Wie unser Geist funktioniert - Chögyam Trungpa - E-Book

Wie unser Geist funktioniert E-Book

Chögyam Trungpa

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Beschreibung

Chögyam Trungpa bietet hier weit mehr als nur eine Einführung in die Grundlagen der Psychologie. Er beschreibt verschiedene Bewusstseinszustände, erforscht die Zusammenhänge zwischen Gefühlen, Wahrnehmungen und Gedanken und lässt uns damit hautnah nachvollziehen, wie sich das Ego entwickelt. Mit geschickten Mitteln, vor allem der Meditation, erhalten wir Einsicht in diesen Prozess und lernen die Gelegenheit zu erkennen, ihn in gewisser Weise umzukehren. Für das Ego ist das keine sonderlich gute Nachricht. An seiner Stelle kann das innere Potential unseres Geistes ansetzen: Jegliche Erfahrungen, insbesondere problematische, können umgewandelt und zum Brennstoff für die Selbstbefreiung werden.

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CHÖGYAM TRUNGPA

WIE UNSER GEIST FUNKTIONIERT

Ein kurzer und tiefer Einblick in die buddhistische Psychologie

Herausgegeben von Sherab Chödzin Kohn Aus dem Englischen von Sylvia Luetjohann

Titel der Originalausgabe Glimpses of Abhidharma

Erschienen bei Shambhala Publications, Inc.,4720 Walnut Street #106, Boulder, CO 80301 U.S.A.www.shambhala.com© 1975 Diana J. MukpoAus dem Englischen übertragen von Sylvia Luetjohann

Chögyam Trungpa (1940-1987) Der Meditationsmeister, Lehrer und Künstler kam in den 1960er-Jahren in den Westen und gilt als Schlüsselfigur für die Einführung und zeitgemäße Verbreitung des Buddhismus in der westlichen Welt. Er begründete das Naropa Institute in Boulder (Colorado), die erste vom Buddhismus inspirierte Universität in Nordamerika, und Shambhala International, eine weltweite Vereinigung von Meditationszentren auf der Grundlage des Shambhala-Trainingsprogramms. Außerdem ist er Autor zahlreicher Bücher, darunter der Klassiker Aktive Meditation.

3. Auflage 2021

© 2013 Windpferd Verlagsgesellschaft mbH, Oberstdorf

Alle Rechte vorbehalten

Kein Teil des Buches darf in irgendeiner Form oder zu irgendeinem Zweck elektronisch oder mechanisch, einschließlich Fotokopie, Recording und Wiederherstellung, ohne schriftliche Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Umschlaggestaltung: Andrea Barth – Guter Punkt/Agentur für Gestaltung

Bildquelle Cover: © Anna Jurkovska/shutterstock

Lektorat: Silke Kleemann

Satz und Layout: Marx Grafik & ArtWork

ISBN 978-3-86410-137-3

eISBN 978-3-86410-370-4

www.windpferd.de

VORBEMERKUNG DES VERLAGS ZUR DEUTSCHEN AUSGABE

Der Buddhismus ist dafür bekannt, überall dort, wo er sich verbreitet, eine ihn stark prägende Synthese mit der in dem jeweiligen Land herrschenden Kultur oder spirituellen Tradition einzugehen. Daraus haben sich ganz unterschiedliche Ausdrucksformen entwickeln können.

Im Westen kann der Buddhismus mittlerweile auf eine etwa vierzigjährige Tradition und Praxis zurückblicken. Seitdem haben sich Querverbindungen zwischen Buddhismus und westlicher Psychologie ergeben und die zunehmende Popularität der Neurowissenschaften weiter verstärkt, zumal diese die alten Weisheiten der buddhistischen Philosophie durch neueste wissenschaftliche Erkenntnisse bestätigt finden. Auf der Basis eines fruchtbaren Dialogs zwischen westlicher Psychologie und buddhistischer Geistesschulung unter Einbeziehung meditativer Ansätze vollzieht sich ein kultureller Bewusstseinswandel. Vor allem solche Schlüsselbegriffe wie Achtsamkeit, aber auch eine veränderte Sicht auf Mitgefühl und Leiden sowie ein größeres Augenmerk auf die Psychosomatik als Schnittstelle von Körper und Geist sind hier als Beispiel zu nennen.

