Der letzte Zug nach Schottland - Josephine Tey - E-Book

Der letzte Zug nach Schottland E-Book

Josephine Tey

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Beschreibung

Inspector Alan Grant von Scotland Yard reist mit dem Zug nach Schottland. Gemeinsam mit einem alten Schulkameraden will er in den High­lands eine Auszeit nehmen, die herrliche Land­schaft genießen und sich von der, im Wortlaut seines Arztes, »Überarbeitung« erholen. Kurz vor der Ankunft beobachtet Grant, wie es dem Schaffner im Abteil nebenan nicht gelingen will, einen Mitreisenden zu wecken - der Mann ist tot! Fast freut sich Grant ein bisschen, einmal nicht zuständig zu sein. Doch beim ersten Frühstück im Hotel fällt ihm eine Zeitung in die Hände, die er im Zug eingesteckt haben muss und die offenbar dem Toten gehörte. Ein rätselhaf­tes Gedicht, zwischen die Meldungen gekritzelt, weckt Grants detektivisches Interesse. Ob sich anhand der Handschrift und der merkwürdigen Verse etwas über die Identität des Mannes herausfinden lässt? Was als munterer Zeitvertreib beginnt, wird allmählich zu einer umfassenden Ermittlung, bei der Grant nicht nur das Gedicht entschlüsselt, sondern schließlich auch die Wahrheit über den Mord aufdeckt.

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Josephine Tey

Der letzte Zug nach Schottland

Roman

Mit einem Nachwort von Val McDermid

Aus dem Englischen von Manfred Allié

Oktopus

Tiere, die reden,

Ströme im Stand,

Steine, die wandeln,

Der singende Sand …

1

Es war ein Märzmorgen, sechs Uhr früh, und es war noch dunkel. Behäbig rollte der lange Zug in den spärlich beleuchteten Bahnhof, glitt schlängelnd mit einem sanften Klicken über die Weichen. In den Lichtkegel des Stellwerks und wieder ins Dunkel. Vorbei an den Signalmasten, an dem einsamen Smaragd unter funkelnden Rubinen. Weiter zur leeren grauen Öde des Bahnsteigs, der im Licht der Bogenlampen harrte.

Der Postzug aus London am Ziel seiner Reise.

Fünfhundert Schienenmeilen lagen im Dunkel zwischen ihm und Euston und dem vorigen Abend. Fünfhundert Meilen, das hieß mondbeglänzte Felder und schlummernde Dörfer; rußgeschwärzte Städte und rastlose Hochöfen; Regen, Nebel und Frost; Sturzbäche und Schneegestöber; Tunnel und Viadukt. Nun waren rechts und links die Umrisse der Berge aufgetaucht, es war sechs Uhr früh an einem trostlosen Märzmorgen, und nach all der Eile begab sich der Zug schweigsam, so, als sei nichts gewesen, zur Ruhe. Und nur einer unter all den Menschen, die sich in ihm drängten, seufzte nicht vor Erleichterung.

Von denen, die aufseufzten, seufzten zumindest zwei mit einer Erleichterung, die etwas geradezu Inbrünstiges hatte. Der eine war ein Reisender, der andere ein Bahnbediensteter. Der Reisende war Alan Grant, der Bahnbedienstete Murdo Gallacher.

Murdo Gallacher war Schlafwagenschaffner, und unter allen lebenden Wesen zwischen Thurso und Torquay war er das meistgehasste. Zwanzig Jahre lang hatte Murdo sich mit seiner tyrannischen Art das reisende Volk gefügig gemacht und ihm Tribut abgepresst. Das heißt, finanziellen Tribut. Der verbale kam unaufgefordert. Den Reisenden der ersten Klasse war er landauf, landab unter dem Namen Joghurt bekannt. (»Gütiger Gott, der alte Joghurt!«, pflegten sie zu sagen, wenn sie im düsteren, verqualmten Euston sein saures Gesicht erblickten.) Die Reisenden der dritten Klasse hatten eine ganze Reihe von Namen für ihn parat, bildhaft und nicht gerade zimperlich. Wie seine Kollegen ihn nannten, geht niemanden etwas an. Nur drei Leute hatten bei Murdo jemals das letzte Wort behalten: ein Viehtreiber aus Texas, ein Obergefreiter der Queen’s Own Cameron Highlanders und eine stämmige Cockney-Frau – der Name ist nicht überliefert –, die ihm angedroht hatte, sie werde ihm mit ihrer Limonadenflasche eins über den kahlen Schädel geben. Weder Rang noch Fähigkeiten konnten Murdo beeindrucken: Er hasste das eine und verachtete das andere; vor körperlichem Schmerz allerdings hatte er eine panische Angst.

Zwanzig Jahre lang hatte Murdo Gallacher nie mehr als das absolut Notwendige getan. Die Arbeit war ihm langweilig geworden, bevor er auch nur eine Woche im Dienst war, aber er hatte erkannt, dass sie eine Goldgrube war, und er war dabeigeblieben, um sie auszubeuten. Wenn man von Murdo den Morgentee serviert bekam, dann bekam man dünnen Tee, aufgeweichte Kekse, schmutzigen Zucker, ein verkleckertes Tablett und keinen Löffel; aber kam Murdo dann später das Geschirr holen, dann blieben einem die tadelnden Worte, die man schon einstudiert hatte, im Halse stecken. Hin und wieder mochte vielleicht ein Flottenadmiral oder jemand von vergleichbarem Kaliber die Bemerkung riskieren, es sei verflucht schlechter Tee, aber die Mehrheit der Fahrgäste lächelte und zahlte. Zwanzig Jahre lang hatten sie gezahlt, kleinlaute Opfer von Tyrannei und Erpressung. Und Murdo hatte kassiert. Mittlerweile gehörten ihm eine Villa in Dunoon und eine Fischbudenkette in Glasgow, und sein Bankkonto konnte sich ebenfalls sehen lassen. Er hätte sich schon vor Jahren zur Ruhe setzen können, aber er konnte sich nicht damit abfinden, dass er dann einen Teil seines Pensionsanspruches verlieren würde; also ertrug er die Langeweile noch ein kleines bisschen länger und hielt sich dafür schadlos, indem er sich um den Morgentee überhaupt nur kümmerte, wenn die Reisenden von sich aus mit einem solchen Ansinnen an ihn herantraten; und manchmal, wenn er sehr schläfrig war, vergaß er die Bestellungen auch dann. Das Ende einer jeden Fahrt begrüßte er mit der Erleichterung eines Mannes, der eine Strafe abzusitzen hat und seiner baldigen Entlassung entgegensieht.

