Wie programmiert man Liebe? - Tina Brömme - E-Book

Wie programmiert man Liebe? E-Book

Tina Brömme

4,3
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Als Rieke auf dem zehnjährigen Abitreffen ihren Schwarm Sebastian wiedertrifft, traut sie ihren Augen nicht: Basti ist nicht mehr der schlaksige, pickelige Computer-Nerd von damals, sondern ein attraktiver Mann. Gerüchte besagen, dass er inzwischen eine eigene Firma hat, die schon bald das "nächste große Ding" herausbringen soll. Umso mehr will Rieke sich nicht anmerken lassen, wie erbärmlich unspektakulär ihr eigenes Leben in den letzten Jahren verlaufen ist. Sie hat keine Kinder, kein Haus, kein Auto - und der Job ist auch nur auf Probe. Von einem Mann ganz zu schweigen. Und dass Basti mit einem einzigen Blick noch immer dieses Gefühlschaos in ihr auslösen kann, versteht sie gar nicht. Schließlich ist da noch eine alte Rechnung zwischen ihnen offen ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 416

Bewertungen
4,3 (18 Bewertungen)
10
3
5
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

Die Autorin

Tina Brömme bei LYX

Impressum

TINA BRÖMME

Wie programmiert man Liebe?

Roman

Zu diesem Buch

Zehnjähriges Abitreffen – kein Wunder, dass Rieke mit den Nerven am Ende ist! Sie will unbedingt beweisen, dass sie nicht mehr das Mauerblümchen von früher ist, aber auch wenn sie sich inzwischen in eine attraktive Frau verwandelt hat – sie hat keinen Mann, keine Kinder, kein Haus, und selbst ihr Job als PR-Beraterin in München ist nur auf Probe. Das einzig Spannende: Sie betreibt nebenher einen »Dating-TÜV«, um männlichen Singles Ratschläge zu geben, wie sie bei Frauen punkten können. Dass der Besuch des Klassentreffens ein Fehler ist, wird ihr in dem Moment klar, als sie dort auf ihren Ex-Schwarm Sebastian trifft – dem sie eigentlich für den Rest ihres Lebens aus dem Weg gehen wollte. Genau zehn Jahre sind seit ihrer letzten Begegnung vergangen – seit dem Abiball, als Basti ihr das Herz brach und sie ohne ersichtlichen Grund aus seinem Leben warf. Aber es sind nicht nur die fürchterlichen Erinnerungen, die Rieke aus dem Konzept bringen: Aus dem schüchternen, blassen Computer-Nerd von damals ist ein verdammt heißer Mann geworden. Gerüchte besagen, dass er ein erfolgreiches Start-up-Unternehmen leitet. Augenblicklich ist das komplizierte Gefühlschaos wieder da, das schon immer zwischen ihnen geherrscht hat.

Und es wird noch komplizierter, als die beiden sich wenig später erneut gegenüberstehen – in einem Restaurant in München, beim »Dating-TÜV« …

2. KAPITEL

Ich geh shoppen. Was gegen Kopfweh. Schuhe vielleicht …

Noch bevor ich die kupferglänzende Klingel auf dem schmiedeeisernen Schild drückte, wurde die Tür aufgerissen. Nicht etwa von meiner Mutter, die mich sehnlichst erwartete. Nein.

»Hi Rieke«, brummte mein Bruder, als habe er mich zuletzt beim Frühstück gesehen und nicht an Weihnachten. »Mama ist noch einkaufen. Papa ist mit Leo Gassi.«

Ehe ich auch nur so etwas wie »Hallo Nils, schön dich zu sehen«, sagen konnte, hatte er sich schon an mir vorbeigedrängt und mir seine Sporttasche gegen den Oberarm geknallt.

»Und wo gehst du hin?«, rief ich ihm nach.

