Wild Cards - Die Gladiatoren von Jokertown - George R.R. Martin - E-Book

Wild Cards - Die Gladiatoren von Jokertown E-Book

George R.R. Martin

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Beschreibung

Sie sind die Gladiatoren von Jokertown – für die einen tapfere Helden, für die anderen verzweifelte Opfer.

Jokertown … So wird das Ghetto im südlichen Manhattan genannt. Hier leben die Joker, die von einem Virus veränderten Mutanten. Gangs beherrschen die Straßen, für die Sicherheit können die Cops nicht mehr garantieren. Aber hier hält man auch zueinander! Als immer mehr Joker verschwinden und die Behörden nichts unternehmen, tun sich einige Mutanten zusammen, um sie aufzuspüren. Sie stoßen auf illegale Gladiatorenkämpfe und eine weltumfassende Verschwörung. Doch je näher sie der Organisatorin kommen, desto höher werden die Einsätze – bis es um ihr eigenes Leben geht!

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Seitenzahl: 644

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Buch

Jokertown … So wird das Getto im südlichen Manhattan genannt. Hier leben die Joker, die von einem Virus veränderten Mutanten. Gangs beherrschen die Straßen, für die Sicherheit können die Cops nicht mehr garantieren. Aber hier hält man auch zueinander! Als immer mehr Joker verschwinden und die Behörden nichts unternehmen, tun sich einige Mutanten zusammen, um sie aufzuspüren. Sie stoßen auf illegale Gladiatorenkämpfe und eine weltumfassende Verschwörung. Doch je näher sie der Organisatorin kommen, desto höher werden die Einsätze – bis es um ihr eigenes Leben geht!

Herausgeber

George Raymond Richard Martin wurde 1948 in New Jersey geboren. Sein Bestseller-Epos Das Lied von Eis und Feuer wurde als die vielfach ausgezeichnete Fernsehserie Game of Thrones verfilmt. George R. R. Martin wurde u. a. sechsmal der Hugo Award, zweimal der Nebula Award, dreimal der World Fantasy Award (u. a. für sein Lebenswerk und besondere Verdienste um die Fantasy) und dreimal der Locus Poll Award verliehen. 2013 errang er den ersten Platz beim Deutschen Phantastik Preis für den Besten Internationalen Roman. Er lebt heute mit seiner Frau in New Mexico.

Aus dem Wild-Cards-Universum bereits erschienen:

WILD CARDS. Die erste GenerationVier AsseDer SchwarmDer Astronom

WILD CARDS. Die zweite GenerationDas Spiel der SpieleDer Sieger der VerliererDer höchste Einsatz

WILD CARDS. JokertownDie Cops von JokertownDie Gladiatoren von Jokertownweitere Bände in Vorbereitung

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GEORGE R.R. MARTIN

In Zusammenarbeit mitMelinda M. Snodgrasspräsentiert

WILD CARDS

Die Gladiatoren von Jokertown

Geschrieben vonMichael Cassutt | David Anthony Durham | Melinda M. Snodgrass | Mary Anne Mohanraj | David D. Levine | Walter Jon Williams | Carrie Vaughn | Ian TregillisDeutsch von Simon Weinert

Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel»Lowball« bei Tor Books, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

1. Auflage

Copyright der Originalausgabe © 2014 by George R. R. Martin and the Wild Cards TrustCopyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2019 by Penhaligon in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Redaktion: Catherine Beck

Umschlaggestaltung und -illustration: Max Meinzold, München, unter Verwendung eines Motivs von © Shutterstock/CloudiHK · Herstellung: samSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-23637-3V001

www.penhaligon.de

Für Fred Ragsdale

Das große Bluten

von Michael Cassutt

Teil 1Prolog

Seit seinem elften Lebensjahr, seit jenem furchtbaren Ereignis, nannte man ihn nicht mehr Hasan, sondern Chahina. Chahina war ein ungewöhnlicher Name für einen Berberjungen, doch er passte ganz gut, denn er bedeutete ungefähr so viel wie »Wheels« oder »Fortbewegungsmittel«. Mit elf Jahren war Hasan auf grausame Weise in einen Joker verwandelt worden, der einem kleinen Lastwagen glich.

Seine Körpermasse hatte sich verdoppelt – während der fiebrigen Umwandlung hatte er so viel gegessen wie zehn Hasans –, und er war würfelförmig geworden, mit einer Mulde auf dem Rücken und einer halslosen Ausbeulung, wo vorher Kopf und Schultern gesessen hatten.

Seine Hände und Füße hatten sich in Hornkolben verwandelt, mit flachen, runden Scheiben, die alle paar Monate – je nach Beanspruchung – abplatzten, aber doch ein Teil von ihm blieben, so wie die Armbänder um das Handgelenk eines Mädchens. Chahina hatte herausgefunden, dass er die Scheiben, wenn er die vier kolbenartigen Gliedmaßen auf eine bestimmte Art abspreizte, als … nun ja, als Räder benutzen konnte. Auf diesen Rädern konnte er eine Straße in der Stadt oder eine marokkanische Landstraße entlangfahren wie ein Laster. Mit nur einem augenfälligen Unterschied.

Chahina stieß sich mit seinen Beinen ab, sodass er hin und her schwankte und aussah wie ein Laster mit kaputter Aufhängung …

»Ah«, sagte einer seiner Kunden, ein stämmiger holländischer Waffenschmuggler namens Kuipers, als er Chahina das erste Mal in Aktion sah. »Sie sind ja wie Hans Brinker!«

Anscheinend konnte man Chahina sogar im gitterförmigen Gesicht ablesen, dass er es nicht kapierte.

»Ein Schlittschuhläufer«, erklärte Kuipers. Und wie ein bekloppter Clown ahmte er die Links-/Rechtsbewegungen eines Jungen auf Schlittschuhen nach.

Hans Brinker? Chahina war sich nicht sicher … doch von diesem Tag an nannte er seine Fortbewegungsart »Schlittrollern«.

Und in den vergangenen elf Jahren hatte er sich schlittrollernd eine Karriere als Kurier aufgebaut, der illegale Substanzen, Schmuggelware und ja, auch Waffen von Ort zu Ort beförderte, für gewöhnlich zu merkwürdigen Zeiten und in großer Heimlichkeit, häufig auf wenig befahrenen Routen. Seine Fähigkeit, heimliche Fortbewegung mit gesundem Menschenverstand zu kombinieren, brachte ihm in der Verbrecherwelt Nordafrikas und Südeuropas viele Fans ein. Er war sogar so beliebt, dass einer seiner Hauptkunden, der seine Geschäfte in die Vereinigten Staaten ausweitete, ihn »einlud«, als Fracht – was sonst? – auf einem Frachter mitzufahren.

Nachdem er sich einmal an die Härten des Lebens als Jokerimmigrant in New York und Umgebung gewöhnt hatte, hatte Chahina die verhältnismäßige Leichtigkeit seines neuen Schmugglerdaseins allmählich zu schätzen gelernt. Die Straßen waren besser. Die Polizei war im Allgemeinen vorhersagbarer und aufrichtiger (Chahina übertrat die Geschwindigkeitsbegrenzungen nicht und wurde deshalb nie angehalten).

Und es gab keine Räuber! Chahinas Jahre in Amerika waren einträglich gewesen, die Zukunft war vielversprechend.

Doch am Abend des 7. Mai 2012, eines Montags, machte er einen Fehler.

Chahina sah häufig auf menschliche Fahrer und ihre Fahrzeuge herab, weil er sie für minderwertige Geschöpfe hielt, da sie ohne einander nutzlos waren. Er hingegen war sowohl das Hirn als auch die treibende Kraft seiner selbst.

Manchmal aber wünschte er sich, er hätte ein wenig Hilfe beim Navigieren, denn dann hätte er nicht die falsche Abzweigung genommen, als er in Richtung Norden aus Tewksbury herausgefahren war, an der Stelle, wo die 519 und der Old Turnpike zusammen verliefen. Er hatte zehn Minuten vergeudet, weil er auf dem OT nach Westen gefahren war, wo es eigentlich weiter nach Norden gegangen wäre.

Normalerweise hätte ihm dieser kleine Umweg keine Probleme bereitet, doch Chahina hatte eine Deadline. Um 20 Uhr sollte er seine Fracht bei einem Kunden am Rand des Stephens State Park abliefern … Bei der Adresse schien es sich weder um einen Betrieb noch um ein Wohnhaus zu handeln, sondern eher um freies Feld.

