Wie ich in einer schwäbischen Trattoria aufwuchs und trotzdem überlebte - Jessica Guaia - E-Book

Wie ich in einer schwäbischen Trattoria aufwuchs und trotzdem überlebte E-Book

Jessica Guaia

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Schwäbisch Gmünd, 1987. In der Trattoria »Zum Krug« rufen die Gäste nach Weizenbier und Calzone. Tiziana, die Wirtin, ist im siebten Monat schwanger. Da passiert es: Papa Renzo kann gerade noch eine Tischdecke unter seine Frau schieben, und schon ist Jessica auf der Welt. Kaum geboren, gehört sie zur Einrichtung, und eine Zufallsgemeinschaft aus gemütlich-dicken Hausfrauen, Thekenleichen und warmherzigen Ami-Nutten wird ihre große Familie. Sie alle sind dabei, als Jessica laufen lernt, den ersten Kuss bekommt, wie sie Pesto mit Sahne kocht, so wie es die Deutschen mögen – und wie sie immer wieder darüber staunt, welch irrwitzige Wendungen das Glück im Leben so nimmt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 305

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zum Buch

Schwäbisch Gmünd, 1987. In der Trattoria Zum Krug rufen die Gäste nach Weizenbier und Calzone. Tiziana, die Wirtin, ist im siebten Monat schwanger. Da passiert es: Papa Renzo kann gerade noch eine Tischdecke unter seine Frau schieben, und schon ist Jessica auf der Welt. Kaum geboren, gehört sie zur Einrichtung, und eine Zufallsgemeinschaft aus gemütlich-dicken Hausfrauen, Thekenleichen und warmherzigen Ami-Nutten wird ihre große Familie. Sie alle sind dabei, als Jessica laufen lernt, den ersten Kuss bekommt, wie sie Pesto mit Sahne kocht, so wie es die Deutschen mögen – und wie sie immer wieder darüber staunt, welch irrwitzige Wendungen das Glück im Leben so nimmt.

Zur Autorin

Jessica Guaia, 1988 geboren, wuchs als Kind eines Sizilianers und einer Kroatin mit drei Muttersprachen in einem italienischen Restaurant in Schwäbisch Gmünd auf. Sie arbeitete als freie Journalistin bei der Gmünder Tagespost und machte eine Ausbildung zur Wirtschaftsassistentin, bevor sie Kulturwissenschaften sowie Bildende und Angewandte Kunst in Hildesheim und Thessaloniki studierte. 2016 schloss sie den Masterstudiengang Literarisches Schreiben ab. Wie ich in einer schwäbischen Trattoria aufwuchs und trotzdem überlebte ist ihr erster Roman.

Jessica Guaia

WIE ICH IN EINER SCHWÄBISCHEN TRATTORIA AUFWUCHS UND TROTZDEM ÜBERLEBTE

Ein Familienroman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen von Penguin Books Limited und werden hier unter Lizenz benutzt.
Copyright © 2017 Penguin Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Michael Gaeb Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München Umschlagmotiv: © Kinderbild der Autorin / privat Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln ISBN 978-3-641-20049-7 V003www.penguin-verlag.de

Meiner Familie

ANMERKUNG DER AUTORIN

Jessica, die Hauptfigur aus dem Roman, und ich, die Autorin, teilen uns denselben Vornamen. Das ist wahr. Beide sind wir in Schwäbisch Gmünd geboren und in einer Gaststätte aufgewachsen. Das ist auch wahr. Wahr ist aber auch, dass nichts wahr ist. Einige Personen könnten sich wiedererkennen, so wie ich mich in Wonder Woman und Winnie Puuh erkannt habe. Es könnte uns so oder so ähnlich geben – oder eben auch nicht. Eckpunkte wurden ausfantasiert, Namen verändert, Biografien miteinander verwoben oder ergänzt, Figuren und Begebenheiten erfunden.

»Sind wir auch in deinem Buch?«, fragen mich meine Eltern. »Ja«, sage ich. »In echt?«, fragen sie. »Nein«, sage ich. »Ja, was denn jetzt?« »In echt seid ihr echt. Im Buch nicht«, antworte ich. »Gut so, was sollen die Leute denken«, sagt Vater, als ob ihn das kümmern würde, und Mutter sagt: »Schade eigentlich, ich finde mich cool als Tiziana.« »Äh, nein«, antworten Vater und ich gleichzeitig. Dann lachen wir alle. In echt.

DRAMATIS PERSONAE

RENZOSPADA, Koch und Inhaber des Columbia und des Krugs, manisch

TIZIANASPADA, geb. Della Mente, verheiratet mit Renzo, Wirtin, kompetent

JESSICASPADA, genannt Jessy, Tochter von Tiziana und Renzo, schräg

NONNA, Mutter von Renzo Spada und Großmutter von Jessy, anstrengend

MATTEOLOBELLO, Pizzabäcker und Frauenheld, Schwarm von Jessica, naiv

SABINEFLECK, Stammgast, Hausnarr und Freundin der Familie, unbeschreiblich

TONITEDESCO, Kellner und ehemaliger Weinhändler, verklemmt

JOHNLOVE, geb. Young, Gast und amerikanischer Soldat, idealistisch

RUDIKNIPPEL, Alkoholiker mit Hausverbot, aggressiv

PASQUALE, Pizza-Ofen, teuer

Huren, Bettler, Diebe

PROLOG

Warum ich mehr Mehl als Mensch bin

Beginnen wir bei meiner Geburt. Oder fünf Minuten vorher. 25. Juli 1987, es ist Samstagabend. In der Trattoria Zum Krug sind alle Plätze belegt. Einundneunzig Sitzplätze und zweiundzwanzig Tische. Die Gäste rufen nach Weizen und Calzone. In einer Ecke sitzen amerikanische Soldaten und in der anderen die schwäbischen Gäste. Mutter ist im siebten Monat schwanger, trägt aber trotzdem noch ihren engen schwarzen Bleistiftrock. Nur hinten lässt sie den Reißverschluss offen. Sie schenkt die Biere ein, und Toni, unser Angestellter, trägt sie an den Tisch. Nicht Mutter. Das Bier.