Thema des vorliegenden Buches ist der Abhidharma. In der buddhistischen Philosophie des Abhidharma werden unter anderem die Grundlagen der Psychologie, die Funktionsweise des Geistes und die verschiedenen Bewusstseinszustände des Menschen erkundet. Chögyam Trungpa behandelt dieses Thema unter dem Gesichtspunkt, wie sich das Ego schrittweise durch die Stufen der fünf Skandhas oder Geistesfaktoren entwickelt. Mit diesem exakten Einsichtsprozess in die Struktur unseres Geistes wird hier ein übergreifendes und zeitloses kompaktes Grundlagenwerk für die buddhistische wie auch für die westliche Psychologie wieder zugänglich gemacht.

Chögyam Trungpa stellt den bisweilen als „trocken und theoretisch“ geltenden Abhidharma in seiner unnachahmlich frischen und durchaus auch herausfordernden, gleichzeitig tiefgründigen und leicht eingängigen Weise dar. Aus einer sehr lebendigen Lehrsituation heraus entsteht spontan eine neue Form der Überlieferung traditioneller buddhistischer Lehren, die dem westlichen Denken angemessen ist. Er umschreibt diesen kreativen Vorgang selbst mit den Worten: „So ähnlich gibt ein guter Bäcker sein Wissen um das Brotbacken weiter. Die Kenntnis ist gewissermaßen alt, aber jedes Mal, wenn das Brot gebacken wird, ist es warm und frisch. Es gibt kein kaltes Brot …“.

INHALT

Vorbemerkung des Verlags zur deutschen Ausgabe

Geleitwort von Chögyam Trungpa

Einleitung

Form

Gefühl

Wahrnehmung

Intellekt

Meditation

Bewusstsein

Glückverheißendes Zusammentreffen

Praxis und Intellekt

Nachwort des Herausgebers

GELEITWORT VON CHÖGYAM TRUNGPA

Es freut mich, dieses Vorwort für die deutsche Ausgabe dieser kleinen Einführung in die Psychologie des Abhidharma zu schreiben.

Es scheint viele Formen spiritueller Disziplin in dieser Welt zu geben; der innerste Kern von ihnen allen besteht jedoch in dem Verständnis, das wir von uns selbst und anderen haben. Die buddhistische Überlieferung hebt besonders hervor, dass wir die Grundlagen von Freiheit verstehen müssen, ehe wir Freiheit erlangen können. Wenn wir uns selbst nicht kennen, dann treten Enttäuschung, Anhaftung an das Ego, Leidenschaftlichkeit, Aggression und alle möglichen negativen Dinge auf. Wenn Praktizierende jedoch von einer Beurteilung absehen und einfach das Strukturmuster ihres Geistes herausfinden, könnten sie eine gewisse Erleichterung erfahren und dazu fähig sein, ein bestimmtes Gefühl von Verbindung zu einer Reise in Richtung geistiger Klarheit herzustellen. Diese Art von Geisteszustand kann durch Shamatha-Vipashyana, die Disziplin der Meditation im Sitzen, ausgebildet werden. Mithilfe dieser Disziplin können Schüler die Morgendämmerung des Erwachens entdecken.

Ich hoffe, dass dieses Buch dazu beitragen wird, das Rad des Dharma zu drehen und die Lehren der Praxis-Linie Buddhas weiter zu verbreiten. Möge die strahlende Sonne der Erleuchtung im Herzen eines jeden erweckt werden.