Um die verlorene Zeit wieder reinzuholen, brach Chahina mit seiner selbst auferlegten Regel, sich an Geschwindigkeitsbegrenzungen zu halten. Das war riskant, denn um schneller zu fahren, musste er noch kräftiger schlittrollern.

Er bemerkte den verdutzten Blick von zwei ihm entgegenkommenden Fahrern, doch aus Erfahrung wusste er, dass sie ihn schlicht für ein ausländisches Lastwagenmodell von ungewöhnlich schlanker und runder Bauweise halten würden.

(Bei Nachtfahrten war Chahina gezwungen, Stirnlampen als Scheinwerfer zu tragen. Seitlich der Augen schnallte er sie sich an, damit er das Nötigste erkennen konnte und damit andere Verkehrsteilnehmer ihn als Lastwagen identifizierten. Die schnellste Art, die Aufmerksamkeit der Verkehrspolizei zu erregen, war, wenn man nachts ohne Licht über eine Landstraße heizte …)

Was Chahina am meisten verabscheute, war der Regen, durch den er die letzten zwei Monate fast täglich gefahren war.

Zum einen war er einfach unangenehm. Nach Chahinas Verwandlung in einen Joker, der wie ein Laster aussah, war er nackt gewesen – allein das war ein Schock für den Jungen gewesen, der zuvor in der Öffentlichkeit nie weniger angehabt hatte als T-Shirt und lange Hose. Sein älterer Bruder Tariq hatte ihm geholfen, eine »Hose« aus einer Plane zu nähen, die seinen Unterleib bedeckte und aussah wie die Abdeckung eines richtigen Lasters. Diese frühe Notlösung hatte Chahina danach noch verbessert, indem er besser passende und verschiedenfarbige »Hosen« angefertigt hatte, um für jede Umgebung gerüstet zu sein. Heute zum Beispiel trug er eine graue Plane.

Aber sie waren alle nicht wasserdicht, und deshalb hatte Chahina beim Schlittrollern das Gefühl, in einer Pfütze zu sitzen, während ihm der Regen auf Nacken und Rücken platschte.

Schlimmer noch, der Regen machte es schwerer, etwas zu erkennen. Und er verlor beinahe seine Griffigkeit. (Seine »Hände« und »Füße« verfügten nicht über das Profil eines Autoreifens.)

Fünfzehn Minuten nachdem er Staten Island verlassen hatte, hatte der Regen eingesetzt, noch ehe er die Goethals Bridge nach New Jersey überquert hatte.

Es war kein starker Regen – aber es brauchte nicht viel, um Chahina das Leben schwer zu machen.

Zum Glück bestand seine Fracht nur aus zwei Dutzend Kunststoffcontainern. Denen machte ein bisschen Feuchtigkeit nichts aus.

Nachdem er aus Hackettstown heraus war und gerade an Bilby vorbeifuhr, wichen die Industriegebiete alten Farmen und Wäldern.

Der wenige Verkehr, der sich in den Regen hinauswagte, versiegte mit der einbrechenden Dunkelheit vollends. Wheels holte Luft und stieß sich kräftiger ab. Ihm war klar, dass er nicht nur die Geschwindigkeitsbegrenzung, sondern auch seine Energiereserven strapazierte – warum hatte er nicht mehr gegessen? Seine Mitbewohner machten sich über seine Ernährung lustig, weil er immer so viel …

Plötzlich lag jemand vor ihm auf der Straße.

Wheels überfuhr ihn. Es war fast, als würde man in den Vorstädten über eine Bremsschwelle rasen … und die Bremsschwelle dabei wie ein menschlicher Körper schmatzen.

Und es tat verdammt weh. Auch wenn sie eine dicke Hornhaut hatten, so waren seine Räder eben doch nur seine nackten Hände und Füße. Diesen Kerl zu überfahren war, wie mit dem Zeh gegen den Bordstein zu stoßen.

Er verlor die Bodenhaftung, verlor die Kontrolle, rutschte und schlitterte wie ein Betrunkener auf einem vereisten Bürgersteig, bis er zu einer Linkskehre gelangte, hundert Meter weiter den Highway entlang …

Und in einen Graben krachte, der vor den Bäumen dahinter gähnte.

Der Aufprall drückte ihm die Nase ein. Seit Tariq ihm – vor seiner Zeit als Wild Card – eine gescheuert hatte, weil er einen Schokoriegel gestohlen hatte, hatte ihm nichts mehr so wehgetan.

Er war so verblüfft, dass er nicht hätte sagen können, wie lange er in dem Graben gelegen hatte, den Kopf nach unten, das Hinterteil nach oben und insgesamt nach rechts geneigt. In der Dunkelheit war es ihm nicht möglich, die Zeit abzuschätzen. Waren ein paar Sekunden vergangen? Minuten?

Er hoffte inständig, dass es keine Stunde gewesen war.

Sich aus dem Graben zu befreien erforderte Geduld. Ihm ging es wie einem Footballspieler mit einer gebrochenen Rippe: Jeder Versuch, sich zu bewegen, schmerzte.

Schließlich gelang es ihm, sich aufzurichten … Mit der guten linken »Hand« drückte er sich so weit hoch, dass seine hinteren »Füße« wieder Halt auf der Straße fanden.

Erst als er sich auf der Straße wieder ganz aufgerichtet hatte, merkte er, dass er einen der Container verloren hatte. Er konnte ihn nirgends entdecken. Und selbst wenn er ihn gefunden hätte: Er konnte ihn nicht wieder aufheben und aufladen.

Es war, als würde man einen Zahn verlieren – aber wahrscheinlich weitaus schmerzhafter, wenn er erst einmal bei seinem Kunden war.

Tja, es war nicht das erste Mal, dass Wheels etwas verloren hatte … er war geschlagen und auf andere Art misshandelt worden. Aber er wusste, dass es besser war, mit neunzehn von zwanzig Stücken aufzutauchen, als die Konfrontation komplett vermeiden zu wollen.

Allerdings war da noch ein anderes Problem.

Langsam und unter Schmerzen rollte Wheels ein paar Dutzend Schritte den Highway zurück zu der Stelle, wo er den Typen überfahren hatte … Wheels konnte wenig für ihn tun, vorausgesetzt, er lebte noch. Und inzwischen zählte jede Sekunde.

Wheels war in seinem kurzen Leben jedoch schon so oft misshandelt worden. Er konnte es nicht ertragen, einfach … davonzurauschen …

Plötzlich leuchteten weit im Süden Scheinwerfer auf … ein anderes Auto!

Wheels wollte keine Fragen beantworten, noch wollte er mitten auf der Straße neben einer Leiche gesehen werden.

Er wandte sich um und schlittrollerte in die Regennacht davon.

Die Todgeweihten

von David Anthony Durham

Teil 1

Marcus warf den Gullydeckel zur Seite. Er schob sich teilweise durch die Öffnung heraus, lehnte sich dann zurück und sah auf sein Handy. Da. Endlich. Er hatte wieder ein paar Balken! Der schlechte Handyempfang war nicht das einzige Problem, wenn man in den Tunneln und Abwasserkanälen unterhalb Jokertowns lebte, doch war er eines der nervigsten.

Eine Sprachnachricht. Eine SMS.

Die Nachricht war von einem Mädchen, das ihn seit einer Weile belästigte. Er wusste nicht, weshalb er ihr überhaupt seine Handynummer gegeben hatte. Sie war eine Normalo. Sah durchschnittlich aus, glattes blondes Haar und zu viel Lächeln im Gesicht. Letzte Woche war sie im Drakes an der Bowery Street auf ihn zugekommen, hatte ihn am Arm gepackt und ihm aus heiterem Himmel gestanden, dass sie einen Schlangenfetisch habe. »Ich liebe Schlangen einfach. Und die giftigen am meisten.« Sie hatte ihn geil gemacht, aber nicht auf eine gute Art.

Er drückte auf Löschen.

Die SMS stammte von Pater Squid. Marcus lächelte. Die Vorstellung, dass der gute Pater eine SMS tippte, amüsierte ihn jedes Mal. Eigentlich hätte es dem Priester leichtfallen müssen, die kleinen Tasten zu drücken, schließlich hatte er lauter Saugnäpfe an den Fingern. Die SMS lautete: NCHTVRGESSN WCHE. 17U.

»Ich werde da sein«, sagte Marcus. »Auch wenn es nichts bringen wird.«

Marcus mochte den Priester zwar, doch der Alte hatte den Hang, sich in Dinge hineinzusteigern. Er hatte Marcus dazu überredet, ihm zu helfen, sogenannte vermisste Joker zu finden. Nach ein paar Tagen der Suche hatte Marcus das Gefühl, dass an der Sache nichts dran war. Klar waren ein paar Typen verschwunden, aber es waren nicht die Sorte Typen, deren Verschwinden irgendjemandem Kummer bereitete. Weshalb es den Priester so sehr interessierte, vermochte Marcus nicht nachzuvollziehen.

