Wie Mr. Rosenblum in England sein Glück fand - Natasha Solomons - E-Book

Wie Mr. Rosenblum in England sein Glück fand E-Book

Natasha Solomons

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Beschreibung

«Absolut charmant und sehr witzig.» Paul Torday, Autor von «Lachsfischen im Jemen» In dem Moment, als Jack Rosenblum 1937 in Harwich von Bord geht, fasst er einen Entschluss: Als deutscher Jude, der mit seiner Frau aus Berlin fliehen konnte, möchte er so schnell wie möglich ein echter Engländer werden. Und so erstellt er eine Liste: einen leicht verständlichen Führer durch die Sitten und Gebräuche Englands. Fünfzehn Jahre später hat Jack viel erreicht. Nur einen Punkt auf seiner Liste konnte er noch nicht abhaken: Er ist noch nicht Mitglied in einem englischen Golfclub. Und da ihn niemand aufnehmen will, beschließt er, selbst einen Golfplatz zu bauen. Also schleift er seine Frau Sarah in das Herz der englischen Countryside, nach Dorset. Doch hier, im Land der Borstenschweine, Glockenblumen und des Apfelweins, scheint die schwierigste Aufgabe noch vor ihnen zu liegen … «Eine anrührende und überraschende Lektüre, die glückliche Leser hinterlässt.» Sadie Jones, Autorin von «Der Außenseiter»

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Natasha Solomons

Wie Mr. Rosenblum in England sein Glück fand

Roman

Deutsch von Martin Ruben Becker

An seinem neunzigsten Geburtstag habe ich meinem Großvater versprochen, dass ich meinen ersten Roman ihm widmen würde. Und so ist dies also für Mr.P.E.Shields, 1910–2000.

Und für David, in Liebe.

Erstes Kapitel

Am Abend und in der Nacht ist es bewölkt und trüb, mit gelegentlichen Schauern. In vielen Landstrichen fällt mäßiger bis starker Regen, in höheren Lagen verbreitet Nebel, an der Südküste vereinzelt Nebelfelder. Morgen anhaltende und starke Niederschläge, die sich vom Südwesten her ausbreiten, bei Temperaturen um 14Grad. Das war die Wettervorhersage. Die nächsten Nachrichten hören Sie um Viertel vor…

Jack Rosenblum schaltete das Radio aus und lehnte sich wieder entspannt in seinen Ledersessel zurück. Auf seinem Gesicht breitete sich ein seliges Lächeln aus, er schloss die Augen. «Dann wird es also noch mehr regnen», sagte er in das leere Zimmer, streckte seine kurzen Beine aus und gähnte. Die trüben Wetteraussichten bekümmerten ihn nicht; es ging ihm vor allem darum, die Nachrichten zu hören, denn das war jedes Mal ein Genuss. Abend für Abend konnte er sich während der Wettervorhersage ausmalen, er sei Engländer. Als sie wegen des Krieges ausfiel, trauerte er im Namen der Briten, da er sich der Bedeutung dieses Verlusts durchaus bewusst war. Dann, als sie endlich wieder gesendet wurde, lauschte er ihr mit Inbrunst und dachte dabei an all die Engländerinnen und Engländer, die gleichzeitig mit ihm von «leichtem Nieselregen in höheren Lagen» erfuhren. Die täglichen Wetterberichte gaben ihm das Gefühl, Teil der Nation zu sein. Mochten sie auch Eisregen in Schottland und Sonnenschein im westlichen Mittelengland ankündigen, das Ritual der Vorhersage vereinte sie doch alle miteinander. Diese kollektive Sorge um das Wetter war zu Recht wieder ein Hauptanliegen Großbritanniens geworden, und Jack freute sich von ganzem Herzen darüber.

Er starrte aus dem Fenster und sah zu, wie die Regentropfen an der Scheibe herabliefen. Dahinter erstreckte sich der verwahrloste Garten bis zu einem klapprigen Zaun, auf dessen anderer Seite die Heide lag. Bisher hatte sich niemand um den Zaun gekümmert: Seit 1940 war er immer mehr in sich zusammengefallen, aber es gab kein frisches Holz, um ihn zu reparieren. Jack hätte ohne Probleme etwas Holz auf dem Schwarzmarkt erstehen können, aber die schlichte Wahrheit war, dass er, wie jeder andere Bewohner Londons, aufgehört hatte, die Schäbigkeit überhaupt noch zu bemerken. Im Lauf der letzten zehn Jahre war die ganze Stadt allmählich heruntergekommen, selbst in den schönsten Fassaden zeigten sich Risse, aber die Menschen hier hatten sich inzwischen so sehr daran gewöhnt, dass sie – wie der Bräutigam einer verblühenden Schönheit – den Verfall gar nicht mehr wahrnahmen. Es blieb jenen, die fort gewesen waren, überlassen, voller Bestürzung festzustellen, wie sehr die einst glänzende Hauptstadt einem trostlosen Niedergang anheimgefallen war. London war geschwärzt und voller Brandflecken, und überall klafften große Löcher, die mit Schutt gefüllt waren.

Jack war nicht wie die meisten anderen Flüchtlinge schon damit zufrieden, wenn er sein altes Leben mehr oder weniger weiterführen konnte wie bisher. Er teilte vielmehr die Ansicht seiner britischen Nachbarn, dass es die Rolle eines Juden war, nicht aufzufallen – im Grunde wie eine Parkbank: nützlich, aber unauffällig. Das Geheimnis war Assimilation. Assimilation. Jack hatte sich das Wort schon so oft aufgesagt, dass es sich für ihn nur noch wie ein Schibbolet, ein Zischen, anhörte. Er war es leid, anders zu sein, wollte nicht wie der Ewige Jude dazu verdammt sein, von Ort zu Ort zu wandern und nirgendwo dazuzugehören. Außerdem mochte er die Engländer und ihre Eigenheiten. Er schätzte ihren Stoizismus, den sie an den Tag legten, wenn sie in Bedrängnis gerieten. In seiner Fabrik hing ein Kriegsplakat an der Wand, auf dem die Krone König Georgs prangte, mit der Aufschrift: «Bewahren Sie Ruhe und machen Sie weiter.» Kein Zweifel, die Stadt war heruntergekommen, die Menschen trugen praktische Kleidung, in den Läden gab es nur schrumpeliges Gemüse, trockenes braunes Brot und erbärmlichen Bacon aus Argentinien, und dennoch rasierten sich die Männer zum Abendessen und zogen sich um, und ihre Frauen servierten ihnen das kümmerliche Essen auf ihrem besten Porzellan. Darin nämlich waren sich alle Briten ähnlich: Sie glaubten immer noch, sie seien der Mittelpunkt der Welt, selbst nachdem das Empire zerfallen war und das britische Pfund an Wert verloren hatte, und dass jeder, der hierherkam, es ganz offensichtlich tat, um etwas von ihnen zu lernen. Die Vorstellung, dass ein Besucher aus Indien oder Amerika vielleicht auch etwas Wissenswertes mitzuteilen hätte, kam ihnen einfach lächerlich vor. Erhobenen Hauptes standen die Briten mit ihren Trilbys oder Bowlern da und diskutierten über das Wetter.

Jack lebte nun schon fünfzehn Jahre hier. Manchmal kam er sich vor wie einer dieser neumodischen Anthropologen, die im Auftrag von Meinungsforschungsinstituten Umfragen in der Bevölkerung durchführten. Aber während sie damit beschäftigt waren, die Gespräche der Kohlearbeiter in Pubs und Bussen, die der Hausfrauen und Earls in Lyon’s Corner House zu belauschen, interessierte sich Jack nur für eine besondere Unter-art: die englische Mittelschicht. Er wollte ein Gentleman sein, kein Lord. Er wollte Mr.J.M.Rosenblum sein.

Seitdem er im August 1937 in Harwich an Land gegangen war, war es Jacks größter Wunsch gewesen, Engländer zu werden. Noch benommen von der Reise und mit einem Koffer in jeder Hand, hatten sie sich den Weg die Gangway hinunter gebahnt und versuchten, in ihrem ersten englischen Nieselregen nicht gleich auszurutschen. Sarah ging etwas wackelig in ihren nagelneuen Schuhen, aber sie war entschlossen, ihr Gastland fein angezogen zu betreten und nicht etwa wie ein Schnorrer. Ihr dunkelblondes Haar war an den Ohren zu hübschen Zöpfen geflochten, und Jack fiel auf, dass sie ihre Augenringe sorgfältig mit Puder abgedeckt hatte. Sie trug ein schickes wollenes Kostüm, wobei der Rock an der Taille ein klein wenig locker saß. Elizabeth, kaum ein Jahr alt und sich der Bedeutung dieses Augenblicks nicht bewusst, schlief an der Schulter ihrer Mutter, und ihre winzigen Finger umklammerten Sarahs Zöpfe. Alle Flüchtlinge, mit ihren Bergen von Koffern, den Scharen schluchzender Kinder und blassgesichtiger, Jiddisch sprechender Großeltern, wurden wahllos zu Schlangen zusammengetrieben. Als er die anderen Menschen inmitten ihrer Eltern, Cousins und Schwäger erblickte, verspürte Jack heftige Schuldgefühle. In seiner Kehle stieg Magensäure auf, und er stieß leise auf. Er hatte einen Zwiebelgeschmack im Mund. Leise fluchte er auf Deutsch vor sich hin: Sarah hatte für die Zugfahrt nach Frankreich Brötchen mit gehackter Leber und Zwiebeln gemacht. Er hasste rohe Zwiebeln. Eigentlich hätte er sich während der ganzen Fahrt die weitreichende Bedeutung dieser Reise durch den Kopf gehen lassen müssen, stattdessen sah er mit einer seltsamen Teilnahmslosigkeit dabei zu, wie Deutschland an ihnen vorbeirauschte und verschwand – wusste der Himmel, ob sie das Land jemals wiedersehen würden. Heimat, dieses Gefühl von Zuhause und Zugehörigkeit, war verloren. Und doch konnte Jack, während der Zug durch Holland und Frankreich brauste, nur über den Geschmack von Zwiebeln nachdenken. Und prompt erreichte er England in seinem besten Anzug, in auf Hochglanz polierten Schuhen, mit sorgfältig gekämmtem Haar und Mundgeruch.

