Wild Cards - Die Cops von Jokertown - George R.R. Martin - E-Book

Wild Cards - Die Cops von Jokertown E-Book

George R.R. Martin

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Beschreibung

»Für Fans klassischer Fantasy ist Wild Cards Pflichtlektüre.« Subway

Joker … Das sind von einem außerirdischen Virus Veränderte; Mutanten; Freaks! Sie leben seit 70 Jahren unter den Menschen, und man hat sich an sie gewöhnt. Fast. Denn die meisten der New Yorker Joker leben in Jokertown, einem Ghetto im Süden Manhattans. Dies ist die Geschichte des fünften Polizeireviers, dessen Cops in Jokertown für Recht und Gesetz einstehen. Für manche ist es eine Zuflucht, für andere ein Ärgernis – aber für die meisten ist es die letzte Festung gegen die Freaks!

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Buch

Joker … Das sind von einem außerirdischen Virus Veränderte; Mutanten; Freaks! Sie leben seit 70 Jahren unter den Menschen, und man hat sich an sie gewöhnt. Fast. Denn die meisten der New Yorker Joker leben in Jokertown, einem Ghetto im Süden Manhattans. Dies ist die Geschichte des fünften Polizeireviers, dessen Cops in Jokertown für Recht und Gesetz einstehen. Für manche ist es eine Zuflucht, für andere ein Ärgernis – aber für die meisten ist es die letzte Festung gegen die Freaks!

Herausgeber

George Raymond Richard Martin wurde 1948 in New Jersey geboren. Sein Bestseller-Epos Das Lied von Eis und Feuer wurde als die vielfach ausgezeichnete Fernsehserie Game of Thrones verfilmt. George R. R. Martin wurde u. a. sechsmal der Hugo Award, zweimal der Nebula Award, dreimal der World Fantasy Award (u. a. für sein Lebenswerk und besondere Verdienste um die Fantasy) und dreimal der Locus Poll Award verliehen. 2013 errang er den ersten Platz beim Deutschen Phantastik Preis für den Besten Internationalen Roman. Er lebt heute mit seiner Frau in New Mexico.

Aus dem Wild-Cards-Universum bereits erschienen:

WILD CARDS. Die erste GenerationVier AsseDer SchwarmDer Astronom

WILD CARDS. Die zweite GenerationDas Spiel der SpieleDer Sieger der VerliererDer höchste Einsatz

WILD CARDS. JokertownDie Cops von Jokertownweitere Bände in Vorbereitung

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GEORGE R.R.MARTIN

In Zusammenarbeit mitMelinda M. Snodgrasspräsentiert

WILD CARDS

Die Cops von Jokertown

Geschrieben vonPaul Cornell | David Anthony Durham | Ty Franck | Stephen Leigh | Victor Milán | John Jos. Miller | Mary Anne Mohanraj | Kevin Andrew Murphy | Cherie Priest | Melinda M. SnodgrassDeutsch von Simon Weinert

Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »Fort Freak« bei Tor Books, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

1. Auflage

Copyright der Originalausgabe © 2011 by George R.R. Martin and the Wild Cards TrustCopyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2018 by Penhaligon in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Catherine Beck

Umschlaggestaltung und -illustration: Max Meinzold, München unter Verwendung eines Motivs von © Shutterstock/Cloudi

HK · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-23340-2V001www.penhaligon.de

Für Mike Fitzsimmons,einen guten Freund und wahren Fan

New York City Police Department

Fünftes Revier

Beamte und sonstige Belegschaft

Liste nicht vollständig

Deputy Inspector Thomas Jan Maseryk, Dienststellenleiter

Captain Chavvah Mendelberg, stellv. Dienststellenleiterin

Lieutenants (7)

Lieutenant Harvey Kant, Joker

Sergeants (19)

Sergeant Jessica Penniman (Sergeant Squinch), Gewahrsam, Ass

Sergeant Homer Taylor (Wingman), Empfangsschalter, Joker

Sergeant Vivian Choy (Tienyu), Streife, Ass

Detectives (6)

Leo Storgman (Ramshead), Detective-Investigator, 1st Grade, Joker

Michael Stevens, Detective-Investigator, 3rd Grade, Normalo

James McTate (Slim Jim), Detective-Investigator, 3rd Grade, Ass

Tenry Fong, Detective-Investigator, 2nd Grade, Normalo

Joan Lonnegan (Razor Joan), Detective-Investigator, 1st Grade, Normalo

Mitch Moore (Shades), Detective-Investigator, 2nd Grade, Zwei

Uniformierte Streifenpolizisten (123)

William Chen (Tinkerbill), Zwei

Francis Xavier Black (Franny oder Grünschnabel), Normalo

Lawrence Bronkowski (Bugeye), Normalo

Miranda Michaelson (Rikki), Joker

Anna Maria Rodriguez, Normalo

Van Tranh (Dr. Dildo), Ass

Benjamin Bester (Beastie), Joker

Chey Moleka, Normalo

Sam Napperson (Snap), Normalo

Anya Lee Tang, Zwei

Lu Long (Puff), Joker

Angel Grady, Normalo

Sonderabteilungen

Thomas Driscoll (Tabby), verdeckte Ermittlungen, Ass

Dina Quattore (K-10), Polizeihundabteilung, Ass

Dr. Otto Gordon (Gordon der Ghoul), Forensiker, Joker

Sonstige

Apsara Nai Chiangmai, Archiv, Zwei

Joe Stevens, Hausmeister, Normalo

Eddie Carmichael, Gutachter, Phantombildzeichner

Joe Moritz (Joe Twitch), zeitweiliger Informant

August

Die Tretmühle

von Cherie Priest

Teil 1

Leo klemmte sich das Telefon zwischen Schulter und Ohr, rieb sich die Augen und stöhnte. Dabei brummte er: »Mein Gott, nicht noch eine.«

»Noch eine was?«, fragte die Frau am anderen Ende der Leitung. Da er nicht schnell genug antwortete, musste sie erneut fragen: »Noch eine was, Dad?«

»Noch eine Flitzerin. Tinkerbill bringt sie gerade rein.«

Die fragliche Person war unbekleidet, hübsch, blond und in den Zwanzigern. Dazu hatte sie einen funkelnden pinkfarbenen Glorienschein, den man allerdings nicht als Kleidung durchgehen lassen konnte, zumal das Glitzern Bill Chens Beitrag war und bis zum nächsten Morgen wieder erloschen wäre. Wahrscheinlich.

Leo hielt den Hörer vom Mund weg und rief: »Kann jemand der Kleinen mal ein T-Shirt oder so was bringen?«

Blind griff Bill nach einer Polizeijacke, die an der Garderobe hing, während er die sich wehrende Gefangene zur erkennungsdienstlichen Behandlung bugsierte. Er warf sie ihr über die Schulter, doch sie wandte sich so heftig zu ihm um, dass sie sie fast wieder abschüttelte. »Sie machen einen Fehler!«, erklärte sie ihm. »Ich … ich hab nicht einfach meine Schlüssel geschnappt und bin so aus dem Haus gerannt, das müsst ihr mir glauben!«

»Ich glaube Ihnen«, sagte Bill unbeeindruckt und mit seiner seltsamen kindlichen Stimme. Aus einem Mann seiner Größe und Gestalt – knapp zwei Meter von der Mütze zu den Zehen und so breit wie das Tor einer Feuerwache – sollte eigentlich keine solche Stimme herauskommen. Er schüttelte erst seine kräftigen Schultern, dann den Kopf und schob die noch immer so gut wie nackte Frau barfuß durch die dreckigen Flure des fünften Reviers.

Man nannte es nicht umsonst »Fort Freak«.

»Dad?«

Leo richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Telefonat. »Melanie, tut mir leid, Liebes. Du hast mich hier bei der Arbeit erwischt. Du weißt ja, wie es ist.«

»Oh, verstehe. Wie könnte mein Überredungsversuch auch je wichtiger sein als ein Zimmer voller nackter Leute?«

»Nur eine. Eine nackte Person.«

»Pass mal auf, Dad. Hör auf, das aufzuschieben.«

»Aber was, wenn ich nicht umziehen will nach …« Er kramte auf dem Schreibtisch herum nach der Broschüre, die sie ihm vor einer Woche hatte zukommen lassen. Er fand sie unter drei oder vier Stapeln eingegangener Berichte, Gerichtsakten, Aktennotizen und Erinnerungen. Die umgestürzten Stapel begruben alles andere unter sich, sogar das Namensschild: DETECTIVE-INVESTIGATOR, 1STGRADE: LEONARDSTORGMAN.

Seine Tochter half seinem Gedächtnis ungeduldig auf die Sprünge. »Nach West Palm Beach.«

»Ja, Florida.« Nachdem er die knallbunte Broschüre endlich in den Fingern hatte, überflog er die Zusammenfassung in Werbesloganform: Erste Wohn- und Baugemeinschaft exklusiv für Joker! Er seufzte. »Ich weiß, dass du viel gearbeitet hast, um das auf die Beine zu stellen, aber ich glaube, ich bin noch nicht bereit für eine Seniorenparzelle.«

Leo schob einen Finger unter seinen Hemdkragen, zog an dem schweißgetränkten Stoff und ließ ihn wieder an seinen Hals zurückschnellen. Die Augustschwüle drückte in das alte Gebäude hinein, und die antike Klimaanlage der Wache pfiff und klapperte tapfer vor sich hin, richtete aber wenig aus. Fast erschauderte er bei dem Gedanken, das ganze Jahr über eine solche Hitze ertragen zu müssen.