Er klappte das Handy zu, steckte es in seine Brusttasche und kroch ganz aus dem Gully heraus. Von der Hüfte an aufwärts war er ganz normal. Ein junger Afroamerikaner, gut gebaut, mit Muskeln, die sich unter seinem gut sitzenden T-Shirt abzeichneten. Mit seinem sauber frisierten Haar wirkte er wie jemand, der sehr auf sein Äußeres achtete, und an den Ohren hingen fette Goldringe. Unterhalb der Hüfte jedoch lief sein Körper in einem langen, schuppigen Schlangenmuskel aus. Sein sechs Meter langer, schmaler werdender Schwanz war geringelt, und wenn er sich windend vorwärtsbewegte, zuckten die grellen gelben, roten und schwarzen Ringe hypnotisch.

Er blieb nicht lang am Boden, sondern schob sich hinauf in eine enge Spalte an der Mündung der Seitengasse, schlängelte sich von einer Klinkerwand zur anderen. Als er den Schatten der Häuserschluchten von Jokertown entkommen war, schien die Frühlingssonne auf ihn herab. Ihre Wärme erfüllte seinen Schwanz mit Kraft. Er kramte seine Sonnenbrille heraus und setzte sie auf. Ihm war klar, dass er cool aussah. Vor ein paar Jahren hatte er noch geglaubt, sein Leben wäre zu Ende. Jetzt fühlte sich alles ganz anders an.

Als er an einer Dachkante entlangglitt, rief jemand von der Straße zu ihm herauf. »IBT! Hey, IBT!«

Marcus spähte hinunter zu einer pummeligen Frau in einem schwarzen T-Shirt.

»Ich bin dein größter Fan, Süßer. Sieh mal.« Sie zeigte mit zwei Wurstfingern auf ihr T-Shirt. Die hellen rosa Buchstaben IBT spannten sich darüber. Sie hatte eindeutig mehr als zwei Brüste, die von innen gegen den Stoff drückten.

Der Typ neben ihr zeigte mit dem Finger auf ihn. »Du bist der Held, T!«, sagte er und stampfte mit einem übergroßen Fuß auf den Boden.

Marcus winkte. Er zog sich von der Kante zurück und glitt weiter. »Du bist der Held, T«, äffte er nach. »Was soll das mit den ganzen Abkürzungen?«, brummte er vor sich hin. »›T‹ bedeutet, dass er mich Tongue nennt, aber zu faul ist, das Wort ganz auszusprechen. Dabei heiße ich Infamous Black Tongue«, verkündete er dem Himmel. Dann dachte er: Und IBT ist schon okay, denke ich, wenn man es eilig hat.

Er fand es eigenartig, dass nicht sein Schlangenleib den Spitznamen inspiriert hatte. Schließlich war er schon früh wegen der erschütternden Macht seiner Zunge in die Presse gekommen, mit der er Gift austeilen konnte. Anscheinend hatte das Eindruck gemacht.

Das erinnerte ihn an etwas.

Er wich kurz von seiner geplanten Route ab und lugte auf die von Graffiti verschandelte Wand eines Gebäudes neben einer Brachfläche herab, die zu einem Stadtgarten umgestaltet worden war. Die Mauer zierte ein einziges riesiges Gemälde, ein Tribut an Oddity, deren Gestalt in Mantel und Maske die Szene beherrschte. Auch IBT kam darin vor. Ganz am anderen Ende erhob er sich auf seinem aufgewickelten kräftigen Hinterleib, halb von züngelnden Flammen eingehüllt. Die eine Hand hielt er in Richtung Oddity ausgestreckt, um die Schlüssel entgegenzunehmen, den die legendären Wächter ihm überreichten. Mit der anderen versetzte er dem verbrecherischen Cop Lu Long einen Schlag auf die Drachenschnauze.

Marcus hielt den Kopf schräg. Kniff die Augen zusammen. Seit er es das letzte Mal betrachtet hatte, hatten sie fleißig daran gearbeitet. Inzwischen hatten sie sogar seinen Schwanz ganz gut getroffen. Zwar war das Farbmuster der Ringe durcheinander, aber er bezweifelte, dass es außer ihm jemand merken würde. Das Einzige, was ihm nicht gefiel, war sein Gesicht. Er sah zu wütend aus, zu zähneknirschend zornig. Pater Squid hatte ihn gewarnt, dass sein Bild nicht mehr ihm gehören würde, wenn er erst einmal eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens geworden wäre. Das war der Beweis, in Überlebensgröße an die Wand gesprayt.

Ganz in der Nähe des Polizeireviers, einen halben Häuserblock entfernt, kam er wieder zur Straße herunter. Auf dem restlichen Weg nickte er, wenn ihn jemand grüßte, schlug bei dem etwas zu begeisterten Typen ein, der ihm die Hummerkralle hinhielt, und signierte die Yankees-Baseballmütze eines pelzigen kleinen Jungen. Erst hatte er dagegen protestiert, weil er Orioles-Fan war und sowieso kein Baseball spielte. Doch der Junge hatte darauf bestanden.

Pater Squid erwartete ihn auf den Stufen zur Wache. Obwohl es warm war, trug der große, breitschultrige Priester wie immer seine dicke Soutane. Die Hände hielt er zeltförmig aneinandergelegt vor der Brust wie im Gebet. Hätten seine Finger nicht ungeduldig gezappelt, hätte man ihn fast für seelenruhig halten können. »Hast du etwas Neues herausgefunden, Sohn?«

Marcus schüttelte den Kopf.

»Keine Sichtungen?«

»Nein.«

Der Priester beugte sich näher an ihn heran, er roch salzig und fischig. Die Tentakel, die ihm vom Gesicht herabhingen, schienen sich nach Marcus zu strecken, als wäre jeder von ihnen begierig auf gute Neuigkeiten. »Was ist mit der verlassenen Wohnung?«

»Ich habe nachgesehen. Keine Spur von Wartcake.«

»Nenn ihn nicht so. Simon Clarke ist der Name, den seine Eltern ihm gegeben haben.«

Marcus zuckte mit den Schultern. »Ich weiß, aber alle nennen ihn Wartcake. Wenn ich nach Simon Clarke frage, weiß niemand, wen ich meine. Deshalb muss ich immer Wartcake sagen, und dann plötzlich: ›Oh, Wartcake, warum hast das nicht gleich gesagt?‹« Er sah dem Priester in die großen, dunklen Augen. »Ich meine ja nur.«

Das Treiben in der Wache kam nicht gerade zum Erliegen, als Marcus und Pater Squid eintraten, doch immerhin herrschte kurz Stille. Ein Augenpaar nach dem anderen richtete sich auf Marcus und folgte ihm auf seinem Weg zum Büro des Captains. Officer Napperson beäugte ihn missmutig hinter seinem Schreibtisch, als wolle er ihm mit seinem Blick den Tod an den Hals wünschen. Ein anderer Uniformierter legte die Hand auf seine Pistole und fingerte an ihrem Kolben herum.

Pater Squid schritt schwerfällig, aber entschlossen aus. Marcus hielt den Blick auf den Rücken des Priesters gerichtet. Er bemühte sich um gelassenes Schleichen, aber die aufmerksamen Blicke machten ihn nervös. Er wurde nicht schlau aus den Cops. Die meisten von ihnen behandelten ihn wie einen Kriminellen, den sie am liebsten wegen irgendwas in die Pfanne hauen wollten. Doch das hielt sie nicht davon ab, ihn zu benutzen. Officer Tang hatte ihm einmal einen Hinweis bezüglich eines Kerls gegeben, an den die Polizei nicht rankam, den Bruder irgendeines Politikers, der Jokernutten misshandelte. Marcus hatte ihn sich eines Nachts vorgeknöpft und ihm den Schrecken seines Lebens eingejagt, sodass er nie wieder einen Fuß nach Jokertown gesetzt hatte. Außerdem hatte er drei Täter, die rosa gefunkelt hatten, weil Tinkerbills sie mit seiner Aura umhüllt hatte, erjagt, mit Gift lahmgelegt und fein säuberlich verschnürt. Wie ironisch, wenn man bedachte, dass er selbst schon mal einen ganzen Abend lang wie eine Fee gefunkelt hatte.