Mutter geht zu Vater in die Küche. Denn aus der Zapfanlage kommt nur noch Schaum. Sie beklagt sich, dass der Boden nass sei. Und dann um 20 Uhr 50, die Zeit, in der die besten Spielfilme im italienischen Fernsehen ausgestrahlt werden, flutsche ich aus Mutter raus. So erzählt sie es jedenfalls: »Du bist einfach aus mir rausgeflutscht.« Wie Wasser aus dem Krug. Die Fruchtblase war geplatzt, und sie dachte, das wäre Bier auf dem Boden. Die Hebamme hatte nicht einmal Zeit zu kommen. Eine Wehe, und da liege ich schon auf der weinroten Tischdecke. Vater hat sie schnell unter Mutter ausgebreitet. Mutig wie ein Matador. Ängstlich wird er erst, als er mich sieht. Mich mit meinem einen Kilogramm.

»Wie ein Päckchen Mehl«, sagt Vater, und: »Der Braten ist noch nicht fertig.« Mutter ist gereizt, fragt, was sie jetzt machen solle.

»Zurückschieben, oder was?«, sagt sie.

Noch ganz weiß bin ich. Wie Mehl. Später aber kommt die olivfarbene Haut. Und später habe ich es auch nicht mehr eilig. Ich bin ein ruhiges Kind. Ich sitze gerne. An unserem Stammtisch. Trotzdem lache ich. Laut. Wie Mutter. Das Schreien überlasse ich Vater.

AKT 1

I

Über die Entstehung einer Liebe, einer Stadt, eines Restaurants und wie die Raketen in die schwäbischen Vorgärten kamen

Geboren wurde ich also in einem Gasthaus. In Schwäbisch Gmünd, einer Stadt im Osten Baden-Württembergs. Auch im Osten: die Landeshauptstadt Stuttgart. Sie ist fünfzig Kilometer weit weg. Schwäbisch Gmünd ist sowohl einwohner- als auch flächenmäßig die größte Stadt im Remstal. Sie erstreckt sich über eine Fläche von 113,78 Quadratmetern. Am 27. Mai 1987 lebten 56 754 Menschen in Gmünd. Das ist den Gmündern wahrscheinlich nicht bewusst. Denn sie benehmen sich, als wohnten sie in einem Dorf. Sie kennen sich untereinander und sprechen miteinander und übereinander. Es gibt Schützenfeste und Knabenchöre, Jahrgangsfeste mit Rosen und Zylindern, und die Zeitungen schreiben über Auftritte von Kindergärten. Der Mittelpunkt Schwäbisch Gmünds ist der Marktplatz. Mein Mittelpunkt ist einige Meter vom Marktplatz entfernt. Links vom rosa Rathaus kommt man in eine kleine Gasse, die erst eine Linksbiegung und dann eine Rechtsbiegung macht. Die Ochsenbacher Gasse. Sie heißt so, weil die Ochsen, bevor sie verkauft wurden, schön aussehen mussten. Deshalb wuschen die Bauern sie im Bach und machten ihnen Zöpfchen. Mutter meint, der Name komme von einem Geschlecht, das im Mittelalter in Gmünd residierte. Die Herren von Ochsenbach. Jedenfalls wäscht heute hier niemand mehr Ochsen. Auch kein Geld. Nur noch Teller. In der Ochsenbacher Gasse steht die Trattoria Zum Krug. Es ist ein Fachwerkhaus aus dem achtzehnten Jahrhundert. Es sieht aus wie jedes andere deutsche Gasthaus. Wie Zum Lamm. Oder Zur Krone. Nur riecht es nicht wie jedes andere deutsche Gasthaus. Es riecht ein wenig scharf: nach Basilikum. Und ein wenig sauer: nach Zitrone. Auch ein wenig süß: nach Pfirsich. Und eklig: nach Zigaretten. Und der Koch, Renzo Spada, mein Vater, spricht auch nicht wie jeder andere deutsche Koch. Er sagt zum Hubschrauber Flugschraube und zu mir Papa. Ich bin Papa, und er ist mein Papa. Die Haare von meinem Papa sind ein Helm. Kein Härchen steht ab. Wie in Stein gemeißelt sehen seine schwarzen Locken aus. Er hält sich auch für einen David. Nur das Bäuchlein passt nicht.

Mutter dagegen, die Wirtin Tiziana Spada, denkt nicht, dass sie die Venus sei. Obwohl sie ihr ähnlicher sieht als Vater dem David. Sie steht mit beiden Stöckelschuhen fest auf dem Boden. Der Gastraum wäre fremd ohne ihre Schritte auf den Fliesen. Die sind so rhythmisch. Schnell, aber nie gehetzt. Mutter lacht viel. Ich weiß nicht, warum, denn sie versteht keine Witze. Und sie ist auch nicht wie jede andere deutsche Wirtin. Was daran liegt, dass sie Italienerin ist.

Ich bin also auch Italienerin. Das steht in meinem Pass. Cittadinanza: Italiana. Nome: Jessica. Cognome: Spada. Dort hätte allerdings auch gar nichts stehen können, wenn Vater nicht mit sechzehn Jahren alleine nach Deutschland gekommen wäre, um sich ein Mofa zu kaufen. Vielleicht sollten wir also besser vor meiner Geburt mit der Geschichte beginnen.

In Italien erzählte man sich, dass die Gastarbeiter in Deutschland alle ein Mofa bekämen. Auch Vater kennt das Foto des Zimmermanns mit breitkrempigem Hut, Dreitagebart und seinem Mofa. Vater will es gar nicht geschenkt bekommen, er will es sich leisten können. Mutter sagt, dass das nicht der wahre Grund war. Ein Mofa, wie lächerlich. Sie meint, Vater hatte Hunger. Ich kann mir das gut vorstellen. Vater hat immer Hunger.

