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Cosy Crime mit britischem Charme aus der goldenen Zeit des Kriminalromans
Die schöne Filmschauspielerin Christine Clay liegt tot am Strand. Sie ist wohl nicht freiwillig aus dem Leben geschieden, in ihrem Haar hat sich ein Knopf verheddert. Inspector Alan Grant von Scotland Yard muss zunächst einfach den dazugehörigen Mantel finden. Sein Weg dahin ist wendungsreich und führt von einem verdächtigen Hausgast zu einer Wahrsagerin und von ihr – aber lesen Sie selbst. Ein clever konstruierter Fall der wiederentdeckten schottischen Kriminalautorin Josephine Tey, ganz nach dem Geschmack des jungen Alfred Hitchcock, der diese Story verfilmt hat.
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Seitenzahl: 326
Veröffentlichungsjahr: 2025
Josephine Tey
Klippen des Todes
Inspector Grants zweiter Fall
Aus dem Englischenvon Dr. Dietlind Bindheim
Anaconda
Die englische Originalausgabe erschien erstmals 1936 unter dem TitelA Shilling for Candles bei Methuen, London. Die Übersetzung vonDr. Dietlind Bindheim erschien erstmals 1983 im Wilhelm HeyneVerlag, München. Orthografie und Interpunktion wurden für dieseAusgabe auf neue Rechtschreibung umgestellt.
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© 2025 by Anaconda Verlag, einem Unternehmender Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München
© 1983 der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München
Alle Rechte vorbehalten.
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Umschlaggestaltung: Katja Holst, Frankfurt am Main
Umschlagmotiv: Adobe Stock/Vibrands Studio (Klippen)
Satz und Layout: InterMedia – Lemke e. K., Heiligenhaus
ISBN 978-3-641-33458-1V001
www.anacondaverlag.de
Inhalt
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1
Es war an einem Sommermorgen kurz nach sieben Uhr. William Potticary machte seinen üblichen Spaziergang über die grünen Klippen. Neben seinem Ellbogen lag zweihundert Fuß unter ihm der Ärmelkanal, sehr ruhig und in dem Sonnenlicht wie ein milchweißer Opal schimmernd. Die Luft um ihn herum war klar. Die Lerchen waren noch nicht erwacht, nur am fernen Strand kreischten ein paar Seemöwen. Sonst war kein Laut zu hören und auch kein menschliches Wesen zu sehen – außer der kleinen einsamen Gestalt von Potticary. Millionen von Tautropfen glitzerten im Gras und kündeten einen neuen Tag an, einen neuen Tag aus der Hand des Schöpfers.
Potticary sah das natürlich nicht so. Sein Unterbewusstsein registrierte nur, dass der Bodennebel sich noch nicht ganz verflüchtigt hatte, während er an sein Frühstück dachte und überlegte, ob er am Gap umdrehen und zurück zur Coastguard Station gehen oder in Anbetracht des wunderschönen Morgens nach Westover spazieren sollte, um sich dort die Morgenzeitung zu holen. Auf diese Weise würde er zwei Stunden früher über den letzten Mord unterrichtet sein, außerdem war es ein Ziel; und ob Krieg oder Frieden, ein Mann musste ein Ziel haben. Man konnte nicht einfach nur so nach Westover gehen. Wenn man mit der Zeitung unter dem Arm zum Frühstück zurückkehrte, hatte man irgendwie ein besseres Gefühl.
Ja, vielleicht würde er in die Stadt gehen.
Er schritt mit seinen schwarzen altmodischen Stiefeln ein bisschen schneller aus; das glänzende Leder blinkte im Sonnenlicht. Man hätte meinen sollen, dass Potticary, der seine besten Jahre damit verbracht hatte, seine Stiefel zu polieren, seine Individualität oder seine Persönlichkeit auch dadurch hätte zum Ausdruck bringen können, indem er sich um den Staub auf seinen Stiefeln nicht kümmerte und sich von so einer bedeutungslosen Disziplin frei machte. Aber nein. Potticary, der arme Dummkopf, polierte seine Stiefel, weil er es liebte, sie zu polieren. Wahrscheinlich hatte er eine Sklavenmentalität; aber das beunruhigte ihn kaum; dafür hatte er zu wenig darüber gelesen.
Eine Seemöwe schoss plötzlich über die Klippen und stieß dann kreischend zu ihren sich tummelnden Kameraden hinab. Ein schreckliches Spektakel machten diese Möwen. Potticary trat an den Klippenrand, um zu sehen, welches Strandgut die Flut, die sich jetzt zurückzuziehen begann, für die Vögel angeschwemmt hatte, dass sie sich so darum balgten.
Die weiße Linie der sanft schäumenden Brandung wurde nur durch einen grünspan-grünen Farbklecks unterbrochen. Irgendein Kleidungsstück vermutlich. Flanell oder etwas dergleichen. Komisch, dass die Farbe noch so leuchtete, nachdem der Stoff so lange im Wasser …
Plötzlich weiteten sich Potticarys blaue Augen, und sein Körper wurde seltsam steif. Dann begann er zu laufen. Auf dem Rasen hallten die pochenden, hämmernden Schritte dumpf. Der Felseinschnitt war etwa zweihundert Meter weit weg. Potticary konnte sich sehen lassen mit seiner Zeit, die er bis dorthin brauchte. Während er die in den Kalkstein gehauenen Stufen japsend und keuchend herunterpolterte, mischte sich zu seiner Erregung noch Empörung. Das kam davon, wenn man vor dem Frühstück ins kalte Wasser ging! Ein Irrsinn, bei Gott! Ein Irrsinn, der auch noch anderen das Frühstück verdarb. Schaefer war der beste, sofern keine Rippen gebrochen waren. Aber wahrscheinlich war es nur ein Ohnmachtsanfall.
Ihre Arme und Beine waren so braun wie der Sand. Deshalb hatte er zuerst auch nur an einen grünen Stofffetzen gedacht. Einfach verrückt! Wer hatte schon in der Morgendämmerung an kaltem Wasser Spaß, wenn er nicht gezwungen wurde, darin zu schwimmen – so wie er damals am Roten Meer.
Es war schwierig, über den Strand zu laufen. Die großen, weißen Kieselsteine rutschten immer wieder heimtückisch unter ihm weg, und der Sand war zu weich und nachgiebig. Doch schließlich war es geschafft, und er stand inmitten des Möwenschwarms, von ihren schwingenden Flügeln und ihrem wilden Gekreisch umgeben.