Mit Beastie hatte er sonntags sogar schon öfter im Park Domino gespielt.

Nichts davon änderte etwas an dem frostigen Empfang.

Deputy Inspector Thomas Jan Maseryk saß an seinem Schreibtisch, den Kopf geneigt, da er einen Stapel Berichte begutachtete. Er strich etwas mit einem roten Stift durch und notierte etwas.

Pater Squid klopfte an den Türpfosten.

Ohne aufzusehen, sagte Maseryk: »Hallo, Pater. Sie riechen so sehr nach Meer, dass ich Appetit auf Zuckerwatte und Riesen-Hotdogs kriege.«

»Es werden noch zwei weitere Personen vermisst«, sagte Pater Squid. »Noch mal zwei, Captain. Sind das genug, um Ihre Aufmerksamkeit zu rechtfertigen? Und wenn nicht, wie viele müssen noch verschwinden, ehe Sie der Sache Beachtung schenken?«

»Wir nehmen alle Beschwerden ernst …«

»Aber Sie müssen erst einmal begreifen, dass hier etwas nicht stimmt. Soll ich Ihnen die Namen der Vermissten nennen?«

Der Deputy Inspector nahm den Bericht und legte ihn in die Ablage auf der Ecke seines Schreibtischs. Ausatmend lehnte er sich zurück und streckte sich. Sein tief zerfurchtes Gesicht war ernst, das graue Haar militärisch akkurat geschnitten. »Wenn Sie dem, was Sie das letzte Mal erzählt haben, noch etwas hinzuzufügen haben, wenden Sie sich an Detective Mc…«

»Khaled Mohamed«, schnitt Pater Squid ihm das Wort ab. Er zählte sie an seinen saugnapfbesetzten Fingern ab. »Timepiece. Simon Clarke. Gregor. John der Pharao. Das sind alles keine wichtigen Persönlichkeiten. Das sind Einzelgänger, Raufbolde, Alkis und Junkies. Allesamt männlich. Das sind vielleicht nicht die Stützen unserer Gesellschaft, aber es sind dennoch Kinder Gottes. Maseryk, ich kann nicht zulassen, dass Sie sie ignorieren.«

Das Gesicht des Captains hätte aus Stein sein können. »Solange Sie nicht ohne mein Wissen zum Bürgermeister ernannt wurden, muss ich Sie bitten, mir nicht zu drohen. Wie ich schon sagte, Detective McTate wird sich …«

»Ich will, dass Sie sich persönlich dafür einsetzen«, beharrte Pater Squid.

»Mein Job ist es zu delegieren.« Er sah an dem Priester vorbei und machte eine Kopfbewegung in Richtung Marcus. »Was hat der damit zu tun?«

»Marcus erledigt die Arbeit der Polizei. Er durchkämmt die Straßen, Tag und Nacht, sucht nach den Vermissten, fragt herum, versucht, eine Erklärung zu finden.«

»Und?«, fragte Maseryk.

»Bisher habe ich nichts gefunden.«

»Und willst du wissen, woran das liegt?« Maseryks Blick glitt wieder zu den Berichten, als wäre er von dem Gespräch gelangweilt. »Vielleicht liegt es daran, dass das Verschwinden von ein paar Pennern, Gaunern und Kleinverbrechern so alltäglich ist wie Apfelkuchen. Dass diese Individuen nicht mehr da sind, ist nicht gerade ein schwerer Schlag für den Stadtteil.« Er hob rasch die Hand, um Pater Squids Erwiderung zuvorzukommen. »Damit will ich nicht sagen, dass wir die Sache ignorieren, sondern lediglich, dass womöglich nichts weiter dran ist. Sie wollen unsere volle Aufmerksamkeit? Dann liefern Sie uns etwas Reelles. Einen handfesten Beweis, dass hier tatsächlich etwas im Busch ist. Ohne Beweis wird die Sache erst mal hintangestellt. Ich wünsche einen angenehmen Tag, Gentlemen.«

Was Essen anging, war Marcus nicht gerade auf Abenteuer aus, doch der Duft, der vom Elephant Royale zu ihm herüberwaberte, ließ seinen langen Magen knurren. Das ausgedehnte Restaurant hatte zu Marcus’ großer Erleichterung auch Tische im Freien, denn so hatte er mehr Platz für seinen Schwanz.

Der Wirt, ein Thai namens Chakri, grüßte Pater Squid mit breitem Grinsen und hastigem Schulterklopfen. Er war schlank, elegant gekleidet, und das einzige Anzeichen des Virus waren seine Augen. Sie waren doppelt oder dreifach so groß wie normal. Rund und ausdrucksvoll funkelten sie dunkelgrün mit goldenen Flecken, die das Sonnenlicht reflektierten.

»Ihr habt Erfolg bei eurer Suche?«, fragte Chakri, als er die beiden Joker an einen Tisch ganz am Rand führte.

»Ich fürchte nicht«, sagte Pater Squid. »Wir waren ganz auf uns allein gestellt. Die Polizei hat uns kaum geholfen. Aber wir werden uns weiter bemühen.«

Marcus rollte den Schwanz unter sich zusammen und achtete darauf, dass die Spitze nicht die Passanten behinderte.

»Sie sind guter Mann, Pater«, sagte Chakri. »Ich mache so: Ich sage meinen Leuten, dass sie umhören. Lieferanten. Lebensmittelhändler. Spediteure. Die sind früh auf, gehen spät ins Bett. Die kriegen etwas mit, dann sie sagen mir. Und ich sage Ihnen.«

»Danke, Chakri«, sagte Pater Squid. »Das könnte uns sehr helfen.«

»Kein Problem. Nun …« Er blinzelte mit seinen riesigen Augen, sodass sie ihre Farbe von Grün zu leuchtendem Rot wechselten. »Was mögen gute Leute essen?«

Da er keine Ahnung hatte, ließ Marcus den Priester bestellen. Bald darauf tranken sie erstaunlich süßen Tee aus großen Gläsern. Zögerlich kostete Marcus von den Fischfrikadellen, die es als Vorspeisehäppchen gab. Sie sahen nicht besonders aus, aber meine Herren, waren die gut!

Pater Squid sagte: »Lange Zeit brachte ich kein Thai hinunter. Es hat mich zu sehr erinnert an …« Er räusperte sich. »An Dinge, an die ich mich nicht erinnern wollte. Das war, bevor ich Chakri kennengelernt habe. Seine freundliche, großzügige Art ist wie Balsam. Genau wie sein Essen.«

Marcus nahm sich eine zweite Fischfrikadelle. »Sie haben in Vietnam gekämpft, nicht wahr? Wie war das so?«

Durch die Tentakel um seinen Mund blies Pater Squid Luft aus. »Darüber spreche ich eigentlich nicht. Krieg ist Wahnsinn, Marcus. Er macht aus Menschen Tiere. Bete, dass du das nie selber erfahren musst.«

Typisches Alte-Leute-Geschwätz, dachte Marcus. Warum mussten Leute, die krasse Sachen erlebt hatten – Krieg, Drogen, verrückten Sex –, nachher immer betonen, dass andere diese Dinge besser nicht erleben sollten? Wie der Schwanz einer Klapperschlange vibrierte Marcus’ Handy in seiner Brusttasche. Er sah auf das Display. »Da sollte ich besser rangehen.«

Pater Squid forderte ihn mit einer Bewegung dazu auf.

»IBT, mein Kumpel!«

Slate Carter. Künstleragent. Marcus hatte ihn nie gesehen, aber er musste weiß sein. Kein Schwarzer würde Straßenslang mit solcher Verve verhunzen.

»Was geht, Alter? Hast du das Demo für mich?«

Etwas verlegen wandte Marcus den Kopf zur Seite. »Hi, Slate. Ähm … nein, es ist noch nicht fertig. Ich bin mir auch gar nicht so sicher, ob das so eine gute Idee …«

»Lass mich nicht hängen, Alter! Ich hab dir doch alles erklärt. Du siehst gut aus, hast geile Initialen, die Straße respektiert dich, und du hast diese Wächter-Geschichte am Start. Du hast sogar einen bösen Bullen vermöbelt! Das wird unser erstes Video, genau das!«

»Aber …«

»Du weißt, was ich für NCMF getan habe, oder?«

»Ja«, gab Marcus zu. Natürlich wusste er das. Slate versäumte es nie, seinen erfolgreichsten Klienten zu erwähnen.