Als Vater also in Deutschland ist, merkt er, dass das nichts wird mit dem Gastarbeiter-Sein. Denn die Deutschen wollen nur Fachkräfte. Vater hat aber die neunte Klasse ohne Abschluss verlassen. So kommt er nicht weiter als zu den selbstständigen Italienern. Sie geben ihm Aushilfsjobs als Lackierer, Automechaniker, Pizzabäcker. Mit dreiundzwanzig Jahren kann er sich immer noch kein Mofa leisten. Eines Tages sitzt er auf dem Sofa in seinem Wohnzimmer, schaut sich um und denkt, so erzählt er: »Wenn man hier … Nein, dumme Idee, aber wenn man hier eine Wand einschlägt, könnte eine Küche – und hier … Kein Geld für Stühle. Holz!«

Am nächsten Tag steht er auf und kündigt bei der Pizzeria Mamma Rosa, wo er als Pizzabäcker arbeitet. Die Pizzeria gehört seinem Cousin dritten Grades. Dieser sagte ihm auch, dass er nach Schwäbisch Gmünd ziehen solle. Eine Stadt voller Mofas. Voller Arbeit. Vater schlägt die Wand seines Bades ein, die nächsten Wochen sägt er Stehtische, schleift sie, baut sie zusammen und lackiert sie bei seinem alten Chef schwarz. Er kauft Hochstühle, die er mit gelbem Leder bezieht. Er schläft auf einer Plastikplane und träumt von den USA. Vor einem Jahr war er dort gewesen. Weil der Cousin dritten Grades aus der Pizzeria Mamma Rosa einen Bruder hat, der in New York auch eine Pizzeria Mamma Rosa besitzt und einen Pizzabäcker brauchte. Drei Monate lang machte Vater genau die gleiche Arbeit wie in Deutschland. Aber an seinem freien Tag sah er die Columbia bei ihrem Start. Mit so viel Getöse, mit großen Rauchschwaden und Feuer unterm Hintern würde Vater auch gerne abheben wollen. Als er in Deutschland dann auf seiner Plastikplane aufwacht, macht er aus Gips einen Columbia-Abdruck. Diesen hängt er an die freie Wand. Am 5. Mai 1983 ist die Eröffnung seines Imbisses.

So entstand das Columbia.

Währenddessen studiert Mutter klassische Archäologie in Tübingen. Sie ist aber nur drei Mal die Woche dort. Sie pendelt. Ausziehen wollte sie nicht, das ist bei Italienern nicht üblich. Obwohl Mutter sonst immer alles anders macht als üblich, stört sie sich nicht daran. Ihre Eltern müssen sowieso den ganzen Tag arbeiten. Und abends ist ihr Vater mit Bonanza-Schauen beschäftigt und die Mutter mit Vorkochen. Was sie aber stört, so sehr stört, dass eine Vene auf ihrer Stirn sichtbar wird: die Pershing.

Es ist der 25. November 1983. Nachts treffen die ersten Pershing-II-Raketenteile auf acht Sattelschleppern im Depot Mutlangen ein. Am 29. November um 3 Uhr 30 werden auf zwölf Sattelschleppern die restlichen Teile geliefert. Seit 1951 sind die amerikanischen Soldaten in Schwäbisch Gmünd. Jetzt werden sie noch länger in Gmünd bleiben. Die Gmünder bauten Baracken weit von der Stadt entfernt für die Soldaten. Doch trotzdem müssen sie sie immer sehen. Und besonders hören. Jeden Morgen bleiben einige Gmünder vor den Kasernen stehen und sehen den Amerikanern zu. Die Kinder schauen besonders aufmerksam. Manchmal winkt auch ein Soldat zurück. An drei Plätzen in Gmünd trainieren die Soldaten morgens. Sie tragen kanariengelbe Jogginganzüge und laufen immer zu zweit hintereinander her. Dazu singen sie in Reimen. »Your left, right, your left-right, left, right, you’re 56th Field Artillery Command, you’re outta sight! Your one, two, your three-four, what are you looking at me for?« Manche bekommen kaum Luft. Deshalb müssen sie auch dieses Training machen. Die Army-Führung ärgert sich über die nachlassende Kondition ihrer GIs. Denn einige GIs laufen weit hinter den anderen in Zeitlupe und versuchen vergeblich mitzuhalten.

Mutter demonstriert in einer hundertacht Kilometer langen Menschenkette händchenhaltend mit ihrem Professor für Assyriologie und Hethitologie. Nicht gegen die Soldaten ohne Kondition, sondern gegen die Pershing. Sie demonstriert mit Heinrich Böll und Günter Grass. Bis sie heiser ist, ruft sie: »Petting statt Pershing« und »Unser Mut wird langen, nicht nur in Mutlangen«. Sie ist neunzehn Jahre alt. Ihre Eltern wollen nicht mehr für ihr Studium zahlen, wenn sie den ganzen Tag demonstriert, statt zu lernen, obwohl Mutter ihre Bücher auf der Wiese der Mutlanger Heide liest. Deshalb arbeitet Mutter als Kellnerin im Columbia.

Sie verliebt sich in ihren Chef. In Vater. Weil er so quer, so anders ist, so gegen den Strom schwimmend. Auch wenn es nur im Kleinen ist. Zum Beispiel isst er die Käserinde mit, obwohl auf der Packung steht: »Nicht zum Verzehr geeignet« – der Alltagsrebell. Mutter stach, wie sie stolz erzählt, eine Nebenbuhlerin aus, die aber, wie Vater stets betont, nie eine Konkurrenz gewesen sei. Die Nebenbuhlerin arbeitete auch als Kellnerin im Columbia. Sie hatte riesige Wimpern. Aber Mutter hatte längere. Erzählt mein Vater die Geschichte, blinzelt er hundert Mal in dreißig Sekunden, bis er aussieht, als wäre ihm schwindlig. So versetzt er sich, sagt er, künstlich in die Situation zurück, als er das erste Mal meine Mutter sah.