Für Schaefer gab es hier nichts mehr zu tun. Das sah er mit einem Blick. Das Mädchen befand sich jenseits aller Hilfe.
Potticary, der seinerzeit am Roten Meer ohne jegliches Gefühl die Leichen aus der Brandung gefischt hatte, war jetzt seltsam bewegt. Es war einfach nicht richtig, dass ein so junger Mensch dort lag, während die ganze Welt zu einem strahlenden Tag erwachte; und wo doch so ein langes Leben noch vor ihr gelegen hätte. Ein hübsches Mädchen musste sie gewesen sein. Ihr Haar sah gefärbt aus, aber alles andere an ihr war in Ordnung.
Eine Brandungswelle schwappte über ihre Füße und versickerte langsam zwischen den scharlachroten Zehennägeln. Obgleich sich die Brandung in der nächsten Minute noch weiter zurückgezogen haben würde, zerrte Potticary den leblosen Körper ein Stück höher den Strand hinauf.
Er musste telefonieren. Rasch blickte er sich nach der Kleidung des Mädchens um, ihren Sachen, die sie am Strand gelassen haben musste, bevor sie zum Schwimmen ging. Aber da schien nichts zu sein. Möglicherweise war das, was sie angehabt hatte, auch von der Brandung mitgerissen worden, als das Wasser höherstieg. Oder vielleicht war sie auch gar nicht an dieser Stelle ins Wasser gegangen. Auf jeden Fall war es ihm unmöglich, ihren Körper zuzudecken, und so wandte sich Potticary um und begann erneut, so schnell er konnte, den Strand entlangzustapfen. Er hastete zurück zur Küstenwache und dem allernächsten Telefon.
»Eine Leiche am Strand«, erklärte er Bill Gunter, während er den Hörer von der Gabel nahm und die Polizei anrief.
Bill schnalzte mit der Zunge und warf den Kopf zurück. Eine Geste, die knapp und doch beredt das Unangenehme, Ermüdende der Situation zum Ausdruck brachte, die Unvernunft der Menschen anprangerte, die sich selbst ertränkten, und seine Ansicht unterstrich, dass er recht hatte, nur das Schlechteste vom Leben zu erwarten.
»Wenn sie Selbstmord begehen wollen«, sagte er mit seiner unterirdischen Stimme, »warum suchen sie sich da gerade uns aus? Haben sie nicht die ganze Südküste dafür zur Auswahl?«
»Kein Selbstmord«, japste Potticary zwischen seinen Hallorufen in die Sprechmuschel.
Bill hörte ihm gar nicht zu. »Bloß weil der Fahrpreis bis zur Südküste höher ist als bis hierher! Man sollte meinen, dass ein Bursche, der lebensmüde ist, nicht mehr mit dem Fahrgeld herumgeizt und sich stilvoll um die Ecke bringt. Aber nein! Sie nehmen das billigste Ticket, das sie bekommen können, und pflanzen sich vor unsere Haustür!«
»Beachy Head lockt viele an«, keuchte der gerecht denkende Potticary. »Aber es ist kein Selbstmord.«
»Natürlich ist es ein Selbstmord. Wozu haben wir denn die Klippen? Als Bollwerk für England? Nein. Sie sollen nur die Selbstmorde bequem und angenehm machen. Damit sind es vier in diesem Jahr. Und es werden noch mehr folgen, wenn sie ihre Einkommensteuererklärungen bekommen.«
Er hielt inne, als er hörte, was Potticary am Telefon sagte.
»… ein Mädchen. … Ja, eine Frau. In einem leuchtend grünen Badeanzug. … Gleich südlich des Gap. … Etwa hundert Meter. … Nein – nein, niemand ist dort. Ich musste weggehen, um zu telefonieren. Aber ich werde gleich wieder zurückkehren. … Ja, ich warte dort auf Sie. Oh – hallo – Sergeant, sind Sie das? … Ja, nicht die beste Art, den Tag zu beginnen, aber wir haben uns daran gewöhnt. … O nein – nur ein Badeunfall. … Krankenwagen? Ja, Sie können direkt bis zum Gap heranfahren. Der Weg geht gleich nach dem dritten Meilenstein von der Hauptstraße in Westover ab und endet zwischen diesen Bäumen direkt innerhalb des Gap. … In Ordnung. Bis gleich!«
»Wie kannst du sagen, dass es nur ein Badeunfall ist?«, wollte Bill wissen.
»Sie hatte einen Badeanzug an, hast du nicht gehört?«
»Was hätte sie davon abhalten sollen, einen Badeanzug anzuziehen, bevor sie sich ins Wasser stürzte? Lässt es wie einen Unfall aussehen.«
»Man kann sich um diese Jahreszeit nicht einfach so ins Wasser stürzen. Man landet automatisch am Strand.«
»Vielleicht ist sie so weit ins Wasser hineingelaufen, bis sie ertrank«, sagte Bill, der von Natur aus nicht so rasch aufgab.
»Vielleicht ist sie auch an einer Überdosis Bonbons gestorben«, erwiderte Potticary, der die Taktik, nicht aufzugeben, in Arabien für richtig hielt, aber es langweilig fand, täglich damit leben zu müssen.
2
Sie standen um den Leichnam herum. Eine feierliche kleine Gruppe: Potticary, Bill, der Sergeant, ein Polizist und zwei Männer von der Ambulanz. Der jüngere der beiden machte sich Sorgen wegen seines Magens, der ihn möglicherweise bloßstellte, die anderen dachten nur an die Arbeit.
»Haben Sie sie gekannt?«, fragte der Sergeant.
»Nein«, antwortete Potticary. »Habe sie niemals zuvor gesehen.«
Niemand von den Anwesenden hatte sie je zuvor gesehen.
»Kann nicht aus Westover sein. Wer würde schon aus der Stadt hier herauskommen, wo sie doch direkt vor der eigenen Haustür einen perfekten Strand haben. Muss irgendwo aus dem Inneren des Landes gekommen sein.«
»Vielleicht ist sie in Westover ins Wasser gegangen und dann hierher abgetrieben worden«, mutmaßte der Polizist.
»Dazu war keine Zeit«, widersprach Potticary. »Sie hat noch nicht so lange im Wasser gelegen. Muss hier in der Gegend ertrunken sein.«
»Und wie ist sie dann hierhergelangt?«, fragte der Sergeant.
