Wie wäre die Wahl zur Nationalversammlung 1919 unter Beibehaltung des absoluten Mehrheitswahlrechts ausgefallen? - Andreas Schulz - E-Book

Wie wäre die Wahl zur Nationalversammlung 1919 unter Beibehaltung des absoluten Mehrheitswahlrechts ausgefallen? E-Book

Andreas Schulz

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Wahl zur Nationalversammlung am 19.1.1919 war wegweisend für die deutsche Geschichte, doch eine klare Entscheidung brachte sie nicht. Die vorliegende Studie untersucht, ob das anders gewesen wäre, wäre nicht die Verhältniswahl eingeführt, sondern das auf der absoluten Mehrheitswahl basierende kaiserzeitliche Wahlsystem in seiner am 24.8.1918 reformierten Fassung angewandt worden. Im Anhang enthält die Arbeit diese reformierte Fassung des Wahlgesetzes sowie die amtlichen Ergebnisse der Wahl zur Nationalversammlung auf dem Gebiet der kaiserzeitlichen Reichstagswahlkreise.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 208

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Die Ergebnisse in den Wahlkreisen

Wahlkreis 1: Provinz Ostpreußen

Wahlkreis 2: Provinz Westpreußen

Wahlkreis 3: Berlin

Wahlkreis 4 und 5: Regierungsbezirk Potsdam

Wahlkreis 6: Regierungsbezirk Frankfurt/Oder

Wahlkreis 7: Provinz Pommern

Wahlkreis 8: Provinz Posen

Wahlkreis 9: Regierungsbezirk Breslau

Wahlkreis 10: Regierungsbezirk Oppeln

Wahlkreis 11: Regierungsbezirk Liegnitz

Wahlkreis 12: Anhalt sowie der Regierungsbezirk Magdeburg

Wahlkreis 13: Regierungsbezirk Merseburg

Wahlkreis 14: Provinz Schleswig-Holstein

Wahlkreis 15: Oldenburg sowie die Regierungsbezirke Aurich und Osnabrück

Wahlkreis 16: Braunschweig sowie die Regierungsbezirke Hannover, Hildesheim und Lüneburg

Wahlkreis 17: Lippe, Schaumburg-Lippe sowie die Regierungsbezirke Minden und Münster

Wahlkreis 18: Regierungsbezirk Arnsberg

Wahlkreis 19: Waldeck und die Provinz Hessen-Nassau

Wahlkreis 20: Regierungsbezirke Köln und Aachen

Wahlkreis 21: Fürstentum Birkenfeld sowie die Regierungsbezirke Koblenz und Trier

Wahlkreis 22 und 23: Regierungsbezirk Düsseldorf

Wahlkreis 24: Oberbayern und Schwaben

Wahlkreis 25: Niederbayern und Oberpfalz

Wahlkreis 26: Unter-, Mittel- und Oberfranken

Wahlkreis 27: Pfalz

Wahlkreis 28: Dresden-Bautzen

Wahlkreis 29: Leipzig

Wahlkreis 30: Chemnitz-Zwickau

Wahlkreis 31/32: Württemberg sowie der Regierungsbezirk Sigmaringen

Wahlkreis 33: Baden

Wahlkreis 34: Hessen-Darmstadt

Wahlkreis 35: Mecklenburg-Schwerin, Mecklenburg-Strelitz und Lübeck

Wahlkreis 36: Thüringen

Wahlkreis 37: Hamburg, Bremen sowie der Regierungsbezirk Stade

Fazit

Anhang

Literaturverzeichnis

Einleitung

Ich erlaube mir, die vorliegende Studie in einem Book-on-Demand-Verlag erscheinen zu lassen, da sie recht eigentlich keinen wissenschaftlichen Mehrwert erbringt. Gleichwohl behandelt sie eine sehr interessante Frage: Wie wären die Wahlen zur Nationalversammlung in Deutschland 1919 ausgefallen, wäre das im Vorfeld der Oktoberreformen eingeführte, noch weitgehend der im Kaiserreich benutzten absoluten Mehrheitswahl verhaftete Verfahren angewandt worden und nicht die völlige Durchsetzung der Verhältniswahl erfolgt? Hätte es in diesem Fall für eine Alleinregierung der SPD als mit Abstand stärkster Partei gereicht? Oder hätten sich ganz andere Optionen ergeben?