Das Columbia ist klein. Es haben zwanzig Menschen darin Platz. Wenn man sehr quetscht, vierzig. Vor dem Imbiss steht eine Traube.

»Ihr müsst Schlange sein«, sagt Vater, der von der Küche aus den Andrang sieht, »wir sind hier doch in Deutschland.« Und obwohl wir das sind, spricht Vater nur schlecht Deutsch. Deshalb spricht er mit Mutter nur Italienisch, obwohl sie lieber Deutsch sprechen würde. »What is he sayin’?«, fragt einer, und »English please.«

»Si, si, Zuppa inglese«, sagt Vater.

»I thought you are an Italian American, because of the Columbia«, sagt ein anderer.

»Si, si, Americano«, sagt Vater.

»Stay in line please«, sagt Mutter, und: »Coke and Margherita. Next!« Sie steht an der Kasse, und bei jeder Pizza, die sie in Bestellung gibt, nennt Vater eine Zahl: Tausendvierhundertfünfundfünfzig. Tausendfünfhundert. Tausendfünfhundertzwanzig. Bei zweitausend Mark kommt er aus der Küche raus und streckt die Arme in die Luft und sagt: »Vi amo.« Mutter sagt, er soll es nicht übertreiben, aber er fängt schon an zu singen: »God bless America, land that I love.« Weil er nicht weiß, wie es weitergeht, singt er nur »Nanana«. Die Soldaten schauen ernst, und ein paar singen weiter: »Stand beside her, and guide her.« Ein paar sitzen vor dem Haus auf dem Bordstein, essen aus dem Karton und wundern sich, wie flach die Pizza ist. »Great«, sagen sie hin und wieder. Ein paar Schwaben sitzen auf den Schößen der GIs und sagen: »Ned schlecht.« Auf Schwäbisch das größte Lob. »Ned gschimpft isch gnug globt«, sagt man hier.

Wenn die letzten GIs an den Automaten ihre Münzen zählen und in die Bismarck-Kaserne zurückgehen, will Vater sich trauen. Er wird Mutter fragen, ob sie mit ihm ausgehen möchte. Mutter wischt über das Schild »Every Pizza only 5 Dollar!«

»Domani c’è una corsa al Hockenheimring«, sagt Vater. Morgen ist am Hockenheimring ein Rennen.

»Willst du mich«, sagt er und stockt.

Mutter hört sofort auf zu wischen und umarmt Vater.

»Ich will dich. Nur dich«, sagt sie, und Vater sagt unbeirrt: »Willst du mich begleiten?«

»Ach so. Das wäre auch schön«, sagt Mutter und löst die Umarmung.

Mutter hat am nächsten Abend ein schwarzes Etuikleid aus Spitze an mit Schulterpolstern und schwarze Pumps mit goldfarbenen Pfennigabsätzen. Vater fragt sich, ob er ihr vor Aufregung fälschlicherweise gesagt hat, dass sie zum Pferderennen gehen.

»Du bist schön wie meine Mutter. Ich meine wie die heilige Mutter Gottes«, sagt Vater. Er hustet.

»Du bist schön, wie nur du es sein kannst«, sagt er schließlich. Mutter lacht und gibt Vater ein Küsschen auf die Wange. Der hält ihr ein Paket hin. Ohrschützer sind darin, weil es laut wird am Hockenheimring. Wie aufmerksam, denkt Mutter.

Er hält ihr die Tür des weißen Fiat Cinquecento auf. Wie altmodisch, denkt Mutter. Vater dreht den Schlüssel im Zündschloss um, aber das Auto springt nicht an. Das passiere manchmal, wenn es zu kalt sei, meint Vater, vergräbt seinen Kopf im Lenkrad und flüstert: »Wenn du jetzt nicht anspringst, steche ich dir die Reifen auf!«

Mutter lacht, und Vater fragt, ob sie Gas geben könne, er würde anschieben. Aber Mutter hat keinen Führerschein.

»Schiebst du dann?«, fragt Vater.

Wie gar nicht aufmerksam, denkt Mutter, und da steht sie und versucht auf ihren Zehn-Zentimeter-Absätzen die Kiste auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Sie solle sich mit dem ganzen Körpergewicht dagegenlehnen, ruft Vater aus dem Seitenfenster und gibt Gas. »Ja, jaja, aber pass auf, es ist glatt.« Es klappt, Vater fährt ein paar Meter, er schaut nach hinten, und Mutter ist weg. Mutter liegt im Schnee. Sie ist, als Vater weggefahren ist, mit dem Kinn auf den Boden aufgeschlagen.

»So führst du mich also aus?«, sagt Mutter und spuckt Blut auf den Schnee. »Aufs Glatteis.«

»Ich hoffe, du glaubst nicht an Zeichen, denn ich mag dich echt gern«, sagt Vater und nimmt Mutter auf den Arm und trägt sie in den Fiat.

Am nächsten Tag fehlt Mutter bei der Arbeit. Sie hat verschlafen oder ist verärgert, denkt Vater. Als sie mittags noch nicht da ist, schiebt Vater die Soldaten aus dem Raum. Ein einstimmiges Raunen. Er drückt einem Schwaben Kreide in die Hand und eine Tafel und sagt: »Ik musse weg. Sie bitte schreiben: Wegen Amore geslossen.« Vater schließt ab und will gehen, aber ihm fällt ein, dass man »Ich liebe dich, Tiziana!« darunterschreiben könnte, damit es die ganze Stadt weiß. Der Schwabe nickt, so bedächtig, wie nur ein Schwabe nicken kann. Er schreibt: »I moog di scho saumäßig, Tiziana!« Vater klopft an Mutters Tür, es riecht nach Weihrauch. Mutter öffnet und streckt ihren Kopf raus.

»Was?«, fragt sie.