»Mit dem Wagen – natürlich«, sagte Bill.
»Und wo ist der Wagen jetzt?«
»Da, wo jeder seinen Wagen stehen lässt – bei den Bäumen, wo der Weg endet.«
»Wirklich? Aber dort steht kein Wagen«, erklärte der Sergeant.
Die Männer von der Ambulanz bestätigten das. Sie waren zusammen mit der Polizei gekommen und hatten den Krankenwagen an derselben Stelle geparkt.
»Das ist seltsam«, meinte Potticary. »Es gibt hier nichts in der Nähe, von wo aus sie zu Fuß hätte herkommen können. Dazu noch um diese frühe Stunde.«
»Ich glaube nicht, dass sie überhaupt zu Fuß ging«, bemerkte der ältere der beiden Ambulanzmänner und setzte auf ihren fragenden Blick hinzu: »Zu luxuriös.«
Sie betrachteten einen Moment lang schweigend den Leichnam. Ja, der Mann von der Ambulanz hatte recht; es war ein Körper, der kostspielig gepflegt worden war.
»Und wo sind ihre Sachen?«, fragte der Sergeant beunruhigt.
Potticary unterbreitete ihm seine Theorie hierzu – dass sie sie am Ufer zurückgelassen und die Flut sie hinweggeschwemmt hatte. Und nun trieben sie irgendwo auf dem Meer.
»Ja, das ist möglich«, gab der Sergeant zu. »Aber wie ist sie hierhergekommen?«
»Komisch, dass sie so allein gebadet hat«, warf der junge Mann von der Ambulanz ein.
»Heutzutage ist nichts mehr komisch«, knurrte Bill. »Ist ein Wunder, dass sie nicht versucht hat, mit einem Segelflugzeug von den Klippen zu schweben. Allein mit leerem Magen schwimmen zu gehen, ist einfach zu gewöhnlich. Ich habe sie satt, diese jungen Dummköpfe.«
»Ist das ein Armband an ihrem Fußknöchel?«, wollte der Polizist wissen.
Ja, es war ein Armband. Ein Platinkettchen. Die einzelnen Kettenglieder hatten alle die Form eines C.
Der Sergeant streckte sich. »Nun, vermutlich können wir nichts weiter tun, als die Tote in die Leichenhalle bringen und herausfinden, wer sie ist. Ihrer äußeren Erscheinung nach zu urteilen, dürfte das nicht schwierig sein.«
»Wahrscheinlich ruft bereits in diesem Augenblick der Butler in großer Aufregung die Küstenwache an«, mutmaßte der ältere der Ambulanzmänner.
»Ja.« Der Sergeant war nachdenklich. »Ich überlege nur immer noch, wie sie hierhergekommen ist und …« Sein Blick war hoch zum Klippenrand gewandert. »So!«, rief er aus. »Wir haben Gesellschaft bekommen!«
Sie folgten seinem Blick und sahen einen Mann oben auf der Klippe stehen. Seine Haltung war angespannt und ungeduldig, und er beobachtete sie. Als sie sich ihm zuwandten, machte er rasch eine Kehrtwendung und verschwand.
»Ein bisschen früh für einen Spaziergang«, bemerkte der Sergeant. »Und weshalb läuft er weg? Wir sollten uns mit ihm unterhalten.«
Doch noch bevor der Polizist und er sich auch nur von der Stelle gerührt hatten, wurde offenbar, dass der Mann weit davon entfernt war, davonzulaufen; er hatte sich vielmehr zum Eingang des Gap begeben. Seine hagere, dunkle Gestalt schoss gleich darauf auf sie zu, das heißt, er watschelte mehr, rutschte immer wieder aus und stolperte, sodass die kleine Gruppe, die sein Näherkommen beobachtete, einen höchst merkwürdigen Eindruck gewann. Sie konnten sein Keuchen hören, obschon die Entfernung, die er zurückgelegt hatte, doch nicht so groß war und er noch jung zu sein schien.
Er taumelte in ihren engen Kreis, ohne sie anzusehen, und stieß die beiden Männer von der Polizei, die sich unbewusst zwischen ihn und den Leichnam geschoben hatten, beiseite.
»Oh – ja – sie ist’s! Oh, sie ist es, sie ist es!«, rief er aus und setzte sich unerwartet nieder, dabei in lautes Schluchzen ausbrechend.
Einen Moment lang beobachteten ihn die sechs total verblüfften Männer schweigend.
Schließlich tätschelte der Sergeant freundlich seinen Rücken und sagte, ziemlich idiotisch: »Ist ja in Ordnung, mein Sohn.«
Aber der junge Mann wiegte sich nur hin und her und weinte noch mehr.
»Na, na, na«, sagte der Polizist einschmeichelnd. »Das hilft niemandem, das wissen Sie doch. Am besten, Sie reißen sich jetzt zusammen – Sir«, setzte er rasch hinzu, als er die Qualität des Taschentuchs, das der junge Mann hervorgezogen hatte, registrierte.
»Eine Verwandte von Ihnen?«, fragte der Sergeant mit angenehm modulierter Stimme.
Der junge Mann schüttelte den Kopf.
»Oh! Nur eine Freundin?«
»Sie war so gut zu mir! So gut!«
»Nun, zumindest sind Sie in der Lage, uns zu helfen. Können Sie uns sagen, wer sie ist?«
»Sie ist meine – Gastgeberin.«
»Nun ja, ich meinte, wie sie heißt.«
»Ich weiß es nicht.«
»Sie – wissen – es – nicht! Hören Sie, Sir, reißen Sie sich jetzt zusammen! Sie sind die einzige Person, die uns helfen kann. Sie müssen doch den Namen der Lady kennen, mit der Sie zusammengewohnt haben.«
»Nein, nein. Ich kenne ihn nicht.«
»Wie haben Sie sie denn angeredet?«
»Chris.«
»Chris und wie weiter?«
»Einfach nur Chris.«
»Und wie hat sie Sie genannt?«
»Robin.«
»Ist das Ihr Name?«
»Ja. Mein Name ist Robert Stannaway. Nein, Tisdall. Ich hieß einmal Stannaway«, fügte er rasch hinzu, als er den Blick des Sergeant auffing.