Der Reichstag des Norddeutschen Bundes respektive des Deutschen Reiches wurde in Ein-Mann-Wahlkreisen nach absolutem Mehrheitswahlrecht gewählt, das heißt, das Wahlgebiet wurde in mehrere Wahlkreise eingeteilt, von denen jeder einen Abgeordneten entsandte. Anders als in Großbritannien, aber ähnlich wie noch heute in Frankreich galt ein Kandidat erst dann als gewählt, wenn er die absolute Mehrheit der im Wahlkreis abgegebenen Stimmen erhalten hatte. Gelang dies keinem Bewerber, fand wenige Tage später eine Stichwahl zwischen den beiden erfolgreichsten Kandidaten statt. In zahlreichen Wahlkreisen kam es daher immer wieder zu zwei Urnengängen pro Wahl, von denen ich hier den ersten, obgleich etwas unsauber, als Haupt- und den zweiten als Stichwahl bezeichne. Daneben bestanden Ergänzungswahlen. Sie verliefen nach demselben Schema und wurden vorgenommen, wenn ein Abgeordneter beispielsweise durch Tod, Mandatsniederlegung oder -aberkennung aus dem Reichstag ausschied. Letzteres konnte vorkommen, wenn die Reichstagsmehrheit eine Wahl wegen Unregelmäßigkeiten für ungültig erklärte.

In den ersten sieben Jahren nahm die Zahl der Reichstagsabgeordneten durch die stetige Erweiterung des Staatsterritoriums von 297 auf 397 Personen zu. Danach wurden jedoch kaum noch Veränderungen vorgenommen und somit die Wahlkreise nicht an die sich wandelnden Einwohnerverhältnisse angepasst.1 In Berlin führte das beispielsweise dazu, dass 1867 sechs Wahlkreise eingerichtet worden waren. Bereits 1874 umfassten diese zwischen 15701 (Berlin 1) und 29647 Wahlberechtigte (Berlin 4),2 war der größte also fast doppelt so groß wie der kleinste. Bis 1912 war dieses Missverhältnis auf 13407 Wahlberechtigte in Berlin 1 gegen 219782 in Berlin 6 angewachsen3 – im größten Berliner Wahlkreis lebten damit mehr als sechzehnmal so viele Wahlberechtigte wie im kleinsten. Den Rekord trug allerdings der im Regierungsbezirk Potsdam gelegene Wahlkreis Teltow-Beeskow-Storkow-Charlottenburg. Hier konnten 1912 nicht weniger als 339256 Personen einen Abgeordneten bestimmen. Zur selben Zeit standen in Baden 478765 Wahlberechtigten 14 Vertreter im Reichstag zu, ebenso in Pommern, das mit 377846 kaum mehr Wahlberechtigte zählte als Teltow-Beeskow-Storkow-Charlottenburg allein.

Erst im Sommer des Jahres 1918 wurden Maßnahmen ergriffen, um diesen Missverhältnissen Abhilfe zu schaffen. In einer Wahlsystemreform wurden mehrere Wahlkreise in Mehrpersonenwahlkreise umgewandelt,4 dazu in einigen Fällen bestehende Wahlkreise wie die Berlins und Hamburgs zu jeweils einem Mehrpersonenwahlkreis zusammengelegt. Teilweise wurden, wie bei Dresden, hierfür Wahlkreise neu zugeschnitten und an seit 1867 erfolgte Eingemeindungen angepasst. Insgesamt stieg die Zahl der Abgeordneten so auf 441, wobei ein Automatismus dazu führte, dass auch die von dieser Wahlsystemreform nicht betroffenen Wahlkreise durch Bevölkerungswachstum in die Riege der Mehrpersonenwahlkreise aufsteigen konnten.

Während bei den Ein-Mann-Wahlkreisen auch weiterhin das absolute Mehrheitswahlrecht Anwendung finden sollte, waren die Abgeordneten der Mehrpersonenwahlkreise per Verhältniswahl und Höchstzahlverfahren zu bestimmen, wobei verschiedene Parteilisten miteinander verbunden werden konnten. Am Beispiel des größten Mehrpersonenwahlkreises Berlin mit zehn Abgeordneten soll dieses Prozedere verdeutlicht werden.

Im Wahlkreis Berlin traten bei der Wahl zur Nationalversammlung sechs Parteien an: USPD, SPD,5 DDP, CVP, DVP und DNVP. Die letzteren drei Parteien gingen dabei eine Listenverbindung ein, das heißt, bei der Mandatsverteilung wurden sie als eine Partei behandelt und erst in einem zweiten Schritt berechnet, wie viele Reichstagssitze jedes Mitglied der Verbindung erhalten sollte. An Stimmen entfielen auf die SPD 392272, die USPD 293950, die Listenverbindung 218019 und die DDP 173487. Diese Werte werden wie in Tabelle 1 durch die Zahlen 1, 2, 3, 4... geteilt.

