Wie wir unfrei werden - Gudula Walterskirchen - E-Book

Wie wir unfrei werden E-Book

Gudula Walterskirchen

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Beschreibung

Freie und demokratische Gesellschaften können unter bestimmten Bedingungen rasch unfrei und totalitär werden. Wir sind Zeitzeugen eines solchen Wandels. Fast alle westlichen Regierungen konnten in nur wenigen Monaten beinahe ohne Widerstand durchsetzen, dass Freiheit und Persönlichkeitsrechte, Datenschutz und Selbstbestimmung außer Kraft gesetzt wurden. All das schien zuvor undenkbar. Es geschah scheinbar zum Wohle der Menschheit. Doch sind Restriktionen wirklich gerechtfertigt, oder dienen sie vielmehr den Eliten dazu, ihre Idee einer "besseren" Welt durchzusetzen? Die Autorin liefert dazu aus ihrem Insiderwissen als Journalistin hochbrisante Fakten und neue Erkenntnisse. Die Mechanismen, wie aus einer freien und offenen Gesellschaft eine unfreie und geschlossene werden kann, sind nicht neu. Diese Muster finden sich in der Geschichte immer wieder. Schon der griechische Philosoph Platon entwarf in seiner berühmten Schrift "Der Staat" eine derartige Gesellschaft. Ende des 19. Jahrhunderts führte der Nationalismus, der in anderen Nationen Feinde erblickte, in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs. Der Kommunismus und die Spielarten des Faschismus etablierten totalitäre Systeme, die in Unterdrückung und Kriege mündeten.

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WIE WIR UNFREI WERDEN

DER WEG IN DIE TOTALITÄRE GESELLSCHAFT

GUDULA WALTERSKIRCHEN

unveränderte eBook-Ausgabe

© 2022 Seifert Verlag

2. Auflage (Hardcover): 2022

ISBN: 978-3-904123-68-6

ISBN Print: 978-3-904123-57-0

Umschlaggestaltung: Patrick Mannsberger, UnionWagner, Wien, unter Verwendung eines Fotos von Jacqueline Brandwayn, Unsplash

Sie haben Fragen, Anregungen oder Korrekturen? Wir freuen uns, von Ihnen zu hören! Schreiben Sie uns einfach unter [email protected]

www.seifertverlag.at

facebook.com/seifert.verlag

INHALT

Einleitung

1. Was ist Totalitarismus?

2. Wie wird Unfreiheit möglich?

Platon und die Wiege der Demokratie

Die Masse

Die Angst als Machtinstrument

Atomisierung der Gesellschaft

Familie und feste Bindungen

Werteverlust und Zerstörung alter Werte

Einflüsse durch die Massenkultur

Verwirrung stiften

3. Wie erkennen wir, dass wir unfrei werden?

Wie konnte das geschehen?

Abbau von Rechtsstaatlichkeit­ international

Einschränkung der Meinungsfreiheit und Verengung des öffentlichen Diskurses

Macht über die Medien

Die Hüter der Wahrheit

Die Freiheit der Wissenschaft und ihre Feinde

Virtuelle und echte Bücherverbrennungen

Religiöser Fundamentalismus

4. Wie funktionieren ­totalitäre Systeme?

Die begrenzte Macht der Könige

Internationale Zusammen­arbeit nach dem Zweiten Weltkrieg

Totalitäres »Musterland« China

Denunziation als System

Die Wirkmacht der Propaganda

5. Was sind die ­Auswirkungen totalitärer Systeme?

Massenpsychose und Mentizid

Spaltung und Zerstörung der Gesellschaft

Zerstörung des Vertrauens in staatliche Institutionen

6. Wie tarnen sich ­moderne totalitäre Systeme, und was sind ihre Ziele?

Die Idee des vollkommenen Menschen

Human Enhancement und Transhumanismus

Cyborgs und der Homo Deus

Die »gefährlichste Idee« der Welt

Das Menschenbild der ­globalen Wirtschaftselite

Systemmanagement als neuer Totalitarismus

Die »Vierte Industrielle ­Revolution« und ihre Akteure

Einfluss auf Politik

Der gläserne Bürger und Konsument

7. Wie kann Freiheit ­erhalten oder errungen werden?

Wahrung von Grund- und Freiheitsrechten

Strategien gegen die totale Herrschaft

Freiheit, Frieden und Wahrheit

Literatur und Quellenverzeichnis

Anmerkungen

EINLEITUNG

Viele Menschen nehmen deutlich wahr, dass sich unsere Gesellschaft dramatisch verändert.

Die Welt wird unfreier, Zwang und Unterdrückung nehmen zu. Weltweit ist die Unfreiheit wieder auf dem Vormarsch, totalitäre Ideologien und Fundamentalismus breiten sich immer mehr aus. Dies nehmen wir auch in den westlichen Demokratien wahr. Die Pandemie und die damit verbundene Krise legte zuletzt unübersehbar offen, was zuvor noch verborgen geblieben war: Unter dem Deckmantel der liberalen Demokratie konnten sich Mechanismen und Systeme etablieren, die zu Unfreiheit und Unterdrückung führen.

Freiheit für alle Menschen hat es in der Geschichte nie gegeben. Zumindest ein Teil der Menschheit lebte stets in Unfreiheit und litt unter den verschiedensten Ausprägungen von Unterdrückung. Freie Gesellschaften mit weitreichenden Rechten für alle Bürger sind selbst heute nicht die Regel. Freiheit wurde in der Geschichte stets errungen, sie wurde nie einfach von den Mächtigen geschenkt. Und doch ist es Bürgern oder Untertanen, meist in Form einer Massenbewegung oder einer Revolution, immer wieder gelungen, Freiheitsrechte zu erkämpfen. Die Geschichte hat aber auch gezeigt, dass eine errungene Freiheit nicht ein bleibender Zustand ist, sondern stets verteidigt und eingefordert werden muss.

Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte sich ein Teil Europas in freien und demokratischen Gesellschaften entwickeln und stieg wirtschaftlich beständig auf. Ein anderer Teil verharrte in Unfreiheit und blieb auch im Hinblick auf den Wohlstand zurück. Das Jahr 1989 markierte die Wende, als wie durch ein Wunder auch der Rest Europas auf gewaltfreiem Weg das Joch der kommunistischen Diktaturen abschütteln konnte. Bis vor Kurzem glaubten wir, dass zumindest in den demokratischen Ländern Freiheit, Demokratie und Menschenrechte auf ewig Gültigkeit haben würden. Doch die Erfahrung der letzten Jahre hat uns gelehrt, dass selbst in Europa und in stabilen Demokratien die Freiheit stets verteidigt und immer wieder neu errungen werden muss. Sie ist kein selbstverständlicher Zustand, sondern ist immer wieder bedroht.

Ein wesentlicher Hebel, wie Unfreiheit, Kontrolle und Zwang durchgesetzt werden können, ist die Angst. Je größer die Angst vor realen oder vermeintlichen Gefahren ist, desto mehr sind Menschen bereit, Einschränkungen, Überwachung, ja selbst Gewalt zu akzeptieren. Die stärksten Angst auslösenden Momente sind dabei Krankheit und Tod sowie Krieg. Es hat sich in der Geschichte gezeigt, dass die Muster von Angst, Aggression, Gewalt und Unterdrückung einander stets sehr ähnelten. Es änderten sich nur die Begründungen, die Methoden und die Opfer.

Die Mechanismen, wie aus einer freien und offenen Gesellschaft eine unfreie und geschlossene geformt werden kann, sind nicht neu. Diese Muster finden sich in der Geschichte immer wieder, sie wechseln nur ihr Gewand. Schon der griechische Philosoph Platon entwarf in seiner berühmten Schrift »Der Staat« eine Gesellschaft, in der eine Elite das Volk in sein vorgebliches Glück zwingt. Ende des 19. Jahrhunderts führte der Nationalismus in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs. Der Kommunismus und die verschiedenen Ausprägungen des Faschismus etablierten totalitäre Systeme, die in Unterdrückung, millionenfachen Mord und Kriege mündeten.

Auch heute existieren, trotz dieser Erfahrungen, totalitäre Staaten, wie etwa China oder Nordkorea. Durch die neuen technischen Möglichkeiten im Bereich der Überwachung, durch die Globalisierung und die Konzentration riesiger Vermögen sind neue Formen totalitärer Systeme entstanden oder im Entstehen begriffen.

Es war der Österreicher Karl Popper, der unter dem Eindruck der Gräuel durch Nationalsozialismus und Kommunismus eine freie und offene Gesellschaft einforderte.

Diese Forderung ist nach wie vor aktuell, denn auch freie und demokratische Gesellschaften können unter bestimmten Bedingungen unfrei werden und totalitäre Züge annehmen. Totalitäre Systeme etablieren sich nicht über Nacht, sie entwickeln sich allmählich und zunächst unbemerkt. Langsam durchtränken sie freie Gesellschaften mit ihrem Gift, sie kleiden ihre Ziele in schöne Worte und verdecken sie mit Moral. Wenn das Totalitäre dann seine Maske fallen lässt, ist es mitunter schon zu spät.

In der westlichen Welt sind wir Zeitzeugen eines solchen Wandels. Zuerst war es die Krankheit und dann der Krieg. Eine Pandemie führte dazu, dass Grundrechte ausgesetzt und das totalitäre China zum Vorbild stilisiert wurde. Fast alle westlichen Regierungen konnten beinahe ohne Widerstand durchsetzen, dass Freiheit und Persönlichkeitsrechte, Datenschutz und Selbstbestimmung zurückgebaut oder teilweise außer Kraft gesetzt wurden. All das schien zuvor undenkbar. Dann folgte ein Krieg, der über Nacht von einem autokratischen Potentaten vom Zaun gebrochen wurde und neue Angst hervorrief. Der Westen unterstützte dabei zwar die Freiheitsbestrebungen des überfallenen Landes. Gleichzeitig nutzten es manche Staatenlenker, um die Unfreiheit im eigenen Land zu legitimieren und auszubauen.

Doch sind derartige Restriktionen überhaupt gerechtfertigt? Oder nützen Regierungen und globale Eliten die Krisen für mehr Machtfülle und dazu, ihre Idee einer »besseren« Welt gegen den Willen der Bürger durchzusetzen? Was sind die Folgen für die Bürger, die Demokratie und die Politik? Ist die Aussetzung der Grund- und Freiheitsrechte im Zuge einer Krise gar eine Folie für eine zukünftige Herrschafts­praxis? Und wer profitiert letztlich davon? All diesen Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden.

Bei einer eingehenden Analyse wird deutlich, dass der Verlust von Freiheit einer bestimmten Logik folgt. Totalitäre Systeme brauchen bestimmte Bedingungen und bedienen sich spezieller Techniken, um eine Gesellschaft unfreier zu machen und sie zu beherrschen. Die ersten Anzeichen zu erkennen, die Muster aufzuzeigen und die Techniken, die totalitäre Systeme anwenden, zu entlarven, ist das Ziel dieses Buches. Durchschaut man diese Techniken und Muster, ist es Bürgern möglich, diese Transformation zu stoppen und rückgängig zu machen. Damit ist es hochaktuell.

Durch die Darlegung dieser Muster sowie einer Vielzahl an Beispielen aus der Geschichte und alarmierenden Entwicklungen in der Gegenwart soll dargestellt werden, wie eine Transformation hin zu einer unfreien, gar totalitären Gesellschaft jederzeit möglich ist, wie sie funktioniert, und wie sie verhindert werden kann.