»Boxtraining. Hab’s eilig.«

Na super, nur zwei Minuten später und ich hätte vor verschlossener Tür gestanden, weil niemand daheim gewesen wäre. Ein warmherziger Empfang. Ich betrat den Flur und atmete den stillen Duft meiner Kindheit und Jugend ein. Ein wenig roch es nach Essen vom Vortag, durchsetzt mit frisch gebackenem Kuchen und geputztem Badezimmer. Vom Garten hörte ich das leise Klackern des Windspiels, das ich meinen Eltern vor ein paar Jahren zur Silberhochzeit geschenkt hatte. Ich erkannte durch die geöffnete Wohnzimmertür, dass der Rasen exakt getrimmt war, die Rosenhecke akkurat beschnitten und der Zaun zum Nachbargarten frisch lasiert. Alles war wie immer.

Ich stellte meinen Koffer neben der Flurgarderobe ab, nahm mir in der Küche ein Glas Orangensaft und setzte mich damit auf die Terrasse. Vielleicht tat mir ein bisschen Ruhe ganz gut. Ich konnte mich sammeln. Zentrieren. Mir Mut zureden. Es war die richtige Entscheidung. Alle würden nett und freundlich zu mir sein. Sie würden es vergessen haben. Und sehen, dass ich nicht mehr das unscheinbare Mädchen von damals war.

Zehn Jahre – eine endlose Zeit, die mir verflogen zu sein schien wie ein Fingerschnippen: Die acht Wochen Australien mit meiner Cousine Chris gleich nach dem Abi, ein kurzer Kellnerjob nach meiner Rückkehr, dann der Umzug nach München und vier Jahre Studium der Kommunikationswissenschaft mit Schwerpunkt Public Relations. Ein paar neue Freundinnen, die ich bald wieder aus den Augen verloren hatte. Ein halbes Jahr mit Yannis, ein Dreivierteljahr mit Gustav und unendliche Male unerfüllte Hoffnungen. Jobs und Jobdesaster, zahllose Bewerbungsmappen und nervenaufreibende Vorstellungsgespräche. Ein paar Urlaube, warm und erstaunlich ereignislos (wie hatte der Engländer geheißen, der mich am Strand von Mykonos geküsst hatte?). Was, wenn es die nächsten zehn Jahre genauso weiterging?

»Schatz, da bist du ja endlich!«, rief meine Mutter aus dem Flur in der ihr eigenen Logik.

Ich hörte, wie sie die Einkaufstüten in die Küche stellte, bevor sie zu mir auf die Terrasse kam. »Ich dachte, du kämst schon gegen halb eins. Hatte der Zug Verspätung?«

Ich stand auf und umarmte meine Mutter. Sie sah unverändert aus, ein faltiges Gesicht mit kristallklaren blauen Augen darin über einem athletisch schlanken Körper – ihre Antwort auf die Frage »Body oder Face«. Noch während sie die Luft neben meiner Wange küsste, machte sie sich schon los und ruckelte einen der Terrassenstühle zurecht. Vor Kurzem hatte ich gelesen, dass es auch bei Erwachsenen ADHS gäbe – vielleicht sollten wir sie mal testen lassen. Doch wem hätte es genutzt? Ihre Geschäftigkeit war uns seit Langem so vertraut, dass sie nur dann auffiel, wenn man sie länger nicht erlebt hatte. So wie ich in diesem Moment.

»Magst du einen Kaffee? Du siehst blass aus! War der Zug zu spät?«, ratterte sie maschinengewehrartig los, während ich mich wieder setzte und die Stuhllehne in eine bequeme Liegeposition zurückklappte.

»Kaffee gerne, bin ein bisschen müde, war noch kurz shoppen«, beantwortete ich ihre Fragen im Telegrammstil. Anders hatte man keine Chance, zu ihr durchzudringen. Selbst das letzte Wort verhallte bereits in ihrem Rücken, schließlich war die Aussage »Kaffee gerne« der Marschbefehl in die Küche gewesen.

Ich musste schmunzeln, während ich ihrem Gepolter und Getöse in der Küche lauschte, das eher auf die Zusammenstellung eines Fünf-Gänge-Menüs für ein Regiment schließen ließ als auf die Herstellung einer schlichten Tasse Kaffee. Die Sonne blendete mich und ich schloss die Augen.