Divisor

SPD

USPD

LV

DDP

1

392272

293950

218019

173487

3

130757

97983

72673

57829

4

98068

73488

54505

43372

5

78454

58790

43604

34697

Tabelle 1: Anwendung des Höchstzahlverfahrens am Beispiel Berlins. Zugrunde gelegt werden das Wahlergebnis der Wahl zur Nationalversammlung von 1919 und die gemäß der Wahlsystemreform von 1918 zustehende Zahl von 10 Abgeordneten. Die vergebenen Mandate sind durch Kursivschrift markiert. LV steht für Listenverbindung.

Die auf diese Weise gewonnen Zahlen werden nun der Größe nach sortiert und für die zehn höchsten jeweils ein Mandat vergeben. Im Falle Berlins wäre die höchste Zahl die 392272, womit das erste Mandat der SPD zufällt. Die zweithöchste Zahl ist die 293950, was der USPD einen Parlamentssitz beschert, und die dritthöchste die 218019, wodurch die Parteien der Listenverbindung ein Mandat erhalten. Mit der Zahl 196136 stellt die SPD den vierten Berliner Abgeordneten, die DDP wird mit der Zahl 173487 erst mit dem fünften Mandat bedacht. Es folgen die Zahlen 146975 (USPD), 130757 (SPD), 109010 (Listenverbindung), 98068 (SPD) und 97983 (USPD). Damit stellt die SPD vier der Berliner Abgeordneten, die USPD drei und die DDP einen. Die auf die Listenverbindung entfallenen zwei Mandate müssen dagegen noch auf die beteiligten drei Parteien verteilt werden. Auch hier findet das Höchstzahlverfahren Anwendung (Tabelle 2).

Divisor

DNVP

DVP

CVP

1

101754

61159

55106

2

50877

30580

27553

Tabelle 2: Anwendung des Höchstzahlverfahrens am Beispiel der DNVP-DVP-CVP-Listenverbindung in Berlin. Zugrunde gelegt werden das Wahlergebnis der Wahl zur Nationalversammlung von 1919 und die gemäß der Wahlsystemreform von 1918 zustehende Zahl von 10 Abgeordneten, von denen zwei auf die Listenverbindung entfallen wären. Die vergebenen Mandate sind durch Kursivschrift markiert.

Die höchste Zahl weist mit 101754 die DNVP auf, die damit eines der beiden Mandate erhält. Das andere geht der DVP mit der Zahl 61159 zu. Die CVP geht leer aus.

Praktisch angewandt wurde die im Sommer 1918 verabschiedete Reform jedoch nie, da infolge der wenige Monate später eingetretenen Novemberrevolution das Wahlsystem in Deutschland in mehreren Gesetzen grundlegend neu gestaltet wurde. Die wichtigsten Neuerungen betrafen zum Einen den Kreis der Wahlberechtigten: Erstmals waren Frauen, aktive Militärs sowie generell Personen zwischen 20 und 25 Jahren wahlberechtigt. Zum Anderen wurden sämtliche Reichstagswahlkreise zu 38, nach der Zusammenlegung der beiden württembergisch-hohenzollern'schen zu 37 Mehrpersonenwahlkreisen vereinigt, in denen nach dem eben beschriebenen Höchstzahlverfahren eine Verhältniswahl stattfand.6

Damit ergeben sich einige unüberwindbare Grenzen für jede Untersuchung. So lassen sich selbstverständlich weder die Stimmen der Frauen noch jene der unter-25-jährigen Männer aus dem Wahlergebnis herausrechnen, weil die auf die einzelnen Parteien entfallenen Wahlzettel weder nach Alter noch nach Geschlecht getrennt erfasst wurden. Da der Kreis derjenigen Personen, die vor 1919 zum Reichstag wahlberechtigt waren, nun deutlich weniger als die Hälfte aller Wahlberechtigten ausmachte, kann unmöglich angegeben werden, wie die Wahl zur Nationalversammlung ohne diese Wahlrechtsausweitung ausgegangen wäre. Allenfalls kann aufgrund späterer Wahlen darauf verwiesen werden, dass vermutlich auch zu Beginn des Jahres 1919 die Frauen tendenziell eher konservativ als die Männer wählten. Schon unklarer ist, ob die jüngeren Wähler eher zur Wahl radikaler Parteien neigten als die älteren und damit die Tendenz der Frauen zu einem rechten Votum ausglichen.7 Fest steht einzig, dass in allen Altersklassen eine relativ gleich hohe Wahlbeteiligung zwischen 80,5 % (20-jährige Frauen) und 84,8 % (über-50-jährige Männer) bestand. Ausnahmen bildeten lediglich jene Personen, die den Krieg hauptsächlich an der Front erlebt hatten: Bei den 21-bis 25-jährigen Männern lag die Wahlbeteiligung bei nur 70,5 % und bei den 20-jährigen sogar bei nur 59,6 %. Allerdings ist dabei zu beachten, dass nach Angabe des Kriegsministeriums der größte Teil des Ostheeres und damit der noch im Feld stehenden Soldaten an der Wahl aus organisatorischen Gründen nicht teilnehmen konnte.8