Alan Grant betrachtete die Lichter des Bahngeländes, die an seinem beschlagenen Fenster vorbeizogen, und lauschte dem sanften Geräusch der Räder, die über die Weichen klickten. Er war erleichtert, denn das Ende der Reise bedeutete für ihn zugleich das Ende seiner nächtlichen Qualen. Grant hatte die Nacht damit zugebracht, die Tür zum Gang nicht zu öffnen. Hellwach hatte er auf seiner teuren Pritsche gelegen und Stunde um Stunde abgeschwitzt. Der Schweiß war ihm nicht etwa ausgebrochen, weil es zu heiß im Abteil gewesen wäre – die Belüftung vollbrachte wahre Wunder –, sondern (Welch Elend! Welche Schande! Welche Demütigung!), weil es sich bei dem Abteil um einen KLEINEN ABGESCHLOSSENEN RAUM handelte. Für das ungeübte Auge war es nichts weiter als ein schmuckes kleines Zimmer mit Bett, Waschbecken, Spiegel, verschiedenen Gepäckablagen, Regalbrettern, die man nach Belieben hervorholen oder wieder verschwinden lassen konnte, einer hübschen kleinen Schublade für die Wertsachen, sofern man welche hatte, und einem Haken für die Uhr, sofern sie nicht gerade beim Pfandleiher war. Der Eingeweihte hingegen, der beklagenswerte, gejagte Eingeweihte erkannte es als KLEINEN ABGESCHLOSSENEN RAUM.

Der Arzt hatte von Überarbeitung gesprochen.

»Legen Sie die Hände in den Schoß, und gehen Sie die Sache locker an«, hatte er in seiner Praxis in der Wimpole Street gesagt, ein elegant gekleidetes Bein über das andere geschlagen und sich an der Erlesenheit des Tuches ergötzt.

Grant konnte sich nicht vorstellen, dass er die Hände in den Schoß legen sollte; und »locker angehen« schien ihm als Formulierung abscheulich und als Lebensweise verachtenswert. Locker angehen. Fett ansetzen und dann zu Tisch. Eine geistlose Befriedigung niederer Instinkte. Locker angehen! Der Klang des Wortes selbst war ja schon eine Beleidigung. Hörte sich wie ein Schnarchen an.

»Haben Sie irgendwelche Hobbys?«, hatte der Doktor gefragt, während sein bewundernder Blick sich seinen Schuhen zuwandte.

»Nein«, hatte Grant kurz angebunden erwidert.

»Was machen Sie denn im Urlaub?«

»Ich angle.«

»Sie angeln?«, fragte der Seelenkundler, für einen Augenblick aus seinen narzisstischen Betrachtungen gerissen. »Und das ist für Sie kein Hobby?«

»Ganz und gar nicht.«

»Wie würden Sie es denn sonst nennen?«

»Eine Mischung aus Sport und Religion.«

Und da hatte der Mann aus der Wimpole Street gelächelt und plötzlich geradezu menschlich ausgesehen; seine Gesundung, hatte er ihm versichert, sei nur eine Frage der Zeit. Der Zeit und der Entspannung.

Nun, zumindest hatte er es geschafft, die Nacht über die Tür nicht zu öffnen. Aber es war ein schwer erkämpfter Triumph. Er fühlte sich leer und ausgelaugt; ein Nichts auf zwei Beinen. »Wehren Sie sich nicht dagegen«, hatte der Doktor gesagt. »Wenn Sie meinen, Sie müssen ins Freie, dann gehen Sie ins Freie.«

Aber wenn er in der vergangenen Nacht diese Tür geöffnet hätte, wäre das für ihn eine so vernichtende Niederlage gewesen, dass er sich nie wieder davon erholt hätte, davon war er überzeugt. Eine bedingungslose Kapitulation vor den Mächten des Irrationalen. Also hatte er auf seiner Pritsche gelegen und vor sich hin geschwitzt. Und die Tür war verschlossen geblieben.

Aber nun, in der unerbittlichen Dunkelheit des frühen Morgens, im freud- und gesichtslosen Dunkel, da kam er sich so wenig heldenhaft vor, als habe er eine Niederlage erlitten. »So muss Frauen nach einer schweren Geburt zumute sein«, dachte er, mit jener Distanz zu sich selbst, die Wimpole Street anerkennend vermerkt hatte. »Aber die haben wenigstens hinterher das Balg zum Vorzeigen. Und was habe ich?«

Seinen Stolz wahrscheinlich. Stolz darauf, dass er eine Tür nicht geöffnet hatte, die zu öffnen es nicht den geringsten Grund gegeben hatte. So weit war es also gekommen!

Nun aber öffnete er sie. Er öffnete sie widerwillig, und die Ironie dieses Widerwillens blieb ihm nicht verborgen. Es war ihm zuwider, sich dem Morgen, dem Leben zu stellen. Er wünschte, er könne sich von Neuem auf das zerwühlte Lager werfen und schlafen, schlafen, schlafen.

Joghurt hatte ihm keine Hoffnungen gemacht, er werde sich um seine zwei Koffer kümmern, also nahm er sie selbst, stopfte das Bündel ungelesener Zeitschriften unter den Arm und ging hinaus auf den Gang. Im engen Vorraum stapelten sich die Gepäckstücke der spendableren Reisenden bis fast an die Decke, sodass die Tür kaum noch zu sehen war; Grant ging den Gang hinunter zum zweiten Wagen der ersten Klasse. Auch da verstellten die hüfthoch gestapelten Besitztümer der Privilegierten den vorderen Ausgang, und er folgte dem Gang zum gegenüberliegenden Ende. Währenddessen kam Joghurt höchstpersönlich aus seinem Kabuff weiter hinten hervor, um Nummer B Sieben davon in Kenntnis zu setzen, dass der Zug sich dem Zielbahnhof näherte. Nummer B Sieben hatte, wie überhaupt jede Nummer, das verbriefte Recht, den Zeitpunkt, zu dem er den Zug verließ, nach Belieben selbst zu bestimmen; aber Joghurt hatte natürlich nicht die geringste Absicht, sich hier die Beine in den Bauch zu stehen, während jemand anderes sich ausschlief. Also pochte er heftig an die Tür von B Sieben und betrat dann das Abteil.

Als Grant sich zur offenen Tür vorgearbeitet hatte, war Joghurt gerade dabei, B Sieben, der voll bekleidet auf seinem Bett lag, am Jackenärmel zu schütteln. »Kommen Sie, Sir, kommen Sie!«, drängte er ihn, den Ärger in seiner Stimme nur mühsam unterdrückend. »Wir sind so gut wie da.«

Er blickte auf, als Grants Schatten die Tür verdunkelte. »Voll wie ’ne Haubitze!«, kommentierte er angewidert.

Es war Grant nicht verborgen geblieben, dass über dem Abteil ein Whiskydunst von einer Dichte lag, dass ein Spazierstock darin steckengeblieben wäre. Geistesabwesend hob er eine Zeitung auf, die durch Joghurts Schüttelei zu Boden gefallen war, und strich die Jacke des Fremden glatt.

»Der Mann ist tot, sehen Sie das denn nicht?«, sagte er. Durch den Schleier der Müdigkeit hörte er seine eigene Stimme: Der Mann ist tot, sehen Sie das denn nicht? Als sei nichts Besonderes daran. Das ist eine Primel, sehen Sie das denn nicht? Das ist ein Rubens, sehen Sie das denn nicht? Das ist das Albert Memorial, sehen Sie das denn –

»Tot«, kam es aus Joghurt mit einer Art Schluchzer hervor. »Das darf doch nicht wahr sein! Ich habe gleich Feierabend!«

Das also, registrierte Grant aus weiter Ferne, war es, was für Mister Leck-mich-am-Ärmel-Gallacher zählte. Jemand hatte sein Leben gelassen, war aus einer Welt der Wärme, der Emotionen, der Wahrnehmung ins Nichts gegangen, doch für Mister Scherdich-zur-Hölle-Gallacher bedeutete das nicht mehr, als dass er vielleicht nicht pünktlich Feierabend machen konnte.