Mit Segenswünschen,

Der Ehrw. Vajracharya Chögyam Trungpa

Boulder, Colorado, 1978

EINLEITUNG

Der Abhidharma mag vielleicht als trocken und gelehrt, als theoretisch angesehen werden. Nun, wir werden sehen. Auf jeden Fall möchte ich diejenigen unter Ihnen begrüßen, die mutig und dazu bereit sind, sich darauf einzulassen. Sie sind gewissermaßen Krieger.

Ich habe mich dazu entschlossen, den Abhidharma darzustellen, weil ich es als eine Notwendigkeit empfinde, beim Studium der buddhistischen Überlieferung vom Anfang an zu beginnen: ganz von vorn anzufangen und die reine, klare und unverfälschte Lehre vorzustellen. So haben wir es bisher im Hinblick auf die Meditationspraxis und ebenso mit dem theoretischen Verständnis der Lehre gehalten. Ich empfinde es als wichtig, dass die Lehren in dieser Weise präsentiert werden. Die Einführung östlicher Lehren im Westen ist im besonderen Maße vom Zufall bestimmt worden. Die Lehrer haben etwas mitzuteilen und dies tun sie auch – vielleicht erreichen sie ihre Zuhörer jedoch nicht so wirkungsvoll, als dass damit die richtige Situation für die Praxis geschaffen wäre. Diese Lehrer sind in ihren eigenen Ländern ausgebildet worden, sie haben dort praktiziert und die Überlieferung empfangen; dort aber herrschten andere kulturelle Zustände und ein bestimmtes Umfeld für die Disziplin wurde als selbstverständlich betrachtet. Sie scheinen anzunehmen, dass der gleiche kulturelle Hintergrund auch im Westen existiert, aber dem ist vielleicht nicht so. Damit wir hier im Westen in eine spirituelle Lehre eindringen können, müssen wir bis zu ihrem innersten Kern vorstoßen. Wir müssen ein wirklich gutes Fundament errichten, ehe wir zu solchen Übungen wie dem Yoga der Inneren Hitze kommen oder mit Levitation beginnen usw.

Es gibt zwei Betrachtungsweisen, wenn wir auf die grundlegenden Prinzipien zurückgehen. Einige Menschen fühlen sich davon angezogen, ausschließlich auf der intuitiven oder gefühlsmäßigen Ebene zu arbeiten; andere empfinden jene Herangehensweise nicht als grundlegend genug und möchten sich mit dem gelehrten oder theoretischen Aspekt beschäftigen. Ich würde nicht behaupten, dass sich diese beiden Möglichkeiten widersprechen, sondern dass es sich vielmehr um zwei Zugangswege handelt, durch die man sich dem Thema annähern kann. Wir wollen hier versuchen, weder den Intellekt noch die Intuition zu vernachlässigen, sondern beide miteinander zu verbinden. Ein wirkliches Verständnis der Lehren muss gleichzeitig verstandesmäßig und „menschlich“ sein. Der verstandesmäßige Aspekt entspricht der Theorie; die menschliche Seite ist das intuitive persönliche Gefühl für die Lehre und der Lernprozess, der darin enthalten ist. Wir könnten sagen, dass das Studium des Abhidharma in gewisser Hinsicht theoretisch ist, dass es jedoch auch über die Eigenschaft der persönlichen Individualität verfügt, weil der Abhidharma eine Übersicht über die Psychologie des menschlichen Geistes ist. Er gehört zur grundlegenden Philosophie des Buddhismus und ist allen Schulen gemeinsam – den Theravadins ebenso wie den Tibetern und anderen.