Die Flüchtlinge hatten im Regen neben dem Kai gewartet, und niemand wagte es, sich zu beschweren (sie hatten es auf die harte Tour gelernt, sich vor den Launen der Bürokraten in Acht zu nehmen). Ein Mann ging die Schlangen entlang, blieb immer wieder stehen, um etwas loszuwerden, und verteilte dabei Broschüren. Jack sah fasziniert zu, wie der Mann näher kam. Er hielt sich gerade, wie es sich für einen Engländer gehört, und wirkte selbstsicher wie ein Schuldirektor inmitten einer Horde unruhiger Erstklässler – selbst der Grenzpolizist nickte respektvoll, als der Mann ihm eine Frage stellte. Schon immer hatte Jack die Eleganz anderer Männer mehr bewundert als beneidet. Er selbst war zierlich, hatte hellblaue Augen (die er hinter einer Drahtbrille verbarg) und sandfarbenes Haar, das rapide schütterer wurde. Seine kleinen Füße verwünschte er, denn sie drehten sich immer leicht einwärts. Wenn er ruhig dastand, musste er stets aufpassen, sie nach außen zu stellen, damit es nicht aussah, als würde er über den großen Onkel gehen.

Als der Mann endlich Jack erreichte, drückte er auch ihm eine dunkelblaue Broschüre in die Hand. Neu in England: Nützliche Informationen und freundliche Anleitung für jeden Flüchtling stand darauf geschrieben. Eine weitere, identische, gab er Sarah.

«Willkommen in England. Ich bin vom Deutsch-Jüdischen Hilfskomitee. Bitte lesen Sie sich das sorgfältig durch», sprach der Mann sie auf Englisch an.

Jack war so verblüfft, dass dieser Mann mit seinem gezwirbelten Schnurrbart sowohl Engländer als auch Jude war, dass er selbst – unfähig zu reagieren – zu stottern anfing. Der Mann seufzte müde und wechselte mühelos ins Deutsche.

«Willkommen in England. Ich bin…»

Jack gab sich einen Ruck. «Sank you, sehr freundlich. Ich werde sie Satz für Satz lesen.»

Der Mann strahlte anerkennend. «Das ist prima.» Dann zeigte er auf die Broschüre in Jacks Händen. «Regel Nummer zwei. Sprechen. Sie. Immer. Englisch. Selbst holpriges Englisch ist besser als Deutsch.»

Jack nickte stumm und prägte sich den Ratschlag genau ein.

«Und hier steht wahrhaftig alles drin, was ich wissen muss?»

Der Mann lächelte angestrengt und ungeduldig, da er weiterwollte. «Ja. Die Broschüre enthält alles, was Sie über die Engländer wissen müssen.»

Jack umklammerte das dünne Heft mit zitternden Händen, während er an den Reihen der Flüchtlinge entlangblickte, die auf ihren Schrankkoffern saßen, Äpfel knabberten und Zeitungen in den unterschiedlichsten Sprachen lasen. Begriffen sie denn nicht, dass man ihnen gerade eine Anleitung zum Glücklichsein gegeben hatte? Dieses Heftchen würde ihnen erklären, wie sie – Juden, Jiddische und Flüchtlinge – echte Engländer werden konnten! Die Broschüre öffnete sich von alleine an der Stelle mit der Liste der Regeln, und Jack las begierig, wobei seine Lippen die Worte formten: «Regel Nummer eins: Fangen Sie sofort an, die englische Sprache zu lernen…»

Seine ersten Monate in London verbrachte Jack damit, nach den Regeln zu leben, die in Nützliche Informationen dargelegt waren. Er nahm Englischunterricht, sprach nie Deutsch auf dem Oberdeck eines Busses und schloss sich auch keinen politischen Organisationen an. Er weigerte sich, seinen Namen auf eine Unterschriftenliste zu setzen, die für die Verschiebung einer Straßenbahn-Haltestelle eintrat, für den Fall, dass man das später als subversiv missdeuten könnte. Niemals kritisierte er die Regierungsbeschlüsse und erlaubte auch Sarah nicht, es zu tun, selbst als sie sich bei der Polizeiwache in ihrer Nähe als «feindliche Ausländer» registrieren lassen mussten. Er gehorchte den Regeln mit mehr Inbrunst als der glühendste Bar Mitzvah-Jungeden Gesetzen der Kaschrut, und während er sie so befolgte, widerfuhr ihm ganz unerwartet ein großes Glück.

Sarah hatte ihn losgeschickt, um einen Teppich oder ein Stück Fußbodenbelag zu kaufen, denn sie wollte ihre Wohnung über Solly’s Stockings in der Commercial Road etwas gemütlicher machen. Jack schlenderte also durch die Brick Lane und lutschte genüsslich die Salzkristalle von einer Brezel. Ihm war bewusst, dass er eigentlich ein Rosinenbrötchen essen sollte, aber während er Regel Nummer neun herunterbetete: «Ein Engländer kauft, wenn möglich, immer ‹britisch›», tröstete er sich damit, dass in seinem Londoner Schtetl solche Brötchen schwer zu bekommen waren. Es war ein kühler Morgen, und der Dampf aus den Bagel-Stuben hing in der Luft wie ein nach Brot riechender Nebel. Jungen trugen Zeitungen aus, Busschaffner schrien nach Fahrgästen, die in die «Finchley-Straße» wollten, und Markthändler mühten sich hinter ihren Ständen, die sich auf dem holprigen Straßenpflaster erstreckten, um Kunden. Die Luft war voller Jiddisch, und Jack konnte sich beinahe vorstellen, wieder in Schöneberg zu sein. Er schüttelte den Kopf, um diesen Anflug von Heimweh zu verscheuchen, und suchte die Stände nach Teppichen ab. Er erblickte Stand- und Armbanduhren (tickend oder mit geradezu hervorquellenden Eingeweiden), Fässer mit Heringen, heimischen Gurken, Salat, einen kaputten Hut-Stand und schließlich ein Stück minzgrünen Teppich. Damit die Tauben sie sich schnappen konnten, warf er seine angebissene Brezel in die Gosse und zeigte auf die Teppichrolle.

«Der da. Der grüne Teppich. Ist der britisch?»

Der Markthändler runzelte verwirrt die Stirn, und sein normaler Verkaufsjargon versagte in diesem Moment.

Ungeduldig drehte Jack die Teppichrolle um, um die Rückseite zu untersuchen, und entdeckte zu seiner Freude einen Wilton-Stempel und das Patentemblem Seiner Majestät, des Königs.

«Großartig! Ich nehme die ganze Rolle, bitte – danke.»

«Guter Kauf! Ich hab noch mehr davon, wenn Sie wollen, Chef. Einen verdammten Anhänger voll.»

Jack dachte einen Augenblick lang nach. Auf der einen Seite besaß er nur zehn Pfund. Auf der anderen Seite witterte er die Chance, den restlichen Teppich weiterzuverkaufen, wenn es ihm gelang, einen guten Preis auszuhandeln. Er betrachtete noch einmal das königliche Patent – das war doch sicher ein Zeichen?

«Ja, in Ordnung. Ich nehme alles. Ich zahle zwei Pfund, und dann müsste ich mir mal Ihren Anhänger ausleihen.»

Sarah war entsetzt, als Jack mit zwanzig Teppichrollen in unterschiedlichen Farben, von Minzgrün über Senffarben bis zu Magenta, wieder nach Hause kam. Eine Woche lang kroch Elizabeth durch lauter Teppichtunnel, und alle hockten sie am Abend auf Teppichbänken, um Radio zu hören – aber diese Anhängerladung Teppiche war der Anfang von Rosenblums Teppichfabrik. Anfangs agierte Jack als Zwischenhändler und verkaufte Restbestände mit einem Aufschlag an andere Flüchtlinge weiter, die ihre heruntergekommenen Wohnungen etwas gemütlicher machen wollten, aber schnell begriff er, wie groß die Nachfrage war und dass es sich lohnte, dort im East End eine eigene Teppichfabrik zu eröffnen.

Mit einer Mischung aus Staunen und Besorgnis registrierte Sarah, wie ihr Mann ihr neues Leben aufnahm. Sie wusste, dass die Nachbarn hinter seinem Rücken über ihn tuschelten, ihn einen «glühenden Assimilanten» nannten. Als hätte er irgendeinen heimlichen Betrug begangen.

Sie selbst hatte das Gefühl, an diesem neuen Ort ihr Gleichgewicht zu verlieren. Nur ungern verließ sie das vertraute East End und überschritt selten die Grenzen der Finchley Road. Jack erklärte ihr, dass es nicht üblich war, Fremden im Bus oder in der Straßenbahn die Hand zu geben (was sie dankbar aufgriff, denn die feindseligen Blicke, die sie geerntet hatte, als sie jeden Fahrgast auf die aus Deutschland gewohnte höfliche Weise gegrüßt hatte, hatten sie irritiert). Da sie nun sicher war, dass sie die Umgangsformen verstand, war sie auch bereit, mit ihm zusammen den Bus ins West End zu nehmen. Es gab unten im Bus nur einen freien Platz, neben einer massigen Frau, deren teigiges Gesicht von einem riesigen Hut gekrönt wurde, der mit Schmetterlingen an Drähten verziert war. Jack bestand darauf, dass Sarah sich hinsetzte, und kletterte die Treppe zum Oberdeck hoch, um sich einen anderen Platz zu suchen. Als sie den Schaffner geschäftig hin und her laufen und Fahrkarten ausgeben sah, erstarrte Sarah: Es war immer Jack, der die Fahrkarten kaufte, sein Englisch war ja viel besser als ihres, und, was noch wichtiger war, er hatte das ganze Geld!