1

WAS IST TOTALITARISMUS?

Denken wir an totalitäre Systeme, so ordnen wir sie der Vergangenheit zu. Zum ersten Mal wurde der Begriff »totalitär« vom italienischen Liberalen Giovanni Amendola in den 1920er Jahren im Hinblick auf Benito Mussolini und seine Bewegung verwendet. Allerdings blieb Mussolini auf halbem Wege stecken, er brachte es zwar zum Diktator, aber eine totale Herrschaft konnte er weder in Italien noch in den Kolonien etablieren.

Totalitär war dann jedoch der Nationalsozialismus, der uns in seiner Schrecklichkeit speziell durch den Massenmord an den Juden so einzigartig erscheint, dass er sich niemals mehr wiederholen könne. Als totalitäres Regime des Grauens haben wir auch die kommunistische Sowjetunion unter Josef Stalin in Erinnerung. Dieser hatte mit seinen »Säuberungen« und systematischen Massenmorden mehr Menschen auf dem Gewissen, als der Zweite Weltkrieg gefordert hatte. Es erscheint uns heute undenkbar, dass ein Psychopath wie Stalin jemals wieder so unumschränkt herrschen könne. All dies, so denken wir, war nur unter den besonderen Bedingungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts möglich: Als ein jahrhundertealtes Herrschaftssystem zusammenbrach, chaotische Zustände regierten und sich erst eine neue Ordnung etablieren musste. Der »totale« Staat ist also eine singuläre Erscheinung des 20. Jahrhunderts, so die gängige Annahme.

Aber ist der totale Staat wirklich ein historisches Phänomen? Und was unterscheidet eigentlich einen »totalitären Staat« von einer Diktatur oder einem autoritären Staat?

Seit dem ersten Auftreten des Totalitarismus gibt es zahlreiche Definitionen und Klärungsversuche, was denn eigentlich das Totalitäre ausmache und kennzeichne. Allgemein formuliert, handelt es sich um eine Herrschaftsform, die alle Lebensbereiche bis hin zu den privaten Verhältnissen der Menschen durchdringt und bestimmt. Es geht darum, die Handlungen, die Körper, Gedanken und Meinungen der Menschen zu beherrschen und zu kontrollieren. Es geht um die totale Macht über jeden Einzelnen. Niemand kann sich entziehen. Dem Totalitarismus geht es nicht nur um die Schaffung einer starren Hierarchie, der man sich unterzuordnen hat, dies ist das Charakteristikum von Diktaturen. Sondern es ist ein dynamischer Prozess, der nichts weniger als einen »neuen Menschen« nach bestimmten Parametern formen will und die Weltherrschaft anstrebt.

Diese Durchdringung der Gesellschaft, Wirtschaft, ja jedes Einzelnen geht allmählich vor sich und wird letztlich mit Druck, Zwang bis hin zu Gewaltanwendung durchgesetzt. Es bleibt am Ende kein Spielraum mehr für individuelle Entfaltung, Anschauung, persönliche Freiheit oder Privatheit. Der Einzelne hat sich den Interessen der Gesamtheit unterzuordnen. Die Gemeinschaft, die als Masse in Erscheinung tritt, hat in allem Vorrang. Dazu setzt der totale Staat eine umfassende Propaganda und Überwachung der Bevölkerung ein. Jeder bespitzelt jeden, ständig werden Feindbilder erzeugt, gegen die die Bevölkerung aufgehetzt wird, jeden kann es treffen. Freie Meinungsäußerung und Pressefreiheit werden sukzessive unterdrückt.

Die Rechtsprechung dient nicht den Rechten der Individuen, sondern den Interessen der Führung des totalen Staates. Die Gewaltentrennung zwischen Justiz, Exekutive und Legislative wird aufgehoben. Die Unabhängigkeit dieser Instanzen wird abgebaut, sie werden zentral gesteuert und kontrolliert.

Totalitäre Systeme zeichnen sich dadurch aus, dass sie aggressiv vorgehen. Willkürliche Verhaftungen, Schau- oder Scheinprozesse, Sondergefängnisse und eine Schreckensherrschaft der Geheimpolizei gehören zu ihren Instrumenten.

Alle Bereiche des Lebens – Wirtschaft, Wissenschaft, Erziehung, Arbeit, Unterhaltung – werden gesteuert, gleichgeschaltet und kontrolliert. Dazu braucht es eine umfangreiche Bürokratie, Apparate, die zueinander in Konkurrenz stehen und einander kontrollieren. Kontrolle und Überwachung, sowie ständige Dynamik und letztlich undurchschaubare Strukturen zählen zu den zentralen Elementen totalitärer Systeme. An der Spitze steht meist, aber nicht immer, ein Führer, dessen Willen sich alle zu unterwerfen haben. Eine Ideologie ist nicht nötig, und wenn vorhanden, dann bloß Fassade für die Willkür der Führung.

Seit dem Zweiten Weltkrieg haben sich etliche Wissenschaftler mit dem Phänomen des Totalitarismus beschäftigt. Bereits 1939 veranstaltete die US-amerikanische »Philosophische Gesellschaft« zu diesem Thema ein Symposium. Zu diesem Zeitpunkt lebte eine der wichtigsten Vordenkerinnen auf diesem Gebiet im Pariser Exil. Hannah Arendt wurde 1906 in Hannover geboren und 1933, unmittelbar nach deren Machtergreifung, von den Nationalsozialisten verhaftet. Nach ihrer Freilassung floh sie nach Frankreich. Doch auch dort holten sie ihre Peiniger ein. Als Frankreich von deutschen Truppen besetzt wurde, floh sie 1941 weiter nach New York. Dort erschien 1951 eines der wichtigsten Werke der Philosophin und Publizistin: »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft«. In diesem mehr als tausend Seiten dicken Buch analysiert sie, was totale Herrschaft ausmacht und wo und wie sie realisiert wird. Im Zentrum stehen für sie der Nationalsozialismus und der Bolschewismus, die trotz unterschiedlicher Ideologien letztlich sehr ähnliche Strukturen und Mechanismen der Macht aufweisen. Beides seien im Grunde erstaunlich ideologiefreie und unorganisierte Systeme, deren wichtigstes Instrument der Terror und die Tötung von Menschen sei. Auf die Details ihrer Analyse wird in diesem Buch noch näher eingegangen werden.