Der Abhidharma ist ein Teil dessen, was Tripitaka – die „drei Körbe“ oder „drei Haufen“ – genannt wird. Aus diesen drei Hauptteilen der Lehre setzen sich die buddhistischen Schriften zusammen. Der erste heißt Vinayapitaka und hat mit Disziplin zu tun, mit den praktischen Notwendigkeiten, wie man sein Leben in der Welt zu leben und es gleichzeitig zu verstehen hat. Der Vinaya wird so beschrieben, dass es keinen Widerspruch zwischen Verständnis und praktischer Disziplin gibt. Der zweite „Korb“ ist der Sutrapitaka; er beschäftigt sich mit bestimmten Meditationsübungen und verschiedenen Möglichkeiten, wie der Geist zu schulen ist, wie Intellekt und Intuition beide gleichermaßen als Hilfen für die Meditation anzunehmen und zu nutzen sind. Der dritte ist der Abhidharmapitaka. Nachdem wir den praktischen Aspekt der Beziehung zur Welt und auch den meditativen psychologischen Aspekt erkannt haben, beginnen wir nun mit der Arbeit am Hintergrund der ganzen Angelegenheit. Dabei handelt es sich fast, so könnte man sagen, um die Vorbereitung zu lehren. In gewisser Weise sagt uns der Abhidharma, wie wir mit anderen kommunizieren, nachdem wir einmal alles verstanden haben.

Viele moderne Psychologen haben festgestellt, dass die Entdeckungen und Erklärungen des Abhidharma mit ihren eigenen jüngsten Entdeckungen und neuen Ideen zusammenfallen – so als hätte sich der Abhidharma, der vor 2500 Jahren gelehrt wurde, in einer modernen Ausdrucksweise wieder neu entwickelt.

Der Abhidharma beschäftigt sich mit den fünf Skandhas. Die Skandhas stehen für die gleichbleibende Struktur der menschlichen Psychologie wie auch für deren Evolutionsmuster und das Evolutionsmuster der Welt. Die Skandhas haben auch einen Bezug zu den verschiedenartigen Blockierungen: spirituellen, materiellen, gefühlsmäßigen. Ein Verständnis der fünf Skandhas zeigt, dass alles – jegliche Erfahrung, jegliche Inspiration – zu einer weiteren Blockierung oder zu einem Weg der Selbstbefreiung werden kann, haben wir uns erst einmal auf den grundlegenden Kern der Ichheit eingestimmt. Abhidharma ist eine sehr genaue Methode, den Geist zu betrachten. Jede Tendenz des Geistes, selbst die leiseste Andeutung einer Tendenz, kann mit großer Genauigkeit erkannt werden, sogar so etwas wie die geringfügige Verärgerung, wenn sich eine Fliege auf unserem Bein niederlässt. Diese Reizung könnte beispielsweise als freundlich eingestuft werden, wenn sie die Fliege bloß verscheuchen will, oder als aggressiv, wenn sie danach drängt, sie zu töten.

Der Abhidharma setzt sich sehr exakt und unvoreingenommen mit unserer besonderen Geistesart auseinander, und es ist für uns außerordentlich hilfreich, unseren Geist auf jene Weise wahrzunehmen. Dies bedeutet nicht, dass wir dabei nur gelehrsam und intellektuell vorgehen. Wir können von den kleinen Reizungen wie derjenigen mit der Fliege eine Beziehung zu ebendem Geschehen herstellen, das die menschliche Situation ausmacht. Wir machen kein sonderliches Aufhebens davon, nehmen es jedoch ganz genau wahr. Dies kann unter Umständen sehr hilfreich sein. Es ist nicht nur eine Hilfe für die reine Meditation, sondern auch für die aktive Meditation im Handeln. Die gesamte Betrachtungsweise des Buddhismus ist darauf ausgerichtet, sich mit den alltäglichen Lebenssituationen auseinanderzusetzen, anstatt lediglich zu meditieren, um damit Erleuchtung zu erlangen. In allen drei Pitakas wird sehr wenig Nachdruck auf Erleuchtung gelegt. Die Pitakas sind Handbücher dafür, wie wir im Sinne des erwachten Geisteszustandes zu leben haben – dies jedoch eher auf der Ebene des alltäglichen Abwaschs*. Sie beschäftigen sich damit, wie wir aus unserem gewöhnlichen schlafwandlerischen Zustand heraustreten und uns wirklich mit den tatsächlichen Gegebenheiten auseinandersetzen können. Der Abhidharma ist ein wesentlicher Bestandteil jener allgemeinen Anleitung.