Der Blick des Sergeant besagte: O Gott, gib mir Geduld! Laut erklärte er: »Das klingt alles ein bisschen seltsam, Mr – eh …«
»Tisdall.«
»… Tisdall. Können Sie mir sagen, wie die Lady heute Morgen hierhergekommen ist?«
»O ja! Mit dem Wagen.«
»Mit dem Wagen? Und wissen Sie auch, was aus dem Wagen geworden ist?«
»Ja. Ich habe ihn gestohlen.«
»Sie haben was gemacht?«
»Ich habe ihn gestohlen, und soeben habe ich ihn zurückgebracht. Es war unfair von mir, so etwas zu machen. Ich kam mir vor wie ein Schwein und fuhr daher zurück. Als ich sie auf der Straße nirgends entdecken konnte, dachte ich, dass sie hier umherstapfen würde. Dann sah ich Sie alle um etwas herumstehen und … O du meine Güte! O du meine Güte!«
Er begann erneut, sich hin und her zu wiegen.
»Wo haben Sie mit dieser Lady gewohnt?«, fragte der Sergeant, und sein Ton war jetzt äußerst geschäftsmäßig, »in Westover?«
»Nein. Sie hat – hatte, meine ich – o mein Gott! – ein Cottage. Briars wird es genannt. Außerhalb von Medley.«
»Etwa anderthalb Meilen von hier im Landesinneren«, ergänzte Potticary, als er den fragenden Blick des Sergeant, der kein Einheimischer war, bemerkte.
»Waren Sie beide allein, oder gibt es dort Personal?«
»Es kommt nur eine Frau aus dem Dorf und kocht – Mrs Pitts.«
»Aha!«
Es entstand eine kleine Pause. Dann nickte der Sergeant den beiden Ambulanzmännern zu, die sich zu ihrer Tragbahre herabbeugten.
Der junge Mann atmete hörbar ein und bedeckte sein Gesicht wieder mit den Händen.
»In die Leichenhalle, Sergeant?«
»Ja.«
Der Mann nahm abrupt die Hände vom Gesicht. »O nein! Sie hat ein Zuhause! Bringt man die Menschen nicht nach Hause?«
»Wir können den Leichnam einer unbekannten Frau nicht in einen unbewohnten Bungalow bringen.«
»Es ist kein Bungalow«, verbesserte der junge Mann automatisch. »Nein, ich glaube, das ist es nicht. Aber es klingt so schrecklich – die Leichenhalle. O Gott im Himmel, warum musste das passieren?«
»Davis«, sagte der Sergeant zu dem Polizisten, »Sie fahren mit den anderen zurück und erstatten Bericht! Ich werde mich mit Mr Tisdall nach – wie heißt es noch gleich? Briars? – begeben.«
Die beiden Ambulanzmänner stampften mit ihrer schweren Last über die knirschenden Kieselsteine. Potticary, Bill und Davis folgten ihnen. Das Geräusch ihrer Schritte verklang bereits in der Ferne, als der Sergeant erneut das Wort ergriff.
»Ich vermute, Ihnen ist nicht der Gedanke gekommen, mit Ihrer Gastgeberin schwimmen zu gehen?«
Das Zucken in Tisdalls Gesicht verriet so etwas wie Verlegenheit. Er zögerte.
»Nein«, erwiderte er schließlich. »Ich … es liegt mir nicht so sehr, vor dem Frühstück schwimmen zu gehen. Bin schon immer eine Flasche bei derlei Dingen gewesen.«
Der Sergeant nickte unverbindlich. »Wann hat sie sich auf den Weg gemacht?«
»Weiß ich nicht. Sie hatte mir gestern Abend gesagt, sie wollte zum Gap schwimmen gehen, falls sie früh aufwachte. Ich war auch früh wach, aber sie war schon fort.«
»Nun gut, Mr Tisdall, wenn Sie sich so weit erholt haben, sollten wir uns wohl auf den Weg machen.«
»Ja. Ja, gewiss. Es geht mir gut.«
Er erhob sich, und gemeinsam überquerten sie schweigend den Strand, stiegen die Stufen hinauf und erreichten den Wagen, den Tisdall im Schatten der Bäume geparkt hatte. Es war ein wunderschöner Wagen, wenn auch ein bisschen zu protzig. Ein cremefarbener Zweisitzer mit einem Notsitz, von dem der Sergeant gleich darauf einen Damenmantel und ein Paar Schaffellstiefel nahm.
»Das trug sie, wenn sie zum Strand hinunterging. Die Stiefel und den Mantel zog sie einfach über ihren Badeanzug. Da ist auch ein Handtuch!«
Es war ein orange-grünes Handtuch. Der Sergeant holte es hervor. »Komisch, dass sie es nicht mit zum Strand hinunternahm«, murmelte er.
»Gewöhnlich ließ sie sich gern von der Sonne trocknen.«
»Sie scheinen eine ganze Menge über die Gewohnheiten einer Dame zu wissen, deren Namen Sie nicht einmal kennen.« Der Sergeant schlängelte sich auf den Beifahrersitz. »Wie lange haben Sie mit ihr zusammengewohnt?«
»Bei ihr gewohnt«, verbesserte Tisdall, und seine Stimme klang zum ersten Mal scharf. »Merken Sie sich das, Sergeant, und Sie werden sich eine Menge Ärger ersparen. Chris war meine Gastgeberin. Nicht irgendetwas anderes. Wir wohnten beide ohne Anstandsdame in ihrem Cottage, aber auch ein Regiment von Bediensteten hätte unsere Beziehungen nicht korrekter gestalten können. Erscheint Ihnen das außergewöhnlich?«
»Ja, sehr«, gab der Sergeant offen zu. »Was ist das hier?«
Er schaute in eine Papiertüte, in der zwei ziemlich vertrocknete Korinthenbrötchen steckten.
»Oh, die hatte ich ihr mitgenommen. Es war alles, was ich finden konnte. Als wir Kinder waren, haben wir immer ein Korinthenbrötchen gegessen, wenn wir aus dem Wasser kamen. Ich dachte, vielleicht würde sie sich darüber freuen.«
Der Wagen glitt den steilen Weg hinab, der zu der Hauptverkehrsstraße Westover-Stonegate führte. Sie überquerten die Hauptstraße und bogen auf der anderen Seite auf einen verborgenen Feldweg ein. Auf einem Wegweiser stand: Medley 1, Liddlestone 3.