Ein weit geringeres Problem stellt glücklicherweise die Feststellung der Wahlergebnisse auf dem Gebiet der einzelnen alten Reichstagswahlkreise dar. Eine solche wurde zeitgenössisch veröffentlicht,9 obgleich es den Statistikern in einigen Fällen nicht möglich war, jeden Wahlkreis deutlich gegen seine Nachbarn abzugrenzen, weshalb sie bei einigen nicht die Ergebnisse innerhalb der alten Kreisgrenzen, sondern innerhalb der damaligen Stadtgrenzen angaben. Dies ist aber eher ein Glücksfall, da es sich hierbei in der Regel um jene Wahlkreise handelt, die in der Wahlsystemreform vom Sommer 1918 ohnehin neu abgegrenzt worden waren und bei denen sich sonst die Frage gestellt hätte, inwieweit die Neuabgrenzung ihr Wahlergebnis veränderte. Probleme ergeben sich allerdings in jenen Fällen, in denen sich die Statistiker dazu entschlossen, das Ergebnis zweier Reichstagswahlkreise nur gemeinsam anzugeben.10 Sofern diese Zusammenlegung nicht ebenfalls in der früheren Wahlsystemreform vorgenommen worden war, muss die Stimmenverteilung auf die einzelnen Reichstagswahlkreise geschätzt werden.

Vor größere Schwierigkeiten stellt den Forscher das Parteienangebot: Wäre bei der Wahl zur Nationalversammlung nach einer Mehrheitswahl gewählt worden, hätten für jeden einzelnen Reichstagswahlkreis gesondert Kandidaten aufgestellt werden müssen, was traditionell mit einer Vielzahl an Bündnissen zwischen den einzelnen Parteien schon in der Hauptwahl einherging.11 Durch die Verhältniswahl in Mehrpersonenwahlkreisen waren Absprachen dagegen nur auf dem Gebiet der neuen Wahlkreise möglich, sodass eine solche Vereinbarung auf dem Territorium mehrerer alter Reichstagswahlkreise galt. Für die Untersuchung muss daher angenommen werden, dass jede Partei bestrebt gewesen wäre, angesichts der neuen Situation ihren Marktwert zu testen, das heißt, dass jede Partei auch in jedem Reichstagswahlkreis einen eigenen Bewerber aufgestellt hätte, wenn sie in der Realität für den neuen Wahlkreis eine Liste aufstellte.

Während die Abschätzung, welche Parteien es in eine Stichwahl geschafft hätten, dank der Überlieferung der echten Wahlergebnisse auf Ebene der alten Reichstagswahlkreise immerhin mit einiger Sicherheit möglich ist, ist in vielen Fällen der Ausgang der Stichwahl unberechenbar. Aus diesem Grund arbeitet die Untersuchung mit zwei Modellen, denen folgende Überlegung zugrunde liegt: Aus Frankreich ist bekannt, dass die Wähler bei einer absoluten Mehrheitswahl in der ersten Wahlrunde entscheiden, welche linke und welche rechte Partei in die Stichwahl einzieht, und erst in der Stichwahl, ob das Mandat an einen linken oder rechten Bewerber geht.12 Von den beiden anzunehmenden Modellen muss also eines entweder von einem insgesamt linken oder rechten Wahlsieg ausgehen und die Mandate für diese Seite sammeln. Das andere Modell muss als Spiegelbild zusammenfassen, welche Parteien der anderen Seite wie viele Abgeordnete entsenden. Weil die eindeutigen Linken (SPD und USPD) 1919 weniger zersplittert waren als die Rechten (DNVP, DVP, Zentrum/CVP, BVP, Mittelstellung: DDP) und es die SPD als einzige Partei in fast jede Stichwahl schaffte, wird in Modell A der für die beiden sozialistischen Parteien günstigste Wahlausgang angenommen. Modell B geht spiegelbildlich vom für ein solches Bündnis ungünstigsten Ergebnis aus. Dies widerspricht insofern der Realität des Januars 1919, als die Zeitgenossen eher eine zukünftige SPD-DDP-Regierung als eine Erneuerung des SPD-USPD-Bündnisses erwarteten, obgleich die linksliberale Bereitschaft zu Reformen mit den Sozialdemokraten von Anfang an begrenzt war.13 In Fällen, wo keine sozialistische Partei in die Stichwahl gelangte, wird daher in Modell A von einem Sieg der DDP oder, wenn auch das nicht möglich ist, der CVP, die später doch der Weimarer Koalition beitreten sollte, angenommen, um zumindest der SPD eine Regierungsbeteiligung auch jenseits der USPD zu ermöglichen. In Modell B wird hingegen im Zweifelsfall ein möglicher Wahlsieg der DNVP/DVP einem von DDP und CVP vorgezogen, weil dies die Koalitionsoptionen der SPD reduziert. Damit bleibt die Möglichkeit ausgeklammert, ob es auch zu einer DDP-CVP-Mehrheit hätte reichen können. Ein solches Modell C wird in den Kapiteln zu den einzelnen Wahlkreisen nicht explizit geführt, da es nur in sehr seltenen Fällen zu Abweichungen von den Ergebnissen der Modelle A und B kommt. Im Fazit werden wir uns jedoch auch mit dieser Variante beschäftigt.