Ein ähnliches Schicksal wie Arendt hatte der aus Wien gebürtige Philosoph jüdischer Abstammung Karl Popper. Er emigrierte 1937, da er die Gefahr der Nationalsozialisten für Österreich und die Juden bereits erkannte, nach Neuseeland, wo man ihm eine Professur angeboten hatte. Dort schrieb er – ebenfalls unter dem Eindruck der Geschehnisse in Europa – eines seiner bedeutendsten Werke: »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde«. Darin unterzieht er die Philosophie der Antike, auf deren Ideengebäude Europa letztlich errichtet wurde, einer Prüfung. Im Mittelpunkt der kritischen Auseinandersetzung steht dabei Platon mit seiner Vision eines Idealstaates und einer neuen Gesellschaftsordnung. Diese mündete letztlich zwangsläufig in eine Diktatur. Seiner Ansicht nach habe Platon das Individuum und seine Freiheit gehasst. Die antihumanitäre und antichristliche Einstellung Platons sei in der Philosophie stets idealisiert worden, so Poppers scharfe Kritik.1 Die totalitäre Staatsauffassung entspreche der Moral einer geschlossenen Gesellschaftsordnung, also des Stammes oder der Horde. Dem gegenüber steht für Popper die offene Gesellschaft mit Freiheit, Humanität und Menschenwürde, wie sie seiner Ansicht nach von Sokrates vertreten wurde. Auf die Analysen Poppers wird ebenfalls noch näher eingegangen werden.

Einige Jahre später, 1956, erschien ein weiteres wichtiges Werk zum Totalitarismus, und zwar von den Politikwissenschaftlern Carl Joachim Friedrich und Zbigniew Brzezinski.2 Die Autoren sehen wie Arendt den Totalitarismus als eine völlig neue Herrschaftsform. Sie bestätigen die enge Verwandtschaft der Systeme des Nationalsozialismus und des Bolschewismus, obwohl diese ja eine erbitterte ideologische Gegnerschaft behaupteten und letztlich auch Kriegsgegner waren. Sie seien nicht ident, aber im Grunde gleichartig, so das Resümee von Friedrich und Brzezinski. Dies zeige sich, wenn man alle Ideologie beiseitelasse und sich auf Systeme und Herrschaftspraktiken konzentriere.

Interessant ist aus heutiger Sicht, dass sie jedenfalls die Entstehung der totalitären Diktaturen als »Antwort« auf schwere Krisen sehen, als Formen einer »Krisen-Regierung«. Dennoch würden diese Systeme nach dem Ende einer Krise nicht einfach wieder verschwinden. Diese Einschätzung aus den 1950er Jahren hat sich letztlich bestätigt: Das kommunistische totalitäre System der Sowjetunion hatte sich nach dem Tod Stalins zwar gewandelt, sich aber noch bis 1989 bzw. 1990 an der Macht gehalten.

Die These, dass sich Nationalsozialismus und Bolschewismus letztlich sehr ähnlich sind, stieß in der Wissenschaft und Politik allerdings auch auf heftigen Widerspruch. Etliche sahen darin ein Werkzeug des Kalten Krieges, um den Kommunismus möglichst bedrohlich erscheinen zu lassen. Damals in den 1950er Jahren herrschte in den USA ein beinahe hysterischer Anti-Kommunismus, angeführt von Senator Joseph McCarthy. Bereits 1938 richtete das Repräsentantenhaus einen Ausschuss zur Untersuchung kommunistischer Umtriebe ein. Nach dem Krieg wurden Millionen von Bundesbeamten auf eine Zugehörigkeit zu Vereinigungen, die als kommunistisch eingestuft wurden, überprüft. Es genügte ein Verdacht oder eine Denunziation, um beruflich ruiniert oder gar ins Gefängnis gesteckt zu werden. Alles und jeder wurde kommunistischer Umtriebe bezichtigt, eine wahre Hexenjagd veranstaltet. Es war nicht allein McCarthy, der die antikommunistische Hysterie zu verantworten hatte, dennoch schob man später ihm allein alle Schuld zu. Nach seinem Tod 1957 gingen die Verfolgungen weiter, der Ausschuss wurde erst 1975 endgültig abgeschafft.

Nach dem Ende des Kalten Krieges am Ausgang der 1990er Jahre unterzog der Politikwissenschaftler Peter Graf Kielmansegg die Theorien über den Totalitarismus einer kritischen Überprüfung. Er stellte fest, dass die Konzepte eine starke Abhängigkeit vom jeweiligen Verhältnis des Westens zur Sowjetunion zeigten und im Zeitenwandel jeweils anders gedeutet wurden. Anstatt bloße Wertungen vorzunehmen, plädierte Kielmansegg für eine präzise Begriffsbestimmung und eine sinnvolle Analyse anhand der Realität. Und er lieferte den wichtigen Hinweis, dass sich das Konzept des Totalitarismus über die Jahrzehnte seit dem Krieg fortentwickelt hat. Wir werden darauf noch näher eingehen.