»Du glaubst ja auch nicht, dass du bereit für den Ruhestand bist.« Melanies Tonfall wechselte von einem Augenblick zum nächsten von dem einer abgebrühten Wohngemeinschaftsplanerin zu dem einer bettelnden Tochter. »Dad, ich wünschte, du würdest darüber nachdenken. Komm in den Süden! Hier ist es schön, und ich wohne hier – und ich würde mich besser fühlen, wenn ich dich in der Nähe wüsste, falls etwas passiert.«

»Ich werde zweiundsechzig, nicht zweiundneunzig. Ich rutsche nicht in der Badewanne aus und breche mir die Hüfte.«

»Ich will damit ja auch nicht sagen …«

Er schnitt ihr das Wort ab. »Schätzchen, ich weiß, dass du helfen willst. Aber ich brauche jetzt noch keine Hilfe. Ich brauche etwas Zeit, um nachzudenken, und …« Er hielt unvermittelt inne, denn eine wiegende Hüfte im Bleistiftrock, die er in einiger Entfernung erspähte, lenkte ihn zu sehr ab. Er nuschelte: »Bleib mal einen Moment dran.«

Die Hüfte verschwand hinter einer Säule. Nicht allein die Form der Hüfte hatte seine Aufmerksamkeit erregt, sondern etwas an ihrem Gang, an den Rundungen des Körpers. Er kannte diesen Gang. Er kannte diesen Körper.

Auf der anderen Seite der Säule kam die Frau wieder hervor, und während sie kurz stehen blieb und mit jemandem sprach, kehrte sie ihm den Rücken zu. Dann sagte sie: »Bis dann, David«, drehte sich um und stockte. Sie suchte das Zimmer ab.

Leo beobachtete sie und nahm ihre Details auf, als wären es Beweisstücke.

Ihr Haar war jetzt kürzer, glatter und ein wenig dunkler – sie war fast eine richtige Brünette. Die Wölbung unter ihrem Ausschnitt und die Kontur ihrer Taille waren etwas ausgeprägter. Eine Hand lag auf der Hüfte. Die andere Hand hing herunter. Sie stand so zur Seite geneigt, dass es lässig wirkte.

Die große schwarze Sonnenbrille war noch dieselbe wie beim letzten Mal, als er sie gesehen hatte. Doch das war fünfundzwanzig Jahre her. Komisch, wie manche Stile immer wiederkehren. Komisch auch, dass er sie überall sofort erkannt hätte, auch nach all den Jahren noch.

Die Augen unter den Gläsern richteten sich auf ihn. Da hoben sich, von den Fäden der Nostalgie nach oben gezogen, ihre Mundwinkel, bis ihre Lippen zu einem leisen Lächeln verzogen waren.

Aus dem Telefon hörte er: »Dad?«

Er sagte: »Liebes, ich muss auflegen.« Er legte auf. Langsam stand er auf, passte sich dabei dem Tempo ihres Näherkommens an, sodass er ganz aufgerichtet war, als sie vor seinem Tisch anlangte. Er sagte: »Wanda?«

Und sie sagte: »Leo.« Wanda Moretti schob sich die Sonnenbrille auf den Kopf, überlegte es sich dann aber anders, klappte sie zusammen und steckte sie in ihre Handtasche. »Ist ’ne Weile her, was?«

»Ja. Du, äh … du siehst gut aus.«

»Danke. Du siehst auch nicht gerade schlecht aus.«

Leo Storgman war nicht oft verlegen. Er hatte genug Zeit gehabt, sich an sein Äußeres zu gewöhnen – zwei Jahrzehnte waren vergangen, seit seine Karte aufgedeckt worden war. Doch jetzt machte er fahrige Bewegungen, kratzte sich im klebrig nassen Nacken, schob die Zeitungsjungenmütze mit Hahnentrittmuster zurecht, die er oft trug. Sie passte so bequem zwischen die beiden Hörner, die sich aus seinen Schläfen emporwanden.

»Ah, papperlapapp. Das musst … das musst du nicht sagen. Du hast dich kein bisschen verändert, als wäre kein einziger Tag vergangen. Wir wissen, dass man das von mir nicht behaupten kann.«

»Ich habe auch nicht gesagt, dass du dich nicht verändert hast. Ich habe nur gesagt, dass du nicht schlecht aussiehst.« Sie gab sich keine Mühe, ihren abschätzenden Blick zu verbergen. »Man hat mir davon erzählt, und ich habe mir so meine Gedanken gemacht. Aber du siehst immer noch wie du aus.«

»Ha. So bin ich ja nun nicht auf die Welt gekommen.« Er hob kurz die Hände, um zu zeigen, wie knochenweiß sie geworden waren, fast durchscheinend bis auf die schlammgrünen Leberflecken, mit denen seine Knöchel gesprenkelt waren. Ähnliche Flecken zierten seinen weitgehend kahlen Schädel bis hinab zu dem Kranz aus ergrautem Haar, auf dem seine Mütze wie in einem Nest hockte. »Aber es könnte schlimmer sein.«

Er achtete darauf, den Blick nicht von ihr abzuwenden, um nicht über ihre Schulter zu blicken und auch nicht über seine eigene, in das vollgestopfte Durcheinander des Büros. Denn viele seiner Kollegen im öffentlichen Dienst hatten krassere und schlimmere Veränderungen gezogen.

Beim Getränkeautomat stand Streifenpolizistin Rikki Michaelson, eine kleine Frau mit der Figur eines Windhunds, die mit ihrer schlanken, pfotenartigen Hand per Knopfdruck ein Dr. Pepper wählte. Neben ihr lehnte Lu Long an der Wand, der den klobigen, kunstvollen Kopf und Oberkörper eines chinesischen Drachen hatte. Er kämpfte mit der Lasche einer Pepsi-Dose, denn für derlei filigrane Aufgaben waren seine schweren Klauenfinger nicht geschaffen. Und neben der Tür zum Büro der Captain erspähte Leo Pflichtverteidiger Charles Herriman, der wegen seiner Handprothesen Mühe hatte, die jüngsten Fallakten zu balancieren. Beinahe schien es, als hätte er die Situation im Griff, doch dann klingelte sein Handy, und das Jonglierkunststück misslang.

Wanda griff nach der Lehne des Stuhls gegenüber von Leos Schreibtisch und fragte: »Stört es dich, wenn ich mich setze?« Ohne auf seine Antwort zu warten, nahm sie den Stuhl und ließ sich nieder. Ihre Handtasche und eine edel aussehende Büchertasche aus Leder stellte sie neben sich auf den Boden.

»Um der alten Zeiten willen?«, fragte er.

»Um der alten Zeiten willen, klar. Aber ich habe auch ein offizielles Anliegen – etwas verdammt Seltsames, kann ich dir sagen. Aber um ehrlich zu sein, war ich mir nicht sicher, ob ich dich hier antreffen würde. Wusste nicht mehr genau, wie alt du bist.«

»Hab noch fünf Monate vor mir.«

»Ich hoffe, das werden fünf entspannte Monate. Ich möchte nicht, dass du hier mit einem großen Knall rausgehst.«

»Entspannt. Sicher.« Traurig betrachtete er die herumliegenden Papierberge und ungeordneten Akten und sagte: »Allein diese Woche hatten wir Flitzer, dazu passenderweise auch noch Einbrüche, und die übliche Scheiße mit dem Bandenkrieg ist weiter eskaliert. Die Werwölfe und die Dämonenprinzen haben sich noch nie gut vertragen, doch allmählich wird es da draußen ungemütlich.«

Wanda schüttelte den Kopf und seufzte. »Erinnerst du dich an den Fall damals, oh, ich weiß nicht mehr. Muss 89 oder 90 gewesen sein. Dieser Bandenjoker, der sich richtig zugedröhnt und dann den Pudel von jemandem gegessen hat?«

Leo stieß ein bellendes Lachen aus. »Ja, daran erinnere ich mich. Hab seit Jahren nicht mehr daran gedacht. Hast du damals das Gerichtsgutachten geschrieben?«

Sie sagte: »Nein, ich nicht. Da war ich schon nicht mehr da.«

»Hab gehört, dass du wieder geheiratet hast.« Er hatte sogar gehört, dass sie vorteilhaft geheiratet hatte.

»Ja, das war 88, aber es hat nicht gehalten. Und die Gerichtsgutachten habe ich auch aufgegeben. Hab stattdessen ins Immobiliengeschäft gewechselt.«

»Das hast du ja auch immer gesagt. Ich erinnere mich, dass du immer davon gesprochen hast, aber ich wusste nicht, dass du tatsächlich umgestiegen bist.«

Sie grinste. »Hab mir eine Lizenz besorgt und angefangen, Häuser und Eigentumswohnungen zu verchecken. Hat besser funktioniert, als im Gerichtssaal zu hocken und mir die Finger wund zu tippen. Meine Kinder konnte ich damit auch besser ernähren.«

»Wie geht es denen eigentlich?«

»Sind groß geworden, weitgehend. Und ausgezogen, Gott sei Dank, alle vier. Was ist mit deiner Tochter?«

»Melanie.« Er deutete mit einer Kopfbewegung zum Telefon. »Das war sie eben. Sie plant jetzt Wohn- und Baugemeinschaften.« Er nahm die Broschüre und reichte sie ihr.

Wanda sagte: »Hm, nur für Joker. Das mag Vorteile haben. Oder Nachteile.«

»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Mellie will, dass ich da runterziehe, näher zu ihr. Wenn ich hier raus bin, weißt du.«

Wanda nahm den Flyer nicht herunter, sondern beäugte Leo über den Rand der Broschüre hinweg und fragte spitz: »Nur du?«

Leo räusperte sich und nahm den Flyer wieder an sich. »Nur ich. Vicky …« Es fühlte sich seltsam an, den Namen seiner Frau auszusprechen. »Vicky ist an Lungenkrebs gestorben, das war 98.«

Wanda sagte: »O mein Gott, Leo. Das tut mir aber leid.« Es klang, als würde sie es ernst meinen.