NCMF war ein Jokerrapper, der zufällig genauso aussah wie ein ausgestorbener, früher Hominid namens Paranthropus boisei. Nussknackermensch. Der Typ konnte fett reimen. In seinem neuesten Video sah man ein Livekonzert, bei dem er vor einem ausflippenden Publikum über die Bühne stapfte und mit den langen Armen pumpte und wedelte. Die Zuschauer fragten ihn im Chor: »Wie heißt du?«, worauf er antwortete: »Nutcracker, Motherfucker!« Sein Stil beim Rappen war ganz natürlich und fließend. Es klang nie, als würde er rappen. Er redete einfach, fluchte, schrie. Und irgendwie war das am Ende dann alles schnell und funky. »NCMF, aber Kacke, Mann, ich knacke keine Nüsse, ich knacke Ärsche, meine Süße, ja, Mann, ich reiße Ärsche auf, denn so bin ich drauf, bin am Aussterben!« Und dabei simulierte er seine Arschaufreißfähigkeiten an den Hinterteilen einiger der Tänzer und Tänzerinnen. »Ich knacke Ärsche!«

»Du und ich, wir toppen das noch«, versprach Slate. »Du wirst abgehen wie Jiffy Pop! Schieb mir das Demo rüber, und wir lassen es krachen. Verstehste?«

Marcus verstand. Schließlich war er eine fünfundzwanzig Jahre alte Jungfrau. Bilder von knallenden Champagnerflaschen, aus denen Schaum auf Bikinitänzerinnen spritzt, wackelnde Geländewagen und Chöre von »Gz Up, Hoes Down« … tja, so Zeug hatte schon einen gewissen Reiz. Aber die Sache hatte einen Haken. Einen großen Haken. Er hatte es nur noch nicht geschafft, es Slate zu gestehen.

Während er sein Handy zuklappte, brummte er einen Fluch.

Pater Squid fragte mit hochgezogener Augenbraue: »Stimmt was nicht?«

»Das war ein Agent.«

»Was für ein Agent?«

»Künstler. Er vertritt Musiker. Vor allem Rapper. Er hat Nutcracker, M …« Marcus unterbrach sich rechtzeitig. »Nun, diesen … Typen mit diesem Song. Den haben Sie vielleicht mal gehört.«

Pater Squid runzelte die Stirn. »Der, in dem …«

»Egal, Slate ist korrekt. Er meint, ich könnte Rapstar werden. Abgehen wie … Jiffy Pop.«

»Ich wusste gar nicht, dass du Musiker bist.«

»Ich auch nicht.« Marcus hob den Blick zu dem Priester, bevor er einen Schluck von seinem Eistee trank. »Ich meine, das bin ich auch nicht. Slate fragt mich immer nach einem Demo, aber … ich kann nicht rappen. Ich hab’s probiert. Ich hab Videos auf meinem Handy, aber, Alter … ich bin echt scheiße.«

»Kann nicht behaupten, dass ich enttäuscht wäre, das zu hören.«

»Der ist bloß scharf auf mich wegen meines krassen Image, wissen Sie?«

»Du bist eine gewisse Berühmtheit. Damit einher geht Verantwortung. Das verstehst du, nicht wahr?«

»Ja, Sie labern ja die ganze Zeit davon.«

Der Pater legte Marcus eine seiner schweren Hände auf die Schulter, sodass die Saugnäpfe in seinen Handflächen schmatzten. »Ich erinnere dich daran, weil es mir nicht gleichgültig ist. Weil ich ein vielversprechendes Leben vor dir sehe. Ich bezweifle sehr, dass dein Potenzial mit Rappen ausgeschöpft werden würde. Marcus, wenn deine Karte nicht aufgedeckt worden wäre, wo wärst du dann jetzt?«

»Auf dem College, nehme ich an.«

»Dann solltest du jetzt auch dort sein. Der Umstand, dass du ein Joker bist, braucht daran nichts zu ändern.«

Marcus rutschte verlegen auf seinem Stuhl herum. Er konnte sich nicht vorstellen, über den Innenhof eines Campus zu schlängeln, wo alle Normalostudenten seinen Schwanz begaffen würden. Früher mag es vielleicht einmal seine Zukunft gewesen sein, aber jetzt schien ihm das College nicht mehr möglich zu sein.

»Vielleicht können wir deinen Promistatus zu etwas anderem nutzen, als unanständige Musik zu machen«, sagte Pater Squid. »Und du kannst noch etwas anderes tun, außer als Wächter für Gerechtigkeit zu sorgen. Du tust viel Gutes, das will ich gar nicht leugnen. Aber wo liegt die Grenze? Was passiert, wenn du dich einmal irrst? Wenn du aus Versehen einen Unschuldigen verletzt? Was passiert, wenn du den Teil von dir verlierst, der sanfter ist als deine Fäuste und deine Muskeln?«

Der Hauptgang wurde gebracht.

Der Priester stopfte sich eine Serviette unters Tentakelkinn. Nachdem er sich bei der Kellnerin bedankt hatte, fuhr er fort: »Dein Leben muss nicht einzig durch die körperlichen Fähigkeiten definiert werden, die die Wild Card dir verliehen hat. Deshalb werde ich zu deinen Gunsten einen Collegefonds einrichten. Ich glaube, eine Menge Leute wären bereit, dafür etwas beizutragen.«

Marcus verbarg die Gefühle, die über ihn hereinbrachen, indem er sich auf sein Curry stürzte. Teils tat er das aus Furcht. Furcht davor, etwas zu erstreben, das Normalos wollten. Furcht vor dem Versagen, vor all den Augen, die ihn beobachten würden, kritisch und kalt. Teils aber auch aus Verblüffung darüber, dass jemand auf solche Weise in seine Zukunft investieren wollte. Seine Eltern taten das nicht. Niemand aus seinem alten Leben tat das.

Pater Squid kicherte. »Ich hätte dich warnen sollen, dass es scharf ist.«

»Ja«, sagte Marcus und wischte sich die Feuchtigkeit aus den Augen. »Scharf. Musste fast heulen davon.«

Das große Bluten

Teil 2

»Hat das wehgetan?«

Jamal Norwood starrte voller Schmerz und Panik auf die Wunde an seinem linken Unterarm. Schmerz, weil, ja, es schmerzte, wenn einem eine extragroße Nadel in den Arm gerammt und das Blut in den riesigen spielzeugartigen Kolben gesogen wurde. Und sogar beim Herausziehen ging alles ganz langsam und rau vor sich. Wie jetzt, dieser Typ hatte keine neue Nadel nehmen können? Oder eine kleine?

»Ja!« Jamal konnte nicht anders, als überrascht zu sein über seine offene Antwort. Und nebenbei auch ein bisschen beschämt. Das gepresste Kreischen passte nur schwerlich zu dem Bild eines kräftigen ehemaligen Stuntmans, der zu einem SCARE-Agenten geworden war.

Der Doktor, ein Zentaur im Arztkittel, runzelte die Stirn. »’tschuldigung«, sagte er. Er hieß Finn, und er war ihm sehr empfohlen worden – nicht dass Jamal bei der Wahl sonderlich viel Sorgfalt hatte walten lassen. Er hatte rasch und ohne viel Lärm einen Arzt gebraucht, und die Jokertown-Klinik war ihm dafür am besten erschienen.

Jetzt allerdings, angesichts der groben Instrumente in Industriegrößen, revidierte Jamal seine Meinung. »Ist nicht Ihre Schuld, Doktor«, sagte er und rieb sich den Arm. Nein, es war ganz allein Jamals Problem. Daher die Panik: Er war Stuntman! Seine Assfähigkeit bestand darin, dass er sich von jedem Schaden erholte, der ein anderes menschliches Wesen schwer verwundet oder gar getötet hätte, egal ob Normalo, Ass oder Joker.

Und das auch noch schnell! Von einem vierzigstöckigen Gebäude geworfen werden und am Boden zermatschen? Stuntman hätte sich innerhalb weniger Stunden davon erholt.

Seiner bisherigen Erfahrung gemäß schloss sich ein Nadelstich, sobald die Nadel seine Haut berührte. Jamal konnte sich nicht einmal daran erinnern, wann ihm das letzte Mal Blut abgenommen worden war.

Oder wann es nötig gewesen wäre.

»Drücken Sie das drauf, bis ich etwas Besseres geholt habe«, sagte Dr. Finn, während er ein Wattepad auf die Wunde drückte und Jamals Arm einklappte.

Jamal wollte ihm sagen, dass das nicht nötig sei.

Aber es war nötig. Es fühlte sich an, als würde sein Blut heraussprudeln … als wäre das Wattepad schon völlig durchweicht worden.

Was zum Teufel passierte mit ihm?