»Was soll ich denn jetzt machen?«, jammerte Joghurt. »Das konnte ich doch nicht ahnen, dass sich jemand in meinem Wagen zu Tode saufen würde! Was soll ich denn jetzt machen?«

»Das müssen Sie natürlich der Polizei melden«, sagte Grant, und zum ersten Mal spürte er wieder, dass das Leben etwas war, das einem Freude machen konnte. Es bereitete ihm ein groteskes, makabres Vergnügen, dass Joghurt hier nun endlich einen ebenbürtigen Gegner gefunden hatte: einen Mann, der sich durch nichts dazu bringen lassen würde, ihm ein Trinkgeld zu geben; dass es dieser Mann sein würde, der ihm mehr Unannehmlichkeiten bereiten würde, als das je ein Reisender in seinen zwanzig Jahren Eisenbahndienst zu tun vermocht hatte.

Er betrachtete noch einmal das jugendliche Gesicht mit dem zerzausten schwarzen Haar, und dann setzte er seinen Weg den Gang entlang fort. Für Tote fühlte er sich nicht zuständig. Er hatte im Laufe seines Lebens mehr als genug Tote gesehen, und auch wenn der Tod in seiner Unwiderruflichkeit ihm noch immer ein wenig die Kehle zuschnürte, hatte er doch seinen Schrecken für ihn verloren.

Das Klicken der Räder war vorüber, und stattdessen hörte man das lang gezogene, hohle Scharren eines Zuges, der in den Bahnhof einläuft. Grant öffnete das Fenster und blickte auf den Bahnsteig, der wie ein graues Band vorbeizog. Die Kälte traf ihn wie ein Fausthieb, und er begann heftig zu zittern.

Er setzte die beiden Koffer auf dem Bahnsteig ab, und nun stand er da (schnatterte wie ein blödsinniger Affe, wie er sich in Gedanken zurechtwies) und wünschte sich, es wäre möglich, für eine kurze Zeit tot zu sein. Irgendwo in seinem hintersten Hinterkopf wusste er natürlich, dass es letzten Endes eine Ehre war, um sechs Uhr an einem Wintermorgen auf einem Bahnsteig zu stehen und vor Erschöpfung und Kälte mit den Zähnen zu klappern, zeugte es doch davon, dass man am Leben war; aber wie wunderbar wäre es, in diesem Augenblick zu sterben und das Leben zu einem glücklicheren Augenblick wieder aufnehmen zu können.

»Zum Hotel, Sir?«, fragte der Träger. »Kann ich machen. Ich bring sie Ihnen rüber, wenn ich die Wagenladung hier versorgt hab.«

Er stolperte die Treppe hinauf und die Überführung entlang. Die Bohlen klangen unter seinem Schritt hohl, wie Trommeln, rings um ihn quollen große Dampfwolken von unten herauf, und das dunkle Gewölbe war erfüllt von hallendem Lärm. Was man von der Hölle erzählte, dachte er bei sich, das war alles Unsinn. Es war nicht der gemütliche Ort, wo man im Fegefeuer braten konnte. Die Hölle, das war eine riesige, kalte, hallende Grotte, in der es weder Zukunft noch Vergangenheit gab: schwarze jammervolle Trostlosigkeit. Die Hölle war das Destillat eines Wintermorgens nach einer schlaflosen Nacht voller Selbstverachtung.

Die Stille, die ihn plötzlich umgab, als er hinaus auf den verlassenen Vorplatz trat, beruhigte ihn. Es war eine kalte, aber klare Nacht gewesen. Das erste Morgengrauen und ein Hauch von Schnee in der klaren Luft ließen die Berge ahnen. Bald würde es hell sein, und Tommy würde zum Hotel kommen und ihn abholen, und gemeinsam würden sie in die grandiose, klare Landschaft der Highlands fahren, fort von hier in die weite, beständige, schlichte Welt des schottischen Hochlands, wo man im Bett starb und wo niemand sich darum scherte, ob die Tür geschlossen war, weil es die Mühe nicht wert war.

Der Speisesaal des Hotels war nur an einem Ende beleuchtet, und die Reihen halb nackter, nur mit Filzauflagen versehener Tische erstreckten sich bis ins Dunkel. Nie zuvor hatte er, wenn er sich das überlegte, unbekleidete Restauranttische zu Gesicht bekommen. Ohne ihre weißen Waffenröcke waren sie ziemlich ärmliche, schäbige Dinger. Wie ein Kellner ohne seine Hemdbrust.

Ein Kind in schwarzem Schulkleid und grüner blumenbestickter Strickjacke schaute hinter einem Wandschirm hervor und schien verblüfft, als es ihn sah. Er fragte, was er zum Frühstück bekommen könne. Das Mädchen nahm einen Gewürzständer vom Buffet und stellte ihn auf das Tischtuch vor ihm mit einer Miene, als hebe sich damit der Vorhang zum ersten Akt.

»Ich schicke Ihnen Mary«, sagte es artig und verschwand wieder hinter dem Schirm.

Das Dienstleistungsgewerbe hatte seinen Glanz verloren, dachte er, seine Finesse. Heute ging es, wie Hausfrauen zu sagen pflegen, auch ohne Bügeln. Aber es gab Tage, da genügte das Versprechen, man werde Mary schicken, um einen über Strickjacken und dergleichen Unzulänglichkeiten hinwegzutrösten.

Mary war eine gemütliche, rundliche Person, die ohne Zweifel Kindermädchen geworden wäre, wären Kindermädchen nicht aus der Mode gekommen, und Grant spürte, wie seine Anspannung nachließ, als sie für ihn zu sorgen begann – wie ein Kind, das die Gegenwart einer wohlwollenden Autorität spürt. Wie jämmerlich, dachte er bei sich: So sehr war er also auf Aufmunterung angewiesen, dass er sie sogar bei einer dicken Kellnerin finden konnte.

Aber er aß, was sie ihm vorsetzte, und fühlte sich allmählich besser. Kurze Zeit später kam sie zurück und ersetzte den Brotkorb durch einen Teller mit Brötchen.

»Da haben Sie Brötchen«, sagte sie. »Gerade erst angekommen. Sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Kein Biss mehr. Aber besser als das Brot da sind sie schon.«

Sie schob die Marmelade näher heran, schaute, ob er noch genug Milch hatte, und ging dann wieder. Grant, der sein Frühstück eigentlich schon beendet hatte, bestrich eins der Brötchen mit Butter und holte dann aus dem Bündel ungelesener Zeitungen, das er noch vom Vorabend hatte, eine hervor. Es war eine Londoner Abendzeitung, und er betrachtete sie verwundert. Hatte er eine Abendzeitung gekauft? Zweifellos hatte er doch die Abendzeitung zur üblichen Zeit gelesen, vier Uhr nachmittags. Warum sollte er dann um sieben eine weitere gekauft haben? War der Kauf einer Abendzeitung bereits zu einem Reflex geworden, genauso unbewusst wie das Zähneputzen? Beleuchteter Zeitungsstand: Abendzeitung. So funktionierte das also?