Als mir kurz darauf der Handrücken nass geschlabbert wurde, schreckte ich auf. »Hi Leo«, begrüßte ich unseren in die Jahre gekommenen Jack Russell Terrier.

Ich musste tatsächlich eingenickt gewesen sein. Die Sonne über mir wurde von der Silhouette meines Vaters verdeckt. Ich konnte nicht erkennen, was für einen Gesichtsausdruck er aufgesetzt hatte, deshalb sprang ich lieber schnell auf, um ihn gebührend zu begrüßen. Mein Vater legte viel Wert auf Höflichkeit (Anstand war seine Lieblingstugend) und wirkte selbst seinen Kindern gegenüber gelegentlich etwas steif. Am liebsten redete er mit uns über unsere Arbeit oder auch gerne über den Job. Manchmal ging’s ums Berufliche und an Feiertagen um Politik. Oder unseren Broterwerb.

»Hey, Paps!«

Er tätschelte meinen Rücken und setzte sich neben mich auf einen der Stühle. Er sah blass, wenn nicht gar grau aus. Das Silber seiner Haare schimmerte immer dominanter, die dunklen Augen, die ich von ihm geerbt hatte, wirkten leicht trübe.

»Na, Große, was macht die Kunst?«

Ach so, Kunst war sein liebstes Synonym für Arbeit.

»Alles gut«, log ich in beiläufigem Ton und kraulte Leos Nacken. »Dass er so einen Spaziergang noch schafft, ist erstaunlich!«

Leo war wie sein Herrchen ergraut, aber deutlich älter, rechnete man seine Hundejahre in Menschenjahre um. Wie viele Jack-Russell-Terrier hatte auch ihn der grüne Star erwischt, und war er früher jeden Weg, den sein Herrchen ging, fünfmal gerannt, kam er jetzt nur noch sehr langsam hinterher. Auch er war ein Beweis dafür, dass zehn Jahre ins Land gegangen waren.

»Na ja, er schleppt sich von Baum zu Baum, und manchmal muss ich ihn das letzte Stück nach Hause sogar tragen.«

Ich zog Leo zu mir hinauf und er rollte sich behaglich auf meinem Schoß zusammen.

»Was hast du denn geshoppt?«, fragte meine Mutter und stellte drei Kaffeebecher von einem Tablett auf den Tisch.

»Ein Kleid«, sagte ich. Genügend Information, wie ich vermutete.

»Farbe?«, kam es überraschenderweise. Vermutlich, weil wir uns länger nicht gesehen hatten.

»So zwischen Apfel und Mint.«

»Zeigste nachher mal. Und sonst? Hat dein Vater schon mit dir geredet? Ich hab für euer Buffet heute Abend eine Pannacotta gemacht, nicht vergessen nachher!«

Niemand, den ich kannte, schaffte es, Unterhaltungen dermaßen abzukürzen.

»Sollte es nicht noch Kuchen geben, Brigitte?«, fragte mein Vater in leicht verstimmtem Ton, und meine Mutter schlug sich an die Stirn und erhob sich schnurstracks. (Sie hatte ja bereits gut neunzig Sekunden gesessen.) Leo rutschte von meinem Schoß herunter und wackelte hinter ihr her in die Küche.

»Was wolltest du mit mir bereden?« Ich versuchte, gleichmäßig zu atmen und ruhig zu bleiben. Bereden hieß immer: Es gab ein Problem.

Er ließ den Kaffeelöffel kurz gegen das Porzellan klappern und leckte ihn nachdenklich ab.

»Ich gehe in den vorgezogenen Ruhestand«, sagte er dann ohne Umschweife.