«Wohin, meine Dame?», sagte der Schaffner, baute sich neben ihrem Platz auf und klimperte mit seinem Wechselgeld.

Sarah lächelte schüchtern und deutete auf die Decke. «Der Herr über uns» – sie sagte «The Lord above» –, «er wird bezahlen.»

Der Schaffner fing vor Wut an zu stottern und zu spucken, ihm fehlten die Worte, und Sarah spürte, wie sich die pummelige Frau neben ihr zu ihr drehte und sie anstarrte, wobei die Schmetterlinge auf ihrem Hut schwankten, als sie kicherte.

Als Jack ihr zu Hause das Missverständnis erklärte, dachte Sarah, dass die englische Sprache offenbar nur dazu geschaffen war, Ausländer zu verwirren. Den Rest des Nachmittags weigerte sie sich, noch ein einziges Wort in dieser verdammten Sprache mit ihm zu reden, und da er nicht auf Deutsch mit ihr plaudern wollte, schmollten sie schweigend vor sich hin, bis Jack die Wohnung verließ. Er bestand darauf, dass sie nur Englisch sprachen (mit Sicherheit hatte er das aus dieser verfluchten Broschüre), aber wenn sie mit ihrem Ehemann auf diese unbeholfene Weise redete, wie es ein Neuling in einer Fremdsprache nun mal eben tut, machte das ihn selbst für sie zu einem Fremden. Kein Zweifel, er sah immer noch genauso aus wie früher, aber die Leichtigkeit, mit der sie sonst miteinander umgegangen waren, war verschwunden. Als sie sich in ihn verliebt hatte, war er Jakob gewesen, und Jakob, als sie ihn heiratete; aber als ein Beamter «Jack» auf sein britisches Visum schrieb, betrachtete er das als ein Zeichen.

Sarah hockte auf dem unbequemen Sofa und trank eine Tasse schwarzen Kaffee. Ein Gemurmel ließ sie aus ihren Gedanken hochschrecken. Es war Elizabeth, die gerade aus ihrem Nickerchen erwachte und dann einen kleinen Ausruf von sich gab: «Mama. Mama!»

Sarah stellte ihre Tasse ab und vergoss ein paar Tropfen auf dem mauvefarbenen Teppich, als sie sich beeilte, ihre Tochter zu holen, und gab ihrer Unzufriedenheit darüber Ausdruck, dass Jack ihrem Kind beigebracht hatte, sie «Mummy» und nicht mehr Mutti zu rufen. Wenn er heute Abend aus der Fabrik zurückkehrte und auf Elizabeth aufpasste, würde sie zu Kaffee und Kuchen, Hausfrauenklatsch und verbotenem Geplauder auf Deutsch zu Frieda Herzfeld gehen. Danach ging sie vielleicht noch in die Synagoge – den einzigen Ort in dieser Stadt, an dem sie sich zu Hause fühlte, denn das Hebräisch in der großen Schul in der Oranienburger Straße und dasjenige in dem hübschen Backsteingebäude hinter Stepney Green war haargenau das gleiche. Als sie die Augen schloss und dem dunklen Gesang des Kantors lauschte, sah sie sich wieder in Berlin in der Synagoge sitzen und ihre Mutter neben sich auf der Frauengalerie, die sich darüber erging, ob sich Emil unten wohl anständig benahm. Beinahe konnte Sarah hören, wie Papa, der sich durch den Gottesdienst nuschelte, bei den Gebeten und Gesängen immer leicht danebenlag.

Rosenblums Teppichfabrik musste bald raus aus der beengten Werkstatt und Räumlichkeiten am Hessel Street Market beziehen, schließlich war es die größte Teppichfabrik im Londoner East End und stattete einige der besten mittleren Hotels der Stadt aus. Die Hälfte der Männer in der Straße der Rosenblums waren mittlerweile fort, und wo, das wusste der Himmel: Kanada? Auf der Isle of Man? Vielleicht sogar in Australien, wenn die Gerüchte stimmten.

Die Polizei kam immer im Morgengrauen. Sie gingen völlig willkürlich vor, und manchmal kamen sie nie wieder, wenn man gerade nicht da war. Sarah machte sich Sorgen, dass Jack abgeholt werden könnte, daher gewöhnte er sich an, sich in aller Herrgottsfrühe auf den Weg in die Fabrik zu machen. Er glaubte zu keinem Zeitpunkt, dass ihm wirklich etwas passieren könnte – schließlich war er ja schon ein Beinahe-Engländer und versuchte auf den passenden Kanälen dafür zu sorgen, dass er endlich eingebürgert wurde (und für das Kreuzworträtsel der Times brauchte er keine zwei Stunden, was er für rekordverdächtig hielt). An jenem Septembermorgen jedoch kam er in der Fabrik an und musste feststellen, dass er sein Frühstück vergessen hatte. Sarah packte ihm immer Matzen und eine Scheibe gummiartigen Käse in eine Papiertüte sowie eine Thermoskanne mit faulig riechendem Kaffee. Sein Magen knurrte. Mist, fluchte er in seiner Verzweiflung auf Deutsch. Er sah die braune Tüte auf dem Küchentisch stehen und beschloss, schnell die achthundert Meter nach Hause zurückzutraben.

Die Polizei wartete schon auf der Schwelle auf ihn. Jack versuchte gar nicht erst, wieder umzukehren. Sie hatten ihn gefunden, und es wäre nicht britisch, wie ein Feigling einfach wegzulaufen.

Der Gestank von Pissoirs rief es ihm immer wieder ins Gedächtnis zurück – ein Hauch von Ammoniak und Mottenkugeln, und er war wieder im Jahr 1940, in einer behelfsmäßigen Zelle auf einer Londoner Polizeiwache mit fünf anderen Flüchtlingen, denen allen die Internierung bevorstand und die laut über kalte Bänke und Hämorrhoiden klagten. Jack hatte sich nicht am Gespräch beteiligt, er hatte dagesessen, den Kopf zwischen den Händen, und sich gefragt, wie es sein konnte, dass er, der vielversprechendste Engländer unter all seinen Bekannten, immer noch als «feindlicher Ausländer, Kategorie B». (mögliches Sicherheitsrisiko) eingestuft und festgenommen worden war. Bei all seinen Kenntnissen über Marmelade und die Geschichte der königlichen Familie, bis zurück zu den Tagen von Ethelred dem Unvorbereiteten, konnte es doch kaum möglich sein, ihn anders als in Kategorie C einzustufen (absolute Loyalität der britischen Sache gegenüber).

Wie hatte so etwas geschehen können? Er hatte sich strikt an die Regeln gehalten, und doch hatten sie ihn eingesackt – das hieß doch, dass die Punkte in Nützliche Informationen nicht ausreichten, um sicherzustellen, dass man einer der ihrigen wurde. Er fischte die Broschüre heraus und begann, seine allererste Ergänzung zu machen:

Betrachten Sie das Folgende als Pflichten, die Sie bei Ihrer Ehre einhalten müssen:

1.Beginnen Sie auf der Stelle damit, die englische Sprache und ihre korrekte Aussprache zu erlernen. Habe ich gemacht, ist aber nicht so leicht. Selbst Englischstunden reichen nicht aus. Verfluchten deutschen Akzent wird man einfach nicht los.

2.Vermeiden Sie es, auf der Straße, in öffentlichen Verkehrsmitteln und öffentlichen Orten wie Restaurants Deutsch zu sprechen. Sprechen Sie lieber holpriges Englisch als fließend Deutsch – und sprechen Sie nicht laut (außer Sie reden mit anderen Ausländern, die es gewohnt sind zu brüllen). Lesen Sie keine deutschen Zeitungen in der Öffentlichkeit. Lesen Sie sie ÜBERHAUPT nicht, oder Sie werden als Kategorie-A-Bedrohung und als Spion verdächtigt.

3.Kritisieren Sie keine Regierungsmaßnahmen und auch nicht die Art, wie Dinge in diesem Land geregelt werden. Sehr schwierig, sich in diesen Zeiten daran zu halten. Sie genießen jetzt die Freiheiten und die Liberalität Englands. Vergessen Sie das nie.

Jack schnaubte. Auch wenn er absolut loyal war, konnte er doch nicht umhin festzustellen, dass das eine recht merkwürdige Art von Freiheit war. Seufzend sah er ein, dass genau dieser Gedanke einer Kritik schon gefährlich nahekam, und wandte sich dem nächsten Punkt zu.

4.Beteiligen Sie sich an keinen politischen Organisationen.

Es waren die Punkte fünf und sechs, die Jack am meisten ins Grübeln brachten. Denn auch wenn sie für den gerade eingetroffenen Flüchtling nützlich sein mochten, so war klar, dass sie dringend ergänzt werden mussten.