Die Zeitung war ein Signal, die abendliche Variante des morgendlichen Clarion. Grant betrachtete noch einmal die Schlagzeilen, die er schon am Nachmittag vorher gelesen hatte, und dachte darüber nach, wie wenig sie sich im Grunde änderten. Es war die Zeitung von gestern, aber sie hätte genauso gut aus dem letzten Jahr oder aus dem kommenden Monat stammen können. Die Schlagzeilen würden für immer die gleichen bleiben wie die, die er gerade vor Augen hatte: Regierungskrise, Blondine in Maida Vale tot aufgefunden, Zollfahndung, Raubüberfall, amerikanischer Schauspieler eingetroffen, Verkehrsunfall. Er schob die Zeitung beiseite, aber als er schon die Hand nach der nächsten ausstreckte, bemerkte er, dass die Stelle, die für die letzten Meldungen freizubleiben pflegte, mit Bleistift bekritzelt war. Er zog die Zeitung wieder heran, um zu sehen, was für Rechnungen da wohl jemand angestellt hatte. Aber das Gekritzel stammte nicht etwa vom Zeitungsjungen, der dort in aller Eile das Wechselgeld berechnet hätte. Jemand hatte sich als Dichter versucht. Dass es sich um ein eigenes Werk handelte und nicht nur um den Versuch, ein Gedicht aus dem Gedächtnis zu Papier zu bringen, das sah man an der unzusammenhängenden Schrift und an der Tatsache, dass der Schreiber in den beiden fehlenden Zeilen die notwendige Zahl von Hebungen markiert hatte – ein Trick, den Grant in seiner Zeit als bester Sonettkünstler der Oberprima selbst oft angewandt hatte.

Aber dieses Gedicht stammte nicht von ihm.

Und plötzlich wurde ihm klar, wessen Zeitung das war. Dass er sie hier vor sich hatte, verdankte er einer noch viel automatischeren Handlung, als es der Kauf einer Abendzeitung war. Er hatte sie aufgehoben, als sie im Abteil B Sieben zu Boden fiel, und dann hatte er sie zusammen mit seinen eigenen unter den Arm geklemmt. Mit seinem Bewusstsein – dem Bruchteil seines Verstandes, der nach der vergangenen Nacht noch bei Bewusstsein gewesen war – war er mit der respektlosen Art beschäftigt gewesen, mit der Joghurt einen hilflosen Mann behandelte. Die einzige Tat, zu der seine Willenskraft gereicht hatte, war das Glattstreichen der Jacke gewesen, mit dem er Joghurt zu verstehen gab, was er von seinem Benehmen hielt. Dafür hatte er eine Hand frei haben müssen, und so war die Zeitung zu den anderen unter seinem Arm gekommen.

Der junge Mann mit dem zerzausten schwarzen Haar und den verwegenen Augenbrauen war also ein Dichter gewesen?

Mit Interesse betrachtete Grant die Bleistiftzeilen. Der Verfasser hatte sich, so schien es, einen Achtzeiler vorgenommen, doch für die fünfte und sechste Zeile war ihm nichts eingefallen. So lautete der Text:

Tiere, die reden,

Ströme im Stand,

Steine, die wandeln,

Der singende Sand,

   ..

   ..

Bewachen den Weg

Ins Paradies.

Das war ja nun wirklich ausgesprochen seltsam. Das erste Stadium des Delirium tremens?

Man konnte sich denken, dass jemand mit solchen höchst außergewöhnlichen Gesichtszügen in seinen Alko- holträumen nichts so Gewöhnliches wie rosa Elefanten sehen würde. Für den jungen Mann mit den verwegenen Augenbrauen würde sich selbst die Natur ein wenig mehr ins Zeug legen. Aber was war das für ein Paradies, dessen Wächter von so angsteinflößender Absonderlichkeit waren? Das Vergessen? Warum hatte er sich so sehr nach dem Vergessen gesehnt, dass es ihm zum Paradies wurde? Dass er bereit gewesen war, den nur allzu bekannten, schrecklichen Weg zu gehen, um ihm nahe zu kommen?

Grant aß das leckere frische Brötchen, das »keinen Biss« hatte, und überdachte die Angelegenheit. Die Schrift war wenig entwickelt, aber nicht zittrig; es schien eine unausgeprägte Erwachsenenhandschrift zu sein, unausgeprägt nicht aus mangelnder Koordination, sondern weil der Schreiber nie ganz erwachsen geworden war. Weil er im Grunde noch immer der Schuljunge war, der einst so geschrieben hatte. Diese Theorie fand Bestätigung in der Form der Großbuchstaben, die ganz den Regeln des Schönschreibheftes entsprachen. Seltsam, dass eine so starke Persönlichkeit keinen Versuch unternommen hatte, diese Persönlichkeit in der Handschrift zum Ausdruck zu bringen. Es gab nur wenige Leute, die sich nicht bemühten, die Schulschrift ihren eigenen Vorlieben anzupassen, ihren unbewussten Wünschen.

Schon seit Jahren hatte Grant sich immer wieder gelegentlich mit Handschriftenkunde beschäftigt, und die Ergebnisse dieser langfristigen Studien waren ihm bei seiner Arbeit schon oft von großem Nutzen gewesen. Dann und wann ging natürlich einer seiner Schlüsse in die Irre und sorgte dafür, dass Eitelkeit gar nicht erst aufkam – das einzig Bemerkenswerte an der Schrift eines Massenmörders, der seine Opfer in Säure aufzulösen pflegte, war ihre extreme Logik gewesen, was ja letzten Endes auch gut zu ihm passte –, aber alles in allem erwies sich die Handschrift als ein ausgezeichneter Schlüssel zu den Menschen. Dafür, dass jemand die Schrift seiner Schulzeit beibehielt, gab es im Allgemeinen zwei mögliche Gründe: Entweder mangelte es ihm an Intelligenz, oder er schrieb so wenig, dass die Handschrift keine Gelegenheit bekam, seine Persönlichkeit in sich aufzunehmen.

Bedachte man, mit welcher Intelligenz er die Albträume, die an den Pforten des Paradieses lauerten, in Worte gefasst hatte, dann war offensichtlich, dass dieser junge Mann nicht aus Mangel an Persönlichkeit in einer Kinderhandschrift schrieb. Seine Persönlichkeit – seine Vitalität, seine Interessen – hatte er für andere Dinge eingesetzt.

Aber was mochten das für Dinge sein?

Etwas Aktives, Lebensfrohes. Etwas, bei dem man die Schrift für Notizen wie Treffen uns Cumberland Bar, 6.45, Tony brauchte oder für Eintragungen in ein Logbuch. Andererseits war er nachdenklich genug, sich jenes Traumland, durch das der Weg zum Paradies führt, auszumalen und es in Worte zu fassen. Nachdenklich genug, einen Schritt zurückzutreten und es sich anzusehen, den Wunsch zu haben, es in Worte zu fassen.