»Dann hatten Sie also nicht die Absicht gehabt, den Wagen zu stehlen, als Sie ihr zum Strand hin folgten?«
»Ganz und gar nicht!«, sagte Tisdall empört, als würde das einen Unterschied machen. »Es ist mir nicht einmal in den Sinn gekommen, bis ich den Hügel heraufkam und den Wagen dort stehen sah. Selbst jetzt kann ich es noch nicht glauben, dass ich es wirklich getan habe. Ich bin ein Narr gewesen, aber so etwas habe ich noch nie zuvor gemacht.«
»War sie da im Wasser?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe nicht nachgesehen. Wenn ich sie – und sei es auch nur aus der Ferne – gesehen hätte, wäre es mir unmöglich gewesen. Ich schmiss einfach die Brötchen in den Wagen und haute ab. Als ich zur Besinnung kam, war ich auf dem halben Weg nach Canterbury. Ich drehte, ohne anzuhalten, um und fuhr direkt hierher zurück.«
Der Sergeant gab keinen Kommentar dazu.
»Sie haben mir immer noch nicht gesagt, wie lange Sie in dem Cottage gewohnt haben«, bemerkte er stattdessen.
»Seit Sonnabend Mitternacht.«
Es war jetzt Donnerstag.
»Und Sie wollen immer noch, dass ich Ihnen abnehme, Sie würden den Familiennamen Ihrer Gastgeberin nicht kennen?«
»Es klingt ein bisschen seltsam, ich weiß. Das habe ich zuerst auch gedacht. Ich bin sehr konventionell erzogen worden. Aber mit ihr schien es einem ziemlich selbstverständlich. Nach dem ersten Tag akzeptierten wir einander, und es war so, als würden wir uns seit Jahren kennen.« Und da der Sergeant schwieg und nur Zweifel ausstrahlte, setzte er leicht gereizt hinzu: »Weshalb sollte ich Ihnen ihren Namen denn nicht sagen, wenn ich ihn wüsste?«
»Woher soll ich das wissen?«
Aus den Augenwinkeln betrachtete er das bleiche Gesicht des jungen Mannes. Er wirkte gefasst und schien sich bemerkenswert rasch von seinem Kummer und seiner Nervenkrise erholt zu haben. Sehr oberflächlich, diese modernen jungen Menschen; keine echten Gefühle; nur Hysterie. Was sie Liebe nannten, war nur ein primitiver Akt, eine Übung; alles andere hielten sie für sentimental. Keine Disziplin. Sobald irgendetwas schwierig wurde, liefen sie davon. Hatten in ihrer Jugend nicht genug Senge bekommen. All dieser moderne Quatsch, die Kinder selbstständig werden zu lassen! Da sah man ja, wohin das führte. Eben noch am Strand heulen und wehklagen und in der nächsten Minute eiskalt.
In diesem Moment bemerkte der Sergeant das Zittern der überaus zarten, gepflegten Hände auf dem Lenkrad. Nein! Was immer Robert Tisdall auch sein mochte, kalt war er nicht.
»Ist es das hier?«, fragte der Sergeant, als sie bei einem von einer Hecke eingezäunten Garten hielten.
»Ja, das ist es.«
Das Cottage war ein Fachwerkhäuschen mit etwa fünf Räumen. Es wurde von der Straße durch eine zwei Meter hohe Hecke abgeschirmt, die aus Dornen, Geißblatt und Rosen bestand. Ein Geschenk des Himmels für Fotografen, Wochenendausflügler und Amerikaner. Die kleinen Fenster waren geöffnet, und die leuchtendblaue Tür stand einladend offen.
Als sie über den Steinpfad auf das Haus zugingen, erschien eine dünne, kleine Frau mit einer weißen Schürze auf der Türschwelle. Sie hatte ihr spärliches Haar am Hinterkopf zu einem Knoten zusammengesteckt, und auf ihrem gewölbten, glänzenden Schädel thronte unsicher ein rundes, vogelnestartiges Gebilde aus schwarzem Satin.
Tisdall zauderte bei ihrem Anblick, da er annahm, die würdige Amtsperson des Sergeant würde ihr überdeutlich Unannehmlichkeiten annoncieren.
Aber Mrs Pitts war die Witwe eines Polizisten, und in ihrem kleinen, verkniffenen Gesicht spiegelten sich keinerlei Vorahnungen. Polizeiabzeichen bedeuteten für sie, dass eine Mahlzeit geboten werden musste. Und dementsprechend reagierte sie.
»Ich habe ein paar Pfannkuchen zum Frühstück gemacht. Später wird es heiß werden, und dann lässt man den Ofen am besten aus. Sagen Sie es Miss Robinson, wenn sie hereinkommt, ja, Sir?« Und dann begreifend, dass Abzeichen etwas Amtliches waren: »Sagen Sie nur nicht, dass Sie ohne Führerschein gefahren sind, Sir?«
»Miss – Robinson? – hatte einen Unfall«, erklärte der Sergeant.
»O du meine Güte! Dieser Wagen! Sie fuhr immer so leichtsinnig. Ist es schlimm?«
»Es war kein Autounfall. Es war ein Badeunfall.«
»Oh! So schlimm also!«
»Was meinen Sie mit: So schlimm also?«
»Badeunfälle können nur eines bedeuten.«
»Ja«, bestätigte der Sergeant.
»Oh, oh, oh«, sagte sie düster und nachdenklich. Doch plötzlich änderte sich ihre Haltung. »Und wo haben Sie gesteckt?«, fuhr sie den niedergeschlagenen Tisdall an und fixierte ihn abschätzig.
Tisdall war jetzt nur noch das nutzlose Wesen, das sie von Anfang an insgeheim in ihm gesehen hatte.