5.Machen Sie sich nicht dadurch verdächtig, dass Sie laut sprechen, und auch nicht durch Ihr Benehmen oder Ihre Kleidung. Beim Reden sollten Sie nicht gestikulieren. Lassen Sie die Hände locker runterhängen, sonst denken die Engländer, Sie sind ein Ausländer und übertrieben gefühlsbetont. Dem Engländer missfällt jegliche übertriebene oder unkonventionelle Kleidung. Denken Sie daran: «Fad ist fein.» Der Engländer schätzt Zurückhaltung und Bescheidenheit im Gespräch weit mehr als Übertreibung. Er legt großen Wert auf gute Manieren. (Sie werden feststellen, dass er sich schon beim kleinsten Gefallen bedankt – sogar für eine günstige Busfahrkarte, die er selbst bezahlt hat.) Entschuldigen Sie sich immer, selbst wenn etwas gar nicht Ihre Schuld war. Rempelt Sie jemand auf der Straße an, entschuldigen Sie sich wieder und wieder.

6.Versuchen Sie, die Sitten, Gebräuche und Umgangsformen dieses Landes zu erkennen und zu befolgen, sowohl im privaten als auch im geschäftlichen Umgang. Ja – aber was SIND denn nun die Sitten und Gebräuche? Hier müsste man doch wohl etwas ausführlicher werden.

7.Erwarten Sie nicht, dass man Sie sogleich zu sich nach Hause einlädt, denn der Engländer braucht eine Weile, bevor er sein Haus auch Fremden öffnet.

8.Vermeiden Sie Formulierungen wie: «Das wird sich auch in Ihrem Land noch so entwickeln.» Dem Briten widerstrebt die Verbreitung solch feigen Gedankenguts zutiefst.

Ein Polizist, der an die Gitterstäbe der Zelle hämmerte, unterbrach Jack in seinem Gekritzel. Erschrocken sah Jack auf und erblickte draußen seine Frau und seine kleine Tochter, was ihn vor Demütigung erröten ließ. Er wollte nicht, dass sie ihn eingesperrt in einer stinkenden Zelle sahen. In der ersten Woche, als er hierhergekommen war, hatten sie sich im Besuchszimmer treffen können, aber dank Mr.Churchills Appell «Schnappt den ganzen Haufen» waren alle Räume auf der Polizeiwache mit Flüchtlingen überfüllt, die auf den Abtransport in die Internierungslager warteten.

Sarah streckte die Hand zwischen den Gitterstäben hindurch und streichelte ihm die unrasierte Wange.

«Mein Liebling…»

«Auf Englisch, Schatz», murmelte Jack und blickte ängstlich zum Wärter.

«Die Kleine vermisst ihren Papa.»

Elizabeth spähte hinter ihrer Mutter hervor und machte Grimassen in Richtung eines der alten Männer im hinteren Teil der Zelle, der seinen langen Bart zu lauter Spitzen zwirbelte, um sie zum Lachen zu bringen. Jack drückte Sarah einen Kuss auf die Hand und gab sich alle Mühe, fröhlich zu erscheinen.

«So schlimm ist es gar nicht. Ich wurstele mich da schon durch. Moische hat mir Backgammon beigebracht. Hast du mit Edgar gesprochen?»

«Ja. Ich gehe in sein Büro, wie du gesagt hast. Lottie sagt, er geht jeden Tag zur Polizei, und er geht zum Richter und brüllt herum. Dann trinkt er Whisky.»

Jack versuchte zu lächeln, denn er wusste, dass sein Freund alles tat, was in seiner Macht stand. Wenn irgendjemand ihm helfen konnte, dann war es Edgar Herzfeld. Er war ein sanfter Mensch, und es musste viel geschehen, bis doch einmal etwas seinen Zorn erregte.

«Und Frieda, sie sagt mir, ich soll dir das geben.» Sarah beugte sich vor und küsste ihn zärtlich auf den Mund. «Siehst du? Es ist noch aufregender, wenn die Küsse nicht von deiner eigenen Frau stammen», sagte sie und tat ihr Bestes, um unbeschwert zu wirken.

Als sie ging, schob Sarah ein kleines Päckchen, das in ein Taschentuch gewickelt war, zwischen den Gitterstäben hindurch. Jack roch daran. Apfelstrudel. Sarah und Mutti, ihre Mutter, hatten in Berlin freitags immer Apfelstrudel gebacken. Also musste heute Freitag sein. Er nahm einen Bissen, und seine Zähne kribbelten angenehm von den Rosinen. Sarahs jüngerer Bruder Emil hingegen hasste Rosinen. Er pickte sie immer heraus und reihte sie hübsch auf seinem Teller auf, was Sarah wahnsinnig machte. «Denk an all die Rosinen, die du schon verschwendet hast!», sagte sie immer, «wenn du alle jene aneinanderreihst, die du nicht gegessen hast, dann reicht die Strecke bis zum Tiergarten.» Jack schloss die Augen und sah eine lange Reihe von Rosinen vor sich – jede einzelne, die Emil sich geweigert hatte zu essen – und fragte sich, wie lang diese Reihe wohl am Lebensende des Jungen sein würde. In diesem Augenblick merkte Jack, wie ihn eine tiefe Traurigkeit überkam. Er schluckte und versuchte, nicht zu weinen, aber eine Träne rollte doch hinab, tropfte auf seinen Strudel und verlieh ihm einen ungewohnt salzigen Geschmack. Er sorgte sich um Emil und Mutti und die anderen, die zurückgeblieben waren, aber dann hatte er doch nur Raum für sein eigenes Unglück. Er fror, die Zelle stank nach Urin, und er hatte Heimweh.

Eines Tages wurde das Gefängnis im Morgengrauen geräumt, und er wurde in der Waterloo-Station in das Zweite-Klasse-Abteil eines extralangen Personenzuges verfrachtet. Als er eingequetscht zwischen zwei ältlichen Herren aus Wien saß, wusste Jack, dass er sich Gedanken darüber machen sollte, wohin man ihn brachte. Stattdessen verspürte er das erste aufgeregte Kribbeln im Bauch, nachdem er drei Wochen lang in eine feuchte Zelle mit einem hohen Fenster eingesperrt gewesen war.

Der Zug ratterte durch die Stadt, ein endloses Labyrinth aus Straßen mit Backsteinhäusern und grauem Himmel. Vom nächtlichen Messerschmidt-Angriffschwelten überall noch Rauchwolken. Er sah, wie Menschen über die Trümmer eingestürzter Häuser krochen, und schloss vor Abscheu die Augen. Das rhythmische Ruckeln des Zuges schläferte ihn ein. Sein Kopf schlug ans Fenster, und er träumte von seltsamen Sachen, einem Himmel voller Lerchen, smaragdgrünen Glühwürmchen in der Nacht und schwarz-weiß karierten Flaggen an einem Abhang.

Dann rüttelte ihn einer der Wiener Herren wach und bot ihm ein Stück altes Brot an, das er dankend ablehnte. Er wandte sich wieder zum Fenster und begriff, dass er in einem anderen England aufgewacht war. Genau so hatte er sich das Land immer vorgestellt, als sie noch in Berlin waren. Alles hier war grün. Jack lächelte – dann war England also doch Weiden und Schafe, reetgedeckte Dächer und silbern schimmernde Flüsse!

Der Zug fuhr in einen Bahnhof ein, und Jack wurde von der Menge auf den Bahnsteig geschoben. Die Luft roch salzig, er konnte das Meer hören. Die Nachmittagssonne schien so grell für seine ans Gefängnis gewöhnten Augen, dass er blinzeln musste, und er brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass jemand seinen Namen rief.

«Jack! Jack Rosenblum!»

Jack spähte in die Menge und entdeckte eine Gestalt, die wie wild mit einem Bündel von Papieren wedelte.

«Edgar?»

Ein schmaler Mann mit zerzaustem grauem Haar eilte auf ihn zu, schob die widerstrebenden Körper der anderen zur Seite und schloss Jack so fest in die Arme, dass er ihn fast erdrückte.

«Ich hab’s geschafft! Du bist in Sicherheit, Jack. Ich kann dich nach Hause zu Sarah bringen.»

Jack schluckte und starrte Edgar an, während seine Knie anfingen zu zittern, wie bei einer Säuferin vor ihrem ersten morgendlichen Gin.

«Ich bin zu einem Richter und sage zu ihm: ‹Dieser Mann, dieser Rosenblum von Rosenblums Teppichfabrik, ist ein wahrer Verbündeter im Kampf gegen die Nazis.›»

Edgar breitete die Arme aus, um der Sache Nachdruck zu verleihen, und stieß dabei gegen die Männer, die an beiden Seiten an ihnen vorbeiströmten. Doch er weigerte sich, sich bei seinem Bericht unterbrechen zu lassen, und fuhr fort.

«Ich sage zu dem Richter in seiner komischen, langhaarigen Perücke: ‹An dem Tage, an dem der Krieg erklärt wird, wird dieser Mann seine profitable Fabrik für die Kriegsproduktion zur Verfügung stellen. Jack Rosenblums Loyalität sollten Sie nicht in Frage stellen!›»

Jack nickte stumm, unfähig, ein Wort zu sagen.

«Der Richter hat zugestimmt. Du bist jetzt als Ausländer der Kategorie C eingestuft und kannst wieder nach Hause.»

Jacks Zunge klebte an seinem Gaumen fest. «Dieser Ort hier? Wo bin ich?»

Edgar zuckte mit den Schultern. «Dorsetshire.»

«Hübsch», sagte Jack, als ein winziger Vogel mit gesprenkeltem Gefieder auf dem Griff seiner ledernen Aktentasche landete und ihn mit runden schwarzen Augen anstarrte. Er schlug mit den Flügeln und flog, in Gesang ausbrechend, davon.