Der Frühling 2012 war einer der wärmsten in der Geschichte New Yorks. Als Jamal mit dem Rest des SCARE-Teams Ende März für die Präsidentschaftsvorwahlen in die Stadt gekommen war, hatten sie einen typischen Frühling erwartet: kalte, raue Tage, gespickt mit wärmeren, Regen, der Beginn der Baumblüte.

Nun, den Regen trafen sie auch an, so viel stand fest.

Aber das Wetter war tropisch gewesen … hohe Temperaturen, ebenso hohe Luftfeuchtigkeit und jeden Tag Regen. New Yorks Straßen, die selbst in guten Jahren schon in keinem guten Zustand waren, hatten sich in eine Ansammlung von furchterregenden Schlaglöchern und aufgeplatztem Asphalt verwandelt.

Jamals unmittelbare Vorgesetzte, Bathsheeba Fox, auch bekannt als Midnight Angel, war eine gute Christin, deren vorgegebene Reaktion auf üble Situationen war, »Gottes Willen« zu akzeptieren. Jamal mutmaßte, dass Sheeba sich verklärt fühlte wegen der Gelegenheit, Holy Roller, den Reverend Thaddeus Wintergreen – das erste Ass, das sich als Präsidentschaftskandidat aufstellen ließ – vor der wachsenden Masse an Leuten zu beschützen, die den Idioten aus Mississippi aus (für Jamal) verständlichen Gründen tot sehen wollten. Sheeba hätte nur zu gern ihr ureigenes Schwert des Herrn auf diejenigen in der SCARE-Einsatzgruppe herniedersausen lassen, die es wagten, sich entmutigend zu äußern …

Doch selbst sie, der er Gehorsam schuldig war, hatte gestern begossen im Regen gestanden, ihr unverkennbares Lederoutfit hatte bereits Risse und Abnutzungsspuren gezeigt, ihre pechschwarze Mähne troff, klebte und sah furchtbar aus, ihr minimalistisches Make-up zerlief. Sie sah zum Himmel auf und sagte: »Wisst ihr, das ist echt scheiße.« Was die ganze New-York-Tour ziemlich gut zusammenfasste … schlechtes Wetter, das bei allen zu schlechter Laune führte. SCARE hatte Jamal und Sheeba damit beauftragt, Wintergreen zu eskortieren. Ungeachtet der Tatsache, dass Roller keine Chance auf einen Wahlsieg hatte. Die Senatoren Obama und Lieberman und Generalstaatsanwalt Rodham teilten sich hier die Delegierten. Doch Millionen von Menschen hatten Roller in American Hero gesehen (schon wieder diese gottverdammte Show!), und wo immer er auftauchte, zog er riesige Massen an, und ein großer Prozentsatz seiner Fans stand auf den Beobachtungslisten von Homeland Security, Secret Service und SCARE.

Der Holy-Roller-Auftrag war ein Knochenjob gewesen, bei dem sie lange Stunden in grimmigen Fabrikeingängen herumgestanden waren, in Highschool-Turnhallen und einer erstaunlichen Zahl von Kirchen weißer Gemeinden – im Staat New York gab es mehr davon, als Jamal glauben wollte. Jede dieser Veranstaltungen verlangte vom SCARE-Team, dass es sich umständlich mit der lokalen Polizei und den Sheriffs absprach, dazu kamen endlose Interviews, Nachgespräche und Sicherheitskontrollen.

Es hätte noch schlimmer sein können, dachte Jamal, denn er hätte einem Kandidaten der Republikaner zugeteilt werden können. Doch da Romney ebenfalls gut im Rennen war, war der Mormone von SCARE, Nephi Callendar, höchstpersönlich aus dem Ruhestand zurückgekehrt, um diese Wahlkampfkampagne zu betreuen – und deshalb blieben Jamal Norwood und die anderen verschont.

Auch wenn sie von einer Zusammenarbeit mit den Republikanern verschont geblieben waren, drohte ihnen eine noch größere Herausforderung: die Liberty Party und ihr nationaler Bannerträger, Duncan Towers, ein föhnfrisierter Angeber, gegen den Roller vergleichsweise vernünftig wirkte. Bisher war Towers vom Secret Service und seinen eigenen Sicherheitsleuten beschützt worden, doch da die Demokraten nach Kalifornien weiterzogen, wo sie vermutlich Absprachen vorfinden würden, sollte Sheebas Team in New York bleiben, um schon einmal Vorarbeit für den Besuch von Towers und Liberty zu leisten.

Inbrünstig hoffte Jamal, dass der Auftrag bald über die Bühne wäre. Er war bei SCARE eingestiegen, weil Hollywood ihn langweilte und weil er entschlossen war, seinen Namen nach dem Debakel der ersten Staffel von American Hero wieder reinzuwaschen. Wie hätte er das besser bewerkstelligen sollen als dadurch, dass er Terroristen im Nahen Osten bekämpfte?

Das hatte ihm Befriedigung verschafft. Doch lag es inzwischen nun auch schon fünf Jahre zurück …

Bis zum Morgen des 8. Mai 2012 hatte er den festen Vorsatz gehabt, am Tag nach den Wahlen im November das SCARE zu verlassen. Er wollte mehr Geld verdienen, er wollte wieder Spaß an seiner Arbeit haben. (Ein Freund hatte ihm ein Drehbuch mit dem Titel I Witness zugeschickt, das Potenzial zu einer Fernsehserie hatte.) Jamal wollte nicht unbedingt die einzige männliche Hauptrolle in einer Actionserie werden, denn damit konnte man schnell viel Geld verdienen und seine Karriere ruinieren. Trotz allem war der Sturz von einem Gebäude in Hollywood besser als eine sonntagabendliche Bürgerversammlung in Albany. Und I Witness würde vielleicht bei einem Kabelsender realisiert werden … weniger Geld, aber auch weniger Folgen. Was ihn am meisten zurück nach Hollywood zog, war die Möglichkeit, wieder eine Beziehung mit Julia zu haben …

»Haben Sie eine Ahnung, was das ist?«

Finn zuckte mit den Schultern. »Jokermedizin ist noch immer der Wilde Westen.« Jamal berichtigte den Bezug auf Joker nicht. »Im Moment gibt es keine Veranlassung, etwas … Schlimmes zu befürchten.«

»Wow, Doc, das klingt aber echt mal beruhigend.«

Die Worte trafen den Arzt. »Entschuldigung«, sagte er. »Es ist nur so …«

»Dass wir hier selten Asse als Patienten haben«, sagte Jamal, während er vom Tisch herunterglitt. »Und bei diesen Preisen ist das auch kein Wunder.« Offenbar hatte der Doktor die alte Masche noch nie gehört. Oder er war einfach aufgrund der Einzigartigkeit von Jamals Problem verunsichert.

Wie dem auch sein mochte, es war Zeit, von hier zu verschwinden.

Als Spezialagent für das SCARE hätte Jamal sich mit seinem Problem auch an eine bessere medizinische Einrichtung als die Jokertown-Klinik wenden können. Dagegen sprachen jedoch zwei Faktoren: Ein Besuch in der Columbia Medical oder bei Johns Hopkins und vor allem im New Mexico Institute wäre sicher von Sheeba und anderen Hochrangigen beim SCARE bemerkt worden. Und darauf war Jamal Norwood nicht scharf.

Außerdem hatten Doktor Finn und die Jokertown-Klinik mehr Erfahrung mit Dingen, die mit der Wild Card zusammenhingen, als sonst irgendjemand auf dem Planeten. Bei ihnen hatte Jamal wahrscheinlich die besten Chancen herauszufinden, was ihm fehlte.

Eben hatte er von Finn das Versprechen erhalten, innerhalb von achtundvierzig Stunden einen Nachbericht zu erhalten, als sein Telefon klingelte. Es war Sheeba, der Midnight Angel. »Jamal«, sagte sie und dehnte zwei Silben mit ihrem Südstaatenakzent und ihrem andauernd verzweifelten Tonfall auf drei Silben aus. »Wo bist du?«

»Persönliche Angelegenheit«, blaffte er. »Spielt es eine Rolle, weshalb ich für eine Stunde mal nicht im Dienst bin? Wenn du mich jetzt wo brauchst, dann bin ich schon unterwegs.«

»Ja, nun … in New Jersey haben wir einen Vorfall für die Homeland Security. Irgendein Giftleck.«

»Warum betrifft uns das?«

»Sie sagen mir nicht, warum, Jamal, sie geben mir bloß Anweisungen. Homeland Security ist heute unterbesetzt. Sag mir, wo du bist, und wir lesen dich auf dem Weg auf.«

Er improvisierte. Noch immer war er kaum in der Lage, sich Lower Manhattan vorzustellen – wären sie in Uptown gewesen, in der zweiundsiebzigsten Straße zum Beispiel, wäre es ihm leichter gefallen. Hier jedoch … »Äh, an der Ecke von Essex Street und Delancey«, sagte er und nannte die beiden einzigen Straßennamen, die er kannte.