Wichtig erscheint für das Verständnis dieses Buches der Ansatz, dass es sich beim Totalitarismus nicht bloß um ein historisches Phänomen handelt, das sich im 20. Jahrhundert abspielte und dessen Ausläufer wir vereinzelt zwar noch beobachten, wie etwa in China, das aber letztlich von selbst absterben wird. Zentral ist außerdem, dass der Totalitarismus kein klarer Gegenentwurf zu den Demokratien westlicher Prägung ist, mit diesen unvereinbar und diese davon nicht beeinflussbar sind. Im Gegenteil drohen Ansätze oder neue Ausprägungen totalitärer Herrschaftsformen aktuell in scheinbar liberale Gesellschaften und Demokratien einzudringen und deren Systeme zu infiltrieren. Dies geschieht teilweise als dynamischer Prozess im Zuge von Krisen, teilweise als durchdachtes Konzept einflussreicher Persönlichkeiten und Organisationen, die auf diese Weise ein neues Welt- und Menschenbild etablieren wollen.

Auf welcher Basis und mit welchen Mitteln dies vor sich geht, wird in den folgenden Kapiteln untersucht.

2

WIE WIRD UNFREIHEIT MÖGLICH?

Für die Ausformung einer totalitären Gesellschaft braucht es eine Führung, die diese Herrschaft anstrebt und durchsetzt. Diese Führung kann in einer einzelnen Person verkörpert sein, wie es etwa Hitler, Stalin oder Mao Zedong in Reinkultur waren. Auch Kaiser und Könige in absolutistischen Monarchien waren und sind in gewisser Hinsicht Führer. Doch hier fehlten einige der Parameter, die Totalitarismus erst möglich machen. Werfen wir einen Blick zurück in die Geschichte, um die Strukturen und die Entwicklungen besser zu erkennen und zu verstehen.

Die Herrschaft kleiner Eliten stellt in der Geschichte der letzten 3000 Jahre die Regel dar. Eine Volksherrschaft hingegen ist die Ausnahme und musste den Mächtigen stets abgerungen werden.

Platon und die Wiege der Demokratie

Als Wiege der Demokratie gilt das antike Griechenland, ihr Zentrum war Athen. Und doch gab es unter diesen großen Denkern, Politikern und Philosophen auch jene, die diese Staatsform ablehnten oder in eine andere Richtung entwickeln wollten. Der gewichtigste unter diesen Philosophen war Platon. Er lebte im 5. Jahrhundert vor Christus und war ein Schüler des ebenso berühmten Philosophen Sokrates. Platon war vielseitig interessiert und begabt, von ihm sind umfangreiche Schriften erhalten, und dies machte ihn zu einem einflussreichen Denker für das gesamte Abendland. Eines seiner zentralen Themen war der Erwerb echten Wissens, das er von der bloßen Meinung klar unterschied. Das menschliche Streben solle auf Bildung und das Streben nach der absoluten Wahrheit ausgerichtet sein. Nur so könne der Mensch seine wahre Bestimmung und Orientierung finden.

Ein weiteres zentrales Thema für Platon war der »ideale Staat«. Diesem widmete er eines seiner Hauptwerke. Der Staat hat nach seiner Auffassung die Aufgabe, die Voraussetzungen zu schaffen, damit der Bürger seine wahre Bestimmung finden kann. Und er hat für Gerechtigkeit zu sorgen. Platon widmete sich ausführlich der Frage, wie die Verfassung eines solchen idealen Staates beschaffen sein müsste. Mit diesen Ideen und Ansätzen lieferte er die Grundlage für die Verfechter einer gleichen, gerechten und freien Welt und wird bis heute gern rezipiert.

Gleichzeitig wurden seine zweieinhalbtausend Jahre alten Ideen auch immer wieder kritisiert, und er selbst wurde nicht nur verehrt, sondern auch harsch kritisiert. Einer der prominentesten Kritiker Platons war Karl Popper, der in seinem zentralen Werk »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde« dessen Lehre auseinandernimmt. Popper war Öster­reicher jüdischer Abstammung und schreibt im Vorwort zu seinem Buch, dass er am Tag des Einmarsches Hitlers in seiner Heimat, am 13. März 1938, beschlossen habe, dieses Buch zu schreiben.1

In Poppers Fundamentalkritik hat Platon sich selbst als am besten dafür geeignet betrachtet, als eine Art Philosophenkönig, der über ausreichend Weisheit verfügt, uneingeschränkt zu herrschen: »Der Weise soll führen und herrschen, der Unwissende soll ihm folgen.« Platon war Anhänger eines Naturrechts, in dem jedem in einer klaren Hierarchie seine natürliche Rolle vorgegeben war: Der natürliche Herrscher sollte befehlen und der Sklave dienen. Politik konzentriert sich nach Platon im idealen Staat auf die Frage: Wer soll herrschen? Wessen Wille soll der höchste sein? Die Antwort kann nur lauten, dass dies der Beste, Weiseste, Gütigste und Lauterste sein solle.

Das Problem dabei ist jedoch, folgert Popper, dass es kaum möglich ist, eine Regierung zu bekommen, auf deren Güte und Weisheit man sich verlassen kann. Es gibt keine Garantie dafür, selbst wenn es zunächst den Anschein hat. Er nennt dieses Prinzip Platons die »Theorie der (unkontrollierten) Souveränität«. Diese hatte dazu geführt, dass man in der marxistischen Theorie den Standpunkt vertrat, die Arbeiterklasse herrsche besser als die Kapitalisten. Das Ergebnis war die Diktatur einer Klasse und letztlich der totalitäre Staat.

Platon ging in seiner Theorie vom idealen Staat davon aus, dass es natürliche Führer mit natürlichen Vorrechten gibt. Dazu im Gegensatz steht das Prinzip der Gleichberechtigung, das wir heute als »gerecht« ansehen, und das schon in der Antike bekannt war.