Zweites Kapitel

Sobald Jack nach Hause kam, verbrachte er jede freie Minute damit, die Broschüre Nützliche Informationen akribisch um weitere wichtige Punkte zu ergänzen, bis er gar nicht mehr genug Platz hatte und am Schluss zusätzliche Seiten anfügen musste. Nichts machte ihn glücklicher, als einen neuen kurzen Eintrag über die Sitten und Gebräuche der Engländer zu machen, wie etwa, dass «die britische Hausfrau freitagmorgens gern Schellfisch kauft». Voller Stolz dachte Jack, dass das Deutsch-Jüdische Hilfskomitee, sollte es jemals vorhaben, die Broschüre neu aufzulegen, keinen gewiefteren Experten dafür finden könnte als ihn selbst.

Die Fabrik expandierte kontinuierlich, und die riesigen Webstühle produzierten massenhaft Fallschirme, Seesäcke und Zelte aus grobem Segeltuch, sodass die Rosenblums schließlich in ein kleines Reihenhaus in Hampstead mit einem Türklopfer aus Messing und einer gepflasterten Terrasse, die an die Heide grenzte, ziehen konnten. Mit der Zeit ging Sarah die Liste ihres Ehemannes jedoch immer mehr auf die Nerven. Jeden Abend saß er zusammengekauert in seinem Sessel vorm Gasofen, während das Radio plärrte, und kritzelte und kritzelte in sein kleines Buch. Nur wenn sich Mr.Winston Churchill oder Mr.John Betjeman über den Äther zu Wort meldeten, stockte er und ließ den Bleistift sinken. Seine Obsession, unbedingt Engländer werden zu wollen, konnte sie nicht verstehen, und gleichzeitig spürte sie, wie sich ihr früheres Leben immer weiter von ihnen entfernte wie Dampf aus einem Kessel, der durchs offene Fenster zieht. Seit Monaten hatten sie keine Nachricht mehr von Mutti, Emil oder Papa. Jeden Freitag besorgte Jack eine neue Ausgabe des Jewish Chronicle, und gemeinsam studierten sie die Zeitungsmeldungen, die voller dunkler Andeutungen waren. Während Elizabeth ein Nickerchen machte, machte es sich Sarah auf einem der Vorkriegsteppiche der Rosenblums gemütlich, las in Muttis Kochbüchern und versuchte, ihren Appetit mit Visionen von Sachertorte und Windbeuteln zu stillen.

Dann begann es eines Sonntagmorgens im März 1943 zu regnen. Sarah wusste, dass Jack irgendwo oben im Haus mit seiner verdammten Liste beschäftigt war. Der Himmel nahm einen tiefen Grauton an, und die Stadt lag in künstlichem Zwielicht. Aus der Regenrinne strömte das Wasser, und die Tropfen prasselten auf die schimmernde Oberfläche des Teiches hinterm Grundstück. Nach einer Stunde leckte das Wasser schon an die Zaunpfähle am Fuß des Gartens, wo es zur Heide überging. Als sie aus dem Fenster starrte, stellte sich Sarah vor, sie sei Mrs.Noah, die in ihrer hausartigen Arche auf den Wellen tanzte. Sie lief zur Spüle und blickte träumerisch auf den Teich. Von oben kam ein kehliges Quaken, und dann ging eine Schar Enten nieder und landete auf dem Wasser. Sie lächelte, als sie sie erblickte, sie mochte den aufgeregten Lärm, den sie veranstalteten – wie Hausfrauen, die sich um Brot zankten. Dann bemerkte sie etwas Seltsames: Im Regen fütterte eine grauhaarige Frau die Enten.

Die Küche füllte sich mit einem besonderen Duft, süß und verbrannt: Mohnkuchen, der schon ein bisschen zu lange im Ofen gestanden hatte, sodass die oberste Schicht etwas angebrannt war. Sarah backte nie Mohnkuchen und hatte auch nie mehr welchen gegessen, seit sie in England waren. Sie konnte sich auch nicht daran erinnern, irgendwo Mohn zum Kauf gesehen zu haben. Es war Muttis Lieblingskuchen, sie mochte ihn sogar noch lieber als Baumkuchen, Vanillekipferl oder gar Marzipantörtchen. Sie aß ein Stück nach dem anderen, und die winzigen Mohnsamen blieben zwischen ihren Zähnen stecken, bis sie aussah wie eine Hexe mit schaurigen Zahnlücken aus den Märchen der Gebrüder Grimm.

Sarah öffnete die Terrassentür und ging in den Regen hinaus. In ihren dünnen Hausschuhen lief sie über die nasse Erde. Die Luft war ganz aromatisch, als trüge der Regen den Duft von geröstetem Samen und süßem Teig weiter. Auch die Pfützen, die sich auf der Erde sammelten, verströmten zwischen den Terrakotta-Blumentöpfen den Geruch nach einer Bäckerei. Sarah lief zum Zaun und drückte zwei zerbrochene Latten zur Seite. Sie zog den Bauch ein, schlüpfte durch das Loch und erreichte den Teich. Dort, auf der anderen Seite, stand ihre Mutter. Sie trug ihren langen, schwarzen Rock, eine weiße Schürze und ein hübsches blaues Kopftuch, während sie die quakenden Enten mit Krümeln des verbrannten Kuchens fütterte. Sarah trat, ohne zu zögern, in das stehende Wasser. Der Teich war niedrig, und das Wasser leckte am Saum ihres Morgenmantels, wobei sich das leuchtende Fuchsien-Rot in ein schmutziges Braun verwandelte. Hinter ihr fächerte sich der Morgenmantel wie eine Schleppe auf, während die Lockenwickler auf ihrem Kopf eine Krone bildeten.

Sarah schloss ihre Augen, holte tief Luft und sog den süßen Duft ein. Sie durfte die Augen nicht wieder öffnen. Sie durfte es nicht. Durfte nicht. Denn wenn sie es tat, war Mutti fort, und es würde nie wieder Mohnkuchen geben.

Außen herum ging Sarah wieder zurück, wobei sie die neugierigen Blicke der Passanten nicht wahrnahm. Sie wusste, dass aus Berlin keine Briefe mehr kommen würden. Dennoch fühlte sie nichts, nur Schweigen.

«Was ist los mit dir? Bist du verrückt?»

Jack stand mit zusammengekniffenen Lippen auf dem Bürgersteig. Er starrte sie einen Moment lang an, dann warf er ihr eine Rosshaar-Decke über die Schultern und schob sie, bebend vor Missbilligung, eilig ins Haus.

«Ich habe dich gesehen. Du warst im Teich.»

Sarah sagte nichts.

«Und wenn dich jemand gesehen hat?»

Noch immer beachtete sie ihn nicht und marschierte in die Küche, wobei der Saum ihres Morgenmantels, den sie hinter sich herzog, die gebohnerten Fliesen in der Diele mit Schlamm bespritzte. Sie spürte, wie Jack hinter ihr hertrottete, und hörte ihn verwirrt herumstottern. Es war ihr egal. Sie packte sich Muttis Kochbuch, schlug es mit einem Ruck auf und riss daran herum. Mit einem Aufheulen rupfte sie eine Seite heraus und zerknüllte sie, quetschte sie so zusammen, dass die Druckerschwärze vom Schweiß an ihren Händen zu zerlaufen begann.

«Verflucht! Es ist alles umsonst! Ich kann nicht mehr.»

Sie schleuderte das Buch Richtung Ofen, wo es gegen die Herdhaube knallte und auf den Boden fiel. Jack nahm seine Frau in den Arm, drückte sie an seine Brust und strich ihr die Haare aus dem Gesicht.

«Ganz ruhig, ganz ruhig. Was ist denn passiert, meine Kleine?»

Sarah konnte nicht sprechen, und Elizabeth, die hinten im Schlafzimmer von dem Lärm aufgewacht war, begann zu weinen.

«Mohnsamen», brachte sie keuchend heraus, «da waren Mohnsamen. Und es werden keine Briefe mehr kommen.»

Jack starrte sie an, und zum ersten Mal seit seiner kurzen Internierungsphase begann er sich wieder zu fürchten. Er streckte die Hand aus und streichelte ihre.

«So geht es nicht, mein Spatz. Die Leute werden dich für exzentrisch halten. Du kannst doch nicht am Sonntagmorgen mit deinen Puschen in den Teich gehen. Das ist gefährlich.»

Sarah hatte das Gefühl, sich vor Wut übergeben zu müssen. «Das also. Das also ist es, was dich umtreibt? Du Arschkriecher.»

Jack holte Luft und leckte sich die trockenen Lippen. «Die Engländer können sich seltsame Angewohnheiten leisten, aber wir müssen unsichtbar sein.»

Sarah schob sich eine Strähne ihres dunklen Haares hinter das Ohr und sah ihren Mann an, ohne mit der Wimper zu zucken.

«Von mir aus. Dann werde ich eben unsichtbar.»

Als sie sich umdrehte und fortging, spürte Jack in seinem Inneren, dass etwas zerbrochen war. Er hörte beinahe, wie es zerbrach, aber er konnte ihr nur hinterhersehen, wie sie wegging, wobei der feuchte Stoff ihres Morgenmantels an ihren nackten Beinen klebte.