»Dann sehen wir uns in zehn Minuten«, sagte Sheeba.

Jamal grinste. Es würde mehr als zehn Minuten dauern. Der Stoffwechsel von Midnight Angel lief heiß, sodass sie täglich mindestens sechs Mahlzeiten brauchte. (Wie würde das erst werden, wenn sie in die Wechseljahre kam, fragte er sich. Würde sie ruhiger werden? Oder würde sie einfach aufgehen wie eine fette Zecke?) Wenn sie erst einmal auf der Straße war, würde sie einen Imbissstand erspähen, und damit kämen gleich noch mal zehn Minuten dazu. Und Sheebas Tagesspesen wären wieder gewaltig angeknabbert.

Doch damit bliebe Jamal Norwood Zeit, zur Ecke von Delancey und Essex zu gelangen.

Jamal joggte gern, solange er Sportbekleidung trug, Laufschuhe trug und Gras unter den Füßen hatte oder wenigstens eine Laufbahn. Einen harten und gerissenen Gehsteig in Manhattan entlangzulaufen, in Anzug und feinen Schuhen, war nicht nur alles andere als seine Vorstellung von angemessener sportlicher Betätigung, es ging auch furchtbar langsam, vor allem wegen der Menschenmassen am Nachmittag.

Außerdem war es zu öffentlich. In mindestens zwei Gesichtern erkannte er verblüfftes Wiedererkennen und hörte einen Bauarbeiter grölen: »Jo, Stuntman!«

Er tat so, als bemerkte er es nicht. Noch immer hoffte er, dass seine Bekanntheit aufgrund von American Hero nachlassen würde. Doch ihm war kein Glück beschieden.

Er brauchte dreizehn Minuten von der Jokertown-Klinik zur Ecke Essex Street und Delancey. Und als er dort ankam …

Er befand sich an der Nordostecke und wollte gerade bei Grün über den Fußgängerübergang, als etwas in seinem Augenwinkel aufblitzte. Ein verbeulter weißer Lieferwagen bog scharf links ab nach Süden und kam der Gehwegkante dabei so nah, dass Jamal und die anderen Passanten den Fahrtwind spüren konnten. »Verdammte Scheiße!«, rief ein junger Mann.

Jamal sah zu ihm hinüber – ein Fehler. Was er sah, war ein junger afroamerikanischer Joker, dessen obere Körperhälfte menschlich war, wohingegen sein Unterleib eher zu einer Riesenschlange gepasst hätte … Falls Riesenschlangen gelbe, rote und schwarze Ringe hatten.

Die Höflichkeit gebot, dass Jamal etwas sagte. »Hey.«

Er hoffte, sich damit ausklinken zu können, aber es war zu spät. »Hey, Sie sind Stuntman!«

Zum zweiten Mal in wenigen Minuten aufgeflogen. American Hero hatte Jamals Konto gefüllt, was unbestreitbar eine gute Sache war, und hatte dazu geführt, dass er Julia kennengelernt hatte – hier blieb noch abzuwarten, ob das eine gute Sache war –, doch in fast jeder anderen Hinsicht hatte es sich als Desaster herausgestellt.

Vor allem in Bezug auf Anonymität. Die Arbeit in Hollywood hatte Jamal Norwood mit den Vorzügen des Ruhms und seines Preises bekannt gemacht, und ihm war schnell klar geworden, dass der Preis im Verhältnis zu den Vorzügen zu hoch war. »Ich bekenne mich schuldig.«

»Marcus!«, sagte der Junge und deutete dabei auf sich. »Was machen Sie hier, Mann?«

»Ich … ich gehe bloß von A nach B.« Das würde diesem Joker schwerlich reichen, aber mehr gab Jamal nicht preis. Höchstens noch ein Autogramm, wenn er sehr bedrängt werden würde.

»Oh, warten Sie«, sagte der Junge. »Hey, Pater!«

Gute Güte, was jetzt noch? Jamal hatte den Gedanken kaum gedacht, da tauchte Pater Squid auch schon in der Menschenmenge auf. Jetzt erst begriff Jamal, dass er neben Gekochtem und Autoabgasen auch noch das Meer gerochen hatte. Das lag an Pater Squid. Er hatte nicht nur ein breites Gesicht voller Tentakel und trug eine schwarze Soutane, sondern er roch nach Salzlake. Der gute Pater wandte sich Jamal zu. »Stuntman in Person! Was machen Sie hier? Ich dachte, Sie arbeiten als Geheimagent oder so was.«

»So was in der Art«, sagte Jamal. »Personenschutz für die Wahlkandidaten.«

Der Priester lachte lange und laut. »Sie beschützen den Holy Roller? Das ist ja mal eine Aufgabe!«

»Vielleicht haben sie deshalb keinen verfickten Schimmer, was in den Straßen los ist«, sagte Marcus.

»Nachsicht, Marcus«, sagte der Priester.

Jamal ärgerte sich. »Wovon redet er?«

Einer von Squids Tentakeln entrollte sich in Richtung eines Telefonmasts. Neben den Postern längst über die Bühne gegangener Konzerte und Jobgesuchen hingen dort noch drei andere, selbst gestaltete Zettel. Auf dem auffälligsten sah man einen Joker namens John den Pharao, und darunter stand: Haben Sie diese Person gesehen? Sie wird seit 1. Mai vermisst!

»Was ist da los?«, fragte Jamal.

»Ein Haufen Joker sind verschwunden«, sagte Marcus. »Ich glaub’s einfach nicht, dass das SCARE nichts davon weiß.«

»Das SCARE weiß vielleicht etwas«, sagte Jamal. »Aber mein Team nicht.«

»Das ist scheiße«, sagte Marcus.

Squid legte Marcus beschwichtigend eine Hand auf die Schulter. »Die hiesige Polizei kümmert sich nicht richtig drum. Wir können schwerlich erwarten, dass die Feds den Kram erledigen, den Fort Freak nicht anfassen will.«

»Wie viele sind es?«, sagte Jamal. Nach fünf Jahren beim SCARE fiel es ihm leicht, in die Rolle des Ermittlers zu schlüpfen.

»Mindestens ein halbes Dutzend«, sagte Pater Squid.

»Das ist eine ganze Menge«, sagte Jamal und horchte innerlich auf. Das SCARE sollte davon wissen …

Plötzlich schreckte Marcus auf. »Wer ist das?«

Ein schwarzer Ford Explorer fuhr an den Gehsteig heran. Jamals Telefon summte.

»Mein Team.« Er drehte sich zu dem Priester um. »Ich sorge dafür, dass sich jemand darum kümmert.«

»Sie können mich jederzeit in der Unsere Mutter des Beständigen Elends erreichen.«

»Die kenne ich.« Als er sich zur Straße umwandte, hoffte er, nicht zu viele Versprechen gegeben zu haben. Squid und Marcus machten ihn nervös.

Er hätte nie für möglich gehalten, dass ihn einmal der Anblick eines schwarzen Ford Explorer mit Midnight Angel auf dem Fahrersitz glücklich machen würde.

Galahad in Uniform

von Melinda M. Snodgrass

Teil 1

Pfeifend betrat Officer Francis Xavier Black – bei seinen Kollegen als Franny bekannt – das Gebäude von New Yorks fünftem Bezirk, bereit, Wahrheit, Gerechtigkeit und die amerikanischen Werte in Jokertown zu verteidigen. Nur um sich von Bugeye Bronkowski einen fiesen Ellbogenstoß einzuhandeln.

Der Schlag war so heftig und unerwartet, dass Franny stolpernd auf die Stühle fiel, die sich an den Wänden des Wartezimmers reihten. Mrs. Mallory riss die Arme hoch und fing ihn auf, bevor er auf ihrem Schoß landete. Louise Mallory war eine zierliche Frau, deren hochgewachsener Jokersohn Davy Mitglied der Dämonenprinzen war. Aber Davy war nicht der Hellste, und er hatte ganz bestimmt nicht viel Glück. Deshalb wurde er laufend verhaftet.