Mein Vater war seit zweiundvierzig Jahren beim gleichen Unternehmen, hatte nach seiner Lehrlingszeit bei einem Fahrzeugteilehersteller verschiedene kaufmännische Stationen durchlaufen und war die letzten zwölf Jahre im Einkauf tätig gewesen. Heutzutage gab es solche Karrieren kaum noch. Er hatte sich immer zu hundert Prozent mit seinem Arbeitgeber identifiziert und auch in Krisenzeiten mit Kündigungswellen und Kurzarbeit bereitgestanden. Was würde geschehen, wenn er nicht mehr zur Arbeit ging? Würden Wochen oder nur Tage vergehen, bevor entweder er oder meine Mutter die Scheidung einreichte? Dazu fiel mir nun wirklich nichts ein. Das wurde aber auch nicht erwartet.

»Ja, ich mag nimmer.« Er flüsterte fast und sah stur in das milchige Braun seines Kaffees. Ich konnte ihn verstehen. Beinahe beneidete ich ihn. Als Kind hatte ich mir nicht vorstellen können, wie es dazu kam, dass man eine Arbeit fand und von jemandem Geld dafür erhielt, dass man sie ausführte. Ich sollte irgendwann in der Lage sein, selbst für mich zu sorgen? Wie denn? Auch heute konnte ich es mir manchmal nicht vorstellen. Ein vorgezogenes Rentenalter, so auf fünfunddreißig, sechsunddreißig – das wär’s doch!

»Okay«, antwortete ich vorsichtig.

Meine Mutter erschien mit Nusskuchen und tat jedem ein dickes Stück auf.

In der folgenden Dreiviertelstunde erklärte mein Vater den langen Prozess, in dem er diesen Entschluss gefasst hatte, all seine Überlegungen und Bedenken, die Vor- und Nachteile. Meine Mutter sprang gefühlte siebenmal auf, um Kaffeesahne, frischen Kaffee, Servietten, Zuckerwürfel und Wasser zu holen. Einmal Wasser mit, einmal Wasser ohne Blubb.

Am Ende, und darauf schien die ganze, ewig lange Ausführung hinauszulaufen, stellte mein Vater vor allem eines heraus: »Und deshalb werden wir dich in Zukunft finanziell nicht mehr unterstützen können. Aber mit fast dreißig brauchst du das ja auch nicht mehr und wir müssen uns keine Sorgen machen, habe ich recht?«

Ich nickte etwas benommen. Im Prinzip hatte er recht. In der Praxis? Schaunmermal …

»Na gut, genug davon«, beendete mein Vater das Gespräch. »Und du freust dich auf dein Klassentreffen! Ich bin gespannt, was du berichten wirst.« Er erhob sich und tätschelte mir den Unterarm.

»Nein, ich bin nervös und ängstlich und überlege, ob ich nicht einfach hier sitzen bleiben soll, statt mich von den Arschlöchern von vor zehn Jahren blöd anlabern zu lassen.« Hätte ich sagen sollen. Müssen. Stattdessen sah ich auf die Uhr und sagte: »Oh, höchste Zeit, dass ich mich umziehe. Pia kommt mich bald abholen.«

»Pia, wie schön!«, sagte meine Mutter. »Die war immer so lustig und nett. Und so hübsch! Schade, dass du keinen Kontakt mehr zu ihr hast.«

Ja genau, und weil sie im Gegensatz zu mir lustig und nett und hübsch war, hatte ich vermutlich auch keinen Kontakt mehr zu ihr. Jemand, der so trantütig war wie ich, passte nämlich nicht in ihr Leben.

Umso mehr hatte ich mich gefreut, als sie mir vor ein paar Tagen eine Nachricht geschickt und gefragt hatte, ob wir zusammen beim Klassentreffen auflaufen wollten. Ehrlich gesagt hatte das meinen Entschluss, tatsächlich zu kommen, ziemlich befeuert. So konnte ich mich im Notfall hinter ihr verstecken.

Nachdem ich meinen Koffer in mein altes Kinderzimmer gestellt hatte, in dem noch immer Poster von Robbie Williams und Coldplay hingen, sperrte ich mich mit meinem neuen Kleid im Badezimmer ein.

Kurzes Duschen musste genügen, die Haare hatte ich gestern früh erst gewaschen, und bei meiner Mähne dauerte das Föhnen viel zu lang. Ich schlüpfte in das apfelmintgrüne Etuikleid.