»Der Fiat ist schuld! Fehler In Allen Teilen, sagt man doch so.«

Mutter schließt die Tür. Vater klopft wieder. Als Mutter öffnet, ist er weg. Als sie aber runterschaut, kniet er dort. Sie zieht an Vaters Kochjacke und fragt, was er da tue, ob er ihr nicht in die Augen schauen wolle. Er steht auf und sagt, er habe keinen Ring, aber er könne ihr etwas Symbolisches geben. Vater tut, als würde er sich das Herz aus der Brust reißen und es Mutter überreichen, dabei sagt er: »Bubumm. Bubumm.« Alles, was Mutter dazu einfällt, ist: »Wäh.«

Vater lässt sich nicht beirren und sagt auf Italienisch: »Ich wachse durch dich und du vielleicht durch mich. Das habe ich auswendig gelernt, schön, oder?« Mutter sagt nichts. »Jedenfalls muss ich nicht überlegen, ich weiß es: Willst du meine Frau werden?«

»Wir hatten gestern unser erstes Date«, sagt Mutter.

»Wir Italiener vertrauen auf Gefühle. Und meines ist, dass ich dich liebe.«

»Renzo, ich muss aber überlegen«, sagt Mutter, und Vater sieht aus wie ein begossener Pudel, aber da sie in Schwaben sind, heißt es »Dackel«, Vollidiot. Oder noch schlimmer, in der schwäbischen Steigerungsform: »Halbdackel«. Das ist einer, bei dem es nicht mal zum ganzen Dackel reicht.

Im Columbia arbeiten Vater und Mutter wie immer. Nur manchmal schauen sie sich länger an.

»Warum schaust du so?«, fragt Mutter, während sie die Kassenrolle austauscht.

»Du bist einfach so …«, sagt Vater.

»So was?«

»Nichts. Dann wirst du eingebildet und denkst, du könntest dir jemand angeln, der besser ist als ich.«

»Das ist sicherlich kein Problem.«

»Du bist so hässlich«, sagt Vater, und komischerweise versteht Mutter diesen Humor. Ein Mundwinkel bewegt sich.

»Ich mag dich«, sagt sie, »du bringst mich zum Lachen.«

»Na, das ist wohl übertrieben«, sagt er.

Von einem Tag auf den anderen bricht Mutter ihr Studium ab. So sehen es jedenfalls Freunde und Familie. Mutter hatte schon länger überlegt, abzubrechen. Seitdem Vater ihr gesagt hat, dass er sie liebt. Sie solle die rosarote Brille absetzen, sagt ihre Mutter. Aber Tiziana mag es so. Rosarot. Wenn Renzo sie eigentlich auf den Mund küssen will, dann aber doch nur die Wange trifft und ihre Ohren sich für einen kurzen Moment verhaken. Wenn er extra viel Parmesan über ihr Essen reibt, weil er sich gemerkt hat, dass sie das mag. Was aus ihrem Verstand geworden sei, fragt ihr Vater. Den setze sie nun für die Restaurantplanung ein. Der Vater aber nennt sie Opferliebhaberin. Sie habe Mitleid mit diesem Italiener, der kochen, aber nicht wirtschaftlich denken könne. Sie liebe doch die Archäologie, sagen die Kommilitonen. Aber Mutter merkt beim Kellnern, dass tote Menschen nicht so interessant sind wie lebendige. Trotzdem erzählt sie gern Geschichten über tote Menschen. Denn: Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft.

Die ganze Stadt Schwäbisch Gmünd soll es wegen eines verlorenen Rings geben. Die Herzogin Agnes, die Tochter von Kaiser Heinrich IV. und die Frau des Herzogs Friedrich von Schwaben, verlor auf der Jagd ihren Trauring. Agnes versprach, dort eine Kirche bauen zu lassen, wo der Ring gefunden werde, falls er gefunden wird. Tatsächlich entdeckte ein Jäger den goldenen Ring am Geweih eines Hirschs. Er erlegte den Hirsch, und dort, mitten im Wald des Remstales, ließ Agnes den Vorläufer der Johanniskirche errichten. Nach und nach wurde der Wald gerodet, um die Kirche herum siedelten sich Menschen an, und Gmünd entstand. Gmünd entstand und bekam den Namen Gamundia. Denn als der Ring wiedergefunden wurde, soll der Herzog Friedrich von Schwaben gesagt haben: »Gaude munde!« Das heißt »Freue dich, Welt!«. Und die Welt sollte sich wirklich freuen, nicht nur, dass der Ring da ist, sondern dass es Gmünd gibt. Denn alles steht und fällt mit Schwäbisch Gmünd, meinen die Gmünder. Jeder Mensch in Europa ist mit dieser Stadt in Kontakt gekommen. Wenn auch über Ecken. Über die Lenkungen in den Autos. Oder sie waren sogar leibhaftig in dieser Stadt. Selbst ohne lebendig zu sein. Wie die Heiligen Drei Könige zum Beispiel. Ihre Gebeine verbrachten eine Nacht in Gmünd. Aber das ist eine andere Geschichte, sagt Mutter, wenn ihr hinten im Gastraum wieder jemand zuwinkt, um zu bestellen.

»Warum mache ich das«, flüstert Mutter. Sie geht zu Vater in den Keller, der mehr Schnaps hochholen will. Sie stellt sich vor ihn und sagt: »Ja.«

»Was ›ja‹? Ja, die wollen noch Nachtisch? Wir haben keinen Nachtisch.«

»Bin ich kein Nachtisch?«

»Was meinst du?«

»JA! Aber wir heiraten erst in drei Jahren.«

Vater und der Halbdackelanblick schon wieder. Er sagt nichts und klemmt sich eine Flasche Fernet-Branca, eine Flasche Ramazzotti und eine Flasche Sambuca zwischen Arm und Brust. Mutter schaut ihn an. Dann redet Vater endlich:

»Wie die Deutschen mit ihrer Probezeit. Alles erst probieren und sich nie festlegen. Ich bin doch kein Porsche.«

»Dafür ein Fehler in allen Teilen. Das ist süß. Also willst du mich beleidigen oder heiraten?«

»Lieber heiraten«, sagt Vater. »Ich hole kurz den Ring, ich habe einen gefunden … Ich meine, gekauft.«

»Nein, bleib hier«, sagt Mutter. Vater legt ihr eine Hand auf die Wange und schaut sie so lange an, bis Mutter ihn küsst. So zärtlich, dass Vater erst denkt, es wäre ein Sommerwind. Mitten im Winter. Im Keller.