Aufgrund der Beschränkungen durch Zeit und Raum und die Geduld der Zuhörer muss unsere spezielle Betrachtung des Abhidharma hier so etwas wie eine grobe Übersicht bleiben. Ich glaube trotzdem, dass sie als grundlegende Einführung äußerst nützlich sein wird.

FRAGE: Ich habe den Unterschied zwischen Sutrapitaka und Abhidharmapitaka nicht richtig verstanden.

ANTWORT: Der Sutrapitaka liefert die Meditationstechniken, während der Abhidharma die konkrete Meditationserfahrung beschreibt, so dass man darüber eine Verbindung zu anderen Menschen und ebenso auch zu sich selbst herstellen kann. Er verfährt nicht wie ein Kochbuch, sondern geht davon aus, dass man mit bestimmten Gedanken und Erfahrungen vertraut ist, und diese formuliert er dann mit großer Genauigkeit. Deshalb sind Übersetzer in der letzten Zeit in Schwierigkeiten mit buddhistischen Texten geraten, weil sie nicht über die Erfahrung dessen verfügten, wovon die Rede ist. Dies ist ein Mangel in vielen Übersetzungen.

Was bedeutet Abhidharma?

Das tibetische Wort für Abhidharma ist chö ngönpa (chos mngon pa). Chö heißt in Sanskrit Dharma, das Gesetz oder die „Soheit“ der Dinge. Ngönpa verweist auf etwas Sichtbares oder Wahrnehmbares, etwas, das visuell vorhanden ist. Damit ist ungefähr etwas gemeint, das voraussagbar ist, das man deuten oder dessen Muster man erkennen kann. Man könnte daher sagen, dass Abhidharma „das Muster des Dharma“ bedeutet. Dharma könnte hier der Dharma des Kochens, der Dharma des Motorradfahrens, jede Art von Dharma sein – nicht der besondere Dharma im Sinne der buddhistischen Lehre. Im Abhidharma wird die wohlig vertraute Qualität des Dharma sehr lebendig dargestellt.

Ich habe gehört, dass die Meditationspraxis in bestimmten buddhistischen Ländern, in denen das Studium des Abhidharma betont wird, weggefallen sei. Liegt eine mögliche Gefahr in den Lehren des Abhidharmapitaka: dass sie nämlich, wenn man sie in der falschen Weise anwendet, um eine Verbindung zu den Problemen des täglichen Abwaschs herzustellen, zu dem Gedanken führen, man könnte es auch ohne Meditation schaffen?

Ich glaube, das ist sehr wahrscheinlich, ganz bestimmt. Dieses Problem ist aufgekommen, und es ist in der Tat die Hauptursache für die Verfallserscheinungen des Buddhadharma in der gesamten buddhistischen Welt. Ich habe gehört, dass ein bekannter Gelehrter aus Ceylon gesagt hat, niemand habe in den letzten 500 Jahren Erleuchtung erlangt; es sei aber trotzdem unsere Pflicht, sämtliche Theorien am Leben zu erhalten, so dass es vielleicht eines Tages wieder bei irgendjemandem „Klick“ machen könne. Bei buddhistischen Gelehrten, die hauptsächlich die Wissensseite der Lehre betonen, herrscht tatsächlich die grundlegende Vorstellung, es sei gefährlich, mit der Meditation zu beginnen, ehe man die Theorie beherrscht. Dann, wenn man erst einmal alles verstandesmäßig entdeckt hat, wie man vorzugehen hat, worin die dahinterliegende Vorstellung besteht, wenn man erst einmal mit dem Verstand durch alle psychologischen Bilder hindurchgegangen ist, dann braucht man eigentlich nicht mehr zu meditieren, weil man bereits alles weiß. Diese Betrachtungsweise wird begleitet von der Vorstellung Buddhas als einem Super-Gelehrten. Da die Idee des erwachten Geistes oder der Erleuchtung in der Überlieferung vorkommt, müssen diese Gelehrten eine gewisse Ansicht davon haben. In ihrer Deutung ist Erleuchtung nichts anderes, als alles zu wissen. Innerhalb ihrer Denkweise ist der Erleuchtete jemand, der Geographie, Wissenschaft, Psychologie, Geschichte, Philosophie, Soziologie und alles Übrige kennt. Sie glauben, dass jemand, der zehn oder zwölf Doktorgrade hat, wahrscheinlich die Erleuchtung erlangen wird, weil er alle Antworten kennt. Dann würde auch jemand mit einem Doktortitel bereits die teilweise Erleuchtung erreicht haben – wir wissen jedoch, dass sich dies überhaupt nicht so verhält. Die Antwort liegt nicht darin, ein Super-Gelehrter zu sein.