Im ersten Moment war ich geschockt, wie provinziell die Würzburger Innenstadt wirkte, und ich war überzeugt, hier fürs Abitreffen allenfalls ein Oma-Kostüm ergattern zu können. In einer Seitenstraße hatte ich dann aber eine ziemlich edle Boutique entdeckt, die auch München Ehre machen würde. Die Preise waren natürlich ebenso edel. Aber für ein Abitreffen, bei dem ich zugegebenermaßen Eindruck schinden wollte, war ich bereit, etwas springen zu lassen. Und die freundliche Aufmerksamkeit der Verkäuferin tat ihr Übriges.

Ich schnitt das Preisschild – Zeugnis meines Größenwahns – ganz schnell ab und versenkte es tief im Mülleimer. Hoffentlich würde meine Mutter es nicht finden.

Das Kleid saß wie angegossen: perfekte Länge bis knapp übers Knie, schön auf Taille geschnitten und mit einem Ausschnitt, der weder zu viel verbarg noch zu wenig zeigte. Und dieser Grünton harmonierte perfekt mit dem Gold meiner Haare. Es war schlicht, ein Understatement, aber dennoch ein Hingucker, ohne von mir abzulenken. Jetzt noch ein dezentes Make-up, etwas Duftwasser (das ich mir zusätzlich noch geleistet hatte), und ich fühlte mich bereit, den Abend irgendwie zu überstehen.

Fehlten nur noch die Schuhe.

Genau. Fehlten. Ein Schauer rann mir über den Rücken. Ich hatte die Schuhe komplett vergessen! Im Zug hatte ich meine dunkellila Sneakers getragen und ansonsten – keine eingesteckt. Ich würde barfuß gehen müssen. Verdammt! Das konnte doch nicht wahr sein.

Ich würde absagen. Ich würde behaupten, mich hätte ein Magen-Darm-Virus überrascht. Egal was, aber ich würde meine alte Schule nicht in lila Sneakers zum apfelgrünen Kleid betreten. Ich hörte schon die Kommentare: »Na, so ganz hat sie’s noch nicht hingekriegt, Stil zu entwickeln.« oder »Ups – so eine hat mit uns Abitur gemacht? Wie hat sie das denn geschafft?«

Kraftlos sank ich auf den Badewannenrand und pulte an einem Fingernagel. Na klasse, jetzt war auch noch etwas von dem frischen Nagellack abgeblättert.

»Rieke«, hörte ich meine Mutter von unten rufen. »Pia ist da!«

Super Timing! Echt jetzt!

»Komme gleich.« Keine Ahnung, ob sie mich hörte. Ob ich vielleicht in meinem Kleiderschrank noch alte Schuhe hatte? Ich schleppte mich zum Schrank und öffnete ihn.

»Rieke, kommst du?«

»Ja, gleich!«

Nichts zu sehen. Gar nichts. Mist.

Es polterte auf der Treppe und dann öffnete sich die Tür zu meinem Zimmer.

»Hey, Rieke!« Sie klang wie früher, und zwar exakt. Ich drehte mich um. Sie sah auch exakt aus wie früher. Sie hatte sich überhaupt nicht verändert.

»Pia!« Ehe ich einen weiteren Gedanken fassen konnte, fiel sie mir um den Hals.

»Wow, du siehst toll aus«, sagte sie, rückte ein Stück von mir ab und ergriff meine Hände. »Großartig! Der Schwan ist flügge geworden.« Ihr Blick wanderte mehrmals auf und ab.

»Du aber auch«, sagte ich. »Also, ich meine, du siehst auch toll aus!« Wie immer, ergänzte ich still.

Pia trug zu ihren dunklen, kurzen Haaren und den grünen Augen eine weiße Bluse und eine schlichte Jeans, sie war kaum geschminkt, schmucklos und dennoch – sie leuchtete von innen heraus. Keine Ahnung, wie sie das hinbekam. Natural Beauty eben. Wäre ich ein Mann, ich wäre hingerissen. Sie schien sich gar nicht bewusst zu sein, welche Ausstrahlung sie hatte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es Menschen gab, die sie nicht mochten.

