sich – wenn sie in Schwierigkeiten gerieten – Schutz suchend in seine Arme zu werfen.

In was für eine Art von Schwierigkeiten man wohl durch Kidnapping kommen konnte?, überlegte er, während er in die Sin Lane bog, um seinen Wagen aus der Garage zu holen. Gab es ein solches Vergehen überhaupt im englischen Recht? Und wen hätte sie kidnappen sollen? Ein Kind? Ein Kind, das eine Erbschaft erwartete? Zwar wohnten sie in jenem großen Haus an der Straße nach Larborough, aber man hatte doch den Eindruck, dass das Geld knapp war bei ihnen. Oder ein Kind, von dem sie meinten, es werde von seinen rechtmäßigen Eltern misshandelt? Das war denkbar. Die alte Frau sah ja nun wahrlich wie eine Fanatikerin aus, und bei Marion Sharpe kam man leicht auf den Gedanken, sie wäre für den Scheiterhaufen bestimmt gewesen, wenn Scheiterhaufen nicht aus der Mode gekommen wären. Ja, das war es wohl, irgendein unüberlegter Akt der Philanthropie. Freiheitsberaubung »mit der Absicht, Eltern, Vormund etc. um ihren Besitz zu bringen«. Er wünschte, er könnte sich besser an seinen Harris und Wilshere erinnern. Aus dem Gedächtnis konnte er nicht einmal sagen, ob es sich um ein Verbrechen handelte, auf das Zuchthaus stand, oder um ein Vergehen. »Entführung und Freiheitsberaubung« war ein Schandfleck, der die Akten von Blair, Hayward und Bennet seit 1798 nicht mehr beschmutzt hatte, als der Squire von Lessows, voll des süßen Weines, auf einem Ball bei den Grettons die junge Miss Gretton auf den Sattel gepackt hatte und mit ihr im strömenden Regen davongeritten war – und damals hatte natürlich nicht der geringste Zweifel an den Motiven des Squire bestanden.

Aber wie dem auch sein mochte – jetzt, wo Scotland Yard sie durch den Überfall in ihre Pläne überrascht hatte, würden sie sicher Vernunft annehmen. Dieser Überfall Scotland Yards überraschte ihn selbst ein wenig. Handelte es sich um ein so wichtiges Kind, dass es ein Fall für die oberste Dienststelle war?

In der Sin Lane geriet er in den üblichen Kleinkrieg, kam jedoch noch einmal davon. (Für Etymologen sei noch angemerkt, dass das »Sin« dieser »sündigen Straße« nur eine entstellte Form des Wortes »Sand« ist; die Einwohner von Milford wissen es natürlich besser: Bevor die Sozialwohnungen auf den flachen Wiesen hinter der Stadt errichtet wurden, führte der Weg direkt zum Spazierpfad der Liebespärchen im High Wood.) Links und rechts der engen Straße standen sich der Reitstall der Stadt und die neueste Garage am Platze in unverbrüchlicher Feindschaft gegenüber. Die Garage mache den Pferden Angst – hieß es im Mietstall –, und der Stall blockiere – hieß es in der Garage – mit den Heu- und Strohballen und solchem Kram dauernd die Zufahrt. Außerdem wurde die Garage von Bill Brough, der beim Corps of Royal Electrical and Mechanical Engineers gedient hatte, zusammen mit Stanley Peters aus dem Corps of Signals betrieben, und der alte Matt Ellis, Reservist der königlichen Dragoner, sah in ihnen die Vertreter einer Generation, die der Kavallerie den Tod gebracht hatte, was einem Verbrechen an der Zivilisation gleichkam. Im Winter, wenn er auf die Jagd ging, hörte Robert sich die Argumente des Kavalleristen an; den Rest des Jahres lauschte er dem Corps of Signals, während sein Wagen poliert, geschmiert, betankt oder vorgefahren wurde. Heute wollten die Fernmelder den Unterschied zwischen Verleumdung und Beleidigung auseinandergesetzt haben und wissen, was denn nun eigentlich eine üble Nachrede sei. War es üble Nachrede, wenn jemand sagte, man sei ein »Klempner, der mit Blechbüchsen hantierte und eine Nuss nicht von einer Eichel unterscheiden könne«?

»Weiß ich nicht, Stan. Darüber muss ich erst nachdenken«, entgegnete Robert eilig, wobei er bereits den Startknopf drückte. Er wartete, bis drei müde Klepper mit zwei dicken Kindern und einem Stallburschen vom Nachmittagsausritt zurückgekehrt waren. »Da haben Sie’s wieder«, hörte er Stanley im Hintergrund, dann lenkte er den Wagen in die High Street.

Unten am südlichen Ende der High Street gingen die Läden allmählich in Wohnhäuser über, deren Türen unmittelbar auf den Bürgersteig gingen, dann in Häuser, deren überdachte Eingänge ein wenig zurückgesetzt lagen, dann in Villen mit Bäumen in ihren Gärten und schließlich – unvermittelt – in Felder und offenes Land.

Es war Ackerland. Ein Land mit endlosen, von Hecken unterteilten Feldern und wenigen Häusern, ein wohlhabendes, doch einsames Land – man konnte Kilometer um Kilometer fahren, ohne ein anderes menschliches Wesen zu treffen. Ruhig, selbstsicher und unverändert seit der Zeit der Rosenkriege folgte ein heckengesäumtes Feld dem nächsten, die Umrisse der Landschaft flossen ineinander, ohne dass das Bild sich veränderte. Nur die Telegraphenmasten erinnerten daran, in welchem Jahrhundert man sich befand.