Um die Entscheidungen, warum eine Partei einen Wahlkreis gewonnen haben dürfte oder nicht, für den Leser nachvollziehbar zu machen, wird zu jedem Reichstagswahlkreis, dessen Parlamentssitz nicht schon in der Hauptwahl vergeben worden wäre, eine Erörterung des Ergebnisses vorgenommen. Hierfür werden auch die Resultate derjenigen Parteien angegeben, die es nicht in die Stichwahl geschafft hätten, allerdings nur, wenn sie wenigstens ein Zehntel der abgegebenen Stimmen erhielten. Zudem wird in der Regel ein Vergleich mit den seit der Jahrhundertwende, das heißt bei den Reichstagswahlen von 1903, 1907 und 1912 sowie etwaigen Ergänzungswahlen, eingetretenen Ergebnissen vorgenommen. Dabei werden, sofern nicht anders angegeben, die Vorkriegsverhältnisse stets auf der Grundlage von Carl-Wilhelm Reibels Handbuch der Reichstagswahlen geschildert.

Im Wesentlichen traten bei der Wahl zur Nationalversammlung sechs Parteien an: die DNVP als Vertreterin der Deutsch- und Freikonservativen, die DVP als Vertreterin der Nationalliberalen, die CVP als Nachfolgerin des Zentrums sowie die DDP als Vertreterin der Linksliberalen. Bei den Sozialisten hatte sich während des Krieges die USPD von der SPD abgespalten.14 Es ist davon auszugehen, dass dieses Parteienangebot im Wesentlichen auch dann bestanden hätte, wenn das Mehrheitswahlsystem angewandt worden wäre. Traten in einem Wahlkreis zudem Regionalparteien von relevanter Größe auf oder eine der oben erwähnten Parteien nicht an, wird dies zu Beginn des jeweiligen Kapitels erwähnt.

Um schließlich keine Verwirrung zwischen dem alten und dem neuen Wahlsystem aufkommen zu lassen, wird im Folgenden immer dann von „Wahlkreis“ gesprochen werden, wenn einer der 37 für die Wahl zur Nationalversammlung eingerichteten Wahlkreise gemeint, und von „Reichstagswahlkreis“, wenn von einem der alten Reichstagswahlkreise die Rede ist.

1 Vgl. zu den Wahlrechtsmodalitäten und dem Problem der Nichtanpassung der Wahlkreise NIPPERDEY, Thomas: Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 2: Machtstaat vor der Demokratie, München 2013, S. 42, 497-500.

2 Vgl. PHILLIPS, Arthur: Die Reichstags-Wahlen von 1867 bis 1883 – Statistik der Wahlen zum Konstituierenden und Norddeutschen Reichstage, zum Zollparlament, sowie zu den fünf ersten Legislaturperioden des Deutschen Reichstages, Berlin 1883, S. 15-18.

3 Für die Wahlergebnisse der Reichstagswahlen seit 1890 benutze ich stets REIBEL, Carl-Wilhelm: Handbuch der Reichstagswahlen 1890-1918 – Bündnisse, Ergebnisse, Kandidaten (= Handbücher zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 15), 2 Hbbd., Düsseldorf 2007.

4 Siehe das „Gesetz über die Zusammensetzung des Reichstags und die Verhältniswahl in großen Reichstagswahlkreisen“ unter „A. Reichstagswahlgesetz vom 24. August 1918“ im Anhang.

5 Für die SPD wird in dieser Publikation durchgängig die offizielle Bezeichnung SPD statt des ebenfalls gebräuchlichen MSPD verwendet. Um jedoch keine allzu große Monotonie in der Wortwahl eintreten zu lassen, aber auch eine Verwechslung zwischen dem Gesamtergebnis von SPD und USPD und jenem der SPD alleine zu verhindern, wird das Gesamtergebnis als „sozialistisch“ bezeichnet, als Synonym für die SPD hingegen der informelle Ausdruck „Mehrheitssozialdemokraten“ verwendet.