»Schade, dass wir uns so lange nicht gesehen haben«, sagte ich und meinte es auch so. »Wie konnte das passieren?«

»Keine Ahnung.« Eine Sekunde wandte sie den Blick ab. »Sollen wir los?«

»Na klar!« Ich schnappte meine Handtasche vom Bett und folgte ihr zur Tür, dann hielt ich inne. »Ach so, es gibt ein Problem …«

Sie wandte sich um und sah mich fragend an.

Ich deutete auf meine nackten Füße. »Ich hab keine Schuhe.«

Sie lachte. Ihr breiter Mund öffnete sich bis zum Anschlag, genau wie früher.

»Bist du etwa barfuß hergekommen?«

Ich erläuterte ihr das Problem, als meine Mutter auf der Treppe erschien.

»Können Sie Ihrer Tochter keine Schuhe leihen?«, fragte Pia sie. Nein, konnte sie nicht – in Größe 37 passte ich unmöglich hinein.

»Aber«, sagte meine Mutter und wuselte schon in ihr Schlafzimmer davon. »Ich hätte da was …« Einen kurzen Augenblick später kam sie mit einem Paar schwarz-glänzender Pumps zurück, die nagelneu aussahen. Größe 39. Mit Monster-Absätzen.

»Wo hast du die denn her?«, fragte ich und kam mir vor wie Aschenputtel.

Meine Mutter lächelte versonnen. »Erkennst du sie nicht?«

Ich verneinte.

»Die hattest du beim Abiball an.«

Und in diesem Moment war alles wieder da. Als hätte jemand anhand modernster Augmented-Reality-Technik die Szene in meinem Zimmer auferstehen lassen, die ich seit zehn Jahren so vehement verdrängt hatte. Ich sah die Aula vor mir, voll bestuhlt, voll besetzt. Meine Mitschüler in Abendkleidern und Anzügen mit Krawatten, ein riesiges Buffet, die Schülerband schon in den Startlöchern. Gleich würde es losgehen, die Rektorin schritt bereits zum Rednerpult. Wo war Basti? Ich schlich vor dem Buffet auf und ab, den Eingang fest im Blick. Pia – ein Traum in Organza, der ihr direkt auf den schlanken Leib geschneidert zu sein schien – huschte hektisch herein, beinahe zu spät, wie so oft. Sie sah mich nicht an. Merkwürdig. Und dann kam er. Basti. Endlich! Ich blendete alles um mich herum aus, auch, dass die Rektorin die ersten Begrüßungsworte sprach. Ich lief auf Basti zu, ich breitete die Arme aus, wir hatten uns fast eine Woche nicht gesehen. Aber etwas stimmte nicht. Sein Gesicht – merkwürdig verzerrt, seine Wangen – glühend rot. Er kam auf mich zu.

»Basti?«, fragte ich leise. »Was ist passiert?«

Und dann schrie er mich an. Und ich taumelte rückwärts. Die Worte waren unverständliche, dunkle Gebilde, die mich bedrängten und zu ersticken drohten. Nur der Satz »Wie kannst du mein Vertrauen so missbrauchen?« blitzte grell hervor, als habe ihn Zeus persönlich geschleudert. Und ein letztes Wort: »Verräterin!«

Ich verlor das Gleichgewicht und riss die Hände in die Höhe, spürte eine feste Kante auf Höhe meiner Oberschenkel, wich weiter zurück, knickte auf den Absätzen um. Meine Welt schien zu kippen. Etwas explodierte geradezu, Glas splitterte, alles war nass, ich spürte einen spitzen Schmerz an meiner rechten Handfläche und schrie auf. Danach war es eine Sekunde lang gespenstisch still. Bis das Getöse einsetzte. Später stellte ich mir immer vor, wie Hunderte Menschen in diesem Moment auflachten. Laut, schallend und schadenfroh lachten sie darüber, dass ich mitten in die hochprozentige Abiturienten-Bowle geflogen war, die jedes Jahr aufs Neue dafür sorgte, dass die Ballgäste sehr schnell sehr lustig und enthemmt wurden.