Vor ihm, jenseits des Horizonts, lag Larborough. Larborough, das bedeutete Fahrräder, Handfeuerwaffen, Reißzwecken, Cowans Preiselbeersoße und eine Million Menschen, die dicht an dicht in schmutzigen roten Backsteinhäusern lebten; dann und wann verfiel die Stadt in eine atavistische Sehnsucht nach Land und Gras. Doch in der Gegend von Milford gab es nichts, was einen Menschenschlag angelockt hätte, der neben Land und Gras sowohl eine schöne Aussicht als auch Teestuben forderte; wenn Larborough Urlaub machte, dann marschierte es geschlossen gen Westen in Richtung Berge und Meer, und das weite Land nördlich und östlich davon blieb einsam und ruhig und unverschandelt, so, wie es das seit Urzeiten war. Es war langweilig, und dieses Todesurteil hatte ihm das Leben gerettet.

Drei Kilometer stadtauswärts an der Straße nach Larborough stand das Haus, das man unter dem Namen Franchise kannte, willkürlich wie ein Telefonhäuschen an den Straßenrand gesetzt. In den letzten Tagen der Regency-Epoche hatte jemand das Feld erworben, das damals Franchise hieß, mitten darauf ein niedriges weißes Haus errichtet und dann um das Ganze eine massive, hohe Backsteinmauer gezogen, mit einem großen zweiflügeligen Tor, ebenso hoch wie die Mauer, in der Mitte der Straßenfront. Es gab nichts, was das Haus mit der Landschaft verband – keinerlei Wirtschaftsgebäude, nicht einmal Seitenpforten führten hinaus auf die umliegenden Felder. Die Ställe hatte man – dem Zeitgeschmack entsprechend – auf der Rückseite des Hauses errichtet, doch auch sie lagen innerhalb der Mauer. Das Anwesen war so fehl am Platze, so verloren wie ein Spielzeug, das ein Kind am Wegesrand hat fallen lassen. Solange Robert sich zurückerinnern konnte, war es von einem alten Mann bewohnt gewesen, vermutlich stets demselben alten Mann; aber da die Leute vom Franchise immer in Ham Green eingekauft hatten, dem nächsten Dorf Richtung Larborough, hatte man sie nie in Milford gesehen. Aber dann waren Marion Sharpe und ihre Mutter im morgendlichen Einkaufsbetrieb von Milford aufgetaucht, und es hieß, sie hätten Franchise geerbt, als der alte Mann starb.

Wie lange mochten sie schon da sein?, überlegte Robert. Drei Jahre? Vier Jahre?

Dass sie nicht Teil des gesellschaftlichen Lebens von Milford geworden waren, hatte nichts zu heißen. Immerhin war es mittlerweile 25 Jahre her, dass die alte Mrs Warren die vorderste der ulmenbeschatteten Villen am Ende der High Street erworben hatte, in der Hoffnung, das Klima von Milford werde für ihren Rheumatismus besser sein als die Seeluft, und noch immer nannte man sie »diese Dame aus Weymouth«. (In Wirklichkeit kam sie aus Swanage.)

Außerdem war es durchaus möglich, dass die Sharpes gar keinen gesellschaftlichen Anschluss gesucht hatten. Auf eine merkwürdige Weise erweckten sie den Eindruck, als seien sie sich selbst genug. Die Tochter hatte er ein-, zweimal auf dem Golfplatz gesehen, wo sie – vermutlich als Gast – mit Dr. Borthwick spielte. Ihr Schlag war kräftig wie der eines Mannes, und sie hatte die schlanken braunen Handgelenke eines Profis. Und das war auch schon alles, was Robert über sie wusste.

Als er den Wagen vor dem hohen eisernen Tor zum Halten brachte, sah er, dass bereits zwei weitere Autos dort standen. Bei dem ersten genügte ein einziger Blick – so unauffällig, so gut gepflegt, so diskret –, um zu erkennen, worum es sich handelte. In welchem anderen Land der Erde, dachte er, während er ausstieg, gibt sich die Polizei solche Mühe, mit Takt und Zurückhaltung vorzugehen?

Sein Blick fiel auf den zweiten Wagen, und er identifizierte ihn als denjenigen Hallams, des örtlichen Inspectors und zuverlässigen Golfspielers.

Drei Leute saßen im Polizeiwagen: der Fahrer, dazu auf dem Rücksitz eine Frau mittleren Alters sowie jemand, bei dem es sich entweder um ein Kind oder um ein junges Mädchen handelte. Der Fahrer musterte ihn mit jenem gutmütigen, geistesabwesenden Polizistenblick, dem nichts entgeht, und wandte dann seine Augen ab; die Gesichter hinten im Wagen konnte er nicht erkennen.

Die hohen Eisentore waren geschlossen – Robert konnte sich nicht erinnern, dass er sie jemals offen gesehen hätte –, und mit unverhohlener Neugierde stieß er einen der beiden schweren Flügel auf. In viktorianischem Bestreben nach Abgeschiedenheit hatte man das Schmiedeeisen des ursprünglichen Tores mit Blechplatten hinterlegt, und die Mauern waren so hoch, dass man nichts dahinter erkennen konnte, sodass er – abgesehen von Dach und Schornsteinen aus der Ferne – Franchise noch nie gesehen hatte.