Grant saß da, aß und bedachte diese Dinge; es war ihm warm, und er war ein wenig benommen. Er betrachtete die engen Bögen der Ns und Ms. Ein Lügner? Oder nur eigenbrötlerisch? Ein unerwartet zurückhaltender Zug bei einem Mann mit solchen Augenbrauen. Es war schon seltsam, wie sehr ein Gesichtsausdruck von den Augenbrauen bestimmt wurde. Nur eine kleine Veränderung im Winkel, und die Wirkung wäre eine völlig andere. Filmmagnaten holten sich hübsche kleine Mädchen aus Balham und Muswell Hill, zupften ihnen die Augenbrauen aus und malten andere an deren Stelle, und schon hatten sie geheimnisvolle Geschöpfe aus Omsk und Tomsk. Der Cartoonist Trabb hatte ihm einmal erzählt, es habe an dessen Augenbrauen gelegen, dass Ernie Price nicht Premierminister geworden sei. »Den Leuten haben seine Augenbrauen nicht gefallen.« Dabei hatte er ihm über den Rand seines Bierglases zugeblinzelt wie eine Eule. »Fragen Sie mich nicht, warum. Ich zeichne nur. Weil sie zornig aussahen, nehme ich an. Die Leute mögen keine zornigen Männer. Trauen ihnen nicht. Aber glauben Sie mir, das hat ihn den Sieg gekostet. Seine Augenbrauen. Die haben ihnen nicht gefallen.« Zornige Augenbrauen, überhebliche Augenbrauen, seriöse Augenbrauen, sorgenvolle Augenbrauen – die Augenbrauen waren es, die einem Gesicht den charakteristischen Ausdruck gaben. Und es war der Schwung der schwarzen Augenbrauen, der dem schmalen bleichen Gesicht, das dort auf dem Bett gelegen hatte, noch im Tod den Ausdruck des Energischen gab.

Nun – als der Mann diese Zeilen schrieb, war er noch nüchtern gewesen, zumindest da gab es keinen Zweifel. Jene Selbstvergessenheit des Säufers in Abteil B Sieben – die stickige Luft, die zerwühlte Bettdecke, die leere Flasche, die über den Boden rollte, das umgekippte Glas auf der Ablage –, das mochte das Paradies gewesen sein, nach dem er sich sehnte, aber als er den Plan für den Weg dorthin aufstellte, da war er nüchtern gewesen.

Der singende Sand.

Unheimlich und doch verlockend.

Singender Sand. Wahrscheinlich gab es tatsächlich irgendwo Sand, der sang? Es war ihm, als hätte er so etwas schon einmal gehört. Singender Sand. Sand, der unter den Füßen aufschrie, wenn man ihn betrat. Vielleicht war es auch der Wind oder sonst irgendetwas.

Ein Männerarm in kariertem Tweedjackett erschien vor seinem Auge und nahm sich ein Brötchen.

»Du scheinst dir’s ja gut gehen zu lassen«, sagte Tommy, zog einen Stuhl heran und setzte sich. Er teilte das Brötchen in zwei Hälften und bestrich sie mit Butter. »Die Dinger haben keinen Biss mehr heutzutage. Als ich noch ein Junge war, schlug man die Zähne hinein und zerrte. Die Chancen standen eins zu eins: Entweder gaben die Zähne zuerst nach oder das Brötchen. Aber wenn die Zähne gewannen, dann hatte man auch wirklich was im Mund. Ein schöner Bissen, Mehl und Hefe, an dem man ein paar Minuten zu kauen hatte. Heute schmecken sie nach gar nichts, und man könnte das ganze Ding zusammenfalten und auf einmal in den Mund stecken, ohne Gefahr, dass man daran ersticken würde.«

Grant schwieg und betrachtete ihn freudig. Es gab keine engere Vertrautheit, dachte er, als die, die einen mit jemandem verband, mit dem man die Stube im Internat geteilt hatte. Sie waren auch auf der Public School zusammen gewesen, aber die Prep School war es, wohin seine Gedanken zurückgingen, wann immer er Tommy wieder traf. Vielleicht weil das muntere rosigbraune Gesicht mit den runden, treuherzigen blauen Augen im Grunde noch immer genau das Gesicht des Knaben in seinem schief geknöpften braunen Blazer war. Tommy hatte seinen Blazer stets mit fröhlicher Sorglosigkeit geknöpft.

Es passte zu Tommy, dass er keine Zeit und Energie auf konventionelle Fragen nach seiner Gesundheit oder dem Verlauf seiner Reise verschwendete. Laura würde das natürlich genauso wenig tun. Sie würden ihn so nehmen, wie er war; so, als wäre er schon eine ganze Weile im Hause. So, als sei er gar nicht fortgewesen, sondern noch von seinem letzten Besuch da. Es war eine ausgesprochen erholsame Atmosphäre, von der er nun von Neuem umgeben sein würde.

»Wie geht’s Laura?«

»Könnte nicht besser gehen. Bisschen zugenommen. Sagt sie jedenfalls. Mir ist noch nichts aufgefallen. Hab mir nie was aus mageren Frauen gemacht.«

Es hatte eine Zeit gegeben, als sie beide um die zwanzig waren, da hatte Grant mit dem Gedanken gespielt, seine Cousine Laura zu heiraten; und in ihr ging, da war er ganz sicher gewesen, damals das Gleiche vor. Aber bevor es zu einer Erklärung gekommen war, war der Zauber verflogen, und ihre Beziehung war wieder die alte Freundschaft, die sie von jeher gewesen war. Der Zauber war Teil der lang anhaltenden berauschenden Wirkung eines Highlandsommers gewesen. Teil der Morgen in den Hügeln, die nach dem Duft der Kiefernnadeln rochen, Teil der endlosen Abenddämmerungen, erfüllt mit dem süßen Hauch des Klees. Für Grant gehörten seine Cousine Laura und die Fröhlichkeit der Sommerferien zusammen; gemeinsam hatten sie den Schritt vom Kaulquappenglas zur ersten Angelrute gemacht, gemeinsam waren sie zum ersten Mal den Larig entlanggewandert, und gemeinsam hatten sie zum ersten Mal auf dem Gipfel des Braeriach gestanden. Aber erst in jenem Sommer am Ende ihrer Jugendzeit hatte sich dieses Glücksgefühl in der Person Lauras kristallisiert; zum ersten Mal war Laura Grant zum Inbegriff all dessen, wofür der Sommer stand, geworden. Auch heute noch hatte der Gedanke an jenen Sommer etwas Erhebendes. Er hatte die fragile Vollkommenheit, das Schillernde einer Seifenblase. Und weil sie nie ein Wort darüber verloren hatten, würde die Seifenblase nun auch niemals zerplatzen. Sie blieb fragil, vollkommen, schillernd, in der Schwebe – dort, wo sie sie gelassen hatten. Beide hatten sie sich anderen Dingen zugewandt, anderen Menschen. Laura war von einem zum anderen gehüpft mit der fröhlichen Sorglosigkeit eines Kindes, das »Himmel und Hölle« spielt. Und dann hatte er sie zu jenem Ball der Ehemaligen mitgenommen. Und sie hatte Tommy Rankin kennengelernt. Und damit war alles klar gewesen.

»Was ist denn da am Bahnhof los?«, fragte Tommy. »Der Krankenwagen und all das.«

»Jemand ist im Zug gestorben. Wahrscheinlich sind sie deswegen da.«

»Oh«, sagte Tommy, und damit war für ihn die Sache erledigt. »Solange du es nicht warst«, fügte er hinzu. Es klang wie ein Glückwunsch.