Wanda war nie eifersüchtig gewesen, soweit Leo wusste. Und dieses eine Mal, als sie damals, vor langer Zeit, miteinander geschlafen hatten … daraus wäre nie etwas geworden. Auch Vicky hatte nie etwas davon mitgekriegt, ein Umstand, in dem Leo einen der wenigen Beweise dafür sah, dass es einen Gott geben könnte.

Leo sagte: »Manchmal kommt es mir vor, als wäre sie vor einer Million Jahren gestorben, und manchmal denke ich gar nicht daran und schenke ihr morgens eine Tasse Kaffee ein.« Seine Frau war gut zu ihm gewesen – besser, als er es verdient hatte. Selbst als seine Karte aufgedeckt worden war, hatte sie nichts weiter gesagt als: »Ich habe dich nicht wegen deinem Aussehen geheiratet. Und deswegen würde ich dich auch nicht verlassen.« Er wechselte das Thema. »Was führt dich wirklich hierher, Wanda? Es ist lange her.«

»Wie gesagt – zum Teil wegen der alten Zeiten. Und zum Teil« – sie griff nach der ledernen Büchertasche und hievte sie auf ihren Schoß – »deshalb.« Sie öffnete die Klappe und nahm eine Mappe heraus. Aus ihr zog sie dreißig oder vierzig angesengte Blätter hervor und breitete sie in ungeordneten Stapeln auf dem Tisch aus. »Entschuldige den Gestank.«

»Was soll ich hier erkennen? Außer verbranntem Papier?«

»Protokolle oder Teile davon. Von einem alten Fall, irgendwann zwischen 75 und 79. Die meisten haben Wasserschäden oder sind so sehr verbrannt, dass sie nicht mehr zu gebrauchen sind, aber der Sachbearbeiter im Gericht hat das hier gesehen und mich gerufen.« Sie zeigte auf eine Ecke, in die mit blauem Kuli »WM« gekritzelt war. »Deine Initialen.«

»Meine Initialen. Ansonsten kann man nur wenig entziffern, hier und da ein bisschen. Sie haben mich gefragt, ob ich ihnen sagen kann, zu welchem Fall die gehören.«

Leo sah von ihren Initialen auf und fragte: »Das wissen sie nicht?« Doch ehe sie antworten konnte, kam er schon mit der nächsten Frage. »Sind die letzte Woche beschädigt worden, bei dem Feuer im Gericht?«

»Du hast es erfasst. Das Feuer hat nicht viel Schaden angerichtet, aber eine ziemliche Sauerei zurückgelassen. Und sieh.« Sie zog ein weiteres Blatt heraus und zeigte auf eine Reihe von Buchstaben, die sich von den anderen Zeilen aus fleckigen, verschmierten, vom Wasser unkenntlich gemachten Druckbuchstaben abhob. »Genau da. Ich bin ziemlich sicher, dass da ›Detective Storgman‹ steht. Deshalb habe ich gehofft, du könntest mir helfen, ihre Frage zu beantworten – vielleicht fällt dir etwas auf, das mir entgangen ist.«

»Äh«, sagte er und starrte auf das Protokoll. »Ich glaube, du hast recht. Dann ist das wahrscheinlich ein Fall von 79. Ich hab es erst im Dezember 78 zum Detective gebracht.«

»Okay, das hilft schon mal. Schränkt das Zeitfenster ein.«

Leo berührte die empfindlichen Papierstücke vorsichtig, fasste sie mit den Fingerspitzen und schob sie hin und her auf der Suche nach Worten, die nicht verkohlt oder verwaschen waren. »Schwer zu sagen. Es sei denn …« Mit dem kleinen Finger zeigte er auf eine Stelle, die nicht sonderlich deutlich war. »Siehst du diesen Abschnitt?«

Wanda beugte sich vor und reckte den Hals, sodass ihre Brüste direkt auf Leos Augenhöhe waren. Er gab sich Mühe, es nicht zu bemerken.

»Genau da. Da steht ›Augustus‹.« Dann grübelte er laut darüber nach. »Wie zur Hölle hieß der Junge mit Vornamen? Ich weiß nur noch, dass er total lächerlich war.« Er schnippte mit den Fingern. »Bernard. Bernard Augustus.«

»Das sagt mir gar nichts«, sagte Wanda skeptisch.

»Weil niemand ihn so genannt hat. Alle haben Deedle zu ihm gesagt.« Leo lehnte sich zurück und faltete die Hände hinter dem Kopf. Auch Wanda lehnte sich zurück, was verdammt schade war.

Sie sagte: »Deedle. An den kann ich mich allerdings erinnern.«

Langsam und nachdenklich schaukelte er mit seinem Stuhl. »Das müssen die Verhandlungsprotokolle der Rathole-Morde sein.«

Wanda schüttelte den Kopf. »Nein, dann wären es keine Gerichtsakten. Jetzt erinnere ich mich. Der Junge kam niemals vor Gericht. Wahrscheinlicher ist, dass die von der Verlesung der Anklagepunkte kommen.«

»Ja, du hast recht. Jetzt, wo ich darüber nachdenke. Er ist entkommen.«

»Aber nicht für lange.« Sie hob die Hand ans Gesicht, als wollte sie sich aufstützen, nagte aber stattdessen sacht an ihren Fingernägeln.

»Nein, nicht für lange.« Er hielt inne, noch immer grübelnd. »Das war ein krasser Fall. Mein erster Mord, und ich habe mich geirrt – es war nicht 79. Es war Ende 78.«

Wanda dachte kurz darüber nach und sagte bedächtig: »Weißt du, diese Akten sollten alle weggeschafft werden und auf CDs gescannt werden. Bevor sie verbrannt sind, hätten sie alle noch mal rausgekramt werden sollen.«

Leo erwiderte: »Und?«

»Das heißt, dass sie noch einmal gelesen worden wären. Dr. Pretorius hat eine ganze Klasse eifriger Möchtegernanwälte, die den alten Kram für einen Schein an der Uni hätten einscannen sollen. Und einige der interessanten Fälle sollten dann im Unterricht durchgenommen werden. Die Geschichte der Jokerjustiz von ihren Anfängen an.«

»Das ist alles, was übrig ist?«, fragte er und zeigte auf die verrußten Blätter.

»Kann gut sein. Aber während der Beamte mir von dem Feuer vorheulte, hat sich mir der Gedanke aufgedrängt, wie wunderbar das zusammenpasst – ausgerechnet diese Jahrgänge erwischt es, wo sich gerade eine Gruppe ehrgeiziger Protoanwälte daranmachte, sie durchzuwühlen.«

Leo hörte auf zu schaukeln und sammelte die spröden Papierstücke ein. Er reichte ihr den kleinen Stapel zurück. »Worauf willst du hinaus?«, fragte er, als wüsste er es nicht.

Sie fing an, die Papiere vorsichtig in die Mappe zu stecken. »Was ich sagen will: Vielleicht lohnt es sich, sich die Rathole-Sache noch einmal genauer anzuschauen. Sie rasch noch einmal anzuschauen«, präzisierte sie. »Habt ihr hier nicht eine Abteilung für ungelöste Fälle oder so was?«

»Das Rathole ist kein ungelöster Fall. Er ist abgeschlossen. Ein glaubhafter Verdächtiger wurde verhaftet …«

Sie schnitt ihm das Wort ab. »Ein passender Verdächtiger. Der dann passenderweise gestorben ist.«

»Er hatte das Zeug dazu.«

»Vielleicht sah er nur so aus, als hätte er das Zeug dazu. Und du hast immer noch fünf Monate vor dir.« Sie wirkte so eifrig in ihrem maßgeschneiderten Kostüm und den überschlagenen Beinen.

Doch Leo sagte: »Wanda, das ist dreißig Jahre her. Alle, die noch leben, haben alles Wichtige vergessen. Ich bin froh, dass ich helfen konnte, aber steigere dich jetzt nicht in die Rathole-Sache hinein. Das ist nur Zeitverschwendung.«

Der Grünschnabel

von Melinda M. Snodgrass

Den ersten Tag finde ich immer am schwierigsten – den ersten Tag in der Schule, den ersten Tag im Ferienlager, den ersten Tag im Jahr. Ich habe die Tendenz, der ungewissen Zukunft weniger freudig, sondern vielmehr mit Bangigkeit entgegenzublicken. Und nun kann ich dieser Liste den ersten Tag bei der Arbeit hinzufügen.

Als ich in New York zum fünften Revier ging, trieb ein heißer, schwüler Wind vom East River her Abfall durch die Gosse und wehte mir den Gestank des Mülls, der in den schwarzen Plastiktüten auf die Müllabfuhr wartete und vor sich hin faulte, in die Nase. Nachdem er an mir vorbei war, schnappte sich der Wind die amerikanische Flagge vor der Wache und peitschte sie wie wahnsinnig herum.

Das viergeschossige Gebäude, in dem die Ordnungskräfte für jenen Teil von New York City untergebracht waren, den man Jokertown nannte, war aus blassem Stein errichtet und reichte bis ganz an den Gehweg heran. Davor gab es ein paar Parkflächen, aber sie waren alle belegt, und ich war froh, dass ich aus Saratoga nicht den Wagen mitgebracht hatte. Zu beiden Seiten der Wache erhoben sich rote Klinkerhäuser, die sowohl höher als auch breiter waren. Zwischen den beiden wirkte die Polizeiwache wie ein Hänfling zwischen zwei stämmigen Hafenarbeitern.