Es entspricht seit jeher der menschlichen Natur, dass unkontrollierte Macht vielerlei Versuchungen erliegt und der Kontrolle und Einschränkung bedarf. Denn die Geschichte hat gezeigt, dass Herrscher moralisch und intellektuell selten überdurchschnittlich, sondern vielmehr oft unterdurchschnittlich gewesen sind. Somit sollte man nicht fragen, WER regieren soll, sondern wie man politische Institutionen und ein politisches System organisieren kann, damit es selbst schlechten und inkompetenten Herrschern unmöglich gemacht wird, allzu viel Schaden anzurichten. Man bereitet sich auf den schlechtesten Führer vor und hofft auf den besten.2

Setzt man voraus, dass nur der Beste und Weiseste regieren soll, so gesteht man dem Herrscher zu, nach Erringen der Macht tun und lassen zu können, was er will. Das ist jedoch nicht das Prinzip des demokratischen Staatswesens moderner Prägung. Hier geht es vielmehr darum, wie Mächtige kontrolliert und in ihrer Macht eingeschränkt werden, also um eine Machtbalance. Somit hat sich in demokratischen Staaten die Ansicht durchgesetzt, dass eine schlechte demokratische Politik besser ist als eine Tyrannei, die sich als weise und wohlwollend ausgibt. Doch diese Ansicht ist nicht selbstverständlich und unumkehrbar, sondern stets bedroht. Und zwar von jenen, die sich wie Platon dazu berufen fühlen, als Weise den Unwissenden ihre Sichtweise des idealen Staates und des idealen Menschen aufzuzwingen.

An diesem Punkt wird Popper in seiner Kritik an Platon so heftig, dass er selbst wiederum sich dafür einiges an Kritik eingehandelt hat. Er nannte Platon einen Menschenfeind, sein Programm totalitär und seine Staatsidee eine gefährliche utopische Technik.3 Um den idealen Staat im Sinne Platons zu verwirklichen, brauche es nämlich einen völligen Umbau der Gesellschaftsordnung, eine methodische Planung im großen Stil.

Die bereits erwähnten Politikwissenschaftler Friedrich und Brzezinsiki üben Kritik an Poppers Sichtweise von Platon: Dieser sei keineswegs ein Vertreter totalitärer Ideen gewesen, dies sei ein Missverständnis. Platon sei vielmehr ein Anhänger von autoritären Systemen, Eliten und Autokratie gewesen.4 Auch warnen sie davor, von einer »Bösewicht«-Theorie bis hin zum Totalitarismus als Ergebnis einer »moralischen Krise« vereinfachend auszugehen.

Ein hohes, hehres utopisches Ziel zu verfolgen, ist sehr verführerisch für Idealisten, Intellektuelle und Moralisten. Doch spätestens bei der praktischen Umsetzung wird rasch klar, dass die Ansprüche zu hoch sind, die Menschen unwillig, die Hindernisse zahlreich, und dass daher die Durchsetzung mit radikalen Mitteln notwendig wird. Dies hat man an zahlreichen historischen Beispielen gesehen, wie etwa beim Marxismus.

Popper favorisierte demgegenüber die Technik der kleinen Schritte: Es gibt keine institutionellen Mittel, um den Menschen glücklich zu machen, sehr wohl aber einen Anspruch, dass Politik den Menschen nicht unglücklich mache. Daher müsse Politik versuchen, die größten Übel in der Gesellschaft zu beseitigen und die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern. Dies sei besser als der Kampf für irgendein Ideal. Bei einer vernünftigen und praktischen Politik bedürfe es vieler Einzelmaßnahmen statt des einen großen utopischen Ziels. Dies habe den Vorteil, dass bei Fehlern der Schaden nicht allzu groß und relativ leicht korrigierbar sei. Notwendig seien dabei die ständige Bereitschaft zum Kompromiss und die Rücksicht auf diverse Interessen sowie die Zusammenarbeit mit Institutionen. Der utopische Versuch eines Idealstaats im Sinne Platons mit einer völlig neuen Gesellschaftsordnung und der Herrschaft einiger weniger führe nämlich sehr wahrscheinlich zur Diktatur.5 Selbst bei einem »wohlwollenden Diktator«, der nur das Beste für seine Untertanen will, bleibe die autoritäre Herrschaft fragwürdig, wage es doch niemand, einen Diktator oder das Regime zu kritisieren. Also werde die Führung auf falsche Maßnahmen nicht reagieren, weil sie die Beschwerden nicht zu hören bekäme, und daher nicht überprüfen, ob mit diesen Maßnahmen das Ziel überhaupt erreicht werden könne. Kurz, es fehle den autoritär Herrschenden das notwendige Korrektiv, wodurch sie zwangsläuig in die Irre gehen und scheitern müssten. Dies lässt sich sowohl in der Politik als auch in der Wirtschaft immer wieder beobachten.

Interessant im aktuellen Kontext ist im Übrigen die Vorstellung Platons, er habe eine Mission als Heiler oder Arzt am kranken Sozialkörper. Für ihn war die Medizin eine Form von Politik und Aeskulap, der Gott der Medizin, ein Politiker. Die medizinische Kunst dürfe sich nicht die Verlängerung des Lebens zum Ziel setzen, sondern nur das Interesse des Staates: »In allen wohlregierten Gemeinschaften erhält jedermann seine besondere Arbeit vom Staat vorgeschrieben. Diese hat er auszuführen und niemand hat Zeit, sein Leben lang krank zu sein und sich zu kurieren.« So habe der Arzt »kein Recht, einen Menschen zu behandeln, der nicht imstande ist, seine gewöhnlichen Pflichten zu erfüllen; denn ein solcher Mensch ist nutzlos für sich selbst und für den Staat.«6 In diesen Thesen klingt jener konsequente Nützlichkeitsgedanke an, der etwa in der Eugenik der NS-Zeit wiederbelebt worden ist und bis in die heutige Zeit nachwirkt.