»Nein. Ich war’s nicht, Gott sei Dank.«

»Du würdest denen im Yard fehlen.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher.«

»Mary«, rief Tommy, »ich könnte einen schönen, starken Tee vertragen. Und von diesen ärmlichen Dingern« – mit verächtlicher Geste zeigte er auf den Teller mit den Milchbrötchen – »kannst du auch noch ein paar bringen.« Er blickte Grant mit seinen ernsten Kinderaugen an und sagte: »Die müssen dich einfach vermissen. Jetzt sind sie doch ein Mann weniger.«

Zum ersten Mal seit Monaten stieß Grant einen Laut hervor, der beinahe so etwas wie ein Lachen war. Nicht weil sie auf einen klugen Kopf verzichten mussten, hatte Tommy Mitgefühl mit den Leuten im Präsidium, sondern einfach, weil einer fehlte. Beinahe die gleiche Art von »Familiensinn« hatte auch sein Vorgesetzter gezeigt. »Krankgeschrieben!«, hatte Bryce gesagt, und seine Knopfaugen musterten den scheinbar so gesunden Körper Grants von oben bis unten, bevor sie ihm angeekelt wieder ins Gesicht blickten. »Tja, so ist das! Was ist nur aus dem Yard geworden! Zu meiner Zeit blieb man im Dienst, bis man umkippte. Und bis die Tragbahre kam, schrieb man auf dem Fußboden seinen Bericht.« Es war nicht einfach gewesen, Bryce die Diagnose des Arztes verständlich zu machen, und er hatte auch alles andere als Bereitschaft zum Verständnis gezeigt. Für Bryce hatte es so etwas wie Nerven niemals gegeben; er war reine physische Kraft, angetrieben von einem scharfen, wenn auch begrenzten Verstand. Grants Erläuterungen hatte er weder mit Verständnis noch mit Mitgefühl aufgenommen. Im Gegenteil – unterschwellig, nur mit dem Hauch einer Andeutung, hatte er ihm zu verstehen gegeben, dass er ihn für einen Simulanten hielt. Dass er diesen ach-so-seltsamen Zusammenbruch körperlich so bemerkenswert gut überstanden habe, weil sich die Frühlingssaison in den Gewässern der Highlands nähere; dass er sein Angelzeug schon gepackt gehabt habe, bevor er zum Arzt ging.

»Wie stopfen sie denn die Lücke?«, fragte Tommy.

»Wahrscheinlich wird Sergeant Williams befördert. Seine Beförderung ist ohnehin seit Langem überfällig.«

Auch dem getreuen Williams waren die Neuigkeiten nicht leicht beizubringen gewesen. Wenn ein Untergebener einen schon seit Jahren unverhohlen als Helden verehrt, dann ist es nicht einfach, sich ihm als armes geplagtes Nervenbündel zu präsentieren, hilflos eingebildeten Dämonen ausgeliefert. Auch Williams gehörte zu denen, die keinen einzigen Nervenstrang im Leibe hatten. Er ließ die Dinge über sich ergehen, sanftmütig und ohne zu fragen. Es war nicht einfach gewesen, Williams von seiner Lage in Kenntnis zu setzen und zu sehen, wie die Bewunderung sich in Sorge wandelte. In – Mitleid?

»Schieb mal die Marmelade rüber«, sagte Tommy.

2

Je weiter sie in die Berge kamen, desto friedvoller war ihm zumute. Die Art, wie Tommy ihn begrüßt hatte, hatte ihn von einer schweren Last befreit. Diese beiden nahmen ihn, wie er war; sie mochten ihn, aber sie hielten Abstand, ließen ihm Zeit, die vertraute Ruhe in sich aufzunehmen. Es war ein grauer ruhiger Morgen. Die Landschaft war klar und karg. Klare graue Mauern umgaben karge Felder, schlichte Zäune die geradlinigen Gräben. Die Natur war bereit, aber noch hatte nichts zu wachsen begonnen in dieser Landschaft. Nur hier und da ließ sich an den Gräben im Halbschatten ein zum Leben erwachter grüner Weidenbaum ausmachen.

Alles würde wieder ins Lot kommen. Hier bekam er, was er brauchte – die Stille des offenen Landes, die Weite, die Gelassenheit. Er hatte ganz vergessen gehabt, wie wohltuend diese Landschaft war; wie zufrieden sie einen machte. Die Hügel nahebei waren rund und grün und freundlich; in der Ferne ragten sie höher auf, schimmerten blau. Und am Horizont erhob sich, weiß und fern vor dem stillen Himmel, das Massiv der Highlands.

»Der Fluss hat aber sehr wenig Wasser, oder?«, sagte er, als sie ins Tal des Turlie hinunterkamen. Und dann überwältigte ihn die Panik.

Genau so kam es immer wieder. Gerade eben noch ein freier und selbstbeherrschter Mann, im nächsten Augenblick ein hilfloses Geschöpf in den Klauen des Irrationalen. Er presste seine Hände aneinander, um nicht die Tür aufzureißen, und er versuchte zuzuhören, was Tommy erzählte. Schon seit Wochen kein Regen mehr. Seit Wochen hatte es nicht mehr geregnet. Er musste über den ausgebliebenen Regen nachdenken. Das hatte Folgen für ihn, dass es nicht geregnet hatte. Es würde ihm sein Angelvergnügen verderben. Schließlich war er nach Clune gekommen, um zu angeln. Wenn es keinen Regen gab, würde es auch keine Fische geben. Keine Laichwanderung. Sie hatten ja kein Wasser. Lieber Gott, hilf, dass ich Tommy nicht zum Anhalten zwinge! Kein Wasser. Man muss vernünftig über das Angeln nachdenken. Wenn es schon seit Wochen nicht geregnet hatte, konnte der Regen doch nicht mehr lange auf sich warten lassen, oder? Wenn man einen Freund bitten konnte anzuhalten, weil einem übel war, warum konnte man ihn dann nicht auch darum bitten, um einem kleinen abgeschlossenen Raum zu entkommen? Schau dir doch den Fluss an. Schau wirklich hin. Erinnere dich an das letzte Mal, das du hier warst. Da drüben hast du voriges Jahr deinen größten Fang gemacht. Und hier ist Pat von dem Felsen abgerutscht, auf dem er saß, aber er blieb mit dem Hosenboden hängen.

»Der schönste Fisch, den du je gesehen hast«, sagte Tommy gerade, »frisch zurück von der großen Reise.«

Die Haselnussbüsche am Fluss waren in der graugrünen Moorlandschaft als purpurne Farbflecken zu sehen. Bald würde es Sommer sein, und die Blätter würden mit ihrem kühlen Rascheln die Begleitmusik zum Lied des Flusses anstimmen, aber heute drängten sie sich noch rosa und schweigend am Ufer zusammen.

Auch Tommy fielen die kahlen Haselzweige auf, als er den Wasserstand des Flusses begutachtete, aber als Vater eines Sohnes dachte er dabei an anderes als an Sommernachmittage. »Pat hat sein Talent als Wünschelrutengänger entdeckt«, sagte er.

Schon besser. An Pat denken. Über Pat reden.

»Das ganze Haus ist voll von Astgabeln in allen Größen und Formen.«

»Hat er denn schon etwas aufgespürt?« Wenn er sich auf Pat konzentrieren konnte, war er vielleicht gerettet.