II

Wie Mutter und Vater expandieren:Ein neues Restaurant, ein Baby undein Großvater müssen her

In den Achtzigerjahren wird ein Lied zum Hit und wirkt sich direkt auf das Einkommen meines Vaters, aber auch auf seine Psyche aus. Wäre der Refrain wie geplant bei »Heiße Würstchen und ’ne Coca-Cola« geblieben, hätte Vater keinen Rekord aufstellen können. Spliff entschied sich im letzten Moment aber für »Carbonara e una Coca Cola«. Die Gäste lieben es, bei der Bestellung den Satz aufzusagen. Nach drei Jahren Dauerbeschallung aus der Jukebox hat Vater genug. Dass die Leute in ihre Carbonara Sahne wollen, tut sein Übriges. Vater trägt den Teller Spaghetti aus der Küche, greift in die Nudeln und wirft sie dem Kunden, der sie bestellt hat, ins Gesicht. »Hier Carbonara!«, sagt er. Bevor er zur Cola kommt, ist der Gast rausgerannt.

Einen Gast verlieren sie. Aber andere Gäste kommen hinzu. Die Pizzen im Columbia gehen weg wie warme Pizzen, und Mutter hat eine Idee.

»Hast du gehört, dass das alte Gasthaus Zum Krug verpachtet werden soll?«, fragt sie Vater.

»Die Zerillis sind doch im Krug«, antwortet er.

»Gestern soll die Polizei ihr Restaurant auseinandergenommen haben. Sie haben dort wohl mehr als nur Teller gewaschen.«

»Eine Razzia bei den Zerillis?«

»Was denkst du?«

Sie denken beide dasselbe und stellen sich Wochen später einem Herrn Obermaier vor. Herr Obermaier ist bekannt in Schwäbisch Gmünd. Weil der Krug bekannt ist. Aber auch, weil er alt ist. Oder weil er alt ist und viel erlebt hat. Herr Obermaier ist der Meinung, wir wüssten nur die Hälfte von dem, was er erlebt hat. Was wir wissen: Er war Metzger und Weltmeister im Gewichtheben, und er war auch noch französischer Kriegsgefangener. Außerdem trägt er immer grüne Cordhosen und hat einen Stock mit Schildkrötenkopf bei sich. Einige Leute glauben, dass der Krug bestimmt nicht schon wieder an Italiener vergeben werden würde. Aber Herrn Obermaier ist das egal, ob Italiener oder nicht, solange sie das Restaurant weiterführen. Weiterführen wollen Vater und Mutter auch das Columbia. Aber sie wollen die Verantwortung an einen Restaurantleiter abgeben, damit sie sich um den Krug kümmern können. Sie unterschreiben den Vertrag und pachten die Gaststätte mit sämtlichen Möbeln. Alles sei noch genau so gewesen, wie die Zerillis das Lokal verlassen hatten, erzählt Mutter. Die Tür sei noch eingetreten und eine Absperrung mit Band angebracht gewesen. Der Boden rutschig vom umgestoßenen Peperoni-Öl. Als sie den Kühlschrank aufmacht und den alten Zander riecht, übergibt sie sich sofort. Noch Wochen später muss sie brechen, wenn sie daran denkt. Allerdings könnte es auch an mir liegen. Sie ist schwanger, aber das weiß sie noch nicht.

Vater und Mutter renovieren im Krug nicht sehr viel. Das würde zu viel Geld kosten. Das Geld, das sie im Columbia verdienen, möchten sie für die Hochzeit ausgeben und einen neuen Ofen. Dreißigtausend Mark kostet er, Vater nennt ihn Pasquale. Pasquale macht die besten Pizzen. Mutter wünscht sich, dass die Räume etwas italienischer aussehen würden, aber das ist fast nicht möglich. Denn der Krug ist ein Fachwerkhaus. Die weißen Wände sind durchzogen mit dunklem Holz. Es stehen drei Holzbalken im Raum. Und die Einrichtung erinnert eher an einen Jagdverein. Ton: braun in braun. Brauner Fliesenboden. Holztresen. Holztische, Holzstühle.

Mutter legt rote Tischdecken auf jeden Tisch. Dann legt sie jeweils noch eine weiße, quadratische Tischdecke schräg darüber, sodass die Ecken frei bleiben. Außerdem Vorhänge, außen rot, innen beige. Beige werden auch die Holzstühle mit Lochmuster. Vater bezieht sie und die Eckbänke mit neuem Stoff. Helles Beige erinnert an Sizilien und an Bast, meint er. Aus dem Weinhandel um die Ecke, von Toni, holt er Chianti in Bastflaschen. Außerdem kauft er Toni ein antikes Weinfass ab. Das stellt er als Dekoration neben den Tresen. Darauf stellt er Efeu. Aus Sizilien lässt er sich das Rad einer sizilianischen Kutsche kommen. In Gelb, bunt bemalt mit Pfirsichen und Blumen. Mit blauen und roten Verzierungen. Es hängt nicht an der Wand, sondern steckt im Zoll in Stuttgart fest. Aber dann hängt es an der Wand.

Mutter möchte an den Wänden noch Gemälde. Im Columbia kommt gelegentlich ein obdachloser Künstler essen. Den beauftragt sie, einige Ölbilder zu malen. Natürlich von archäologischen Stätten und Theatern. Aber die zwei größten Bilder zeigen etwas anderes. Ein Bild zeigt den Strand und die Häuser von Cefalù. Überall rechteckige und quadratische Fenster. Die Häuser sehen aus, als kletterten sie einen Hang hoch. Im Hintergrund eine Burg. Vorne Menschen, die sich sonnen. Die Häuser sind wie zufällig hingeworfene Legosteine. Ein bisschen so sieht auch die Anordnung der Tische aus. Vater mag keine strengen Reihen. Das zweite Bild ist im gleichen Stil gemalt und zeigt etwas Ähnliches, die Hafenstadt von Sciacca in Agrigent. Da Mutter aus Palermo kommt, mag sie dicht besiedelte Städte. Besonders dicht besiedelte Städte am Meer, in denen Mutter mit ihrer Familie im Urlaub war. Mutter hängt die Bilder nebeneinander.