Sein erster Eindruck war enttäuschend. Nicht, weil das Haus so offensichtlich schon bessere Zeiten gesehen hatte – es war seine schiere Hässlichkeit. Entweder war es zu spät erbaut worden, um noch an der Eleganz dieser eleganten Epoche teilzuhaben, oder der Erbauer hatte keinen Sinn für architektonische Schönheit gehabt. Er hatte im Stil seiner Zeit gebaut, aber es war ein Stil, mit dem er offenbar nicht vertraut war. Alles war gerade ein klein wenig missraten: Den Fenstern fehlte es ein bisschen am rechten Maß, und sie saßen nicht genau an den richtigen Stellen; die Breite der Tür stimmte nicht, ebenso die Höhe der Treppe. Die Folge war, dass das Haus, statt die glatte Zufriedenheit seiner Epoche auszustrahlen, ihn verbissen mit einem fragenden, feindseligen Blick anstarrte. Als er über den Vorplatz auf die abweisende Tür zuging, fiel Robert ein, woran ihn das Haus erinnerte: an einen Hund, der plötzlich durch das Eintreffen eines Fremden aus dem Schlaf gerissen wird und, auf die Vorderpfoten gestützt, einen Augenblick lang unschlüssig ist, ob er angreifen oder nur bellen soll. Genau diesen »Was machst du denn hier?«-Blick hatte es.

Bevor er klingeln konnte, wurde die Tür geöffnet – nicht von einem Dienstmädchen, sondern von Marion Sharpe.

»Ich habe Sie kommen sehen«, sagte sie und streckte ihm die Hand entgegen. »Ich wollte nicht, dass Sie klingeln, denn meine Mutter ruht nachmittags für eine Weile, und ich hoffe, dass wir diese Geschichte aus der Welt haben, bevor sie wieder aufwacht. Dann braucht sie nie etwas davon zu erfahren. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich bin, dass Sie gekommen sind.«

Robert murmelte etwas vor sich hin, und es fiel ihm auf, dass die Farbe ihrer Augen, die er sich in einem kräftigen Zigeunerbraun vorgestellt hatte, in Wirklichkeit ein graues Haselnussbraun war. Sie führte ihn auf den Flur, und als er seinen Hut auf einer Truhe ablegte, bemerkte er, wie abgenutzt der Teppich war.

»Die Vertreter des Gesetzes sind hier«, sagte sie, öffnete eine Tür und geleitete ihn in einen Salon. Robert hätte gern einen Augenblick lang mit ihr allein gesprochen, um überhaupt erst einmal zu erfahren, worum es ging, doch nun war es für einen solchen Vorschlag zu spät. Offenbar wollte sie es so.

Auf der Kante eines Sessels mit Perlstickerei saß Hallam und blickte verlegen drein. Und am Fenster, ganz entspannt in einem schönen Stück von Hepplewhite, saß Scotland Yard in Gestalt eines schmalen, recht jungen Mannes in einem gut geschnittenen Anzug.

Als sie sich erhoben, nickten Hallam und Robert einander zu.

»Inspector Hallam kennen Sie also schon?«, bemerkte Marion Sharpe. »Und dies ist Kriminalinspektor Grant aus dem Präsidium.«

Robert fiel das »Präsidium« auf, und er fragte sich, ob sie irgendwann schon einmal mit der Polizei zu tun gehabt hatte, oder ob sie nur einfach das ein wenig sensationslüsterne »vom Yard« nicht mochte?

Grant reichte ihm die Hand und sagte: »Ich freue mich, dass Sie gekommen sind, Mr Blair. Und das nicht nur für Miss Sharpe, sondern auch für mich selbst.«

»Für Sie selbst?«

»Ich konnte nicht gut weitermachen, bevor Miss Sharpe nicht eine Art Beistand hatte; den Beistand eines Freundes, wenn schon keinen Rechtsbeistand, aber wenn es ein Rechtsbeistand ist, umso besser.«

»Ich verstehe. Und wie lautet die Anklage?«

»Von einer Anklage kann keine Rede sein«, setzte Grant an, doch Marion unterbrach ihn.

»Ich soll jemanden entführt und misshandelt haben.«

»Misshandelt?,« fragte Robert entgeistert.

»Allerdings«, bestätigte sie, und sie schien die Ungeheuerlichkeit zu genießen. »Es heißt, ich hätte sie grün und blau geschlagen.«

»Sie?«

»Ein Mädchen. Sie wartet im Wagen draußen vor dem Tor.«

»Ich glaube«, sagte Robert in einem verzweifelten Versuch, wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen, »wir fangen lieber ganz am Anfang an.«

»Es ist wohl am besten, wenn ich es Ihnen erkläre«, sagte Grant verständnisvoll.

»Tun Sie das«, bekräftigte ihn Miss Sharpe. »Schließlich ist es ja auch Ihre Geschichte.«

Robert fragte sich, ob Grant wohl den Spott in dieser Bemerkung spürte. Er wunderte sich auch ein wenig über die Kaltblütigkeit, mit der sie es sich gestattete, sich über Scotland Yard lustig zu machen, während sein Vertreter in einem ihrer besten Sessel saß. Am Telefon hatte sie ganz und gar keinen kaltblütigen Eindruck gemacht; sie hatte gehetzt geklungen, fast verzweifelt. Vielleicht war es die Gegenwart eines Verbündeten, die ihr Mut machte, vielleicht war sie auch einfach nur seitdem wieder zu Atem gekommen.