Um ihn vor einer besonders kräftigen Bö zu retten, hielt ich meinen Hut fest und ging etwas schneller. Nicht nur weil ich der Hitze entkommen, sondern weil ich auch früh da sein wollte. Ich öffnete die Tür, hielt dann aber kurz inne, um den Augenblick auszukosten. Mein Vater hatte hier gearbeitet. Er war Captain des Bezirks gewesen. Aber er ist an seinem Schreibtisch gestorben, an einem besonders wilden Wild Card Day, der in die Geschichte eingegangen ist. John Francis Xavier Black habe ich nie kennengelernt. Er starb vier Monate vor meiner Geburt, doch das Haus meiner Mutter ist voll von Bildern von ihm, und einer seiner Detectives, Sam Altobelli, hat mir Geschichten erzählt. Und jetzt trat ich in seine Fußstapfen.

Bist du stolz auf mich, Dad? Ich hoffe, du …

Der Rest des Gedankens kam mir abhanden, zusammen mit meinem Hut, als ich unsanft von hinten gestoßen wurde.

»Donnerwetter noch mal, so gehen Sie doch aus dem Weg.«

Mit Händen und Knien und wenigstens nicht mit dem Gesicht landete ich auf dem schmutzigen Linoleumboden, und als Schuhe mit dicken Sohlen und Metallkappen Größe sechsundvierzig über mich hinwegstiegen, zuckte ich zusammen. Ich wollte mich aufrappeln, wurde aber erneut umgestoßen, diesmal vom langen, schuppigen Schwanz, den mein Angreifer hinter sich herzog.

Als ich endlich wieder auf die Beine kam, tippte ich ihn an den breiten Schultern an. Sein Hinterkopf war seltsam verformt und hatte Schuppen wie sein Schwanz. »Entschuldigen Sie …?«, sagte ich.

»Diesmal«, grunzte ein tiefer Bariton zurück.

Diesmal schloss sich meine Hand um einen muskulösen Oberarm. »Nein, Sie schulden mir eine Entschuldigung.«

Der Mann drehte sich um. Zwar machte ich mich auf einen verstörenden Anblick gefasst, aber nicht genug, denn am Ende wich ich doch einen Schritt zurück. Ich sah mich einem Drachen gegenüber.

Aber auch einem Polizisten. Schwanz und Kopf hatten mich ganz die blaue Uniform übersehen lassen. Toll, jetzt fing ich an meinem ersten Tag bei der Arbeit schon Streit mit einem Kollegen an – der hoffentlich rein verbal bleiben würde.

Ich kam zum Schichtwechsel, weshalb viel Betrieb herrschte. Der Sergeant am Eingangsschalter stand auf und machte beschwichtigende Gesten. Wenn er die Arme bewegte, zuckten auch seine herabhängenden und ausgebleichten Fledermausflügel, doch erhob er sich nicht in die Lüfte und eilte mir fliegend zu Hilfe. Die Polizisten der Nachtschicht, die bereits in Zivil waren und es eilig hatten hinauszukommen, blieben stehen. So sehr sie auch dem Feierabend entgegenfieberten, ein Kampf lohnte immer ein paar Minuten Aufschub.

Hinter mir drängten sich die Beamten der Tagschicht herein. Einer von ihnen, ein Mann mit orangeroter Haarmähne und der adrigen Nase eines Säufers, dem ein Ohr fehlte, klopfte dem Drachenmann auf die Schulter und sagte: »Versohl dem Neuen den Hintern, Puff.«

So viel zu rein verbal. Vielleicht könnte ich es mit ihm aufnehmen, wenn ich mit allen üblen Tricks kämpfen würde. Ich betrachtete die grinsenden, rasiermesserscharfen Zähne, dann die Krallenhände, die erwartungsvoll zu- und wieder aufgingen, und ich bekam das Gefühl, dass er mehr über alle üblen Tricks wusste, als ich jemals zu erfahren hoffen konnte.

»Leute, Leute, was ist denn los?«, ertönte hinter mir ein grummelnder Bass.

Ich wagte einen Blick und starrte ins Angesicht des Schreckens. Er musste weit über zwei Meter groß sein, hatte eine Wolfsschnauze, Bärentatzen am Ende seiner Arme, die so lang waren, dass sie am Boden schleiften, und Stierhörner, die ihm aus den Schläfen wuchsen. Und Fell.

Allmählich fühlte ich mich wie ein kleiner Fisch in einem Haibecken.

»Der Trottel stand in der Tür und hat den Durchgang blockiert«, knurrte mein Gegner. »Ich dachte, dem muss man mal Manieren beibringen, und jetzt glaubt er auch noch, ich soll mich bei ihm entschuldigen.«

Der pelzige, gehörnte Riesenmuppetmann schlang kumpelhaft den Arm um mich. »He, gib dem Jungen eine Chance. Der muss sich wahrscheinlich erst noch zurechtfinden.« Er schüttelte mich ein wenig durch. »Stimmt’s?«

Ich sah zu ihm auf und bemerkte, dass die braunen Augen rechts und links der Schnauze und der Fänge mich herzlich und freundlich betrachteten. Ich nickte. Die Erklärung war so gut wie jede andere, und vielleicht half sie, dass aus einer doofen Situation kein komplettes Fiasko wurde.

»Ach, Beastie, immer den Friedensstifter machen«, sagte eine Rothaarige. Ihre Schuhe waren spiegelnd poliert, und mit der Bügelfalte ihrer Hose hätte man sich rasieren können. Sie tätschelte dem Drachen die Schulter. »Lu, der Junge ist nicht schuld dran, dass du einen Kater hast. Komm, sonst sind wir noch zu spät.«

Jetzt setzten sich alle wieder in Bewegung. Der Drachentyp trottete hinter dem Einohrigen und der Rothaarigen her und legte über die Schulter nach: »Wenn du mich das nächste Mal siehst, dann geh mir aus dem Weg, Grünschnabel.«

»Kommen Sie, Junge, dann kriegen Sie Ihre Einweisung. Sie werden ja nicht gleich am ersten Tag zu spät kommen wollen.«

»Danke, Officer …« Ich machte eine fragende Pause.

»Bester. Benjamin Bester, aber alle nennen mich Beastie. Das steht Ihnen auch frei. Es ist toll, wenn man nicht mehr der Neuling ist.«

»Freut mich, dass ich zu was gut sein konnte.« Ich folgte ihm an dem geflügelten Schalterbeamten vorbei und eine Treppe hinauf. »Wer ist die andere Retterin?«, fragte ich mit einer Kopfbewegung zu der Rothaarigen.

»Angel Grady, Puffs … Lul Longs Partnerin. Die schafft es bestimmt zur Captain, bevor sie vierzig ist. Sie ist großartig. Der andere heißt Thomas Driscoll … Tabby. Der arbeitet verdeckt.«

»Das kann nicht lange gutgehen. Er sieht ziemlich markant aus.«

»Nein, nein, so arbeitet er auch nicht verdeckt. Er verwandelt sich in eine Katze.«

»Oh«, sagte ich kläglich, als wir oben ankamen und in die eigentliche Wache gelangten.

Hier herrschte noch mehr Chaos. Telefone klingelten, Leute redeten. Mürrisch dreinblickende Verdächtige in Handschellen saßen an einigen Tischen, während uniformierte Streifenpolizisten und Detectives in Zivil auf die schmutzigen Tastaturen uralter Computer einhackten. Einem alten Beamten wuchsen Widderhörner aus dem Kopf. Im rückwärtigen Teil des Raums waren zwei Büros für die hohen Tiere des Reviers durch Glaswände abgetrennt. Ich fragte mich, ob hier seit 1986 überhaupt einmal umgebaut worden war. Musste wohl so sein. Wenn mein Dad an einem Schreibtisch in einem Glasbüro gestorben wäre, wäre das jemandem aufgefallen.

Unterschiedlichste Gerüche waberten durch die Luft. Neben dem Geruch nach Waffenöl, Schweiß und Erbrochenem konnte ich den unverkennbaren nussig-verbrannten Duft von sehr altem Kaffee und sehr frischen Donuts ausmachen. Mir knurrte der Magen. Zum Frühstücken war ich zu nervös gewesen. Vielleicht werden Polizisten deshalb zu so einem Klischee, dachte ich. Zu gern hätte ich mich auf die Suche nach den Donuts gemacht, doch stattdessen folgte ich Beastie in das Besprechungszimmer.

Streifenpolizisten setzten sich gerade. Hinter dem Pult stand eine Frau mittleren Alters mit ovalem, asiatisch wirkendem Gesicht und besorgten dunklen Augen. Auf ihrem Namensschild stand CHOY. Hinter ihr hing eine große und detailgenaue Karte von Jokertown und da, wo die beiden Stadtteile sich trafen, einem Stück von Chinatown. An den Wänden prangten Steckbriefe und Verlautbarungen von FBI, SCARE und anderen Einrichtung der öffentlichen Sicherheit.

Ich setzte mich weit nach hinten. Für heute hatte ich genug Aufmerksamkeit erregt. Die Sergeant fing mit dem Briefing an. Ich zog mein iPhone heraus und machte mir Notizen.

»Mr. Lee berichtet, dass jemand in den Fischmarkt eindringt und nur die Mies- und Venusmuscheln isst. Jeden Morgen findet er leere Muschelschalen vor. Tabby, vielleicht kannst du etwas herausfinden?« Choy sah ihn an.

»Gern«, nuschelte Driscoll.

»Aber lass dich nicht wieder ablenken, weil du streunende Katzen vögeln musst, Tabby«, rief ein kleiner, hagerer Kerl asiatischer Abstammung.

Prustendes Lachen kam von den anderen.