Das Ende des Krieges stellte sie vor neue Aufgaben und bot gleichzeitig neue Chancen. Es bedeutete, dass Jack, der nun nicht länger bloß in schäbiger Arbeitskleidung herumlaufen musste, sich wie ein echter englischer Gentleman kleiden konnte, und nach sorgfältiger Erwägung beschloss er, dass das nichts anderes hieß als den Erwerb eines maßgeschneiderten Anzugs aus der Savile Row. In seiner sauberen Handschrift notierte er dies als Punkt Nummer einhundertsechs auf seiner Liste. Zum ersten Mal suchte er Jack Henry Poole im Oktober 1946 auf. Schon die erforderliche Anzahl von Kleidercoupons zu erwerben, kostete ihn ein kleines Vermögen, ganz zu schweigen von der Kleidung selbst, aber sie war jeden Halfpenny wert: Der Anzug war geradezu die Uniform des englischen Gentlemans. Das Geschäft roch köstlich nach Zedernholz, und der Schneider redete ihn mit «Sir» an, nahm seine kleinen Körpermaße, ohne dabei spöttisch zu lächeln, und zwölf Wochen später wurde ihm der Anzug, in Krepppapier eingewickelt und in einer Perlmuttschachtel, auf der das Henry-Poole-Wappen in Gold prangte, zugestellt. Sein Emblem sollte neben denen von Churchill, Gladstone und Prince Albert in den Gewölben der Teppichfirma bewahrt werden. Wenn Jack den Anzug anlegte, fühlte er sich größer als seine tatsächlichen 1,60Meter, seine Glatze schien weniger zu glänzen und seine Nase nicht ganz so, nun ja, hervorzustechen. So hätte sich auch der König selbst seinen neuen Anzug gewünscht.

Als nun auch die Produktion von Automobilen wieder angekurbelt wurde, konnte Jack zudem die Nummer einhundertsieben erledigen: «Der Engländer fährt einen Jaguar.» Im Sommer 1951 nahm Jack, nachdem seine Fabrik eine besonders große Bestellung von samtgrauen Plüschteppichen nach New York verschifft hatte, die Lieferung des Jaguar XK 120, eines zweisitzigen Roadsters, entgegen. Er hatte seit zwei Jahren auf der Warteliste gestanden, und als der Augenblick nun kam, war Jack überwältigt. Er war die Nacht zuvor aufgeblieben und hatte sich vorgestellt, wie er in seinem Henry-Poole-Anzug die Piccadilly Road am Steuer seines neuen Wagens in Racing Green entlangfuhr, neben ihm seine Frau mit lila Haartönung und perfekten Fingernägeln.

Punkt einhundertacht auf der Liste («Die englische Ehefrau hat eine lila Haartönung, hübsch lackierte Fingernägel und spielt Tennis und Bridge») stellte allerdings ein Problem dar. Sarah war eine teuflische Bridgespielerin, lehnte aber Tennis ab und weigerte sich, auch nur einen Gedanken an eine lila Haartönung zu verschwenden, weil sie fand, dass das eine ganz unnatürliche Farbe für den Kopf war. Da sie hingegen völlig damit einverstanden war, leuchtend violette Teppiche auf ihrem Fußboden auszulegen, fand er ihren Widerstand ganz unlogisch, beschloss aber, hier keinen Druck auszuüben, denn er kannte das Temperament seiner Frau. Er musste eben so englisch sein, dass es für sie beide ausreichte.

Abgesehen von Sarahs Mängeln hatte Jack beinahe alle Punkte auf seiner Liste abgehakt. Er hatte den Anzug, das Auto und das Haus in einem belaubten Teil der Stadt. Er besorgte sich einen Hut bei Lock of St.James und versuchte sein Bestes, damit der Rand exakt im korrekten Grad gebogen war. Dreimal in der Woche aß er im besten der schmutzigen Restaurants in der Stadt, wo man ihn mit unterwürfigem Respekt bediente. (Er schob dies fälschlicherweise auf die Aura seines Anzugs, während es in Wirklichkeit die Folge seiner üppigen Trinkgelder war. Die Kellner akzeptierten seine sonderbare, fremdartige Großzügigkeit und verachteten ihn zugleich insgeheim dafür.)

Er ging mit seiner Frau nach Covent Garden und Wigmore Hall, spendete an die richtigen Wohltätigkeitsorganisationen wie auch an die falschen, gab im gleichen Maße der Stiftung Geld, die sich um die Restaurierung des Dachs von St.Paul kümmerte, wie auch dem frischgegründeten Staat Israel.

Es fehlte allerdings noch ein entscheidender Punkt auf Jacks Liste. Er wusste, dass es sich gewissermaßen um die Quintessenz der Eigenschaften des wahren englischen Gentlemans handelte, und ohne sie war er ein Nichts. Punkt einhundertfünfzig: «Der Engländer muss Mitglied in einem Golfclub sein.»

Die Mitgliedschaft in einem Golfclub hatte für Jack eine ähnlich hohe Bedeutung wie der Wiederaufbau Jerusalems, Atlantis und das perfekte Salt-Beef-Sandwich gleichzeitig – aber sie stellte sich als schwierig heraus. Er betätigte eine kleine Arretierung, die in dem geschnitzten Greif seines viktorianischen Schreibtischs verborgen war, und eine Schublade sprang ein paar Zentimeter vor. Er zog sie ganz auf, bis sich mehrere kleine Fächer zeigten, die mit Visitenkarten und sorgfältig abgelegten Rechnungen gefüllt waren. Ein Fach quoll von Papier über. Hier bewahrte er seine Korrespondenz mit den Golfclubs Englands auf. Die Unterlagen bestanden aus einer Kopie jeder Bewerbung und einer höflichen, aber bestimmten Antwort des Geschäftsführers, mit der er seine Aufnahme in den Club ablehnte.

Jack jedoch war bis zur Starrsinnigkeit hartnäckig: Er war in London mit nichts als seinen Koffern und zwanzig Pfund Sterling in der Tasche angekommen, nach zehn Jahren besaß er eine der größten Teppichfabriken in London, und so konnte die Ablehnung eines einzelnen abfälligen Golfclubinhabers einen Mann wie ihn, Jack Maurice Rosenblum, sicher nicht von seinem Ziel abbringen. Aus dieser ersten Ablehnung wurden aber zu seiner Bestürzung in kürzester Zeit fünf, dann zehn Absagen, bis jeder Golfclub in einem Umkreis von dreißig Kilometern ihm die Mitgliedschaft verweigert hatte. Das Geheimfach füllte sich, und die Papiere begannen, seinen Schreibtisch zu blockieren. Es war Zeit, dass er sich Rat suchte. Er beschloss, mit Saul Tankel, dem Juwelier, zu sprechen, der nicht nur als Quelle von Diamanten, sondern auch von Informationen galt.

«Das ist nicht gut, überhaupt nicht gut. Sie werden dich nie aufnehmen. Nicht mit dieser Schnoz.»

Saul lachte, schob seine dicke Juweliersbrille auf die Stirn, sodass sie aussah wie ein paar Fühler, und wedelte in prononcierter Bestürztheit mit der Hand. Er sah aus wie ein aufgeregter Grashüpfer.

«Es gibt uns, und es gibt sie. Und sie werden dich nie und nimmer aufnehmen. Und im Übrigen, was hättest du denn davon? Sie spielen doch ohnehin am Samstag.»

Über das Problem, dass am Sabbat gespielt wurde, hatte sich Jack auch schon Gedanken gemacht, und es bereitete ihm keine geringen Sorgen. Er hatte immer noch nicht den Mut aufgebracht, mit seiner Frau darüber zu sprechen, aber er hielt Golf durchaus für eine ausgezeichnete Alternative zu einem langweiligen Morgen in der Synagoge. Saul schien seine Gedanken erraten zu haben.

«Und weißt du, was passiert, wenn du doch aufgenommen wirst?», fragte er ihn und wackelte mit seinem überraschend langen Finger nur ein paar Zentimeter vor Jacks umstrittener Nase herum. «Du wirst samstags spielen, wenn alle anderen in der Schul sind und zu Ihm beten», Saul zeigte auf den Himmel oder, besser gesagt, eine Glühbirne, die nur einige Zentimeter über ihren Köpfen baumelte, aber Jack verstand die Geste. «Und dann wirst du das Spiel deines Lebens spielen. Und schließlich schaffst du einen Hoop-in-One.»

«Einen Hole», korrigierte Jack.

«Was?»

«Einen Hole-in-One. Bei Golf spricht man von Löchern, nicht von Reifen.»

«Aha. Also gut, dann schaffst du also einen Hole-in-One. Und dann wirst du niemandem davon erzählen können, weil du am Samstag gespielt hast, entgegen Seinen Wünschen an dem Tag, an dem man ruhen soll!»

Saul stieß mit dem Finger so heftig an die Glühbirne, dass sie hin- und herschwang und ihm an den Kopf schlug.

«Siehst du? Siehst du?», rief Saul aufgeregt, der das als Zeichen für Gottes Zorn verstand.

Jack war nicht überzeugt, aber er konnte sich einen Reim drauf machen. Den nächsten Brief beschloss er, mit dem Pseudonym Professor Percy Jones zu unterzeichnen. Der erhielt eine wesentlich zuvorkommendere Antwort des vormals frostigen Club-Geschäftsführers.

1.Februar 1952

Lieber Professor Jones,

vielen Dank für Ihre freundliche Anfrage, was die Mitgliedschaft im Lawns Golf Club anbelangt. Wir sind grundsätzlich offen für neue Mitglieder. Ich freue mich sehr darauf, Ihre persönliche Bekanntschaft zu machen.

Mit freundlichen Grüßen

Edward Fitz-Elkington, Esq.

Jack drehte und wendete den Brief zwischen den Fingern, bis er an den Faltstellen zu reißen drohte. Er beschloss, dem Geschäftsführer nun unter seinem richtigen Namen zu antworten und zu erwähnen, dass man seinem guten Freund Professor Percy Jones mitgeteilt habe, der Club sei noch aufnahmebereit. Aber die Reaktion war unvermeidlich.

Lieber Mr.Rosenblum,

ich bedaure, Ihnen mitteilen zu müssen, dass es offenbar ein Missverständnis gab. Inzwischen kann der Club keine weiteren Mitglieder mehr aufnehmen. Ich biete Ihnen gern an, Sie auf die Warteliste zu setzen, muss Sie aber darauf hinweisen, dass die derzeitige Wartezeit circa siebenundzwanzig Jahre beträgt.