Die Masse

Um eine totalitäre Staatsform zu errichten, braucht es neben der Führung vor allem Menschen, die sich beherrschen lassen, im Idealfall sehr viele Menschen. Und diese Menschen sollten einander möglichst ähneln in ihren Gefühlen, Wünschen, Ängsten und Zielen. Somit ist eine große Menge von Menschen noch lange keine Masse. Doch was macht eine Masse aus, und was unterscheidet sie von jeder anderen Art von Menschengruppen?

Das Phänomen der Masse beruht mehr auf Psychologie als auf der Anzahl der vertretenen Personen. Ein Pionier auf dem Gebiet der Erforschung der Masse war der französische Arzt, Psychologe, Anthropologe und Erfinder Gustave Le Bon. Er ist einer der Begründer der Massenpsychologie und untersuchte unter anderem den Einfluss des Unbewussten auf den Menschen und dessen Überlegenheit über die Vernunft. Daraus entsprangen seine Erkenntnisse über die Masse als Phänomen der Moderne. Im Jahr 1895 erschien in Paris sein bekanntestes Werk »Psychologie der Massen«, das noch heute als bahnbrechend und gleichzeitig historisch brisant gilt. In diesem Buch beschreibt Le Bon, was eine Masse ausmacht und welchen Gesetzen sie gehorcht.

Er stellte fest, dass unter bestimmten Umständen eine Ansammlung oder Versammlung von Menschen neue Eigenschaften entwickelt, die der Einzelne für sich nicht besitzt, oder auch dass vorhandene Eigenschaften verstärkt werden. »Die bewusste Persönlichkeit schwindet, die Gefühle und Gedanken aller einzelnen sind nach derselben Richtung orientiert. Es bildet sich eine Gemeinschaftsseele.«7 Somit würden Tausende Menschen, die sich zufällig gemeinsam auf einem Platz aufhalten, keine Masse im psychologischen Sinn bilden. Es muss vielmehr eine organisierte Menge vorhanden sein, die in bestimmter Weise beeinflusst und bestimmten Reizen ausgesetzt ist. Dann erst kann sich eine Masse bilden. Es bedarf aber nicht unbedingt eines gemeinsamen Ortes, um eine Masse entstehen zu lassen. Tausende, die, getrennt voneinander, gleichzeitig einer heftigen Gefühlsbewegung oder einem Ereignis ausgesetzt sind, können ebenfalls Merkmale einer psychologischen Masse annehmen.

Diese lange vor der Zeit der Massenmedien, allen voran des Fernsehens, gefassten Erkenntnisse erinnern sehr an bestimmte Medienereignisse. So etwa lösten der Tod Lady ­Dianas, das Attentat auf das World Trade Center in New York oder die Ermordung John F. Kennedys heftige Emotionen aus und mündeten in eine Massentrauer, Massenhysterie oder Massen-Entsetzen; und dies weltweit und gleichzeitig, bei Menschen, die einander niemals begegnet und völlig unterschiedlich waren. Die Masse kann gemeinsame Handlungen durchführen, spontan, aus dem Eindruck heraus etwa Blumen niederlegen, aber auch gewaltsame Aktionen durchführen, wie Zerreißen von Fahnen, Erstürmung von Regierungsgebäuden und dergleichen.

Massen, die eine gemeinsame Seele entwickelt haben, die eine dauerhafte psychologische Masse gebildet haben, erwerben bestimmte Merkmale. Diese können auch veränderbar sein, je nach den Umständen. Le Bon sah die Massen zwar kritisch und in ihrer zerstörerischen Kraft als gefährlich an. Jedoch gestand er zu, dass Massen auch heroisch und tugendhaft sein können. Wir kennen ja auch die »Massen­euphorie« bei einem besonderen und erhebenden Ereignis. Somit hängt die Werthaltung einer Masse von den Einflüssen und Zielen ab, denen sie ausgesetzt ist.

Für Le Bon sind Massen kein Phänomen der Moderne, und das Wissen um ihre Steuerung ist nicht neu. Es wurde von Herrschern immer schon praktiziert, wenn auch unbewusst und instinktiv. Und weil sie die Mechanismen, nach denen Massen funktionieren, kannten, gelang es ihnen, Macht zu erringen. Neu daran war die psychologische Analyse der Wirkmechanismen.

Was die Masse wenig beeindruckt und beeinflusst, sind Gesetze und Institutionen, ebenso wenig wie Vernunft und Logik. Was auf die Massenseele wirkt, sind Eindrücke und Meinungen, die man ihr einflößt. Ein Kennzeichen der Masse ist das Mittelmaß. Somit kann sie keine Handlungen oder Entscheidungen treffen, die eine besondere Intelligenz oder besondere Charaktere voraussetzen würde. Le Bon formuliert es sehr hart, nämlich dass eine Versammlung von hervorragenden, verschiedenartigen Menschen keine besseren Entscheidungen trifft als eine Versammlung von Dummköpfen. Der Grund ist, dass es um die Schnittmenge der Individuen in einer Masse geht, und dabei habe man eben nur Allerweltseigenschaften gemein und nicht das Herausragende.

Le Bon analysiert in seiner Schrift auch die Ursachen der Eigenschaften von Massen. Verlockend für den Einzelnen sind Massen durch das Gefühl von großer Macht, allein durch die Zugehörigkeit zu dieser. Je anonymer der Einzelne in der Masse ist, desto mehr schwinden sein Verantwortungsgefühl und gewisse Schranken, die ihn sonst zurückhalten.