6 Vgl. zu den Grundlagen der Wahl zur Nationalversammlung STATISTISCHES REICHSAMT: Die Wahlen zur verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung am 19. Januar 1919 mit einer Karte der Wahlkreise und farbiger Darstellung der Zahl und Parteistellung der in jedem Wahlkreis gewählten Abgeordneten (= Vierteljahreshefte zur Statistik des Deutschen Reichs – 28. Jg., 1919, Erstes Ergänzungsheft), Berlin 1919, S. 1-6.

7 Vgl. ROHE, Karl: Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland – Kulturelle Grundlagen deutscher Parteien und Parteiensysteme im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1992, S. 121-125.

8 Vgl. STATISTISCHES REICHSAMT: Wahlen 1919, S. 16.

9 Die Ergebnisse wurden in den Anhang dieser Arbeit unter „B. Die Ergebnisse der Wahl zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 auf dem Gebiet der ehemaligen Reichstagswahlkreise“ aufgenommen.

10 STATISTISCHES REICHSAMT (Hrsg.): Vierteljahreshefte zur Statistik des Deutschen Reichs, 28. Jg. 1919, Viertes Heft, S. 277.

11 Zur Problematik der kaiserzeitlichen Wahlbündnisse vgl. REIBEL: Handbuch, Bd. 1, S. 20-35.

12 Vgl. allgemein zur Wirkungsweise des absoluten Mehrheitswahlrechts am Beispiel des III. bis V. Französischen Republik NOHLEN, Dieter: Wahlrecht und Parteiensystem, 7., überarb. u. akt. Aufl., Opladen, Toronto 2014, S. 345-362; BAEDERMANN, Tim: Der Einfluss des Wahlrechts auf das Parteiensystem (= Beiträge zum ausländischen und vergleichenden öffentlichen Recht, Bd. 26), Baden-Baden 2007, S. 193-198.

13 Vgl. LEHNERT, Detlef: Die Weimarer Republik – Parteienstaat und Massengesellschaft, Stuttgart 1999, S. 31-38.

14 Vgl. WINKLER, Heinrich August: Weimar 1918-1933 – Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, durchgeseh. Aufl., München 1998, S. 69.

Die Ergebnisse in den Wahlkreisen

Wahlkreis 1: Provinz Ostpreußen

Der Wahlkreis 1 bestand aus dem Gebiet der bisherigen 17 ostpreußischen Reichstagswahlkreise. Bei der Wahl zur Nationalversammlung waren die Listen von DNVP, DVP und CVP miteinander verbunden.

In zehn Reichstagswahlkreisen wäre die Wahl bereits im ersten Wahlgang entschieden worden: An die SPD wären Sensburg-Ortelsburg mit 53,7 %, Rastenburg-Gerdauen-Friedland mit 55,65 %, Memel-Heydekrug mit 56,6 %, Osterode-Neidenburg mit 56,9 %, Tilsit-Niederung mit 57,75 %, Ragnit-Pillkallen mit 57,1 %, Angerburg-Lötzen mit 59,33 % und Oletzko-Lyck-Johannisburg mit 61 % gegangen, an die CVP Allenstein-Rössel mit 54,4 % und Braunsberg-Heilsberg mit 80,04 %.

Für die Reichstagswahlkreise Stadt Königsberg und Königsberg-Land-Fischhausen war den Statistikern eine getrennte Aufschlüsselung des Wahlergebnisses nicht möglich. Der Reichstagswahlkreis Stadt Königsberg war 1903 in einer Stichwahl gegen die Linksliberalen mit 51,5 % an die SPD gegangen, 1907 mit 53,2 % an die Linksliberalen und 1912 mit 51,7 % wieder an die SPD. Der Reichstagswahlkreis Königsberg-Land-Fischhausen wurde 1903 mit 52,4 % und 1907 mit 69,1 % von den Konservativen erobert, gegen die sich 1912 die Linksliberalen in einer Stichwahl mit 54,4 % durchsetzten. Bei den Wahlen zur Nationalversammlung erreichte die SPD insgesamt 37,3 %, gefolgt von der DDP mit 19,1 %, der USPD mit 16,8 % und der DVP mit 16,4 %. Damit bestand eine sozialistische Mehrheit von 56,4 %, die SPD hätte je nach Stimmenverteilung entweder einen Reichstagswahlkreis direkt gewinnen können oder sich in beiden einer Stichwahl gegen DDP, USPD oder DVP gegenübergesehen. Angesichts der früheren Wahlergebnisse ist davon auszugehen, dass sie den Reichstagswahlkreis Stadt Königsberg entweder direkt oder in einem zweiten Urnengang gegen DDP oder USPD gewonnen hätte. Für Königsberg-Land-Fischhausen muss dagegen eine Stichwahl zwischen den Mehrheitssozialdemokraten und der DDP oder der DVP als wahrscheinlich gelten. Letzterer Fall hätte sowohl das günstigste als auch das ungünstigste Szenario für die Sozialisten dargestellt, denn bei einem Duell gegen die DVP wäre es nicht unwahrscheinlich, dass ausreichend Anhänger der Linksliberalen direkt oder durch Wahlenthaltung indirekt die SPD unterstützt und ihr damit zum Sieg verholfen hätten, was in Modell A angenommen wird. Allerdings wäre es auch möglich, dass sie in ausreichendem Maße für den nationalliberalen Bewerber eingetreten wären und damit das Mandat der DVP in die Hände gegeben hätten, wovon in Modell B ausgegangen wird. Freilich hätte, wäre die DDP selbst in die Stichwahl eingezogen, auch ihr der Parlamentssitz zufallen können.