Der Sergeant zeigte sich interessiert, fertigte sie aber barsch ab. »Der Gentleman war nicht zugegen.«
»Das hätte er aber sein müssen. Er hat gleich nach ihr das Haus verlassen.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich habe ihn gesehen. Ich wohne in dem Cottage weiter unten an der Straße.«
»Kennen Sie die andere Adresse von Miss Robinson? Ich setze voraus, dass das hier nicht ihr dauernder Wohnsitz war.«
»Natürlich nicht. Sie hatte das Cottage erst seit einem Monat. Es gehört Owen Hughes.« Sie machte eine bedeutungsvolle Pause, um den Namen richtig einwirken zu lassen. »Aber er dreht zurzeit einen Film in Hollywood. Über einen spanischen Grafen, wie er mir erzählt hat. Er sagte, er hätte schon italienische und französische Grafen gespielt, und ein spanischer Graf wäre eine neue Erfahrung für ihn. Ein sehr netter Mann, dieser Mr Hughes. Trotz des vielen Gehabes um ihn ist er nicht ein bisschen eingebildet. Sie würden es nicht glauben, aber einmal ist ein Mädchen zu mir gekommen und wollte mir fünf Pfund geben für die Bettwäsche, in der er geschlafen hat, aber ich …«
»Wie ist die andere Adresse von Miss Robinson?«
»Ich kenne keine weitere Adresse von ihr.«
»Hat sie Ihnen geschrieben, bevor sie kam?«
»Geschrieben? Nein. Sie schickte Telegramme. Etwa sechs Telegramme täglich. Meistens hat sie mein Albert zwischen den Schulstunden zur Post nach Liddlestone gebracht. Einige füllten drei oder vier Formulare.«
»Kennen Sie jemand von den Leuten, mit denen sie hier unten verkehrte?«
»Sie hatte hier niemanden – außer Mr Stannaway.«
»Niemanden?«
»Nicht eine einzige Person. Einmal hat sie mich gefragt: ›Mrs Pitts, ist es Ihnen jemals passiert, dass Sie den Anblick der menschlichen Gesichter nicht mehr ertragen konnten?‹ Und ich habe geantwortet, ein paar habe ich satt. ›Nein, Mrs Pitts, nicht ein paar‹, sagte sie. ›Alle. Ich habe die Menschen satt.‹ Ich sagte, wenn ich so empfindsam würde, würde ich eine Dose mit Rizinusöl trinken. Daraufhin lachte sie und meinte, das wäre keine schlechte Idee. ›Mussolini‹, sagte sie …«
»Kam sie aus London?«
»Ja. In den drei Wochen, in denen sie hier war, ist sie nur ein- oder zweimal dort gewesen. Einmal davon letztes Wochenende, als sie Mr Stannaway mitbrachte.« Und wieder stufte ihr Blick Tisdall als etwas Nichtswürdiges ein. »Kennt er denn nicht ihre Adresse?«, fragte sie.
»Niemand kennt sie«, antwortete der Sergeant. »Ich werde mal ihre Papiere durchsehen.«
Mrs Pitts führte ihn ins Wohnzimmer; ein kühler Raum mit niedriger Balkendecke, in dem es nach Gartenwicken duftete.
»Was haben Sie mit ihr gemacht – ich meine, mit ihrem Leichnam?«, fragte sie.
»Er ist in der Leichenhalle.«
Das schien ihr zum ersten Mal die Tragödie bewusst zu machen.
»O meine Liebe!« Sie wischte langsam mit einem Zipfel ihrer Schürze über einen polierten Tisch. »Und ich backe Pfannkuchen!«
Was nicht bedeutete, dass sie über die nun überflüssigen Pfannkuchen lamentierte. Aber in ihrer weicheren Gemütsverfassung bot sie sie Tisdall an, der jedoch nicht frühstücken wollte und sich ans Fenster stellte, während der Sergeant den Schreibtisch inspizierte.
»Ich hätte nichts gegen einen dieser Pfannkuchen einzuwenden«, bemerkte der Sergeant und wühlte in den Papieren herum.
»Sie werden in ganz Kent keine besseren bekommen. Und vielleicht trinkt Mr Stannaway ein bisschen Tee?«
Sie verschwand in der Küche.
»Sie wussten also nicht, dass sie Robinson hieß«, sagte der Sergeant und blickte auf.
»Mrs Pitts hat sie immer mit Miss angesprochen. Und hat sie so ausgesehen, als ob sie Robinson hieße?«
Auch der Sergeant glaubte nicht einen Moment lang, dass ihr Name Robinson gelautet hatte; deshalb ließ er das Thema fallen.
Tisdall sagte: »Wenn Sie mich hier nicht brauchen, gehe ich in den Garten. Es – ist so stickig hier drinnen.«
»In Ordnung. Sie vergessen hoffentlich nicht, dass ich den Wagen benötige, um wieder nach Westover zurückzukommen.«
»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass es ein plötzlicher Impuls war. Außerdem könnte ich es jetzt wohl kaum noch stehlen und hoffen, damit durchzukommen.«
Gar nicht so doof, dachte der Sergeant. Auf jeden Fall keine Null.
Der Schreibtisch war übersät mit Magazinen, Zeitungen, halbleeren Zigarettenschachteln, Teilen eines Puzzles, einer Nagelfeile, Stoffmustern aus Seide und anderem Krimskrams. Nur Briefpapier war tatsächlich nirgends zu entdecken. Die einzigen Papiere waren Rechnungen von den ansässigen Händlern und Geschäften; die meisten davon waren quittiert. So unordentlich die Frau gewesen sein mochte, sie war auf jeden Fall vorsichtig gewesen.
Die Stille des frühen Morgens, die Geräusche von Mrs Pitts aus der Küche und die Aussicht auf die Pfannkuchen besänftigten das Gemüt des Sergeant so sehr, dass er sich seiner schlechten Angewohnheit überließ und vor sich hin pfiff – sehr leise und lieblich, aber trotzdem – er pfiff. Seine Frau hatte ihm mal einen Artikel in der Mail gezeigt, in dem stand, Pfeifen wäre das Zeichen eines leeren Gehirns. Doch das hatte ihn nicht beeindruckt.
Plötzlich wurde indessen die ruhige Atmosphäre gestört. Ohne Vorwarnung dröhnte durch die halb geöffnete Wohnzimmertür ein spöttisches Trara-Geschrei.
»Hier hast du dich also versteckt!«, brüllte gleich darauf ein Mann, und im nächsten Moment flog schwungvoll die Tür auf, und auf der Schwelle stand ein kleiner, dunkler Fremder.
»Oh-h-h!«, sagte er und starrte amüsiert und breit lächelnd den Sergeant an. »Ich dachte, Sie wären Chris. Was macht denn die Polizei hier? Ist eingebrochen worden?«
»Nein, es ist nicht eingebrochen worden.«
Der Sergeant versuchte sich zu sammeln.