Die kontemplativen Überlieferungen des Buddhismus, so wie die tibetische und die Tradition des Zen, legen sehr starken Nachdruck auf die Praxis und sehen das Studium als etwas an, das Hand in Hand damit gehen sollte. Die Idee des Lernens sieht hierbei so aus, dass es sich um den Vorgang einer neuen Entdeckung, einer neuen wissenschaftlichen Entdeckung handelt, und das ist die tatsächliche Erfahrung. Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob wir etwas unter ein Mikroskop legen und es wirklich mit unseren eigenen Augen betrachten, oder ob wir einen Gegenstand bloß analytisch zergliedern. Wir können alles analysieren; wenn uns jedoch die Erfahrung damit fehlt, gibt es auch keine Grundlage für die Analyse. Daher gilt in der kontemplativen Überlieferung die Vorstellung, dass wir eine gewisse Grundschulung in der Meditationspraxis haben sollten – wie einfach diese auch immer sein mag – und dann mit der Arbeit an dem intellektuellen Aspekt beginnen. Auf diese Weise wird die Lehre als eine Bekräftigung von Erfahrung behandelt, anstatt nur ein Informationsspeicher zu sein.

Könnten Sie diese Neigung in uns erklären, dass wir uns mit der Theorie zufriedengeben, anstatt im Hinblick auf die wirkliche Erfahrung freier und offener zu sein?

Ich vermute, dass die hauptsächliche Neigung die Tendenz sein dürfte, das, was wir tun, abzusichern. Die ganze Praxis ist nämlich eine äußerst unsichere Angelegenheit. Man muss akzeptieren, dass man ein Dummkopf gewesen ist, und man muss als ein solcher beginnen. Am Anfang ist beispielsweise der Entschluss, es mit der Meditationspraxis zu versuchen, nichts weiter als die voreilige Schlussfolgerung darüber, was zu tun ist. Und selbst wenn man die Praxis am Anfang ausübt, stellt man sich doch bloß vor, dass man meditiert, anstatt wirklich zu meditieren. Am Anfang beruht die ganze Geschichte auf Verwirrung, und diese Verwirrung wird als Teil des Pfades akzeptiert. Da die Situation sehr locker und ungeordnet ist, verhält es sich so, als ob man einen Sprung in unbekanntes Gebiet wagt. Viele Menschen halten das für sehr erschreckend. Sie wissen nicht genau, womit sie es zu tun haben. Dies ist jedoch die einzige Möglichkeit, um in die Praxis einzusteigen. Dann wird es zu einem Sprungbrett, dass man ein Narr ist. Die Torheit nutzt sich von selbst ab, und das Ding, welches dahinterliegt, schaut allmählich verstohlen hervor. Es ist wie beim Durchlaufen von Schuhen: Ihr eigener Fuß beginnt hinter Ihrem Schuh aufzutauchen.