Eine weitere Ursache, wie eine Massenseele entstehen kann, ist die Übertragung: In der Masse, so der Psychologe, ist jedes Gefühl und jede Handlung übertragbar. Der Einzelne ordnet seine persönlichen Wünsche der Masse unter. Es kann sogar so weit kommen, dass deren Tendenz seinen Wünschen sogar diametral entgegengesetzt ist. Ähnlich verhält es sich bei der Beeinflussbarkeit: Als Teil einer Masse lässt sich ein Mensch wesentlich leichter beeinflussen denn als Einzelner, ja er entwickelt Eigenschaften, die seiner Natur eigentlich völlig widersprechen. Le Bon vergleicht es mit der Wirkung einer Hypnose. Die Wirkung sei sogar noch stärker, weil alle anderen Hypnotisierten um ihn herum sie noch verstärken.

Nachdem die Massen somit in die gleiche Richtung, zu gleichem Denken und zu gleichen Handlungen gelenkt wurden, neigen sie dazu, die eingeflößten Ideen sofort zu verwirklichen. Dies kann zu Verbrechen, aber auch zu Heldenmut führen, je nach Art des Einflusses und der Absichten des Führers. Dennoch steigt der Mensch als Teil einer Masse »mehrere Stufen der Leiter der Kultur hinab«.8 Die Vernunft wird ausgeschaltet, das Triebhafte übernimmt die Führung. Die Masse ist daher nicht zugänglich für Logik und kritisches Denken, und somit leicht beeinflussbar. Le Bon konstatierte, dass die Unfähigkeit der Massen, richtig zu urteilen, ihnen jede Möglichkeit kritischen Geistes raubt, das heißt, die Fähigkeit, Wahrheit und Irrtum voneinander zu unterscheiden und ein scharfes Urteil abzugeben.

Die Masse ist nicht nur in der Physik träge, sondern auch in psychologischer Hinsicht: Es braucht lange Zeit, bis eine Idee, eine Ideologie oder Ähnliches sich in ihr festsetzt. Und es dauert ebenso lange, bis diese wieder aus ihr verschwindet. Das führt dazu, dass die Masse ihrer Führung, der Wissenschaft oder den Intellektuellen, die sich schneller drehen und weitergehen, hinterherhinkt.

Die Angst als Machtinstrument

Es braucht also eine Führung und eine Masse, um eine totalitäre Gesellschaft oder einen totalen Staat etablieren zu können. Doch wie bringt man Menschen dazu, sich zu einer Masse zusammenzufinden und sich ohne Widerspruch zu fügen?

Für den Moment ist ein außergewöhnliches Ereignis, längerfristig die Ausrichtung auf dasselbe Ziel oder eine Idee günstig für totalitäre Herrschaft. Doch was bringt Menschen dazu, sich auf ein Ziel auszurichten? Für den Einzelnen mag Motivation oder Überzeugung ausschlaggebend sein, aber die Masse kann nicht überzeugt werden, denn sie denkt eben nicht logisch oder vernünftig.

Sehr wohl jedoch kann sie durch heftige Emotionen und durch Angst dazu gebracht werden, einem Führer und einer Idee zu folgen. Diese Angst kann real begründet sein, wie etwa beim Untergang der Titanic oder bei einem Feueralarm. Dabei kommt es leicht zur Massenpanik, bei der die Menschen auf die niedrigste Stufe der Existenz, nämlich den Kampf ums nackte Überleben zurückgeworfen werden. Die Angst kann aber andererseits auch irrational sein oder von der Führung erzeugt werden, wirkmächtig ist sie dennoch.

Die Lenkung der Masse durch Angst funktioniert am ehesten, wenn man von einer realen Gefahr ausgeht, von der sich die Menschen bedroht fühlen, sei es der Verlust des Arbeitsplatzes, des Status, der Sicherheit, sei es vor dem Fremden, der Umweltzerstörung, dem Krieg, der Krankheit – die Auswahl ist groß. Sodann muss man diese berechtigte Sorge maßlos übertreiben und nicht müde werden, vor den damit verbundenen Gefahren zu warnen. Dies erzeugt dann Angst, ja Panik. Der Mensch muss sich in seiner Angst auf sich zurückgeworfen, sich vollkommen verlassen fühlen und nach Rettung aus der Gefahr lechzen.

Sodann tritt ein Führer auf und bietet der verängstigten Masse eine Idee an, die sie aus ihrer Angst befreien kann. Diese Idee kann völlig irrational sein und muss in keinerlei Bezug zur eigentlichen Gefahr stehen, sie muss nur der in Angst versetzten Masse in eindringlichen Bildern und durch stete Wiederholung vermittelt werden.

Ein Paradebeispiel dafür ist die reale Sorge der Menschen in der Zwischenkriegszeit vor Not und Elend, vor Verlust ihrer Arbeit, Inflation und Hunger. Der Demokrat würde nun ein Wirtschaftsprogramm entwerfen, alle möglichen Institutionen einbinden und sich Schritt für Schritt an die Umsetzung machen. Sein Ziel ist es ja, die Lebensbedingungen der Bürger zu verbessern. Der totalitäre Führer gibt ebenfalls vor, dies anzustreben, allerdings hat er ein völlig anderes Ziel vor Augen, nämlich die totale Herrschaft. Also muss aus individualistischen Bürgern eine Masse geformt, und die Einzelnen müssen sodann gleichgemacht, also entsprechend erzogen werden. Und diese Erziehung erfolgt durch Angst und durch die Definition von Feindbildern. Im Nationalsozialismus war das Feindbild der Jude, die Angst war der Untergang der deutschen Herrenrasse. Das nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg gedemütigte deutsche Volk lechzte nach Vergeltung und neuer Größe. Diese Idee wurde von einem Führer erfolgreich verstärkt und mit neuem Inhalt gefüllt.