Definitiv in die engere Wahl hätten es die Linksliberalen in drei Reichstagswahlkreisen geschafft, und zwar stets gegen die SPD. In Gumbinnen-Insterburg hätten sich beide Parteien mit 28,7 % und 42,7 % gegenübergestanden. Es folgten die DNVP mit 10,9 % und die DVP mit 10,4 %. Angesichts einer sozialistischen Minderheit von 49,4 % wird in beiden Modellen von einem DDP-Sieg ausgegangen.

Dasselbe gilt für den Reichstagswahlkreis Stallupönen-Goldap-Darkehmen. Die SPD kam hier auf 48,5 % und die DDP auf 26,5 %. Es folgten die DNVP mit 15,9 %, die Sozialisten verpassten die Mehrheit erneut knapp mit 49 %. Auch hier kann in beiden Modellen davon ausgegangen werden, dass die nichtsozialistische Alternative die Stichwahl gewonnen hätte.

Anders verhält es sich mit dem Reichstagswahlkreis Labiau-Wehlau. Die SPD erreichte hier 49,4 % und die DDP 19,4 %. Angesichts des geringen Abstandes, mit dem die Mehrheitssozialdemokraten das Mandat verpassten, und eines USPD-Stimmenanteils von 8,2 % kann von einem SPD-Sieg in der Stichwahl ausgegangen werden.

Ebenfalls günstig für die Mehrheitssozialdemokraten war die Situation in den verbleibenden beiden Reichstagswahlkreisen, wo sie in der Stichwahl jeweils einem politisch exponierten Gegner von der DNVP gegenübergestanden hätten. In Heiligenbeil-Preußisch Eylau erreichten die SPD 45,9 % und die DNVP 24,5 %. Die DDP kam auf 20,5 %, die Sozialisten zusammen auf 48,8 %. Angesichts des wie erwähnt ausgesprochen weit rechts stehenden Gegners ist es möglich, dass ausreichend viele Linksliberale die Teilnahme an der Stichwahl verweigert oder für die SPD als dem kleineren Übel gestimmt hätten. Hierfür spricht nicht zuletzt, dass der Rückhalt für die Konservativen in Heiligenbeil-Preußisch Eylau schon vor dem Krieg drastisch gesunken war: Hatten sie den Reichstagswahlkreis 1903 noch mit 67,1 % und 1907 sogar mit 81,6 % der Stimmen im ersten Wahlgang erobert, waren es 1912 nur noch magere 51,5 %. Das Mandat geht daher in Modell A an die Mehrheitssozialdemokraten und nur in Modell B an die DNVP.

Dasselbe Urteil muss über den Reichstagswahlkreis Preußisch Holland-Mohrungen gesprochen werden. Für die SPD stimmten hier 46 % und für die DNVP 28,4 % der Wähler. Die DDP folgte mit 19,4 %, die USPD war mit 18 gültigen Stimmzetteln de facto nicht präsent. Zwar war das Mandat 1903 und bei einer Ergänzungswahl 1905 mit 87,7 %, 1907 mit 90,1 % sowie 1912 mit 88 % an die Konservativen gegangen, dennoch ist auch hier eine ausreichende linksliberale Unterstützung für die SPD denkbar. Das Mandat geht daher in Modell A an die SPD und in Modell B an die DNVP.

Im Wahlkreis 1 erhält die SPD damit im Modell A 13 und CVP sowie DDP jeweils zwei Mandate. In Modell B werden zehn Abgeordnete von der SPD ins Parlament entsandt, jeweils zwei von DDP, CVP und DNVP sowie einer von der DVP.