Mit erhobenem Mittelfinger schoss Tabby zurück: »Im Gegensatz zu dir, Dildo, kann ich mehr als zwei Dinge gleichzeitig.«

Es wurde noch mehr gelacht, doch verstummten alle rasch wieder, als Choy sagte: »Okay, okay, nächster Punkt. Der Revierkrieg zwischen den Werwölfen und den Dämonenprinzen verschärft sich. Einige von denen sind besser bewaffnet als wir, also seid vorsichtig. Und zwischen Elizabeth und Orchard Street haben wir einen Handtaschendieb. Haltet die Augen offen, und, um Himmels willen, bewegt eure faulen Ärsche und fangt ihn ein. Die Ladenbesitzer beschweren sich, dass es dem Handel mit den Touristen schadet.«

»Kriegen wir eigentlich endlich mal diese Segways?«, fragte ein Cop, der damit beschäftigt war, sich Puderzucker vom Bauch zu wischen. Ich begriff, weshalb er so ein zweirädriges persönliches Fahrzeug wollte.

»Mit einem Wort … nein«, sagte die Sergeant.

»Ach, verdammt. Kann ich dann ein Auto haben?«

»Nein.«

Der neue Bürgermeister hatte viele von New Yorks Besten aus den Streifenwagen geholt und sie auf Fahrräder gesetzt oder zu Fuß laufen lassen. Er glaubte, es intensiviere den Kontakt zur Gemeinschaft, wenn die Polizisten mit den Bürgern, die sie beschützen sollten, durch die Straßen gingen. Meiner Meinung nach hatte er damit recht, weshalb ich mir auch eine Wohnung in Jokertown genommen hatte. Meiner Mutter hatte das gar nicht gefallen, und ich muss zugeben, dass ich bei einigen meiner Nachbarn ein mulmiges Gefühl hatte, aber alle Studien waren sich darin einig, dass sich die Zustände in jenen Vierteln verbesserten, wo Polizisten sowohl wohnten als auch arbeiteten. Und im Jurastudium hatten wir viel darüber diskutiert, wie man den Kreislauf durchbrechen konnte, der Bandenmitglieder ins Gefängnis gehen und danach wieder zur Bande zurückkehren ließ …

»… Black? Ist Black hier?«

Ich habe die Tendenz, von einem Gedanken so fasziniert zu sein, dass ich nicht mehr merke, was um mich herum passiert. Deshalb hatte ich nicht gemerkt, dass mein Name gerufen worden war. Unelegant sprang ich auf und riss die Hände in die Höhe. »Hier. Hier. Ich bin hier.«

»Okay, Bill, er gehört dir«, sagte Choy zu einem gewaltigen Kerl ebenfalls asiatischer Abstammung in der ersten Reihe.

Er stand auf und beäugte mich. Ich glotzte nicht schlecht. Er sah aus wie eine Statue auf der Osterinsel. Er schüttelte den Kopf mit der dichten rabenschwarzen Haarmähne und sagte: »Mann, hab ich ein Glück.«

Ich musste mir ein Lachen verkneifen, denn die Stimme, die aus diesem Hünen drang, war ein lächerliches Piepsen.

»Wenn du glaubst, dass er eine lustige Stimme hat, dann warte erst mal seine Fähigkeit ab«, flüsterte die Frau neben mir. Auf ihrem Namensschild stand QUATTORE. Schwarze Locken fielen auf ihre Schulter herab, und ich konnte nicht anders, als ihren imposanten Vorbau zu bemerken.

Gleichzeitig grummelte Tabby: »Weil du so ein verdammt leuchtendes Vorbild für uns alle bist.« Mein neuer Partner bedachte Tabby mit einem finsteren Blick.

Zwischen ihnen schien es eine Geschichte zu geben, doch ich wollte nicht mit hineingezogen werden.

»Okay«, setzte Choy sich wieder durch. »Schwärmt aus und fangt die Bösen.«

Stühle quietschten über den Boden, es wurde gehustet und geredet, während die Polizisten zur Tür gingen. Bill kam auf mich zu. Ich reckte den Hals, um zu ihm aufzuschauen, und ich bin immerhin knapp eins achtzig.

»Bill Chen«, sagte er und streckte die Hand aus.

Ich sah, wie meine in seiner Pranke verschwand. »Francis Black.«

»Okay, Franny, bleib in meiner Nähe. Halte die Klappe. Lern was.«

»Man sagt Frank zu mir«, sagte ich. »Und ich dachte, das hätte ich bereits an der Akademie gemacht?«

»O nein, nein, nein, nein, nein. Das war bloß Blödsinn. Das hier ist Jokertown.«

Es war tatsächlich Jokertown. Bills Revier umfasste den Großteil der berühmten Touristenattraktionen – das Jokertown-Dime-Museum, den Stripclub Freaker, die Masken- und Capeläden in der Hester Street. Dazwischen fanden sich Starbucks-Filialen und – vollkommen unpassend – ein neues Hyatt-Hotel.

Auf den Gehwegen herrschte Gedränge, schlimmer als auf jeder normalen Straße Manhattans. Die Körperformen von Jokern entsprechen nicht immer denen normaler Menschen, und viele Joker sind auf Gehhilfen angewiesen. Deshalb waren die Trottoirs von Rollstühlen, vierrädrigen Fahrgestellen und anderen Fortbewegungsmitteln verstopft. An einer Stelle trat Bill beiläufig zwischen den acht Beinen einer Riesenspinne hindurch, auf denen der Kopf und der Oberleib einer alten Frau saßen, die den Gehweg entlangkrabbelte. Mit seinem Gummiknüppel machte Bill eine Grußgeste. »Morgen, Arachne.«

»Hi, Bill«, erwiderte die Spinnenfrau.

Ich befürchtete, Arachne auf einen ihrer Füße zu treten, und wich stattdessen in den Rinnstein aus.

»Ihr erster Tag heute?«, fragte die Alte.

Ich blieb stehen. »Äh, sieht man mir das so sehr an?« Ich versuchte, mich auf das Gesicht der Frau zu konzentrieren, ihr in die Augen zu schauen, doch mein Blick wurde immer wieder von den Stachelhaaren angezogen, die aus dem Spinnenleib wuchsen, und von den acht Beinen, die in Scheren endeten.

Sie kicherte. »Ja, Sie wirken schockiert.«

»Franny, komm schon«, bellte Bill.

Ich nickte Arachne zu und beeilte mich, ihn einzuholen.

Bill wedelte im Takt seiner Schritte mit dem Schlagstock.

»Ist das nicht ein bisschen sehr bedrohlich, immer mit dem Schlagstock rumzulaufen? Jetzt fehlt ja nur noch, dass du ihn dir in die Handfläche schlägst, dann ist das Klischee perfekt«, sagte ich.

»So bekomme ich Zugang zu meiner Fähigkeit, Junge. Wenn ich eine kritische Meinung zu meinem Stil als Polizist hören will, dann frage ich garantiert nicht dich.«

»›’tschuldigung.«

Eine Riesenhand legte sich auf meine Schulter. »Ist schon gut. Wenigstens weißt du, wann du dich zurücknehmen musst. Die meisten von uns sind Machoärsche. Sogar die Mädels.«

»Und was ist deine Fähigkeit?«

»Der Tag ist noch jung. Ich bin sicher, du wirst sie erleben, bevor er zu Ende geht.«

»Mir ist aufgefallen, dass alle Zweierteams aus einem Joker und einem Normalo oder einem Ass und einem Normalo bestehen«, sagte ich.

»Richtlinie in unserem Bezirk. Wenn möglich immer einen Normalo mit einer Wild Card zusammentun.«

An einem Zeitungskiosk an der Ecke Hester Street und Bowery blieben wir stehen. Ein voluminöser Mann mit schwarzblauer Haut und Eberhauern im Mund verkaufte einem Joker mit mehreren Armen und mehreren Augen eine Times, eine Newsweek und einen Economist. Nachdem der Joker auf seinen Tausendfüßlerbeinen davongekrabbelt war, stützte sich der Kioskbesitzer mit den Ellbogen auf dem Schalter ab. Er und Bill schlugen ein und boxten ihre Fäuste aneinander. Dann fragte Bill: »Was geht, Jube?«

»Ziemlich ruhig.«

»Na, das wird sich ändern«, sagte Bill.

»Hey«, sagte Jube. »Ich hab einen Neuen. Ein Joker, ein Priester und ein Rabbi sitzen im Rettungsboot und …«

Ich dachte über Bills letzten Kommentar nach und bekam den Witz nicht mit. Es war August. In einem Monat, am fünfzehnten September, würde in Jokertown ein Fest steigen, das halb Mardi Gras, halb St.-Patrick’s-Day und halb Krawall war: Wild Card Day. Für mich war es der Todestag meines Vaters.

Bill stöhnte. »Der war furchtbar. Du brauchst einen neuen Witzeschreiber.« Dann setzte er mit seiner aberwitzigen Stimme hinzu: »Lass mich dir meinen neuen Partner vorstellen. Franny, das ist Jubal. Wie lange beobachtest du das Treiben jetzt schon von deinem Kiosk aus? Vierzig Jahre?«

»Beinahe. Ich will die gar nicht alle zählen.«

Mir wurde eine breite Hand entgegengestreckt. Wir schüttelten uns die Hände, und Jubal betrachtete eingehend mein Namensschild, auf dem F. X. BLACK stand. »Vor fünfundzwanzig Jahren gab es mal einen F. X. Black im Fünften. Ein Verwandter?«

Wie gezogenes Toffee kamen die Worte aus meinem Mund. »Ja, mein Dad.«

Bill starrte mich an, und mir wurde heiß im Nacken. Zum Glück wurden wir von Geschrei unterbrochen.

»Du hässlicher Dreckskerl! Ich hab dir einen verdammten Fuffi gegeben, und du gibst mir auf zwanzig raus. Scheiße, Mann, das glaub ich ja nicht.«

Auf der Ecke auf der anderen Straßenseite wurden die Passanten von einem Streit an einem Brezelwagen angezogen und bildeten ringsum einen Strudel wie abfließendes Wasser. Bill und ich stürmten zwischen den geparkten Autos auf die Straße. Wie Moses, der die Fluten teilt, hielt Bill seinen Schlagstock in die Höhe, und siehe! Der Verkehr hielt an.