»Er hat Gold unter dem Wohnzimmerkamin entdeckt, eine Leiche unter dem Dingsbums im unteren Badezimmer und zwei Brunnen.«

»Und wo liegen die?« Jetzt konnte es nicht mehr lange dauern. Noch fünf Meilen bis zum Ende des Glens, bis nach Clune.

»Einer unter dem Esszimmerboden und einer unter dem Durchgang zur Küche.«

»Aber unter dem Wohnzimmerkamin habt ihr nicht gegraben, oder?« Das Fenster war weit geöffnet. Wieso machte er sich überhaupt Gedanken? Im Grunde war es ja gar kein geschlossener Raum, er war gar nicht geschlossen.

»Nein. Hat er mir sehr übel genommen. Sagt, ich sei ein Einmalgeborener.«

»Einmalgeboren?«

»Genau. Sein neuestes Wort. Wenn ich es richtig verstehe, steht es noch eine Stufe unter einem Widerling.«

»Wo hat er denn das her?« Er würde es noch bis zu dem Birkenwald an der Ecke schaffen. Dann würde er Tommy bitten anzuhalten.

»Keine Ahnung. Ich glaube von einer Theosophin, die letzten Herbst einen Vortrag im Frauenverein gehalten hat.«

Wieso wehrte er sich dagegen, dass Tommy es erfuhr? Es war ja nichts, weswegen man sich schämen musste. Wenn er wegen Syphilis gelähmt wäre, würde er Tommys Hilfe und Mitleid annehmen. Warum sollte er also die Tatsache vor Tommy verbergen, dass ihm aus Angst vor etwas, das nicht existierte, der Schweiß ausbrach? Vielleicht konnte er Tommy etwas vormachen? Könnte er Tommy nicht bitten, für einen Augenblick anzuhalten, um die Landschaft zu bewundern?

Inzwischen waren sie am Birkenwald. Wenigstens hatte er bis dahin durchgehalten.

Gleich kam die Kurve, in der die Straße ein Stück parallel zum Fluss verlief. Dann konnte er den Vorwand benutzen, er wolle einen Blick aufs Wasser werfen. Viel einleuchtender, als wenn er die Landschaft hätte bewundern wollen. Tommy würde mit Begeisterung einen Fluss betrachten, aber für jemanden, der die Landschaft sehen wollte, hätte er nur stummen Protest übrig.

Noch fünfzig Sekunden. Eins, zwei, drei, vier …

Jetzt.

»An der tiefen Stelle dort haben wir diesen Winter zwei Schafe verloren«, sagte Tommy, und schon hatten sie die Kurve hinter sich.

Zu spät.

Was gab es sonst noch für Vorwände? Mittlerweile war er so nahe an Clune, dass sich kaum noch ein Vorwand finden ließ. Er konnte sich nicht einmal eine Zigarette anzünden – seine Hände hätten zu sehr gezittert.

Wenn er nur irgendetwas tun könnte, irgendeine unbedeutende Kleinigkeit …

Er holte sich das Bündel Zeitungen vom Nebensitz und sortierte sie geschäftig und ohne tiefere Absicht. Es fiel ihm auf, dass der Signal nicht mehr dabei war. Er hatte ihn wegen des seltsamen kleinen Gedichtentwurfs auf der letzten Seite aufheben wollen, aber nun hatte er ihn doch im Speisesaal des Hotels liegenlassen. Nicht zu ändern. Es spielte ja auch keine Rolle. Die Zeitung hatte ihn beim Frühstück beschäftigt und damit ihre Aufgabe erfüllt. Und der Besitzer würde sie mit Sicherheit nicht mehr brauchen. Er war in seinem Paradies angekommen, seinem Vergessen – wenn es das war, wonach er gesucht hatte. Er konnte den Vorzug von Schweißausbrüchen, von zitternden Händen nicht mehr auskosten. Das Privileg, mit Dämonen zu ringen. Für ihn hatte es keinen klaren Morgen gegeben, keine freundliche Erde, keine Schönheit der Highland-Hügel am Horizont.

Zum ersten Mal begann er zu überlegen, was den jungen Mann wohl in den Norden geführt hatte.

Er hatte ja sein Schlafwagenabteil erster Klasse vermutlich nicht gebucht, um sich darin sinnlos zu betrinken. Seine Reise hatte ein Ziel gehabt. Es war um Geschäfte gegangen, oder er hatte sich einen Wunsch erfüllen wollen. Er hatte eine Absicht verfolgt.

Warum war er zu dieser unfreundlichen Jahreszeit, außerhalb der Saison, in den Norden gekommen? Zum Angeln? Bergsteigen? Wenn er sich recht erinnerte, hatte er in dem Abteil kein Gepäck gesehen. Aber das hätte sich auch unter der Pritsche befinden können, vielleicht sogar im Gepäckwagen. Was hätte ihn, abgesehen vom Sport, noch hierherführen können?

Ein Regierungsbeamter?

Nein, nicht mit diesem Gesicht.

Ein Schauspieler? Ein Künstler? Kaum.

Ein Seemann unterwegs zu seinem Schiff? Zu einem der Marinehäfen jenseits von Inverness? Das konnte er sich schon eher vorstellen. Auf der Brücke eines Schiffes würde sich dieses Gesicht ausgesprochen gut machen. Ein kleines Schiff; sehr schnell; ein schnittiges Ding, auch bei rauer See.

Was gab es sonst noch? Was konnte einen dunkelhaarigen schlanken jungen Mann mit verwegenen Augenbrauen und einer Schwäche für Alkohol Anfang März in die Highlands führen? Sollte er, wo Whisky heutzutage so schwer zu bekommen war, etwa daran gedacht haben, eine Schwarzbrennerei einzurichten?

Das war eine ganz hübsche Idee. Wie schwer würde so etwas sein? Nicht so leicht wie in Irland, weil die Bevölkerung den Hang zur Gesetzlosigkeit vermissen ließ; aber wenn man es erst einmal geschafft hätte, wäre der Whisky auch ungleich besser als dort. Er wünschte sich beinahe, er hätte dem jungen Mann diese Idee auseinandersetzen können. Hätte ihm zum Beispiel gestern beim Abendessen gegenübersitzen und zusehen können, wie ein Funkeln in dessen Augen kam beim Gedanken an diesen wundervollen Streich, den man dem Gesetz spielen konnte. Er wünschte sich, er hätte mit ihm reden können; Gedanken mit ihm austauschen; etwas über ihn erfahren. Wenn gestern Abend jemand mit ihm geredet hätte, hätte er vielleicht heute an diesem Morgen voller Leben teilhaben können, an dieser herrlichen, beglückenden Welt mit ihren Wohltaten, ihren Hoffnungen, statt dass er –

»Und an der tiefen Stelle hinter der Brücke haben wir ihn dann an Land gezogen«, beschloss Tommy eine seiner Geschichten.

Grant betrachtete seine Hände und sah, dass sie aufgehört hatten zu zittern.

Für ihn war der tote junge Mann, der sich selbst nicht hatte retten können, zur Rettung geworden.

Er blickte auf und sah vor sich das weiße Haus von Clune. Es lag eingebettet in der grünen Flanke des Hügels, allein, bis auf ein schützendes Fleckchen Fichtenwald, das wie ein Stück grüne Stickerei auf die karge Landschaft geheftet schien. Blauer Rauch stieg kräuselnd aus dem Schornstein in die unbewegte Luft. Der Inbegriff von Frieden.