Mutter und Vater selbst wollen nicht neben-, sondern miteinander sein. Renzo und Tiziana Spada heißt es am 2. Februar 1986. Sie kommen aus dem Standesamt heraus und machen Fotos im Innenhof des Spitals. Dort stehen Bronzefiguren von Adam und Eva. Eva hält einen Apfel. Im großen Baum in der Mitte des Hofs versteckt sich die Bronzefigur einer Schlange. Alle Verliebten, alle Eheleute müssen an den Statuen vorbei. Mutter und Vater lassen sich vor Adam und Eva fotografieren. Mutter findet das nicht so gut, dass die Frau an allem schuld sein soll.

Die »echte« Hochzeit, wie Vater es nennt, die kirchliche Trauung, findet in Sizilien statt. Um fünf Uhr morgens wird Mutter geweckt. Von ihrer Schwiegermutter – Nonna. Sie schickt eine ganze Armee von Leuten ins Schlafzimmer, wo Mutter alleine geschlafen hat. Kameramänner, Fotografen, Friseure, Visagisten, eine Schneiderin. Es ist Brauch, die Braut in der Entstehung zu dokumentieren. Ein Making-of. Die Augenringe werden weggetupft, die Haare einbetoniert, der Körper in das Kleid genäht. Wie ein Riesenbonbon sieht sie aus.

»Lächle wie eine Braut und winke in die Kamera«, sagt Nonna, und Mutter nickt kurz weg. Als alle fertig sind, geht Mutter auf den Balkon und lässt ihren zehn Meter langen Schleier über das Geländer fallen. Da sieht sie Vater. Das erste Lächeln des Tages. Sie laufen gemeinsam zur Kirche. Das ganze Dorf und die vierhundert geladenen Gäste folgen ihnen. Ein Kind wirft sich vor sie, und Mutter schiebt es vorsichtig mit dem Fuß weg; ein Dreirad macht eine Vollbremsung vor ihnen, und Vater schiebt es weg; aus dem Fenster fliegen Pflanzen, und sie stellen sie gemeinsam weg. Immer begleitet von Klatschen und Pfeifen, weil Mutter und Vater es schaffen, alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen. »Das ist das Leben«, sagt Vater zu Mutter, und Mutter sagt: »Dann schaffen wir das.« »Gemeinsam«, sagt Vater, und Mutter will ihm einen Kuss geben, aber Nonna zwickt Mutter in den Oberarm. In der Kirche dürfen sie sich nach dem Jawort küssen. Sie sind nun Renzo und Tiziana Spada. Als sie aus der Kirche kommen, werden sie mit Reis beworfen. Nonnas Korn trifft Mutter ins Auge. Mutter hat auf ihrem Hochzeitsbild ein sehr weißes Kleid und ein rotes Auge. Zwei rote Augen hat John, Mutters bester amerikanischer Freund, der die Kaserne nicht verlassen darf und fünf Tage auf seiner Pritsche zwischen zwanzig anderen Pritschen weint. In der Villa mit Palmen und Swimmingpool gibt es zur Begrüßung Aperitivo, es wird Grana Padano und Parma-Schinken geschnitten, es gibt Polpo und Austern, und es folgen weitere fünfzehn Gänge. Aber Mutter und Vater kommen kaum zum Essen, denn die Gäste rufen immerzu: »Bacio, Bacio«, und klatschen so lange, bis Vater und Mutter aufstehen und sich küssen. Wenn sie sich nicht lange genug oder leidenschaftlich genug küssen, rufen die Gäste weiter. Das tun sie bestimmt hundertmal, und Vater wird ohnmächtig, weil er nicht zum Essen kommt. Mutter wird ohnmächtig, als sie die Rechnung sieht. Viel höher, als sie vereinbart haben. Aber Vater winkt ab und sagt, hunderttausend Mark sei Mutter ihm wert, außerdem könnten sie sich das leisten, und mit den Hochzeitsgeschenken eingerechnet sei es vielleicht auch gar nicht mehr so schlimm. An diese Aussage denkt Vater auf der Hochzeitsreise in Palermo, die er mit Fluchen verbringt. Weil ihnen das Hochzeitsgeld und die Goldgeschenke bei einer romantischen Kutschfahrt gestohlen werden.

Seine Einstellung zum Geld insgesamt ändert sich dadurch jedoch nicht. »Geld ist dazu da, um es auszugeben«, sagt Vater und zeigt seine Hände. »Mit beiden Händen«, sagt er und tut, als würde er Scheine halten und sie rechts und links verteilen.

»So werden wir aber schnell arm sein«, sagt Mutter.

Wieder zurück in Deutschland geht es so weiter. Man lebt nur einmal, sagt Vater und lässt den Champagner knallen.

»Auf de neue Trattoria Zum Krug«, sagt er zu den Gästen.

»Trottleria?«, fragt ein Gast – was denn bitte das sein solle. Mutter erklärt: »Wir haben vom Einfachsten das Beste.« Das beantwortet die Frage nicht, und trotzdem sagt sie: »Auf die Neueröffnung Zum Krug.«

Die Gäste klatschen und gehen schon zum fünfzehn Meter langen Tisch, bevor Mutter »Das Buffet ist eröffnet« sagen kann. Auf den großen Silberplatten sind Arancini, sizilianische Reisbällchen mit Hackfleisch, Kanapees mit Rindfleisch, eingelegte Champignons, gegrillte Paprika, Zucchini und Auberginen, gekochte halbe Eier mit Kaviar und mehr. Mutter überkommt der Wunsch, den Kaviar von den Eiern zu kratzen.