Ein rotgesichtiger Normalo in kurzer Hose, Tennisschuhen und wadenhohen Socken, dazu einem grünen Polohemd, das sich über seinen Bauch spannte, schrie einem maskierten Joker ins Gesicht: »Du beschissener Betrüger, du Scheißmissgeburt.«

Der kleine Joker schien unter dem Schimpfwortbeschuss zu schrumpfen. Zwar war sein Gesicht verdeckt, aber den Hals hinab zogen sich schlabbernde Hautfalten wie Kehllappen eines Truthahns, und sein kurzärmliges Hemd offenbarte, dass solche Hautfalten auch von seinen Armen herabbaumelten.

»Okay, jetzt beruhigen sich erst mal alle. Also, was ist das Problem?«, sagte Bill. Das ist der Cop-Standardspruch und wird meist in einem allwissenden Ton präsentiert. Bills piepsige Stimme vereitelte diese Wirkung jedoch, auch wenn seine wuchtige Gestalt das wieder ausglich.

»Ich habe diesem Typen einen Fünfziger gegeben, und er hat mir nur auf zwanzig rausgegeben«, wiederholte der Tourist, diesmal deutlich leiser.

»Hab ich nicht«, jammerte der Joker.

»Machen Sie mal Ihre Geldkassette auf«, sagte Bill.

Ich schluckte. Sollte der Joker sich weigern, wären wir gezwungen, uns einen Durchsuchungsbefehl zu besorgen. Aber er weigerte sich nicht. Und ich hatte gleich meine erste Lektion hinter mir. Es konnte nie schaden zu fragen. Polizisten haben etwas Einschüchterndes, deshalb lassen sich die Leute meistens darauf ein, und man spart sich eine richterliche Anordnung. Die Reaktion von Dr. Pretorius, mein Professor in Verfassungsrecht, konnte ich mir nur zu gut vorstellen.

In der Kassette war kein Fünfziger. Ich beschloss, dass ich anfangen musste, mich wie ein Cop zu verhalten und nachzuforschen. »Wie viel kostet eine Brezel?«, fragte ich.

»Einsneunundzwanzig inklusive Steuern. Einssiebenundsechzig, wenn Sie Käse drauf wollen. Er wollte Käse.«

Ich sah zu Bill auf, der mich finster betrachtete. Dann holte ich tief Luft, um das Zittern in meinem Bauch zu besänftigen, und sagte: »Niemand zahlt für eine Brezel für einssiebenundsechzig mit einem Fünfziger.« Ich warf einen Blick in die Geldkassette. »Und er …« Dabei zeigte ich auf den Joker. »Und er hätte kein Kleingeld mehr, wenn er es probiert hätte.«

»Weil er mein Geld in die Tasche gesteckt hat«, polterte der Tourist.

Bill sah die beiden an. Plötzlich löste er die Handschellen von seinem Gürtel und drehte den Joker um.

Im Revier hatte Mr. Kuzlovsky seinen Fünfziger zurückbekommen, der Brezelhändler saß in einer Zelle, und ich kam mir richtig, richtig blöd vor. Nach der Verhaftung hatte Bill den Verkäufer abgeklopft und den Fünfziger in den tiefen Hautfalten seines Bauchs gefunden. Mühselig, mit Adlersuchsystem und einem Finger, tippte Bill seinen Bericht und spürte meine Scham. Freundlich blickend, sah er auf.

»Mach dir keinen Kopf, Grünschnabel. Pass einfach auf, dass das Mitleid nicht dein Urteilsvermögen trübt. Und übertreib’s nicht damit, sie alle für unschuldig zu halten, bloß weil sie Betroffene sind und du sie eklig findest.«

Mein neuer Partner stellte sich als erschreckend scharfsinnig heraus. Ich beschloss, uns nicht beide zu beleidigen, indem ich es abstritt. »Mit der Wortwahl bin ich nicht einverstanden, aber ich merke, dass das schwieriger ist, als ich gedacht habe«, sagte ich. »Ich habe hier eine Wohnung genommen, um zu versuchen, das Viertel einfach als ein Viertel zu betrachten.«

»Das ist gut. Und jetzt musst du Joker noch als Menschen betrachten. Was bedeutet, dass sie wie die meisten Menschen Ärsche sind.«

Ich ließ mich auf einen Stuhl fallen und rückte Schlagstock und Handschellen zurecht, damit sie mir nicht in die Nieren drückten. »Das ist eine verdammt deprimierende Einstellung.«

Bill zuckte die Achseln. »Bin nur realistisch. Wir sind Cops, das bedeutet, dass wir das Schlechte sehen, nicht das Gute.« Er grinste mich an. »Kopf hoch. In einer Woche hältst du alle Welt für Lügner.«

»Toll.« Ich seufzte und sah weg.

»Was liegt dir denn sonst noch auf der Seele?« Allmählich fragte ich mich, ob Bill der Telepathie fähig war.

»Ich befürchte, dass das Absuchen einer körperlichen Missbildung als Leibesvisitation gilt. Wenn das so ist, hätten wir einen Durchsuchungsbefehl besorgen müssen.«

Bill unterbrach seinen Bericht und lehnte sich zurück. Der Stuhl ächzte bedenklich. »Bist du einer dieser nervigen Möchtegernrechtsverdreher?«

Ich starrte in sein breites Gesicht, und einen feigen Moment lang erwog ich, es zu leugnen. »Nein, ich bin ein richtiger Rechtsverdreher.«

»Ach du Scheiße. Das ist ja mal super.« Er stieß sich vom Tisch weg, dass die Räder seines Stuhls über den Boden ratterten. »Na, dann kannst du wahrscheinlich tippen. Tu dir keinen Zwang an.« Und damit stapfte er in Richtung Pausenzimmer davon. Anscheinend war der Moment einer sich anbahnenden Freundschaft vorüber.

Während ich mich vor den Computer setzte, schoss mir durch den Kopf, dass es zum nächsten Schichtwechsel vermutlich schon das ganze Revier wissen würde.

Um halb elf waren wir wieder auf der Straße. Um Viertel nach elf stoppten wir eine Prügelei vor Squishers Basement. Die Kämpfenden waren sternhagelvoll. Als ich keuchend zurücktrat und mir eine Stelle am Arm rieb, wo mich einer der Besoffenen zufällig erwischt hatte, ertappte ich mich, dass ich den Bartender, der herausgekommen war, um den Kampf zu beobachten, anschrie.

»Um welche gottverdammte Zeit machen Sie eigentlich auf? Oder haben Sie gar nicht erst zugemacht? Wenn Sie keine Sondergenehmigung haben, dann haben Sie hoffentlich um vier nachts zugemacht.«

Bill klopfte mir auf den Rücken. »Die haben auch ›Speisen‹ auf der Karte.« Er machte Anführungszeichen mit den Fingern. »Das heißt, dass sie um zehn aufmachen können, und er bietet ein ganz tolles Katerfrühstück an.«

Nachdem die Alkoholisierten in die Ausnüchterungszelle verbracht worden waren, stellte ich fest, dass ich Kohldampf hatte. Auch Bill hatte Hunger, und so gingen wir in einen Diner und aßen Burger. Ich machte den Fehler, einen mit Guacamole und Blauschimmelkäse zu bestellen. Eine Stunde lang durfte ich mir Bills Gerede über »Yuppie-Burger« anhören, und ich überdachte das mit seinem Einfühlungsvermögen noch mal. Ich sah auf die Uhr. Es war zehn vor halb zwei, und ich hatte Druck in den Augen.

Eine Bewegung auf dem Gehsteig zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Allmählich fing ich an, allem zu misstrauen, was den gleichmäßigen Menschenstrom in den Schluchten Manhattans unterbrach. Jetzt erklangen Johlen und schrille Pfiffe von Jugendlichen.

Ein alter Mann mit deutlich jiddischem Akzent rief zitternd: »Ihr seid ein Haufen Schweine. Einfach nur Schweine.«

Diesmal ging ich als Erster auf den Streit zu, zwängte mich durch die Menschenmenge und entdeckte eine nackte Frau. Sie war jung und versuchte, sich zu bedecken, indem sie einen Arm quer über der Brust und den anderen vor die Scham hielt. Neben den bei Punkerinnen üblichen Herzen und Schädeln zierten ihre Haut auch Tätowierungen mit interessanten orientalischen Ideogrammen. Davon abgesehen zierten ihren Körper noch ein unordentlicher pechschwarzer Haarschopf und ein Nasenring, der im Herbstlicht funkelte. Vor Scham waren ihre Wangen tief gerötet.

Jemand stieß einen anerkennenden Pfiff aus, und dann: »Hey, Baby, geiler Hintern!«

»Ach, verpiss dich!«, rief sie zurück. Sie hatte einen britischen Akzent.

Ich hob die Hand und sagte respekteinflößend (zumindest hoffte ich das): »Okay, hier gibt’s nichts zu sehen, gehen Sie weiter.« Kaum waren die Worte über meine Lippen, als ich zusammenzuckte, denn wie auf Kommando schossen irgendwelche Witzbolde unter den Schaulustigen zurück.

»Was? Bist du schwul, oder was?«

»Als ob es hier nichts zu sehen gäbe!«

Ein Verkäufer aus einem der angrenzenden Läden für Masken und Capes kam glotzend herbei. Dem rief ich zu: »Bringen Sie ihr ein Cape.« Er hastete wieder hinein, und ich wandte mich dem Mädchen zu. »Okay. Gegen was demonstrieren Sie? Pelze? Welthunger? Den Bürgermeister?«

»Hören Sie mal, Herr Polizist – wenn Sie überhaupt ein Polizist sind und kein Parkaufseher oder so was –, ich war das nicht. Ich bin hier nur langgegangen, einfach so, als plötzlich …« Sie machte eine Bewegung, die ihren ganzen Körper einschloss. »Ich will Anzeige erstatten wegen Raubes.«

Der Verkäufer kam mit einem Cape zurück, das sich die junge Frau über die Schultern warf und unter einem Chor aus enttäuschten »Ohs« fest um sich schlang.