»Unmittelbar vor Ostern«, begann Grant in einem präzisen Amtston, »fuhr ein Mädchen namens Elisabeth Kane, das bei seinen Pflegeeltern in der Nähe von Aylesbury lebte, auf einen kurzen Ferienbesuch zu einer verheirateten Tante nach Mainshill, einem Vorort von Larborough. Sie nahm den Überlandbus, denn der Bus von London nach Larborough hält in Aylesbury, und er kommt auch durch Mainshill, bevor er in Larborough eintrifft. Sie konnte also in Mainshill aussteigen und in drei Minuten zu Fuß am Haus ihrer Tante sein, statt, wie sie das mit dem Zug hätte tun müssen, erst nach Larborough zu fahren und dann wieder nach Mainshill hinaus. Nach Verlauf einer Woche erhielten ihre Pflegeeltern – mit Namen Mr und Mrs Wynn – eine Postkarte von ihr, auf der sie schrieb, sie fühle sich sehr wohl und bleibe noch länger. Sie verstanden das so, dass sie bis zum Ende ihrer Schulferien dort bleiben wolle, das hieß also, noch drei weitere Wochen. Als sie am Tag, bevor sie wieder in die Schule gehen sollte, nicht auftauchte, gingen sie davon aus, dass sie nur einfach die Schule schwänzte, und schrieben der Tante, sie solle sie zurückschicken. Die Tante, statt dass sie zur nächsten Telefonzelle oder zum nächsten Telegraphenamt gegangen wäre, eröffnete den Wynns per Brief, dass ihre Nichte schon zwei Wochen zuvor per Bus nach Aylesbury aufgebrochen sei. Über diesem Briefwechsel war fast eine weitere Woche verstrichen, sodass das Mädchen zu dem Zeitpunkt, an dem die Pflegeeltern sich an die Polizei wandten, also schon drei Wochen lang verschwunden war. Die Polizei ergriff die üblichen Maßnahmen, aber bevor sie recht mit der Arbeit beginnen konnte, tauchte das Mädchen wieder auf. Eines Abends traf sie spät zu Hause in Aylesbury ein, nur mit Kleid und Schuhen bekleidet und in völlig erschöpftem Zustand.«

»Wie alt ist das Mädchen?«

»15 – beinahe 16.« Er hielt einen Augenblick lang inne und wartete, ob Robert weitere Fragen hatte, dann fuhr er fort. So, wie es unter Anwaltskollegen sein sollte, dachte Robert – ein Benehmen, das zu dem Wagen passte, der so unauffällig am Tor wartete. »Sie sagte, sie sei in einem Wagen ›gekidnappt‹ worden, aber das war auch schon alles, was in den nächsten zwei Tagen aus ihr herauszubekommen war. Sie verfiel in einen halb bewusstlosen Zustand. Als sie wieder zu sich kam, etwa 48 Stunden später, entlockten sie ihr nach und nach die ganze Geschichte.«

»Sie?«

»Die Wynns. Natürlich hätte die Polizei sie gern befragt, aber wenn auch nur das Wort ›Polizei‹ fiel, wurde sie hysterisch, deshalb musste man sich mit Informationen aus zweiter Hand begnügen. Sie sagte, sie habe an der Kreuzung in Mainshill auf den Bus nach Hause gewartet, und ein Wagen mit zwei Frauen habe am Bordstein gehalten. Die jüngere Frau, die am Steuer gesessen habe, habe sie gefragt, ob sie auf den Bus warte und ob sie sie mitnehmen sollten.«

»War das Mädchen allein?«

»Ja.«

»Wie kam das? Hat sie denn niemand zum Bus gebracht?«

»Ihr Onkel war bei der Arbeit, und die Tante war zu einer Taufe gegangen, wo sie Patin sein sollte.« Wieder machte er eine Pause, um Robert Fragen stellen zu lassen, falls ihm danach zumute war. »Das Mädchen antwortete, sie warte auf den Bus nach London, und sie sagten ihr, der Bus sei schon durch. Da sie praktisch erst zur Abfahrtszeit an der Bushaltestelle angekommen war und ihre Uhr nicht allzu genau ging, glaubte sie ihnen. Ja, schon bevor der Wagen gehalten hatte, habe sie befürchtet, den Bus verpasst zu haben. Sie war unglücklich darüber, denn es war vier Uhr nachmittags, es begann zu regnen, und es wurde dunkel. Die Frauen zeigten großes Mitgefühl und schlugen vor, sie bis zu einem Ort, dessen Namen sie nicht verstand, mitzunehmen, von wo sie eine halbe Stunde später einen anderen Bus nach London erreichen könne. Sie nahm dankbar an und setzte sich zu der älteren Frau auf den Rücksitz des Wagens.«

Vor Roberts geistigem Auge erschien das Bild der alten Mrs Sharpe, wie sie da aufrecht und angsteinflößend auf ihrem üblichen Platz auf dem Rücksitz des Wagens thronte. Er warf Marion Sharpe einen Blick zu, doch ihr Gesicht war unbewegt. Sie hatte diese Geschichte schon einmal gehört.