Jemand reichte mir seine Hand, aber es war nicht Basti, sondern Aron Weil, ein schmalbrüstiger, langweiliger Nerd, der seit der siebten Klasse in mich verliebt gewesen war. Ich ließ mich hochziehen, beachtete ihn nicht weiter und schleuderte die ätzend hohen Pumps von mir. Dann rannte ich los, ohne auf irgendwen oder irgendwas zu achten. Nicht einmal die Glassplitter, die sich in meine nackten Füße bohrten, konnten mich aufhalten. Vielleicht hörte ich die entsetzten Rufe meiner Mutter, aber ich konnte mich später nicht daran erinnern. Ich rannte und rannte, bis ich irgendwann unten am Main stand, barfuß im einsetzenden Nieselregen, und überlegte, ob ich mein weiteres Schicksal dem Fluss überantworten sollte. Ich wusste bis heute nicht, was mich daran gehindert hatte.

»Rieke, alles okay?«, fragte Pia, und ihre Stimme beamte mich in die Gegenwart zurück.

Ich nickte, nahm die Schuhe, drehte und wendete sie. Meine Mutter hatte recht. Es waren die Schuhe, die ich mir damals ausgesucht hatte. Vor zehn Jahren. Wir hatten uns wegen der Absatzhöhe gestritten, ich erinnerte mich genau. Ich fand sie zu hoch, Basti fand sie gerade richtig. Ihm zuliebe hatte ich sie gekauft.

»Die sind doch perfekt.« Meine Mutter lächelte steif und reichte mir einen Schuhlöffel.

Sie passten nicht hundertprozentig zu meinem Kleid. Das Schwarz bildete einen zu starken Kontrast, außerdem hatte ich mich immer noch nicht an hohe Absätze gewöhnen können. Ich murrte ein wenig vor mich hin.

»Ach, komm, Rieke, das sieht super aus.« Pias Lächeln wirkte zum ersten Mal etwas unecht.

Wie sollte ich ihr begreiflich machen, dass mir diese Schuhe bei jedem Schritt den vergangenen Schmerz in die Fußsohle hämmerten?

»Du siehst wundervoll aus, und keiner wird auf deine Schuhe achten.«

Pia kannte solche Probleme gar nicht – ich hatte Schuhe, die passten und halbwegs vernünftig aussahen. Fertig. Unglaublich – wir hatten drei Minuten miteinander verbracht, und ich beneidete sie genau wie früher.

Ich holte tief Luft und zog die Schuhe an. Sie passten wie angegossen. Einen Moment hatte ich das Gefühl, sie würden mich – wie Dottys rote Schuhe in der Der Zauberer von Oz – in eine andere Welt befördern. Wo es mir vielleicht im zweiten Anlauf gelingen würde, die böse Hexe des Westens zu vernichten.

»Gehen wir«, sprach ich mir selbst Mut zu, und küsste meine Mutter im Vorbeigehen. »Und danke!«

»Viel Spaß! Es war schön, dich mal wieder zu sehen, Pia. Du siehst wirklich genauso hübsch aus wie früher! Ach, und Rieke …«

Würde sie über mich etwas ebenso Nettes sagen?

»Denk an die Pannacotta im Kühlschrank.«

Wir stiegen in Pias Auto. Einen Moment lang hatte ich gedacht, sie hätte noch immer diesen uralten, olivgrünen Fiat Panda, den sie kurz vor dem Abi von ihrer Tante übernommen hatte. Aber der war ja damals schon antik gewesen. Stattdessen parkte am Fahrbahnrand ein silberner BMW, so ein richtiges Schlachtschiff. Wow, sie musste echt Erfolg haben mit ihrer Kunst.

»Von meinem Pa«, erklärte Pia und startete den Motor. »Ich hab gar kein Auto mehr, in Berlin braucht man das einfach nicht. Man findet eh keinen Parkplatz.«