»Nun, das ist neu«, sagte ich. Ich löste die Handschellen vom Gürtel.

»Sie wollen mich festnehmen?« Nussbraune Augen funkelten mich wütend an.

»Exhibitionismus.«

Bill kam dazu. Sein gewaltiger Leib schob sich durch die Menschen wie ein Eisbär durch eine Horde Robben. »Mal langsam, Grünschnabel.«

»Meine Kleider sind einfach …«

»Verschwunden, ja, ich weiß«, unterbrach Bill sie. Zu mir sagte er: »Fast täglich verlieren Frauen ihre Kleider. Wir vermuten, es handelt sich um ein perverses Ass, allerdings haben wir noch keine Spur. Deshalb befragen wir mal diese Perverslinge.« Sein zynischer Blick glitt über die Schaulustigen, doch die Leute fingen an auseinanderzugehen.

»He, stehen geblieben!«, rief ich, doch viele mischten sich in das geschäftige Treiben auf den Gehwegen. Die wenigen, die ich zusammentreiben konnte, befragte ich, während ich mit einem Ohr Bill zuhörte, der sich mit dem Mädchen unterhielt. Jetzt, nachdem ich kapiert hatte, dass sie keine Kriminelle war, dämmerte mir, dass sie verdammt hübsch war.

»Wie heißen Sie, Miss?«, fragte Bill.

»Abigail Baker.«

»Was machen Sie?«

»Ich bin Schauspielerin.«

»Hören Sie, Sie müssen uns aufs Amt begleiten und eine Aussage machen.«

»Ich habe keine Kleider.«

»Wir geben Ihnen einen Overall.«

»Bestens. Dann sehe ich wie eine Verbrecherin aus. Und was mache ich so lange?«

Bill rief der Ladenbesitzerin zu: »Hey, Jeannie, wir borgen das Cape für ein paar Stunden, okay?«

»Lass es reinigen, bevor du es zurückbringst«, rief Jeannie.

Abigails Lippen formten ein empörtes »O«, und sie stieß einen Laut aus wie ein wütendes Kätzchen. »Ich würde lieber nach Hause gehen.«

»Und ich will lieber, dass Sie mit auf die Wache kommen.«

»… es war eine unfreiwillige öffentliche Zurschaustellung von Nacktheit.«

Wir saßen in einem Verhörzimmer. Abigail schaffte es, den orangefarbenen Gefängnisoverall beinahe reizvoll aussehen zu lassen. Dazu trug sie Flipflops, die Sergeant Penniman aus ihrem Spind geholt hatte, und schlürfte eine Diät-Cola. Bill stellte Fragen, und ich machte Notizen.

Sie sah mich naserümpfend an und sagte: »Unfreiwillig. Das schreibt sich U… N… F…«

Bill verschluckte sich vor Lachen.

Ich bekam heiße Ohren. »Ich weiß, wie man ›unfreiwillig‹ schreibt. Ich war an der juristischen Fakultät.«

»Oh, wie interessant. Als was?«

»Als Student!«

Bill sorgte für Frieden, indem er fragte: »Okay, wo wohnen Sie?« Sie nannte eine Adresse am südlichen Rand von Jokertown. Bill lehnte sich zurück und musterte sie. »Dort wohnen vor allem Studenten. Haben Sie nicht gesagt, Sie wären Schauspielerin?«

Abigail errötete und trank schnell einen Schluck. »Nun, das bin ich auch … fast. Ich muss nur noch ein paar Seminare an der New York School of Performing Arts hinter mich bringen. Aber ich studiere am Bowery Repertory eine Hauptrolle als Zweitbesetzung ein.«

»Aha, dann sind Sie also Möchtegernschauspielerin«, sagte ich.

»Und Sie sind ein gescheiterter Anwalt.«

»Es war meine Entscheidung, zur Polizei zu gehen.«

»Franny, bring mir eine Limo.« Bill gab mir einen Dollarschein. »Orangenlimo. Und wenn du schon mal dabei bist, kannst du Apsara auch gleich nach dem Anzeigenformular fragen.«

Vor mich hin grummelnd, verließ ich die beiden. Das Mädchen hatte mich wirklich auf die Palme gebracht. Ich musste den alten Detective mit den Widderhörnern bitten, mir das Aktenzimmer zu zeigen. Genervt beschrieb er mir den Weg, und ich folgte seinen Anweisungen.

Nachdem ich viel zu viele Krimis gesehen hatte, hatte ich eine gute Vorstellung, wie ein Beamter im Aktenzimmer auszusehen hatte. Ein alter, dickbäuchiger Polizist, der aus dem Streifendienst ausgetreten war. Doch was mich erwartete, war eine Szene aus einem asiatischen Film. Das Mädchen sah sehr jung aus und einfach nur hinreißend. Pechschwarzes Haar, das ihr bis zum Hintern hinabwallte, honigsanfte Haut und eine sagenhafte Figur. Ich wollte mir die Lippen anfeuchten, aber mein Mund war ausgetrocknet wie die Sahara. »Ich brauche … Ich brauche …«

»Ja, Officer?« Ihre Stimme klang wie Glocken. »Was soll’s sein?« Kurz verdeckten lange Wimpern das Lachen in ihren Augen.

»Ein Formular für eine Anzeige.«

»Gut.« Ich sah ihr zu, wie sie wiegenden Schrittes zu einem Aktenschrank ging.

Dabei kam sie an einem seltsamen kleinen, reich verzierten Holzhäuschen mit einem mit Blattgold überzogenen Dach vorbei. So ähnliche Häuser hatte ich schon in Thai-Restaurants gesehen.

Mit einem Stapel Formularen kehrte sie zurück. »Ich bin Apsara Nai Chiang-Mai. Du bist neu. Wie heißt du?«

»Fran…« Ich bekam nur ein Piepsen heraus, hustete und probierte es noch einmal. »Francis Black.«

»Francis«, sagte sie so genüsslich, dass aus meinem Namen ein Lied wurde. »Das ist ein schöner Name. Ich mag es, wie er sich auf meiner Zunge anfühlt.« Wieder die Wimpern, und ich dachte an eine kalte Dusche.

»Danke«, stotterte ich, schnappte mir die Formulare und ging zur Tür.

»Du kannst jederzeit kommen!«, rief sie mir hinterher.

»Okay«, keuchte ich.

Im Hinausgehen meinte ich, eine griesgrämige, alte Stimme zu hören, die ihren Namen sagte, und zwar in dem Ton, den Eltern anschlugen, wenn ihre Kinder Blödsinn angestellt hatten.

Ich fand den Getränkeautomaten, kaufte die Orangenlimo für Bill und mir selbst eine Cola. Ich machte sie erst einmal nicht auf, sondern wälzte die kalte Dose ein paar Mal über meine Stirn. Nachdem ich die Kontrolle über meine Anatomie wieder zurückerlangt hatte, kehrte ich ins Verhörzimmer zurück.

Ganz unabsichtlich und ohne dass ich es gewollt hätte, war ich zufällig am Haupteingang, als Abigail ging. Sie trug noch immer den Overall.

»Brauchen Sie ein Taxi?« Ich musste mich erst räuspern, ehe ich das letzte Wort herausbrachte.

»Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass ich keine Geldbörse und folglich auch kein Geld mehr habe, deshalb: nein.«

»Äh … ja … Ich könnte Ihnen etwas leihen …«

Sie ging an mir vorbei auf die Tür zu. Ich beeilte mich, sie ihr aufzuhalten.

»Äh … sehen Sie … ich bin neu in der Stadt, und Sie sind … Ausländerin, vielleicht könnten wir zusammen zu Abend essen … heute Abend …« Ihr Gesichtsausdruck veranlasste mich, meinen Vorschlag noch einmal zu revidieren. »Irgendwann?«

»Sind Sie auf Crack? Nein!«

Die Tür fiel hinter ihr zu, und ich hörte Sergeant Taylor (den man, wie ich erfahren hatte, Wingman nannte) schnaubend lachen. »Du solltest an deinem Timing arbeiten, Franny«, sagte er.

14:10 Uhr. Wieder auf Streife. Bill verwarnte einen bettelnden Joker, der an einer Ampel die Windschutzscheiben wartender Wagen putzte. Von der Hüfte abwärts sah er aus wie ein großer Krake, und er hatte ein interessantes Verkaufsargument. Wenn ein Fahrer höflich war und ihm einen Dollar gab, hievte er sich auf das Autodach und, bewaffnet mit einem Putzleder an jedem seiner neun Tentakel (keine Ahnung, weshalb er neun Tentakel hatte, aber so war es nun mal), wischte er alle Fenster des Wagens gleichzeitig. Wenn der Fahrer unhöflich war, hievte er sich ebenfalls aufs Autodach, schwärzte dann allerdings die Fenster mit Tinte.

Als wir weitergingen, fragte ich: »Und warum bekommt er nur eine Verwarnung?«

»Weil Arms den Wagen des Chefs wäscht.«

»Maseryk?« Von Maseryk hatte mir Altobelli erzählt. Dieser hatte ihn mir als knallharten militärischen Hardliner beschrieben. Dieses Bild brachte ich nicht damit zusammen, dass er sich von einem Joker gratis das Auto waschen ließ.

»Nein, Mendelberg.«

»Ah.« Die andere Chefin des fünften Reviers war eine Jokerin. Allmählich bekam ich den Eindruck, als würden Joker zusammenhalten. Und wieder schien Bill meine Gedanken zu lesen.