»Der Regen verschleierte die Fenster, und während der Fahrt erzählte sie der älteren Frau etwas von sich, sodass sie nicht darauf achtete, wohin sie fuhren. Als sie sich schließlich umsah, war es draußen völlig dunkel geworden, und sie hatte den Eindruck, sie seien schon lange Zeit unterwegs. Sie sagte dann wohl, wie außerordentlich freundlich es von ihnen sei, ihretwegen einen so großen Umweg zu machen, worauf die jüngere Frau, die bis dahin geschwiegen hatte, erwiderte, eigentlich sei es gar kein Umweg. Im Gegenteil sei noch genug Zeit, dass sie mit hineinkommen und etwas Warmes trinken könne, bevor sie sie zur neuen Bushaltestelle brächten. Sie war unentschlossen, doch die jüngere Frau meinte, sie habe schließlich nichts davon, 20 Minuten im Regen zu warten, wenn sie es in diesen 20 Minuten auch warm und trocken haben und etwas zu essen bekommen könne – und sie stimmte zu, dass das vernünftig klänge. Nach einer Weile stieg die jüngere Frau aus, öffnete, wie es dem Mädchen schien, das Tor zu einer Auffahrt, und der Wagen kam zu einem Haus, das sie in der Dunkelheit nicht sehen konnte. Man brachte sie in eine große Küche –«

»Eine Küche?«, fragte Robert nach.

»Jawohl, eine Küche. Die ältere Frau erwärmte etwas kalten Kaffee auf dem Herd, während die jüngere Butterbrote schmierte. ›Sandwiches ohne Oberteil‹, nannte das Mädchen sie.«

»Smörgåsbord.«

»Jawohl. Während sie aßen und tranken, erzählte die jüngere Frau ihr, dass sie zurzeit kein Dienstmädchen hätten, und fragte sie, ob sie nicht für eine Weile als Dienstmädchen bei ihnen bleiben wolle. Sie antwortete, das wolle sie nicht. Die Frauen versuchten sie zu überreden, aber sie beharrte darauf, dass das ganz und gar nicht die Art von Arbeit sei, die sie annehmen wolle. Während sie so sprach, verschwammen ihre Gesichter allmählich, und als die beiden vorschlugen, sie solle doch wenigstens mit nach oben kommen und sich das hübsche Zimmer ansehen, in dem sie wohnen würde, wenn sie bliebe, war sie schon zu benommen, als dass sie noch irgendetwas anderes hätte tun können, als ihrer Aufforderung zu folgen. Sie weiß noch, dass sie eine Treppe hinaufging, die mit einem Teppich belegt war, dann eine zweite, von der sie sagt, sie habe ›etwas Hartes‹ unter den Füßen gespürt, und das ist das Letzte, woran sie sich erinnern konnte, bevor sie wieder bei Tageslicht auf einem Feldbett in einer leeren Dachkammer aufwachte. Sie war nur mit ihrem Unterrock bekleidet; der Rest ihrer Kleider war nirgends zu sehen. Die Tür war verschlossen, und das kleine runde Fenster ließ sich nicht öffnen. Jedenfalls –«

»Ein rundes Fenster!«, rief Robert betroffen.

Doch es war Marion, die ihm antwortete. »Ja«, sagte sie mit Nachdruck, »ein rundes Fenster oben im Dach.«

Da sein letzter Gedanke, als er einige Minuten zuvor zu ihrer Eingangstür gegangen war, dem Umstand gegolten hatte, wie schlecht das kleine runde Fenster an jene Stelle des Daches passe, wusste Robert nicht, was er dazu sagen sollte. Grant machte seine übliche Höflichkeitspause und fuhr dann fort.

»Kurz darauf erschien die jüngere Frau mit einer Schüssel Porridge. Das Mädchen weigerte sich, ihn zu essen, und verlangte, man solle ihr ihre Kleider geben und sie freilassen. Die Frau entgegnete, sie werde schon essen, wenn sie hungrig genug sei, ging dann wieder und ließ den Porridge zurück. Das Mädchen blieb allein bis zum Abend, als dieselbe Frau ihr auf einem Tablett Tee und frisch gebackenen Kuchen brachte und sie zu überreden versuchte, die Arbeit als Dienstmädchen auf Probe zu übernehmen. Das Mädchen weigerte sich erneut – tagelang, erzählt sie, ging das so weiter, wobei sich Drohungen und Überredungen abwechselten; manchmal durch die eine Frau, manchmal durch die andere. Dann kam ihr die Idee, dass sie, wenn es ihr gelänge, das kleine runde Fenster einzuschlagen, vielleicht hinaus auf das Dach klettern könne, das durch eine Brüstung gesichert war, und einen Passanten oder einen Hausierer auf ihr Schicksal aufmerksam machen könne. Leider war ihr einziges Werkzeug ein Stuhl, und sie hatte dem Glas gerade erst einen Sprung beigebracht, als die jüngere Frau sich wütend auf sie stürzte. Sie riss dem Mädchen den Stuhl aus der Hand und schlug damit auf es ein, bis ihr die Luft ausging. Dann ging sie – den Stuhl nahm sie mit –, und das Mädchen dachte, damit sei die Sache zu Ende. Doch einen Augenblick später kam die Frau mit etwas zurück, das dem Mädchen wie eine Hundepeitsche vorkam, und schlug es, bis ihm die Sinne schwanden. Am nächsten Tag erschien die ältere Frau mit Bettwäsche in den Armen und sagte, wenn sie nicht arbeiten wolle, dann solle sie wenigstens nähen. Es gäbe kein Essen mehr, wenn sie es nicht täte. Ihr taten die Knochen zu weh zum Nähen, und folglich bekam sie nichts mehr zu essen. Am folgenden Tag drohte man ihr mit einer weiteren Tracht Prügel, wenn sie nicht nähen wolle. Also flickte sie einige Stücke und bekam Eintopf zum Abendessen. So ging das eine ganze Weile, doch wenn sie zu wenig oder nicht zur Zufriedenheit gearbeitet hatte, wurde sie entweder geschlagen oder bekam nichts zu essen. Dann, eines Abends, kam die ältere Frau und brachte den üblichen Teller Eintopf, doch als sie ging, ließ sie die Türe unverschlossen. Das Mädchen zögerte, denn sie rechnete mit einer Falle, die zu einer neuen Tracht Prügel führen würde; doch am Ende traute sie sich hinaus auf den Treppenabsatz. Es war nichts zu hören, und sie lief die nicht mit Teppich belegte Treppe hinunter. Dann eine weitere Treppe zum untersten Absatz. Nun konnte sie die beiden Frauen in der Küche reden hören. Sie schlich die letzte Treppe hinunter und rannte dann zur Tür. Sie war nicht verschlossen, und so lief sie, wie sie war, hinaus in die Nacht.«