»Il cielo in una stanza«, sagt Vater zu Mutter.

»Der Himmel in einem Raum«, wiederholt Mutter und zeigt auf den vollen Raum vor ihr.

Vater dreht Mutter mit dem Rücken zu sich, schiebt ihre Haare beiseite und küsst sie auf den Nacken.

»Bleib so«, sagt er. Vater holt ein blaues, rechteckiges Kästchen und nimmt eine große Kette mit großen Steinen heraus.

»Und das sind die Sterne«, sagt Vater und legt ihr die Kette um.

»Kalt«, sagt Mutter, und berührt die Steine, die ihr im Ausschnitt baumeln.

»Renzo, ich brauche keine zwei Karat oder wie viel das auch sind«, sagt Mutter.

»Sag einfach Danke.«

»Danke«, sagt ein Journalist, der von hinten zu Vater kommt, dann macht er ein Foto von den beiden. Mutter möchte sich noch einen Schal über die Kette legen, aber schon kommt der Blitz. Mutter lacht, und Vater raucht.

Der allererste reguläre Gast des Krugs setzt sich an die Theke. Er trinkt einen Weißwein und liest in Hegels Phänomenologie des Geistes. Essen möchte er nichts. Vielleicht isst er niemals und ernährt sich nur von Wissen. Vater fragt ihn, wie er heißt.

»Prof. Dr. Haber«, sagt der Mann.

»Was die Erfahrung aber und die Geschichte lehren, ist dieses, dass Völker und Regierungen niemals etwas aus der Geschichte gelernt und nach Lehren, die aus derselben zu ziehen gewesen wären, gehandelt haben«, sagt Vater zu Mutter und bittet sie zu übersetzen.

»Das isse Egel«, sagt Vater.

»Wie bitte, ein Blutegel?«, fragt der Mann.

Vater versucht das H in Hegel auszusprechen, der Mann nickt und fragt, ob Vater in Italien studiert habe.

»Nein, Televisione geschaut«, sagt Vater.

Prof. Dr. Haber nickt nochmals, klappt sein Buch zu und geht in Richtung Tür.

»Professore«, ruft Vater, »Sie nix zahlen.«

»Danke! Auf Wiedersehen.«

»No, Professore. Eine Mark fünfzig.«

»Zeitungsbier!«

Vater schaut Mutter fragend an, die erklärt, wer in die Zeitung komme, müsse jedem ein Bier ausgeben.

Prof. Dr. Haber nickt und sagt: »Wir sind hier in Schwaben.«

»Und ich bin Italiano«, sagt Vater und greift nach dem Buch. »Ssulden zahlt«, sagt er, »e ora vai affanculo.«

»Lassen Sie mir meinen Hegel«, sagt der Professor und geht trotzdem mit gesenktem Kopf. Auch Vater senkt seinen Kopf. Mutter fragt, was denn los sei.

In Italien hätten Professoren Manieren und Geld, um zu zahlen, sagt er.

»Er hatte doch Geld. Aber hier ist das so.«

»Ich verstehe das alles nicht.«

»Was?«

»Die Kälte, die Regeln, die Sprache. Lass uns nach Italien gehen.«

»Und was ist mit dem hier?«

»Jaja, du. Spontan wie eine Deutsche. Spontan wie ein Fahrplan.«

Mutter sagt, dass Vater erst einmal aufhören solle, in »Deutsche« und »Italiener« zu unterscheiden. Die Kälte zähle nicht, da Vater sowieso immer in der Küche stehe. Und da sei das ganze Problem. Dort spricht er nur Italienisch, isst und denkt italienisch. Er sei schon einige Jahre hier, und so langsam werde es Zeit, richtig anzukommen.

»Du musst raus. Ich zeig dir deine Stadt«, sagt Mutter und zieht ihn aus der Tür.

Mutter will über den Zebrastreifen gehen. »Nein!«, ruft Vater und hält sie zurück.

»Bist du lebensmüde?«, fragt er und schaut nach links, nach rechts. »Da kommt ein Auto.«

Das Auto bleibt stehen.

»Dem ist bestimmt der Sprit ausgegangen«, sagt Vater und rennt über die Straße.

»Grüß Gottle«, ruft der Mann aus dem Auto.

»Ma dai«, sagt Vater zu Mutter, »den hast du bezahlt.«

»Für was?«, fragt Mutter.

»Damit er freundlich ist«, sagt Vater.

Auf einmal gibt es einen Knall. Dem freundlichen Mann ist ein Auto aufgefahren. »Heilig’s Blechle«, sagt dieser, »mein Daimler!« Der Mann steigt aus, wie auch der Mann, der ihm aufgefahren ist. Er sagt: »Mai liabr Scholli.« Der Freundliche sagt: »Mei liabr Härr Gesangveraih.« Und dann weiß man gar nicht, was von wem kommt, weil es so laut wird. Haidabimbam. Hemmlarschondzwern. Allmachds jenseids Goddes Doppelwegga. Vater grinst und sagt: »Das ist wie zu Hause«, und dann fängt auch er an: »Testa di cazzo! Faccia di culo! Pezzo di merda!« Wie die drei so fluchen, wird Mutter glücklich.

»Das war ja einfach«, sagt sie.

Eines Tages steht Il Tedesco, der Deutsche, vor der Tür. So wird Toni genannt. Er hat traurige, winzig kleine Augen. Schwarz, wie eine einzige, große Pupille. Toni ist achtundfünfzig Jahre alt. Fünfunddreißig Jahre lang hatte er einen Weinhandel eine Straße weiter. Weil Italiener den Wein mit Frostschutzmittel streckten, starben neunzehn Personen und fünfzehn verloren ihr Augenlicht. Toni verlor seinen Weinhandel. Erzählt er allen. Aber Mutter kennt Iolanda, seine Frau, und weiß, was wirklich passiert ist.

»Ich habe mich schon gefragt, wo ich meinen Wein jetzt herbekomme«, sagt Vater.

»Ich habe mich gefragt, woher ich Geld bekomme«, sagt Toni.