»Erzählen Sie mir nur nicht, Chris hätte eine wilde Party gegeben! Ich glaubte nämlich, dass sie damit seit Jahren Schluss gemacht hat. Bei all diesen hochgestochenen Intellektuellenrollen schickt sich das nicht mehr.«
»Nein. Es …«
»Wo ist sie übrigens?« Und laut und fröhlich brüllte er zum oberen Stockwerk hinauf: »Juhuu, Chris! Komm herunter, du alte Soundso! Versteckst dich einfach vor mir!« Und an den Sergeant gewandt: »Ist uns jetzt fast schon drei Wochen lang entwischt. Zu viel Scheinwerferlicht, vermutlich. Macht ihnen früher oder später allen Angst. Aber ihr letztes war so ein Hit, dass natürlich alle davon profitieren wollten.« Und er summte ein paar Takte des Liedes, das der Sergeant soeben gepfiffen hatte. »Deswegen dachte ich doch, Sie wären Chris. Sie haben ihr Lied gepfiffen – verdammt gut übrigens.«
»Ihr Lied?«
»Ja, ihr Lied. Wessen denn sonst? Sie haben doch nicht geglaubt, es stammte von mir, mein Guter? Natürlich habe ich es geschrieben. Aber das zählt nicht. Es ist ihr Lied. Vielleicht kommt sie nicht damit an. Hm? War das nicht eine gute Aufführung?«
»Das kann ich wirklich nicht sagen.«
Wenn der Mann doch nur zu reden aufhören würde!
»Wahrscheinlich haben Sie ›Bars of Iron‹ noch nicht gesehen?«
»Nein und …«
Der Fremde redete wie ein Wasserfall auf den Sergeant ein – über Liedertexter, über Probleme des Films und über Chris und ihr Lied –, was ihn wieder draufbrachte, weshalb er hergekommen war.
»He, ist sie etwa nicht hier, nach all den Mühen, die ich hatte, sie ausfindig zu machen?« Er sah enttäuscht wie ein kleines Kind aus. »Wäre nämlich nicht halb so gut, wenn sie mich hier vorfindet, als wenn ich sie überrumpele. Glauben Sie …«
»Einen Moment, Mr – eh … Ich kenne Ihren Namen noch nicht.«
»Ich bin Jay Harmer. Jason, laut Geburtsurkunde. Ich habe ›If it can’t be in June‹ geschrieben. Wahrscheinlich pfeifen Sie …«
»Mr Harmer – habe ich Sie richtig verstanden, dass die Lady, die hier wohnt – gewohnt hat –, eine Filmschauspielerin ist?«
»Ob sie eine Filmschauspielerin ist!« Mr Harmer verschlug es einen Augenblick lang die Sprache, ehe er plötzlich ängstlich fragte: »Sagen Sie, Chris wohnt doch hier – oder etwa nicht?«
»Der Name der Lady ist – war – Chris, ja. Nun, vielleicht können Sie uns helfen. Augenscheinlich hat sie gesagt, sie würde Robinson heißen. Aber …«
Der Mann lachte höchst amüsiert. »Robinson! Das ist gut! Ich habe schon immer gesagt, sie hat keine Fantasie. Könnte nicht einen einzigen Gag bringen. Haben Sie geglaubt, dass sie Robinson heißt?«
»Nun – nein. Es schien unwahrscheinlich.«
»Um es ihr heimzuzahlen, dass sie mich wie den letzten Dreck behandelt hat, verpfeife ich sie jetzt. Wahrscheinlich wird sie mich dafür vierundzwanzig Stunden lang in eine Eistruhe stecken, aber das ist es mir wert. Ich bin ohnehin kein Gentleman, also kann ich mir nicht damit schaden, wenn ich’s ausplaudere. Der Name der Lady ist Christine Clay, Sergeant.«
»Christine Clay!«, wiederholte der Sergeant.
Sein Kiefer fiel herab.
»Christine Clay!«, hauchte Mrs Pitts, die in der Tür stand, mit einem Tablett vergessener Pfannkuchen in den Händen.
3
Christine Clay! Christine Clay! stand mittags in knalligen Buchstaben auf den Plakaten.
Christine Clay!waren die fettgedruckten Schlagzeilen der Zeitungen.
»Christine Clay!«, schnatterten die Rundfunksprecher.
»Christine Clay!«, sagte ein Nachbar zum anderen.
Auf der ganzen Welt unterbrachen Menschen ihre Tätigkeiten, um darüber zu sprechen. Christine Clay war ertrunken! Und es gab in der ganzen zivilisierten Welt nur eine einzige Person, die fragte: »Wer ist Christine Clay?« Ein vielversprechender junger Mann auf einer Bloomsbury-Party.
Und überall auf der Welt wurden Aktionen ausgelöst, nur weil eine einzige Frau ihr Leben verloren hatte.
In Kalifornien zitierte ein Mann per Telefon ein Mädchen aus Greenwich Village herbei.
Ein Pilot in Texas legte einen zusätzlichen Nachtflug ein und transportierte Clay-Filme zu Blitzvorführungen.
Eine Firma in New York strich einen Auftrag.
Ein italienischer Adeliger ging bankrott; er hatte gehofft, ihr seine Jacht verkaufen zu können.
Ein Mann in Philadelphia aß seit Monaten sein erstes ordentliches Essen; dank einer »Ich-kannte-sie-als«-Story.
Eine Frau in Le Touquet sang, weil jetzt ihre Chance gekommen war.
Und in einer englischen Bischofsstadt dankte ein Mann Gott auf den Knien.
Die Presse, die gerade eine Sauregurkenzeit durchmachte, stürzte sich auf den unverhofften Knüller. Der Clarion zitierte seine Starjournalisten von anderen Schauplätzen herbei, und Fotoreporter überfielen wie Ungeziefer das Cottage in Kent, das Häuschen in der South Street und das Herrschaftshaus in Hampshire. Dass Christine Clay trotz dieses bezaubernden Landsitzes vor ihren Freunden in ein unbekanntes, unbequemes Cottage flüchtete, war eine sehr hübsche Beigabe zu der Hauptsensation, dass sie tot war; und sie wurde mit viel Fantasie ausgeschmückt und mit eindrucksvollen Fotos versehen.
Ihr Presseagent vergoss Tränen, als er die Artikel las. So etwas konnte noch nachträglich den Ruf ruinieren.