»Im Unterrock?«, fragte Robert.

»Ich habe vergessen zu erwähnen, dass man den Unterrock gegen ihr Kleid ausgetauscht hatte. Es gab keine Heizung in der Dachkammer, und nur im Unterrock hätte sie sich wahrscheinlich den Tod geholt.«

»Wenn sie jemals in einer Dachkammer war«, fügte Robert hinzu.

»Wenn, wie Sie ganz richtig sagen, sie jemals in einer Dachkammer war«, pflichtete ihm der Inspector ungerührt bei. Und ohne seine übliche Höflichkeitspause fuhr er fort: »Darüber, was dann geschah, weiß sie nicht mehr viel. Sie sei eine weite Strecke im Dunkeln gegangen, sagt sie. Es schien eine größere Straße zu sein, doch es war kein Verkehr, und sie traf niemanden. Dann, einige Zeit später auf einer Hauptstraße, sah ein Lastwagenfahrer sie im Lichtkegel seiner Scheinwerfer und hielt an, um sie mitzunehmen. Sie war so müde, dass sie auf der Stelle einschlief. Sie erwachte erst, als jemand sie am Straßenrand auf die Beine stellte. Der Lastwagenfahrer amüsierte sich über sie und sagte, sie sei wie eine Stoffpuppe, die ihr Sägemehl verloren habe. Offenbar war es noch immer Nacht. Das sei die Stelle, an der sie habe aussteigen wollen, erklärte der Lastwagenfahrer und fuhr davon. Nach einer Weile erkannte sie, wo sie war. Es waren nicht einmal drei Kilometer bis nach Hause. Sie hörte, wie es elf Uhr schlug. Und kurz vor Mitternacht war sie wieder daheim.«

2

Einen Moment lang herrschte Schweigen.

»Und es handelt sich um jenes Mädchen, das in diesem Augenblick vor dem Tor des Franchise im Wagen wartet?«, fragte Robert.

»So ist es.«

»Ich nehme an, Sie haben Ihre Gründe dafür, sie hierherzubringen?«

»Allerdings. Als das Mädchen sich zufriedenstellend erholt hatte, brachte man sie dazu, ihre Geschichte der Polizei zu erzählen. Sie wurde stenographisch festgehalten, so wie das Mädchen sie erzählte, und sie las die maschinengeschriebene Fassung und unterschrieb sie. In dieser Aussage gab es zwei Punkte, die der Polizei ein gutes Stück weiterhalfen. Ich lese Ihnen die beiden Passagen vor:

Als wir schon eine Weile unterwegs waren, kam uns ein Bus mit einem Leuchtschild Milford entgegen. Nein, ich weiß nicht, wo Milford liegt. Nein, ich bin noch nie dort gewesen.

So weit die eine. Die andere lautet:

Von dem Dachfenster aus konnte ich eine hohe Backsteinmauer mit einem großen eisernen Tor in der Mitte sehen. Auf der anderen Seite der Mauer war eine Straße; ich konnte nämlich die Telegraphenmasten sehen. Nein, den Verkehr habe ich nicht sehen können, dazu war die Mauer zu hoch. Höchstens manchmal die Oberseite von Lastwagenladungen. Durch das Tor konnte man wegen der Blechplatten auf der Innenseite nichts sehen. Auf dieser Seite des Tors ging die Auffahrt ein kurzes Stück geradeaus, dann teilte sie sich und kam in einer Kreisform an der Tür wieder zusammen. Nein, es war kein Garten, nur Gras. Ja, Rasen, kann man wohl sagen. Nein, an Büsche kann ich mich nicht erinnern, nur an Gras und die Wege.«

Grant schloss das kleine Notizbuch, aus dem er zitiert hatte.