Hochachtungsvoll

Edward Fitz-Elkington, Esq.

Die Sache war hoffnungslos. Er konnte den Gegenbeweis des vorherigen Schreibens an den Professor nicht anbringen, ohne zuzugeben, dass er sich als diesen ausgegeben hatte, was den Geschäftsführer sicher nicht besonders erfreuen würde. Es war zum Verrücktwerden: Er machte Geschäfte mit allen, mit Anglikanern, Katholiken, Sozialisten und selbst mit dem einen oder anderen Agnostiker, aber nie war einer von ihnen zu einem echten Freund geworden. Manche kannte er seit fünfzehn Jahren, und seit fünfzehn Jahren erkundigten sie sich nach der Gesundheit und dem Wohlbefinden seiner Ehefrau, aber nicht ein einziges Mal hatten sie den Wunsch geäußert, sie kennenzulernen. Er war nie zu einem Abendessen bei einem seiner Kollegen eingeladen worden. Dafür gab es ja Restaurants, dachte er grimmig. Es gab sie, um Leute treffen zu können, die man zu sich nach Hause nicht einlud: Schauspielerinnen, Amerikaner und eben seinesgleichen.

Jack schrieb einen letzten Brief an den Sanderson Cliffs Club, in dem er Gratis-Teppiche für alle Gebäude anbot und eine Farbtabelle mit der allerneuesten Palette beilegte. Wenn man bedachte, wie rar gute Teppiche waren, ja, wie rar praktisch alles war, dann war das, wie Jack wusste, ein sehr großzügiges Angebot – und er konnte sogar noch ein kostbares Empfehlungsschreiben vorweisen: Zum ersten Mal seit Monaten empfand er wieder Hoffnung, weil Mr.Austen, ein Wollhändler aus Yorkshire, tatsächlich angeboten hatte, ihn als Mitglied vorzuschlagen. Jack war hocherfreut, dies war ein Wink des Schicksals. Der Sanderson Cliffs war der perfekte Club, der Golfplatz legendär, der beste in Nord-London. Selbst während des Krieges hatten sie zwanzig Platzwarte beschäftigt, um den perfekten Rasen zu pflegen, und man munkelte, dass sie Pinzetten, Nagelscheren und aus dem Nil importiertes Wasser benutzten, weil die Greens derart gleichmäßig waren. Wenn er die Augen schloss und in die Zukunft sah, dann konnte er seinen Namen in Goldlettern auf den polierten Tafeln sehen: Mr.J.M.Rosenblum, Captain.

Jack war so optimistisch, dass er sich schließlich sogar einen Satz Golfschläger kaufte. Er hatte noch kein einziges Mal gespielt, war bislang nicht einmal auf einem Golfplatz gewesen und hatte auch noch nie einen Golfschläger in der Hand gehabt, geschweige denn einen geschwungen. Aber jetzt zog er entschlossen seinen Henry-Poole-Anzug an und ging zu Harrods. In einem Zustand stiller Ehrfurcht nahm er den Fahrstuhl hoch bis zur Sportabteilung, wo der Verkäufer ihn zu ihrer Auswahl von Golfschlägern führte. Der Raum war eichenfurniert und hatte gedämpfte Beleuchtung, und im trüben Licht schien der Stahl der Schläger zu leuchten. Jack spürte, wie ihm der Schweiß auf der Stirn ausbrach, als der Verkäufer ihm einen Schläger reichte.

«Probieren Sie mal dieses Sechser-Eisen aus. Wunderschön ausgewogen, Sir. Die besondere Form macht es noch leichter, den Ball richtig zu treffen.»

Jack nahm ihn in die Hand und merkte, wie sich ihm die Kehle zuschnürte. Er hatte sich, seit er ein kleiner Junge war und für eine leuchtend rote Dampfmaschine, die tatsächlich funktionierte, gespart hatte, nie mehr etwas so sehnlichst gewünscht. Der Verkäufer gab ihm einen anderen Schläger.

«Das Neuner-Eisen hat feine Rillen. Der hier wird von Bobby Jones höchstselbst benutzt. Ein Spitzenmodell mit polierten Leichtmetall-Schäften. Die neueste Technik. Sehr aerodynamisch.»

Das war es! Jack musste es sofort haben.

«Ausgezeichnete Wahl, Sir», gurrte der Verkäufer, als er begann, die Schläger einzuwickeln, und Jack die frischen Pfund-Scheine auf den Tresen blätterte. Es waren die schönsten Gegenstände, die er je gesehen hatte. «Braucht der Herr denn auch eine neue Tasche für die Schläger?»

Jack wählte eine in kräftigem Braunton mit einem aufgestickten scharlachroten Streifen an der Seite aus.

Von nun an standen die Schläger in einer Ecke seines Büros, immer noch verpackt und an einen Stuhl gelehnt. Jack saß gewöhnlich hinter seinem Schreibtisch und blickte sie an. Dann konnte er es nicht länger aushalten, durchquerte das Zimmer und zog ehrfürchtig das Neuner-Eisen oder das Sand-Wedge heraus und hielt es in der Hand. Nach ein paar Minuten – er riskierte es nie, den Schläger zu schwingen, weil er nicht den kleinsten Kratzer auf dem Metall haben wollte – wickelte er das Gerät akribisch wieder ein und stellte es zärtlich in die Tasche zurück.

Am Freitag kündigte ihm Mr.Austen seinen Besuch an. Er hatte alles in seiner Macht Stehende unternommen, um Jacks Aufnahme in den Sanderson Cliffs Club zu erreichen. Er hatte einen ausführlichen Empfehlungsbrief verfasst und darauf hingewiesen, wie nützlich Jacks Angebot mit den Teppichen sei. Auf Antwort zu warten, war äußerst unerfreulich gewesen. Ohnehin konnte Mr.Austen, der selbst gern gelegentlich eine Runde spielte, Jacks Obsession nicht so recht nachvollziehen. Das lag daran, dass Mr.Austen ein geborener Engländer wie sein Vater und sein Großvater war. Seit mindestens zwanzig Generationen gab es Austens in Hampshire und Warwickshire – es kursierte sogar das Gerücht, dass sie mit jener größten unter den englischen Romanciers entfernt verwandt waren. Edward Austen würde das Haus nie ohne seinen Hut verlassen, aber er wusste auch, dass er ihn auf der Stelle abzusetzen hatte, wenn er eine Kirche betrat. Er verstand es, eine Fischgabel richtig zu benutzen, sollte es nötig sein, und ihm war klar, dass Kuchengabeln bourgeois waren. Am Schnitt des Anzugs eines Mannes oder am Sitz seines Hutes, ebenso wie am Tonfall und dem Wachs seines Schnurrbartes, konnte er sofort sagen, wo der Betreffende in der gesellschaftlichen Hierarchie im Vergleich zu ihm selbst stand. Menschen wie Edward Austen machten sich keine Sorgen darüber, ob sie in Golfclubs als Mitglied angenommen wurden oder nicht. Sie gingen ebenso selbstverständlich davon aus, dass die Engländer jeder anderen Nation überlegen waren, wie dass der 7-Uhr-3-Zug nach Victoria in Vauxhall hielt.

Jack wartete in seinem kleinen Büro, das von der zentralen Fabriketage abging, auf Mr.Austen. Das Klappern der mechanischen Webstühle ließ die Möbel erbeben und Jacks Schläfen pochen, aber er war gern mittendrin. Eine Wand war zur Gänze mit Mustern der modischen, mit Quasten verzierten Teppiche in allen Regenbogenfarben, dem allerneuesten Schrei, bedeckt. Rosenblums Erzeugnisse hatten vielleicht nicht das Prestige eines Wilton oder eines Axminster, aber insgeheim war Jack sich ganz sicher, dass sie die viel besseren Produkte waren. Als er ein lautes Klopfen an der Tür hörte, stand er auf, um Mr.Austen in Empfang zu nehmen, und schüttelte ihm begeistert die Hand.

Mr.Austen mochte den merkwürdigen, kleinen Mann und seine unverwüstliche Fröhlichkeit. Seinen Akzent fand er immer wieder überraschend. In all den Jahren, in denen er ihn nun kannte, hatten sich jene germanischen Vokale und leise zischenden Konsonanten kein Jota abgeschliffen. Er tat ihm leid, es musste schrecklich sein, sich wie der Feind anzuhören und von jedem für einen Kraut gehalten zu werden.

«Ah, hübsche Schläger, darf ich mal?»

«Natürlich.»

Jack, der die Sorge um seine Schätze verbarg, schaute zu, wie Mr.Austen ein kurzes Eisen herauszog, dastand – die Beine leicht auseinander, die Schultern geneigt – und den Schläger hob. In einem schönen Bogen, einem Schwung wie von einem echten Golfer, brachte er ihn wieder nach unten.

«Liegt gut in der Hand. Gefällt mir.»

Jack strahlte. In der Hand liegen. Das war ein ausgezeichneter Ausdruck. Er musste ihn sich merken.

«Wo haben Sie die her?»

«Von Harrods.»

Unwillkürlich lachte Mr.Austen. «Tatsächlich? Das haben Sie doch nicht wirklich, oder? Mein lieber Freund, niemand kauft im Ernst seine Schläger bei Harrods.»

Jack errötete, weil es ihm peinlich war, schon wieder bei einem Fehler ertappt worden zu sein. Er starrte auf seine Schläger in ihrem weißen Einwickelpapier. Ihr Glanz strahlte nun nicht länger, sondern quälte ihn. Vielleicht konnte jeder auf Anhieb erkennen, dass er seine Schläger bei Harrods gekauft hatte, und dann lachten sie ihn alle aus.