Dies ist mit einer ziemlichen Angst verbunden, und deshalb wird eine bestimmte Menge an Sicherheit gebraucht. Diese spezielle Antwort beantwortet nicht alle Ihre Fragen über die Sicherheit. Sie verspricht Ihnen eigentlich überhaupt nichts, sie stößt Sie einfach über Bord. Sie zeigt die Situation auf, dass wir Sicherheit brauchen und uns vor jener Situation fürchten. Wenn wir einmal aus jener Besorgnis um Sicherheit heraustreten und dazu bereit sind, roh und ungeschliffen, so persönlich und menschlich zu sein, wie wir sind, dann wird irgendwie eine gewisse Entspannung eintreten. Wir machen die Entdeckung, dass umso mehr zu uns zurückkommt, je mehr wir loslassen, und dass wir nicht die Herrschaft über alles verlieren. Dann entwickelt sich allmählich eine echte Beziehung zu unserer Situation.

Das große Problem besteht darin, dass spirituelle Lehren als ein Werkzeug Verwendung gefunden haben, damit wir uns selbst absichern und einen höheren Grad an Stabilität im Sinne des Ego erreichen. Dieser Ausgangspunkt ist unumgänglich für uns. Wir können ihn weder ignorieren noch wegschieben. Wir müssen mit den Fehlern beginnen – und das ist immer ein Problem. Die Angst und das Bedürfnis nach Sicherheit machen es äußerst schwer, Spontaneität anzunehmen. So wie es im Dhammapada heißt: „Derjenige, der weiß, dass er ein Narr ist, ist tatsächlich ein Weiser.“

* Anm. d. Übs.: Chögyam Trungpa verwendet hier und an einigen weiteren Stellen die englische Wendung kitchen sink (wörtlich „Spülbecken“). Diese ist ein Hinweis darauf, dass wir uns auch als Meditierende ganz konkret um unseren Abwasch kümmern müssen, und dient als Metapher für das ganz gewöhnliche Alltagsleben.

FORM

Wir könnten damit beginnen, über den Ursprung aller psychologischen Probleme, die Quelle für den neurotischen Geist zu sprechen. Dies ist die Neigung, sich mit Wünschen und Konflikten zu identifizieren, die in Beziehung zur Außenwelt stehen. Dabei entsteht augenblicklich die Frage, ob derartige Konflikte tatsächlich außerhalb existieren oder ob sie innerlich sind. Diese Unsicherheit verfestigt insgesamt das Gefühl, dass irgendein Problem vorliegt. Was ist wirklich? Was ist unwirklich? Das ist immer unser größtes Problem. Es ist das Problem des Ego.

Der Abhidharma, sein gesamter Inhalt mit allen Einzelheiten, beruht auf der Betrachtungsweise der Ichlosigkeit. Wenn wir von Ichlosigkeit sprechen, so bedeutet das nicht einfach das Fehlen des Ego an sich. Es bedeutet auch das Fehlen der Projektionen des Ego. Ichlosigkeit entsteht mehr oder weniger als ein Nebenprodukt, wenn wir die flüchtige, transparente Natur der Außenwelt sehen. Haben wir uns einmal mit den Projektionen des Ego auseinandergesetzt und ihr vergängliches und transparentes Wesen erkannt, dann hat das Ego keinen Bezugspunkt mehr und kann zu nichts mehr eine Verbindung herstellen. Die Begriffe von innen und außen sind daher voneinander abhängig – das Ego hat einmal angefangen und seine Projektionen haben begonnen. Das Ego hat es mithilfe seiner Projektionen fertiggebracht, seine Identität aufrechtzuerhalten. Wenn wir erkennen können, dass die Projektionen keine wirkliche Substanz haben, dann wird das Ego entsprechend transparent.