»Soviel wir wissen – und wir haben uns gründlich umgeschaut –, ist das Franchise das einzige Haus zwischen Milford und Larborough, auf das die Beschreibung des Mädchens passt. Und mehr noch – das Franchise entspricht ihr in allen Einzelheiten. Als das Mädchen heute das Tor und die Mauer sah, war sie überzeugt, dass dies das Haus war; aber natürlich hat sie bisher die andere Seite des Tors noch nicht gesehen. Ich musste zunächst Miss Sharpe die Angelegenheit erklären und sehen, ob sie bereit war, sich dem Mädchen gegenüberstellen zu lassen. Sie machte den Vorschlag, dass ein rechtskundiger Zeuge dabei sein solle.«

»Wundert es Sie noch immer, dass ich so dringend Hilfe brauchte?«, wandte sich Marion Sharpe an Robert. »Kann man sich überhaupt so einen albtraumhaften Unsinn vorstellen?«

»Die Geschichte dieses Mädchens ist ohne Zweifel eine höchst seltsame Mischung des Faktischen mit dem Absurden. Ich weiß, dass Hausangestellte schwer zu bekommen sind«, antwortete Robert, »aber würde irgendjemand glauben, er könne ein Dienstmädchen engagieren, indem er es gewaltsam festhält, ganz zu schweigen davon, dass er es prügelt und hungern lässt?«

»Ein normaler Mensch natürlich nicht«, stimmte Grant ihm zu, wobei er Robert unverwandt in die Augen blickte, sodass er keine Gelegenheit hatte, zu Marion Sharpe hinüberzuschauen. »Aber glauben Sie mir, bereits während meiner ersten zwölf Monate im Dienst ist mir ein Dutzend abwegigerer Fälle begegnet. Die Seltsamkeiten des menschlichen Verhaltens sind unergründlich.«

»Da stimme ich Ihnen zu. Aber das Seltsame daran kann ebenso gut das Verhalten des Mädchens sein. Schließlich war zunächst einmal sie es, die ihre Launen hatte. Sie ist diejenige, die verschwunden war, und zwar –« Er hielt fragend inne.

»Einen Monat lang«, ergänzte Grant.

»Einen Monat lang; wohingegen nichts darauf hinweist, dass das tägliche Leben im Franchise sich vom Üblichen unterschied. Wäre es nicht möglich, dass Miss Sharpe für den fraglichen Tag ein Alibi vorweisen kann?«

»Nein«, sagte Marion Sharpe. »Bei dem fraglichen Tag handelt es sich, wie ich vom Inspector höre, um den 28. März. Das ist lange her, und die Tage, die wir hier verbringen, unterscheiden sich wenig voneinander, wenn überhaupt. Es ist vollkommen unmöglich, uns daran zu erinnern, wie wir den 28. März verbracht haben – und es ist höchst unwahrscheinlich, dass irgendjemand sich für uns daran erinnert.«

»Ihr Dienstmädchen?«, schlug Robert vor. »Dienstboten haben eine Art, ihr häusliches Leben einzuteilen, die einen oft überrascht.«

»Wir haben kein Dienstmädchen«, entgegnete sie. »Es fällt uns schwer, eines hier zu halten; das Franchise liegt so abgelegen.«

Die Situation drohte peinlich zu werden, und Robert beeilte sich, das Schweigen zu brechen.

»Dieses Mädchen – ich weiß übrigens gar nicht, wie sie heißt.«

»Elisabeth Kane; bekannt als Betty Kane.«

»Oh ja, Sie haben es mir bereits gesagt. Ich bitte um Entschuldigung. Dieses Mädchen – dürfen wir etwas über sie erfahren? Ich nehme an, die Polizei hat Erkundigungen über sie eingezogen, bevor sie ihrer Geschichte so großen Glauben schenkte. Warum zum Beispiel lebt sie bei Pflegeeltern und nicht bei ihren Eltern?«

»Sie ist eine Kriegswaise. Sie wurde als kleines Kind aus London in die Gegend von Aylesbury evakuiert. Sie war ein Einzelkind und wurde bei den Wynns untergebracht, die einen vier Jahre älteren Jungen hatten. Etwa zwölf Monate später kamen beide Eltern bei einem Angriff ums Leben, und die Wynns, die sich immer eine Tochter gewünscht hatten und das Kind sehr gern mochten, waren glücklich, dass sie sie behalten konnten. Für sie sind es ihre Eltern, denn an die leiblichen Eltern kann sie sich kaum noch erinnern.«

»Aha. Und ihr bisheriges Verhalten?«

»Tadellos. Ein sehr ruhiges Mädchen, das bestätigen alle. Gut in der Schule, aber kein Überflieger. Noch nie in irgendwelchen Schwierigkeiten gewesen, weder in der Schule noch sonst. ›Erfrischend ehrlich‹, hat ihre Klassenlehrerin sie beschrieben.«

»Als sie nach ihrer Abwesenheit wieder zu Hause eintraf, waren da noch Spuren der Prügel zu erkennen, die sie bekommen haben will?«

»Aber ja; deutliche Spuren. Der Hausarzt der Wynns hat sie gleich am nächsten Morgen untersucht, und er sagt aus, dass sie sehr übel zugerichtet war. Einige blaue Flecken waren sogar noch wesentlich später zu sehen, als sie ihre Aussage bei uns machte.«

»Nichts von Epilepsie bekannt?«

»Nein; an diese Möglichkeit haben wir schon ganz zu Anfang der Ermittlungen gedacht. Ich sollte vielleicht noch erwähnen, dass die Wynns sehr vernünftige Menschen sind. Die Angelegenheit bereitet ihnen großen Kummer, aber sie haben nicht versucht, sie zu dramatisieren, und sie haben das Mädchen auch vor den Neugierigen und Wohlmeinenden geschützt. Sie haben sich in dieser Sache bewundernswert verhalten.«

»Und alles, was ich tun kann, ist, meinen Teil der Geschichte mit derselben bewundernswerten Ruhe hinzunehmen«, warf Marion Sharpe ein.