»Arms ist manisch-depressiv. Er hält es in keinem Job lange aus. Polizeiautos zu waschen ist sein einziges regelmäßiges Einkommen.«

»Ah«, sagte ich erneut. »Wie lange braucht es, bis man das alles draufhat?« Ich machte eine ausladende Geste. »Ich vermute mal, das nennt man Kenntnis des Einsatzgebiets?«

»Ich bin seit fünf Jahren in diesem Revier, die drei Jahre davor war ich im dreizehnten. Aber ich bin in Chinatown groß geworden, ganz in der Nähe des fünften. In Jokertown kenne ich mich ziemlich gut aus, und in Chinatown kenne ich praktisch jeden.«

»Das macht nicht gerade Mut. Ich werde längst in Rente sein, bevor ich alle Leute hier kenne.«

»Vorausgesetzt, du bleibst hier. Du siehst mir eher nach der Sorte aus, die im Hauptquartier in One Police Plaza endet.«

Ich betrachtete seinen breiten Rücken und beschloss, dass es nicht dazu kommen würde. Doch dann fiel mir auf, dass das wahrscheinlich genau das war, was mein Rabbi, Sam Altobelli, für mich geplant hatte. Und wenn ich tatsächlich in den Fußstapfen meines Vaters folgen und Captain werden wollte, dann musste ich das Politiktheater mitspielen. Missmutig stapfte ich hinter Bill her, denn schon wieder hinterfragte ich die Beweggründe, die mich diesen Beruf hatten ergreifen lassen.

Ich war Abgänger der juristischen Fakultät von Columbia und im Staat New York examiniert worden. Aber ich war nicht wirklich aus Juristenholz geschnitzt, hätte es nie in eine der schnieken alten Kanzleien geschafft – doch da ich zu den dreißig Prozent der Topabgänger aus meiner Klasse gehörte, hätte ich sicher irgendwo eine gute Stelle bekommen. Aber ich wollte etwas bewirken. Wollte Leuten helfen.

Dann arbeite halt als Pflichtverteidiger oder für eine gemeinnützige Umweltschutzorganisation, riet mir die innere Stimme, die sich verdächtig nach einer Mischung aus meiner Mutter und meinem Betreuer am College anhörte.

Das werde ich auch, versprach ich ihnen. Wenn daraus nichts wird.

Ich war tief in Selbstbetrachtungen versunken, den Blick auf die Risse im Trottoir gerichtet, als sich Bills Funkgerät meldete. »Bill, einer meiner Köter hat den Handtaschendieb gesichtet. Er läuft auf der Broome nach Westen in Richtung Dumpling House.«

»Danke, K-10, wir kümmern uns.«

Bill rannte los. Ich hielt meinen Schlagstock und die Handschellen fest, damit sie mir beim Laufen nicht gegen die Nieren schlugen, und folgte ihm. An einer Ecke bogen wir in die Broome Street ein, und ich hörte eine Frau schreien. Kurz erhaschte ich einen Blick auf einen jungen Mann, der eine große rote Lederhandtasche umklammerte und rannte, als wären ihm alle Höllenhunde auf den Fersen.

Wir nahmen die Verfolgung auf. Bill war zwar groß, aber ich war im College Sprinter gewesen, und der Dieb war motiviert. Schon bald hatten wir Bill hinter uns gelassen. Der Handtaschendieb fasste die Ecke eines roten Sandsteinhauses und katapultierte sich in eine Seitengasse. Als ich um die Ecke bog, kullerte mir eine Mülltonne entgegen und entleerte ihren stinkenden Inhalt vor meinen Füßen. Auf einer Kombination aus faulenden Kartoffelschalen und Plastikfolien rutschte ich aus. Zwar schaffte ich es, nicht der Länge nach darin zu landen, aber eine Hand und ein Knie sanken dennoch in den feuchtweichen Abfall ein.

»Ih.« Ich sprang auf und lief weiter. Dabei versuchte ich, die Abfallreste von meiner Hand abzuschütteln.

Die Gasse endete vor einem Maschendrahtzaun. Der Dieb hatte sich die Handtasche über die Schulter gehängt und kraxelte an den Drahtmaschen hinauf. Hinter mir hörte ich Bill. Er brüllte etwas, doch mir pochte das Blut in den Ohren, meine Tritte hallten auf dem Asphalt, und der Zaun wackelte und klapperte, und deswegen verstand ich ihn nicht.

Ich sprang nach oben, griff in die Maschen und kletterte los. Der Dieb sah zurück und trat nach mir. Gerade noch rechtzeitig riss ich den Kopf zurück, sodass sein Fuß nur meine Schulter traf. So langsam war ich richtig sauer. Ich schnellte nach oben und bekam die Handtasche zu fassen, die an seinem mageren Hintern baumelte.

Als ich an dem Riemen riss, hörte ich Bill pfeifen. Mit einem verzweifelten Schrei fiel der Dieb herunter. Auch ich verlor den Halt und stürzte … und bemerkte, dass wir von einem hellen pinkfarbenen Glanz voller Funken und schwebender Sterne umgeben waren.

»Ich hab dir doch gesagt, dass du zur Seite gehen sollst«, sagte Bill.

Ich knallte die Tür meines Spinds zu und schlug genervt nach den Sternen, die vor meinen Augen herumtanzten. Jetzt war ich eingehend vertraut mit Bills »Fähigkeit«. Beastie Bester und Van Tranh, alias Dr. Dildo, lachten schnaubend. »Wie lange hält das an? Und sag jetzt bloß nicht für immer.«

»Ungefähr sechs Stunden.«

»Toll. Bis morgen.«

Auf dem Weg von den Spinden zum Haupteingang kam ich am Aktenzimmer vorbei. Das unglaublich sexy aussehende Mädchen kicherte und beäugte mich durch einen Vorhang ihrer hinternlangen schwarzen Haare. Apsara, so hieß sie. Als wir Abigails Fall aufgenommen hatten, hatte ich bei ihr ein paar Formulare geholt und vorgehabt, sie auf ein Date einzuladen. Jetzt hielt sie mich für einen Trottel, und es würde nie etwas daraus werden. Voller Selbstmitleid ging ich zum Haupteingang und trat auf die dämmrige Straße hinaus. Vor zehn Stunden war ich mit dem Gefühl durch diese Tür geschritten, dass alles Mögliche passieren konnte.

Und leider war es auch genauso gekommen.

Auf halbem Weg nach Hause legte sich eine kräftige Hand auf meine Schulter, und plötzlich landete ich mit dem Gesicht an einer rußigen Ziegelwand. »Okay, du bist verhaftet.«

»Ich bin Polizist«, murmelte ich, an den rauen Stein gequetscht.

»Wie bitte, du Penner?«

»Ich bin Polizist!«, rief ich.

»Ja, und ich bin der Papst.«

»Meine Dienstmarke ist in meiner linken Brusttasche.«

Von groben Händen wurde ich umgedreht, dann wurde meine Tasche durchsucht, meine Dienstmarke und mein Ausweis herausgezogen. Ich sah mich einem widerlichen Joker gegenüber. Seine Augen traten hervor, und die zusammengewachsenen Augenbrauen ließen seine Stirn wie ein Regal erscheinen. Sein Kopf hatte die Form einer Gewehrkugel, die seitlich von einer eisernen Bratpfanne eingedellt worden war. Gekrönt wurde das Ganze von grauem Stachelhaar, das eher den Borsten eines Warzenschweins glich als einem menschlichen Haarschopf.

Neben ihm stand ein Mädchen, das mit seinem struppigen braunen, zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haar komisch aussah. Sie besaß die größte fassförmige Brust, die ich je bei einem Menschen gesehen hatte, und dazu eine derart schlanke Taille, dass selbst Scarlett O’Hara vor Neid grün angelaufen wäre. Direkt hässlich war sie nicht, nur … seltsam. Auf ihrem Namensschild stand MICHAELSON.

»Und warum hast du dann das Leuchten gekriegt?«, fragte der Typ mit den vorstehenden Augen. Auf seinem Namensschild stand: BRONKOWSKI. Die Bohnenstange neben ihm lächelte und zeigte dabei kleine Fangzähne.

»Bill ist mein Partner. Wir haben einen Handtaschendieb festgesetzt, und … nun, er hat … danebengetroffen.« Der Hässliche lachte schallend heraus, und neben dem Mund des Mädchens erschien ein Grübchen. »Und warum zur Hölle verhaftet ihr mich?«, fügte ich gekränkt hinzu.

»Weil du rosa leuchtest«, sagte Michaelson, und mit ihrer Frauenstimme gelang ihr ein passables Imitat des kühlen, emotionslosen Tonfalls von Joe Friday aus Polizeibericht.

»Soll das heißen, dass ihr Leute verhaftet, bloß weil sie leuchten?« Dabei zeigte ich auf die Funken und Sterne.

»Tinkerbill verpasst das niemandem, wenn er nicht wegen irgendwas schuldig ist.«

»Tinkerbill?« Die Freude über den Spitznamen meines Partners machte dem Entsetzen des Juristen in mir Platz. »Ihr verhaftet Leute ohne hinreichenden Verdacht?«

»Junge, wie lange bist du schon dabei?«, fragte Michaelson. Was mir ziemlich unverschämt vorkam, denn sie sah kein bisschen älter aus als ich.

»Heute war mein erster Tag.«

Sie und Bronkowski sahen sich an. »Du wirst noch einiges lernen«, sagte sie, dann ließen sie mich los.

Ehe ich nach Hause kam, wurde ich noch vier weitere Male verhaftet. Jedes Mal kam ich wegen meiner Dienstmarke und nach der Erklärung, dass ich Bills Partner war, wieder frei. Trotzdem hatte ich das Gefühl, eine Spur der Ausgelassenheit bei der Spätschicht zurückzulassen.