Vermutlich hätte jeder, der sich auch nur oberflächlich mit der menschlichen Natur und den Verhaltensweisen des Menschen befasste, bemerkt, dass der Tod von Christine Clay zwar Mitleid, Bestürzung, Entsetzen, Bedauern und noch ein halbes Dutzend anderer Emotionen hervorrief, aber niemand schien zu leiden. Der einzige wirklich echte Gefühlsausbruch war jener hysterische Anfall Robert Tisdalls neben ihrer Leiche. Und wer konnte schon sagen, wie viel davon nicht auch Selbstmitleid gewesen war? Christine war eine zu internationale Berühmtheit gewesen, um irgendeinem kleinen Kreis anzugehören.
Bei ihren unmittelbaren Bekannten war die Hauptreaktion Bestürzung. Aber nicht einmal bei allen. Coyne – früher Cohen –, der bei ihrem dritten und letzten Film in England Regie führen sollte, war möglicherweise der Verzweiflung nahe, aber Lejeune – früher Tomkins –, der als ihr Partner engagiert worden war, schien mächtig erleichtert; ein Film mit der Clay mochte einem Ruhmeslorbeeren einbringen, aber die eigene Kasse blieb leer.
Die Herzogin von Trent, die einen Clay-Empfang mit kaltem Büfett arrangiert hatte, mit dem sie sich bei der Londoner Gesellschaft wieder als Gastgeberin einführen wollte, mochte mit den Zähnen knirschen, aber Lydia Keats jubilierte ganz offensichtlich. Sie hatte den Tod der Clay prophezeit, und das war selbst für eine erfolgreiche Wahrsagerin ein Volltreffer.
»Darling, das war wundervoll!«, schmeichelten ihr ihre Freunde. »O Darling, wie wundervoll!«
Lydia war so entzückt, dass sie ihre Tage damit verbrachte, von einem Treffen und einer Versammlung zur anderen zu gehen, um es immer wieder zu hören: »O Lydia, Darling, wie …«
Nein – soweit man sehen konnte, hatte Christine Clay mit ihrem Tod niemandem das Herz gebrochen. Man bürstete den Staub und das Mottenpulver aus den schwarzen Kleidern und hoffte auf eine Einladung zum Begräbnis.
4
Aber erst fand noch die gerichtliche Untersuchung statt, während der sich eine weitaus größere Sensation abzuzeichnen begann. Und zwar war es Jammy Hopkins – Spezialist für »Verbrechen aus Leidenschaft« beim Clarion –, der das Beben der glatten Oberfläche bemerkte.
Hopkins hatte ein ausgezeichnetes Gespür für alles, was nicht ganz astrein war. Er witterte sozusagen die Sensation. Und so hielt er plötzlich mitten in einer Analyse der sensationsgierigen Menge, die sich in dem kleinen Dorfrathaus in Kent versammelt hatte, inne und erstarrte – sehr zum Leidwesen seines gespannt lauschenden Kollegen Bart Bartholomew. Jammy hatte zwischen zwei flatternden Hüten zweier bekannter Sensationsgeier das ruhige Gesicht eines Mannes gesehen, das sensationeller als alles andere in dem Gebäude war.
»Hast du was gesehen?«, fragte Bart.
»Und ob ich etwas gesehen habe!« Er rutschte von der Bank, genau in dem Moment, als der Coroner sich setzte und durch ein Klopfzeichen um Ruhe bat. »Halt mir meinen Platz frei«, flüsterte er und verließ das Gebäude.
Er betrat es erneut durch die Hintertür, bahnte sich gewandt seinen Weg zu dem Platz hin, zu dem er wollte, und setzte sich.
Der Mann neben ihm drehte seinen Kopf herum.
»Guten Morgen, Inspector!«, sagte Hopkins.
Der Inspector bekundete seinen Widerwillen.
»Ich würde es nicht tun, wenn ich das Geld nicht brauchte«, erklärte Hopkins.
Der Coroner klopfte noch einmal.
Die Züge des Inspectors entspannten sich wieder.
Gleich darauf erschien Potticary zu seiner Aussage.
Hopkins nützte die entstehende Unruhe aus und fragte den Inspector: »Was macht denn Scotland Yard hier?«
»Zuschauen.«
»Aha! Sie begutachten also nur die Einrichtung einer gerichtlichen Leichenschau. Wohl Flaute auf dem Verbrechermarkt?« Und da der Inspector nicht anbiss: »Haben Sie doch ein Herz, Inspector! Was liegt in der Luft? Stimmt irgendetwas nicht mit dem Tod? Irgendwelche Verdachtsmomente? Wenn Sie die Öffentlichkeit noch nicht informieren wollen – ich bin das original verschlossene Geheimkästchen.«
»Sie sind eine echte Kamelfliege.«
»Oh – bedenken Sie doch nur die Häutungen, die ich durchzumachen hatte!«
Das entlockte ihm nichts weiter als ein Grinsen.
»Hören Sie, Inspector! Beantworten Sie mir nur eine Frage: Wird diese Untersuchung noch einmal vertagt werden?«
»Das würde mich nicht überraschen.«
»Danke. Das verrät mir genug«, sagte Hopkins halb sarkastisch, halb ernst, während er sich wieder auf den Weg machte.
Draußen wuchtete er Mrs Pitts Albert von der Wand, an der er in Höhe des Fensters wie eine Kletterpflanze geklebt hatte, überzeugte ihn, dass zwei Shillinge besser als die Teilansicht eines langweiligen Gerichtsverfahrens waren, und schickte ihn nach Liddlestone mit einem Telegramm, das das Büro des Clarion in Verwirrung setzen würde. Dann kehrte er zu Bart zurück.
»Etwas ist faul«, nuschelte er auf Barts fragend hochgezogene Brauen hin. »Scotland Yard ist hier. Das da ist Grant – der da hinter dem scharlachroten Hut. Die Untersuchung wird vertagt werden. Halt Ausschau nach dem Mörder!«
»Nicht hier«, meinte Bart.
»Wahrscheinlich nicht. Wer ist der Bursche in den Flanellklamotten?«
»Ein Freund.«
»Dachte, das wäre Jay Harmer.«
»War. Dieser ist neuer.«
» ›Mord im Liebesnest?‹ «
»Hätte nichts dagegen, zu wetten.«
»Soll ein kalter Typ sein, dachte ich?«
»Ja. So sagt man. Hat sie zum Narren gehalten, wie es scheint. Hatte guten Grund zum Morden, würde ich denken.«
Die Beweisaufnahme war eine rein formelle Angelegenheit, und der Coroner schloss die Untersuchung rasch ab und setzte kein Datum für eine Wiederaufnahme fest.