Mr.Austen schob den Schläger wieder in die Tasche zurück. Es hatte keinen Sinn, es noch länger aufzuschieben. Er zog ein Blatt steifes Briefpapier aus seiner Tasche, in das das Wappen von Sanderson Cliffs geprägt war, heraus.

«Ich habe eine Antwort erhalten. Keine guten Nachrichten, mein Freund. Es klappt leider nicht. Tut mir schrecklich leid.»

Sprachlos setzte Jack sich hin. Das konnte nicht wahr sein! Mr.Austen hatte ihn empfohlen, und schließlich war er doch einer von ihnen.

«Sie bräuchten noch mehr Bürgen, mein kleiner Beitrag hat wohl nicht ausgereicht.»

«Aber Sie sagten doch, andere seien auch aufgenommen worden… dass der Club immer noch neue Mitglieder suche.»

Mr.Austen spielte unbehaglich an dem Etikett der Golftasche herum. Er wünschte, der alte Rosenblum würde seine Enttäuschung etwas besser verbergen – so machte es die ganze Geschichte verdammt unangenehm. Immer so gefühlsbetont, diese Juden vom Kontinent!

«Mhm, ja. Ich denke, das war wohl ein Teil des Problems. Anscheinend ist die Quote bereits erfüllt.»

«Die Quote?»

«Ja.»

Die Quote. Jack wälzte das Wort langsam im Munde herum. Dieses Wort hatte er schon eine Weile nicht mehr gehört, und zugleich war ihm klar, dass das Spiel verloren war. Sie würden ihn nie und nimmer in irgendeinem Golfclub in London oder Umgebung aufnehmen. Das Gefühl der Niedergeschlagenheit breitete sich in ihm aus wie kaltes Wasser, das nach und nach in einen undichten Gummistiefel sickert.

«Sie haben ihnen von den Teppichen erzählt?»

«Ja», sagte Mr.Austen. Er wollte jetzt gern wieder gehen. Er hatte getan, was er konnte. Abgesehen davon war das Angebot mit den Gratis-Teppichen besonders schlecht angekommen. «Die glauben wohl, sie können sich überall einkaufen, oder was?», hatte der Clubpräsident empört gesagt. «Erst machen sie einen Haufen Geld auf dem Schwarzmarkt und klauen uns die Sachen, die wir dringend brauchen, und dann verkaufen sie sie wieder an uns zurück. Die sind ja schlimmer als die verfluchten Schwarzhändler.» Jack gegenüber erwähnte Mr.Austen das allerdings nicht.

«Es tut mir schrecklich leid. Bei dem nächsten Club werden Sie sicher mehr Glück haben. Versuchen Sie es doch mal mit Blackheath.»

Jack senkte den Kopf. Dass Blackheath, der älteste der englischen Golfclubs, der allererste gewesen war, an den er sich gewandt hatte, verschwieg er lieber. Die Bürotür schwang auf, und Fielding, sein Fabrikmanager, trat ein, wobei er unter einem schwankenden Turm von Akten taumelte.

«Entschuldigen Sie die Störung, Sir. Soll ich später wiederkommen?»

«Nein. Das ist schon in Ordnung, ich wollte ohnehin gerade gehen», sagte Mr.Austen, erleichtert über diese gute Gelegenheit.

Fielding lud den Stapel mit Unterlagen auf dem Schreibtisch ab. «Sie müssen eine Entscheidung wegen dieser neuen Maschinen treffen, Mr.Rosenblum.»

«Lassen Sie das hier. Ich schau es mir später an», sagte Jack und scheuchte den jungen Mann wieder weg.

In seinem Kopf war kein Platz mehr für Geschäfte, er war in Gedanken einzig und allein bei seiner jüngsten Enttäuschung. Er war deprimiert und musste sich einen Moment lang in seinem Elend baden. Normalerweise brauchte er zehn Minuten, danach zwang er sich, nach einer Lösung zu suchen, und machte sich einen Plan. Da dies hier besonders abscheulich war, gestattete er sich zusätzliche fünf Minuten der Niedergeschlagenheit. Auf der Uhr war es zwanzig vor elf, als er den Kopf in seinen Händen begrub und laut aufseufzte.

Und fünf Minuten vor elf beschloss Jack, sich auf den Sabbat vorzubereiten, wozu ein großer Whisky sowie die Lektüre der Zeitung gehörten. Er ließ sich in seinem Sessel nieder und blätterte die Times bis zum Sportteil durch, bis sein Blick auf etwas Interessantes im Immobilienteil fiel: ein großes Cottage mit Kletterrosen an den Wänden und einem Reetdach. Er hatte erst einmal ein Reetdach gesehen, bei einer Zugfahrt ans Meer. Neben dem Bild von dem Haus gab es ein weiteres, das die Aussicht zeigte. Es war körnig und leicht verwackelt, aufgenommen von einer Hügelspitze mit Blick auf einen bunten Flickenteppich aus Feldern und Äckern unter einem wolkenlosen Himmel. Obwohl es sich um eine Schwarzweißfotografie handelte, konnte Jack erkennen, dass es der blaueste Himmel war, den er je gesehen hatte. Vorn im Bild waren Blumen, die zwischen den Hecken sprossen, und in der Ferne kleine Pünktchen, die Schafe darstellten. Er nahm das Kleingedruckte näher in Augenschein. «Haus steht zum Verkauf, zusammen mit sechzig Hektar Land. Phantastischer Ausblick. Zuschriften an das Dorset-Büro.» Sechzig Hektar. Und in Dorset. Er konnte, noch während er das Foto musterte, die Vögel singen hören; und solche Geräusche hatte er seit langem nicht mehr gehört.

Es gab ein fernes Geläute, als die Glocken der Bow Church zur halben Stunde schlugen, und Jack erhob sich eilig, setzte seinen Hut auf und verließ das Büro. Ein Golfclub war der letzte Punkt auf seiner Liste, und bislang hatte es sich nicht als Fehler erwiesen, sich an die Liste zu halten. Er musste einen Plan machen.

Die Teppichfabrik lag im East End in einem großen viktorianischen Lagerhaus aus roten Backsteinen, an dem Plakate wie Rabenstein Ltd., Koschere Wurstherstellung für erstklassig kontinentale Knoblauchwurst oder Hüte, Fracks und Modeartikel von Esther de Paris klebten. Jack schnüffelte: Veränderungen lagen in der Luft – er konnte sie förmlich riechen, als sich ein Hauch von Kurkuma und Kümmel mit dem Duft nach Hefe von gebackenem Challah vermengte. Wo einst Gebäude gestanden hatten, waren jetzt Löcher, und wenn in einer Reihe ein einziges Haus fehlte, sah das aus wie der ausgeschlagene Zahn im Mund eines Boxers. Überall gab es große, mit Geröll gefüllte Krater. So vieles war instand zu setzen, dass man mit den Aufräumarbeiten noch kaum begonnen hatte, als sich die Natur schon ihren Weg zurück ins East End kämpfte. Es gab Flecken, auf denen Gras und grüne, weiße und gelbe Feldblumen wuchsen, die zwischen dem Schutt blühten. Zwischen zerbrochenen Pflastersteinen zeigte sich ein kleines Büschel Vergissmeinnicht, das sich im Wind neben einer Straßenlaterne wiegte. Dies waren Reminiszenzen der Wiesen, die einst diesen Boden bedeckt hatten und immer noch tief unter der Betonkruste lauerten.

Er dachte gerade darüber nach – neben seinen anderen, ernsteren Sorgen–, als er einer Idee gewissermaßen in die Arme lief. Er bog links in die Montague Street ein und erblickte das Schild, auf dem in Jiddisch stand: «MILCH, FRISH FUN DI KU». Mit einem Mal erinnerte er sich daran, vor Jahren gehört zu haben, dass die Bewohner des East Ends keine frische Landmilch bekommen konnten und sich deshalb mitten in der Stadt ihre eigene Herde hielten. Vor langer Zeit schon war die letzte Kuh verschwunden, aber das Schild war immer noch da und hing sinnlos an den unnützen Toren, um dem Zweck göttlicher oder besser rindviehartiger Inspiration für Jack zu dienen.

«Das ist es! Milch, frisch von der Kuh!»

In seinen Ohren hallte der Gesang der Vögel wider, und einen Moment lang war er beinahe geneigt, ein stilles Gebet zu murmeln. Wenn man keine Milch von anderer Leute Kühe bekommen konnte, musste man sich eben selbst welche beschaffen. Kein Golfclub wollte ihn aufnehmen, also musste er selbst einen Golfplatz bauen – und seinen eigenen Club eröffnen.

Drittes Kapitel

«Dann sag mir doch mal, mein Broitgeber, weil du ohnehin alles weißt – warum können wir nicht nach Israel gehen?», murmelte Sarah ihrem Ehemann zu, während der grüne Jaguar sich den Weg über die schmalen Landstraßen bahnte. Sie war jünger als Jack, immer noch in den Vierzigern, hatte sich aber seit langem schon einem vorzeitigen Alterungsprozess anheimgegeben. Ihr Haar trug sie in einem hübschen Graublond, und bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen sie lachte, gerieten die Fettröllchen in ihrer Körpermitte in ein leichtes Beben. Jetzt allerdings zitterten sie vor Zorn. «Du willst sein wie jeder andere. Dann lass uns nach Israel gehen, wo alle so sind wie wir!»

Jack sagte nichts, sondern konzentrierte sich darauf, nicht in eine der vorspringenden Hecken zu steuern. Er seufzte. Er mochte es, wenn sie ihn Broitgeber