Wahlkreis 2: Provinz Westpreußen

Der Wahlkreis 2 bestand aus dem Gebiet der 13 Reichstagswahlkreise der Provinz Westpreußen. Bei der Wahl zur Nationalversammlung waren die Listen von SPD und USPD verbunden, die DVP trat hier nicht an. Zu beachten ist, dass in der Zeit nach der Jahrhundertwende die Reichstagswahlkreise Neustadt-Karthaus, Berent-Preußisch Stargard und Konitz-Tuchel stets sowie Thorn-Kulm und Schwetz jeweils einmal an einen polnischen Bewerber gegangen sind. In den übrigen Reichstagswahlkreisen bestanden mit Ausnahme von Elbing-Marienburg, Land Danzig, Stadt Danzig und Deutsch-Krone starke polnische Minderheiten. Da die polnischen Abgeordneten bereits am 25.10.1918 ihre Tätigkeit in Reichstag und preußischem Landtag aufgrund ihrer Nichtzugehörigkeit zu Deutschland demonstrativ beendet hatten, muss mit einem Wahlboykott der Polen gerechnet werden, wofür auch die ausgesprochen geringe Wahlbeteiligung von 58,4 % 1919 gegen 86,6 % bei der Reichstagswahl von 1912 in der Provinz Westpreußen spricht.15 Kein einziges Mandat wäre bereits im ersten Wahlgang von einem Kandidaten mit Sicherheit gewonnen worden.

Die Ergebnisse für die Reichstagswahlkreise Danzig Land und Stadt Danzig konnten von den Statistikern nicht getrennt werden. Insgesamt erhielt die SPD 38,5 % der Stimmen, gefolgt von der DDP mit 23,8 %, der CVP mit 16,3 % und der DNVP mit 15,3 %. Die Sozialisten kamen auf zusammen 44,6 %. Der Reichstagswahlkreis Danzig Land war 1903 von den Freikonservativen in einer Stichwahl gegen das Zentrum mit 57,4 % erobert worden, 1907 in einer Neuauflage des Duells mit 56,1 % sowie 1912 in einer Stichwahl gegen die SPD mit 60,3 %. In der Stadt Danzig hatten sich 1903 die Linksliberalen mit 61,8 % in einer Stichwahl gegen die SPD durchgesetzt, 1907 in derselben Konstellation mit 62,6 % und 1912 bei einer weiteren Neuauflage mit 55,8 %. Im für die Sozialisten denkbar günstigsten Fall ist daher von einem knappen Wahlsieg der SPD in der Stadt Danzig auszugehen, im wahrscheinlicheren Modell B dagegen von einem Mandatsgewinn für die DDP. Für Danzig Land sind angesichts der Zahlenverhältnisse und der Vorgeschichte sämtliche Stichwahlkonstellationen zwischen SPD, DDP, Zentrum und DNVP denkbar. Eine Vorhersage für diesen Reichstagswahlkreis ist unter den gegebenen Umständen unmöglich; um jedoch dem schwachen Abschneiden der Sozialisten im Gesamtergebnis beider Reichstagswahlkreise sowie der früheren Konzentration der Zentrums- und konservativen Stimmen in Danzig Land einer-, der linksliberalen in der Stadt Danzig andererseits gerecht zu werden, wird im Modell A Danzig Land dem Zentrum, im Modell B der DNVP zugerechnet. Damit geht in Modell A Stadt Danzig an die SPD und Danzig Land an die später in die Weimarer Koalition eingebundene CVP, in Modell B Stadt Danzig an die DDP und Danzig Land an die DNVP.

Der unklaren Situation in der Hauptstadtregion entsprachen auch die Verhältnisse im Rest Westpreußens, denn in den verbleibenden elf Reichstagswahlkreisen wäre es zu nicht weniger als sechs unterschiedlichen Stichwahlkonstellationen gekommen.

Am häufigsten wären mit vier Fällen dabei Duelle zwischen der DDP und der DNVP gewesen. Im zuvor polnisch dominierten Reichstagswahlkreis Neustadt-Karthaus erreichten diese Parteien 29,8 % respektive 26,6 % der Stimmen. Es folgten die CVP mit 21,8 % und die SPD mit 20,3 %. Insgesamt bestand eine hauchdünne sozialdemokratisch-linksliberale Mehrheit von 50,1 %, die sich durch die USPD-Anhängerschaft noch leicht auf 51,6 % erhöhte. Angesichts dessen sowie der exponierten Stellung des Gegners kann in beiden Modellen von einem Sieg des DDP-Kandidaten ausgegangen werden.