Als sie den staubigen Weg von der Straße zum Haus hinauffuhren, sah er, wie Laura zur Tür heraustrat und ihnen entgegenblickte. Sie winkte ihnen zu, dann steckte sie die Haarsträhne zurück, die ihr über die Stirn gefallen war. Bei dieser vertrauten Bewegung wurde ihm warm ums Herz. Genau so hatte sie als Kind immer auf dem kleinen Bahnhof von Badenoch auf ihn gewartet; genau so hatte sie gewinkt und dann die Haarsträhne zurückgestrichen. Genau diese Haarsträhne.

»Verdammt«, sagte Tommy, »ich habe vergessen, ihre Post einzuwerfen. Sag nichts davon, wenn sie nicht von sich aus danach fragt.«

Laura küsste ihn auf beide Wangen, warf einen einzigen Blick auf ihn und sagte dann:

»Ich habe ein hübsches Vögelchen für dich zum Mittagessen, aber wenn ich mir dich so ansehe – ich glaube, du solltest dich erst einmal ordentlich ausschlafen. Also ab mit dir nach oben, und um das Essen kümmern wir uns, wenn du wieder wach bist. Und zum Erzählen haben wir ja noch Wochen Zeit, da brauchen wir nicht gleich mit anzufangen.«

Kein anderer Gastgeber, ging es ihm durch den Kopf, hätte sich so perfekt den Bedürfnissen eines Gastes anpassen können wie Laura. Hier wurde keine mit so viel Mühe vorbereitete Mahlzeit angepriesen; hier gab es keine versteckte Nötigung. Sie bedrängte einen nicht einmal mit einer ungewollten Tasse Tee oder der nachdrücklichen Empfehlung ihres heißen Badewassers. Nicht einmal das übliche Ankunftsgeplauder erwartete sie, das höfliche Umherstehen. Sie versorgte ihn, ohne zu fragen und ohne zu zögern mit genau dem, was er dringend brauchte. Mit einem Kopfkissen.

Er überlegte, ob er wohl tatsächlich so schlecht aussah oder ob Laura ihn nur einfach besonders gut kannte. Bei Laura, dachte er, würde es ihm nichts ausmachen, wenn sie vom Bann des Grauens erfuhr, unter dem er stand. Es war seltsam, dass es ihm bei Laura so leichtfallen sollte, wo er es Tommy gegenüber nicht fertiggebracht hatte, ihm seine Schwäche einzugestehen. Eigentlich hätte es doch umgekehrt sein sollen.

»Ich habe dir diesmal das andere Schlafzimmer gegeben«, sagte sie und folgte ihm die Treppe hinauf. »Das nach Westen ist frisch gestrichen und riecht noch ein wenig.«

Es fiel ihm auf, dass sie tatsächlich etwas zugenommen hatte; aber ihre Fesseln waren nach wie vor sehenswert. Und dann wurde es ihm mit jenem ihm eigenen Abstand zu sich selbst, den er nie ganz überwinden konnte, klar, warum er kein Bedürfnis hatte, seine kindischen Panikanfälle vor Laura geheim zu halten – weil ein gar nicht so kleiner und gar nicht so tief verborgener Teil von ihm auch heute noch in sie verliebt war. Den typisch männlichen Wunsch, sich der Geliebten besonders vorteilhaft darzustellen, gab es in seinem Verhältnis zu Laura nicht.

»Es heißt immer, in Schlafzimmern nach Osten hat man Morgensonne«, sagte sie, stand dabei in diesem Schlafzimmer nach Osten und schaute sich um, als sei sie noch nie vorher hier gewesen. »Als ob das eine besondere Empfehlung wäre. Ich finde es ja viel schöner, wenn man hinaus auf die sonnenbeschienene Landschaft blicken kann. Und das geht schließlich nicht, wenn einem die Sonne ins Auge scheint.« Sie steckte die Daumen in den Rockbund und lockerte die Spannung des Gummizugs, der ihr zu eng wurde. »Aber in ein bis zwei Tagen ist das Westzimmer wieder bewohnbar, und dann kannst du umziehen, wenn du willst. Und wie geht es meinem lieben Sergeant Williams?«

»Gesund und munter.«

Williams erschien vor seinem inneren Auge, wie er aufrecht und scheu im Salon des Westmoreland-Hotels am Teetisch saß. Er war auf dem Rückweg von einer Besprechung mit dem Geschäftsführer gewesen und auf Laura und Grant gestoßen, die dort ihren Tee einnahmen, und er hatte sich überreden lassen, sich zu ihnen zu setzen. Laura war begeistert von ihm gewesen.

»Weißt du, immer wenn das Land von einer seiner regelmäßigen Krisen geschüttelt wird, denke ich an Sergeant Williams, und sofort bin ich sicher, dass alles wieder in Ordnung kommen wird.«

»Ich gebe dir wohl gar kein Gefühl von Sicherheit, oder?«, fragte Grant, während er seine Koffer öffnete.

»Nicht, dass ich wüsste. Jedenfalls nicht diese Art von Sicherheit. Dich würde ich erst brauchen, wenn die Dinge nicht wieder ins Lot kämen.« Und mit diesem kryptischen Kommentar verließ sie ihn. »Du sollst erst wieder runterkommen, wenn dir danach zumute ist. Meinetwegen kannst du sogar ganz oben bleiben. Du brauchst nur zu läuten, wenn du wach bist.«

Ihre Schritte verhallten im Flur, und dann breitete sich Stille um ihn aus.

Er zog seine Kleider aus und ließ sich in sein Bett fallen, ohne sich um das Tageslicht, das durchs Fenster drang, zu kümmern. Im selben Augenblick dachte er aber auch schon: Ich sollte die Vorhänge zuziehen, sonst weckt mich das Licht vielleicht zu schnell wieder auf. Widerwillig öffnete er die Augen, um den Lichteinfall abzuschätzen, und stellte fest, dass die Sonne überhaupt nicht mehr hereinschien. Sie hatte sich längst der Landschaft draußen zugewandt. Er erhob sich halb von seinem Kissen, um über dieses Phänomen nachzudenken, und es wurde ihm klar, dass es später Nachmittag war.

Entspannt und gut gelaunt drehte er sich auf den Rücken, lag da und hörte der Stille zu. Die ewige Stille. Er genoss sie, war dankbar für die lange Zeit ohne Qual, die ihm gewährt worden war. Zwischen hier und dem Pentland Firth gab es nicht einen abgeschlossenen Raum. Sogar zwischen hier und dem Nordpol, wenn man es sich genau überlegte. Durch das weit geöffnete Fenster konnte er den Abendhimmel betrachten, immer noch grau, aber schwach leuchtend, mit Wolkenstreifen überzogen. Keine Anzeichen von Regen; der Himmel spiegelte den Frieden dieser Landschaft wider, die Ruhe, die sie in ihrer Selbstversunkenheit ausstrahlte. Aber was machte das schon – wenn aus dem Angeln nichts wurde, konnte er immer noch spazieren gehen. Wenn es ganz schlimm würde, bliebe immer noch die Kaninchenjagd.