Dem Abhidharma zufolge setzt sich das Ego, in einem seiner Aspekte, aus acht Arten des Bewusstseins zusammen. Es gibt die Bewusstseinsarten der sechs Sinnesorgane (das Denken wird als sechster Sinn betrachtet). Dann gibt es eine siebte Bewusstseinsart, deren Wesen Unwissenheit, Umwölkung, Verwirrung ist. Dieser umwölkte Geist verläuft wie eine alles umfassende Struktur durch die sechs Bewusstseinsarten der Sinnesorgane. Jedes Sinnesbewusstsein ist mit dieser wolkenverhangenen Situation verbunden, in welcher wir nicht genau wissen, was wir tun. Die siebte Bewusstseinsart bedeutet ein Fehlen an Genauigkeit. Sie ist sehr blind.

Die achte Bewusstseinsart könnte als der allgemeine Grundboden oder die unbewusste Grundschicht von allem bezeichnet werden. Sie ist der Grundboden, der das Wirken aller übrigen sieben Bewusstseinsarten ermöglicht. Dieser Boden unterscheidet sich von dem grundlegenden Fundament, wovon ich manchmal gesprochen habe; dieses ist der Hintergrund der gesamten Existenz und umfasst Samsara wie Nirvana gleichermaßen. Die achte Bewusstseinsart ist nicht so fundamental wie jener Untergrund. Sie ist so etwas wie eine sekundäre Grundebene, auf welcher die Verwirrung bereits begonnen hat, und ebendiese Verwirrung versorgt die anderen sieben Bewusstseinsarten mit der Möglichkeit, wirksam zu werden.

Es gibt einen Evolutionsprozess, der mit dieser unbewussten Grundschicht, dem achten Bewusstsein, anfängt. Daraus entstehen das umwölkte Bewusstsein und danach die sechs Bewusstseinsarten der Sinnesorgane. Auch die sechs Sinne entwickeln sich in einer bestimmten Reihenfolge, die dem jeweiligen Grad an Erfahrungstiefe entspricht. Die höchste Intensität wird mit dem Gesichtssinn erreicht, der sich zuletzt entwickelt.

Diese acht Bewusstseinsarten können auf der Ebene des ersten der fünf Skandhas, der Form, betrachtet werden. Sie bilden die Form des Ego, seinen greifbaren Aspekt. Sie machen das letztlich mit dem Grund verbindende Element des Ego aus – so weit das Ego überhaupt Grund fasst, und das geht nicht allzu weit. Von einem relativen Standpunkt aus betrachtet umfassen sie jedoch etwas fest Bestimmtes, etwas klar Umrissenes.

Ich glaube, damit dies in die rechte Perspektive gerückt wird, wäre es gut – obgleich die Lehre des Abhidharma nicht sehr viel darüber aussagt –, kurz über den alles durchdringenden Untergrund zu sprechen, den wir der achten Bewusstseinsart gerade gegenübergestellt haben. Dieser Untergrund existiert vollkommen unabhängig von relativen Gegebenheiten. Er ist natürliches Sein, das einfach da ist. Aus dieser Grundschicht heraus treten Energieformen in Erscheinung, und diese Energien sind die Quelle für die Entstehung relativer Situationen. Funken von Dualität, Erfahrungstiefe und Schärfe, Blitze von Weisheit und Wissen – alle möglichen Dinge kommen aus dieser Grundschicht hervor. Sie ist daher der Ursprung für die Verwirrung und ebenso die Quelle für die Befreiung. Befreiung und Verwirrung sind beide gleichermaßen jene Energie, die sich unaufhörlich ereignet, die Funken aussendet und dann in ihre eigentliche Natur zurückkehrt – so wie nach der Beschreibung von Milarepa die Wolken, die aus dem Himmel auftauchen und wieder in ihn zurück verschwinden.

Der Untergrund für das Ego, die achte Art des Bewusstseins, entsteht, wenn die Energie, die aus der eigentlichen Grundschicht blitzartig ausstrahlt, eine blind machende Wirkung zur Folge hat – Verwirrung. Diese Verwirrung wird zur achten Bewusstseinsart, zum Untergrund für das Ego. Herbert Guenther nennt dies „Verwirrungs-Irrtum“.