»Sie müssen meine Lage verstehen, Miss Sharpe. Das Mädchen beschreibt nicht nur das Haus, von dem sie sagt, sie sei dort festgehalten worden, sie beschreibt auch die beiden Bewohnerinnen – und zwar sehr präzise. ›Eine schlanke, ältere Frau mit dichtem weißen Haar, trägt keinen Hut, schwarz gekleidet; und eine wesentlich jüngere Frau, schlank, groß und dunkel wie eine Zigeunerin, ohne Hut, mit einem bunten Seidentuch um den Hals.‹«

»Aber natürlich. Auch wenn ich nicht weiß, wie das alles möglich ist, so kann ich doch Ihre Lage verstehen. Und nun sollten wir, glaube ich, lieber das Mädchen hereinholen; vorher sollte ich allerdings noch sagen –«

Die Tür öffnete sich lautlos, und die alte Mrs Sharpe stand auf der Schwelle. Die kurzen weißen Haarsträhnen standen ihr zu Berge, sie hatte sich nach dem Aufstehen noch nicht zurechtgemacht, und mehr denn je sah sie wie eine Sibylle aus.

Sie drückte die Tür hinter sich zu und betrachtete die Versammlung mit maliziösem Interesse.

»Ha!«, sagte sie, und es klang wie der kehlige Laut einer Henne. »Drei fremde Männer!«

»Lass mich sie dir vorstellen, Mutter«, sagte Marion, während die drei sich erhoben.

»Dies ist Mr Blair von Blair, Hayward und Bennet – die Kanzlei, die das schöne Haus am oberen Ende der High Street hat, du weißt schon.«

Während Robert sich verbeugte, fixierte die Alte ihn mit ihren Vogelaugen.

»Das Dach muss neu gedeckt werden«, sagte sie.

Das stimmte, aber es war nicht gerade die Begrüßung, die er erwartet hatte.

Es war ihm ein gewisser Trost, dass sie Grant auf eine Art begrüßte, die noch weniger orthodox war. Sie war alles andere als beeindruckt oder beunruhigt bei dem Gedanken, dass sie an einem Frühlingsnachmittag Scotland Yard höchstpersönlich in ihrem Wohnzimmer zu Gast hatte, und wies ihn lediglich mit harter Stimme zurecht: »Sie sollten sich nicht in diesen Sessel setzen; Sie sind viel zu schwer dafür.«

Als ihre Tochter den örtlichen Inspector vorstellte, musterte sie ihn mit einem einzigen Blick, warf ein wenig den Kopf zurück und schloss ihn damit offenbar von jeder weiteren Beachtung aus. Hallam empfand das, seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, als geradezu vernichtend.

Grant warf Miss Sharpe einen fragenden Blick zu.

»Ich werde es ihr sagen«, erwiderte sie. »Mutter, der Inspector möchte uns mit einem jungen Mädchen bekannt machen, das in einem Wagen vor dem Tor wartet. Sie war einen Monat lang aus ihrem Elternhaus in Aylesbury verschwunden, und als sie wieder auftauchte – in jämmerlicher Verfassung –, gab sie an, sie sei von Leuten festgehalten worden, bei denen sie als Dienstmädchen habe arbeiten sollen. Als sie sich weigerte, habe man sie eingeschlossen, geschlagen und hungern lassen. Sie hat das Haus und seine Bewohner genauestens beschrieben, und wie das Leben so spielt, passt die Beschreibung wunderbar auf dich und mich – und auf unser Haus. Man unterstellt uns, wir hätten sie oben in unserer Dachkammer mit dem runden Fenster gefangen gehalten.«

»Höchst interessant«, sagte die alte Dame und ließ sich umständlich auf einem Empire-Sofa nieder. »Womit haben wir sie geschlagen?«

»Mit einer Hundepeitsche, soviel ich weiß.«

»Besitzen wir eine Hundepeitsche?«

»Ich glaube, wir haben eine Leine. Damit wird man wohl auch schlagen können, wenn es sein muss. Aber worum es nun geht – der Inspector möchte uns mit diesem Mädchen zusammenbringen, sodass sie sagen kann, ob wir diejenigen sind, bei denen sie gefangen war, oder nicht.«

»Haben Sie etwas dagegen, Mrs Sharpe?«, fragte Grant.

»Im Gegenteil, Inspector. Ich schaue diesem Treffen mit Ungeduld entgegen. Es kommt, das kann ich Ihnen versichern, nicht jeden Nachmittag vor, dass ich mich als unscheinbare alte Frau zu meinem Schläfchen niederlege und als potenzielles Ungeheuer aufwache.«

»Wenn Sie mich dann also entschuldigen wollen, werde ich …«