Franny richtete sich auf und sah Sergeant Homer Taylor an, der derzeit den Empfangsschalter bemannte. Wingman sagte jedoch nichts. Bugeye stürmte durch die Tür und wieder zurück in die Wache. »Was hat den geritten?«, fragte Franny Homer.

Wingman schüttelte seine herabhängenden Flügel, was selbst bei einer verendenden Fledermaus noch unpassend ausgesehen hätte. »Keine Ahnung«, sagte er in einem Ton, der deutlich machte, dass er sehr wohl wusste, was dem gewalttätigen Anfall vorausgegangen war.

Franny ließ es auf sich beruhen und wandte sich zu seiner Retterin um. »Danke, Mrs. Mallory. Entschuldigen Sie, dass ich … gestolpert bin. Sind Sie hier wegen einer Kaution für Davy?«

»Ja, der Junge stellt einfach immer Unsinn an.«

»Das tut er.«

»Der Chef will dich in seinem Büro sehen«, grunzte Wingman.

Es hatte nichts Gutes zu bedeuten, wenn Streifenpolizisten ins Büro eines der hohen Tiere gerufen wurden. Frannys Magen zog sich hart zusammen. Er wünschte, er hätte nicht so üppig gefrühstückt.

Als er an den Verhörzimmern vorbeiging, merkte Franny, dass alle ihn ansahen. Ein paar schüttelten angewidert den Kopf, und einige wandten sich auffällig ab. Mein Gott, was hab ich nur angestellt?

Beastie mit seinen über zwei Metern, seinem Pelz, den Hörnern und Tatzen stapfte auf ihn zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Seine braunen Augen sahen voller Sorge und Mitleid auf ihn herab. »Oh, Franny, Junge.«

Sonst war nichts weiter in Erfahrung zu bringen. Beastie schlurfte weiter, und Franny ging auf Deputy Inspector Maseryks Büro zu. Auf sein Klopfen hin brüllte der Normalo Herein. Franny kam der Aufforderung nach.

»Sir.«

»Setzen Sie sich, Black.«

Franny setzte sich auf den angebotenen Stuhl, aber nur ganz zaghaft auf den Rand, als wolle er jederzeit zur Flucht bereit sein.

»Sie haben die Prüfung zum Lieutenant gemacht.«

»Ja, Sir, ich weiß, dass ich eigentlich nicht für eine Beförderung qualifiziert bin, aber ich dachte, ich könnte etwas Übung vertragen.«

»Tja, sie haben das verdammte Teil mit Bravour bestanden.« Maseryk klang nicht, als wollte er ihm damit ein Kompliment machen.

»Gut?«, fragte Franny zaghaft. Da keine Antwort kam, fügte er mit derselben Unsicherheit hinzu: »Danke?«

»Die verdammten Obermotze in One Police Plaza haben in ihrer unendlichen Weisheit beschlossen, Sie vorzeitig zu befördern.«

Franny sank an die Stuhllehne zurück. Jetzt wurde ihm alles auf schreckliche Weise klar. Deshalb hatte Bugeye ihm eine verpasst. Verbitterung nistete sich in seinem Bauch ein – warum hatte das gesamte Revier vor ihm davon gewusst? All das sprach er jedoch nicht aus. »Das erscheint mir … unklug«, brachte er hervor.

»Um es milde auszudrücken.«

»Warum machen Sie es dann …«

»Weil wir wegen des Korruptionsfalls, der letztes Jahr aufgedeckt worden ist, ordentlich Prügel bezogen haben.«

»Oh.«

»Die verdammte Presse will sich einfach nicht beruhigen, deshalb haben die hohen Tiere beschlossen, ihnen eine andere Story zu liefern. Dass der Sohn des berühmten Captains in die Fußstapfen seines Vaters tritt.« Mit seinem Tonfall unterstrich er die Ironie. »Aber eine Geschichte über einen Bullen ist keine Neuigkeit. Eine Beförderung, das ist eine Neuigkeit … und zum Glück leiden die Geier von der Presse alle unter ADS. Die schreiben dann gleich nicht mehr über die ollen Kamellen, sondern über Sie, bis ein neuer Skandal die Runde macht.«

Frannys erster Impuls war, die Beförderung abzulehnen, nicht die Marionette für Puzzle Palace, wie man die Plaza manchmal nannte, zu spielen. Dagegen stand das Bedürfnis, sich der Erinnerung an seinen Vater würdig zu erweisen. Nicht nur ein guter Polizist zu sein, sondern ein großartiger. Er hatte es schon immer zum Detective bringen wollen. Bisher beinhaltete seine Arbeit nicht sonderlich viel Ermittlung. Sie beinhaltete vielmehr eine Menge Einschüchterung und Hinter-Leuten-Herrennen. Dagegen: Zivilkleidung, keine Runden mehr. Da merkte er, dass er die Runden vermissen würde, und die Leute, die von ihm abhingen – Mr. Wiley, dem der Masken- und Mantelladen gehörte, Tina, die Starbucks schmiss, Jeff, den Portier des Jokertown Hyatt, der den Großteil der Zeit vor dem Hotel stand, Gepäck schleppte und Autos parkte und deshalb alle Welt beobachten konnte und Bill und Franny oft Bericht erstattete.

Bill! Scheiße! Wie würde sein Partner darauf reagieren?

Er musste zugeben, dass er ehrgeizig war. Mit Bravour bestanden. Die Worte des Captains hüpften in seinem Kopf herum. Verdammt, genau das hatte er. Er hatte Jura studiert, hatte das erste Examen im ersten Anlauf bestanden. Nein, er konnte nicht ablehnen. Franny stand auf und streckte seine Hand aus. »Danke, Sir. Ich fühle mich geehrt. Ich versuche, Ihren Erwartungen gerecht zu werden.«

»In dieser Hinsicht haben Sie bereits versagt. Ich dachte, Sie wären so vernünftig, die Beförderung abzulehnen.« Maseryk blätterte einige Papiere durch. »Okay, ich stecke Sie mit Michael Stevens zusammen.«

»Aber der ist auch ein Normalo.«

»Das ist mir bewusst, aber sein Partner wurde gerade versetzt, und sonst war niemand bereit, Ihnen seinen Platz zu überlassen. Ich behebe das, sobald ich kann, aber fürs Erste sind Sie mit Stevens zusammen. Nächster Punkt: Wir haben ein Problem. Es sind Joker verschwunden. Vor allem Einzelgänger, Leute ohne Familie oder Halt in ihrem Umfeld. Ich glaube, es ist ein Sturm in einem Wasserglas. Solche Leute verschwinden immer wieder mal vom Radar, aber Pater Squid liegt mir damit in den Ohren, und wir können gerade absolut nicht noch einen Fall für die hysterische Presse brauchen. Deshalb sind Sie ab jetzt mit den Ermittlungen bezüglich der Joker betraut.«

»Wird Michael dabei mit mir zusammenarbeiten?«

»Nein, Michael muss sich um einen richtigen Fall kümmern. Gehen Sie an Ihren neuen Arbeitsplatz.«

»Ja, Sir. Soll ich erst nach Hause und mich umziehen?«

»Wenn ich Sie wäre, würde ich das nicht tun. Warten Sie noch einen Tag, bevor Sie es allen unter die Nase reiben.«

Franny schlich sich aus dem Büro. Bevor er seinen neuen Arbeitsplatz und seinen neuen Partner aufsuchte, ging er zu seinem alten. Bill wartete bestimmt auf ihn, um mit ihm auf Streife zu gehen … oder auch nicht. Vielleicht hatte Bill wie alle anderen bereits davon erfahren.

Er traf den großen chinesischstämmigen Amerikaner bei den Spinden. Bill hing sich gerade den Schlagstock an den Gürtel und wandte sich um, als er Frannys Schritte hörte. Sie sahen sich an, und jeder wartete darauf, dass der andere als Erster etwas sagte. Bill schlug den Spind zu und ging zur Tür. »Ich komme heute nicht mit«, sagte Franny.

»Hab ich gehört«, sagte Bill mit hoher, piepsiger Stimme, die so gar nicht zu seiner Gestalt passte.

Da keine Gratulation ausgesprochen worden war, hatte Franny wenigstens auf irgendetwas Unverbindliches gehofft. Doch stattdessen hatten Bills Worte etwas Frostiges. »Schau, ich habe nicht darum gebeten.«

»Hast es aber auch nicht abgelehnt.«

»Hättest du das gemacht?«

»Nein, aber ich bin schon elf Jahre in der Mannschaft, nicht zwei. Ich habe die Lieutenantsprüfung dreimal gemacht. Aber du wirst befördert, und du bist noch nicht einmal einer von uns.«

»Ja, ich bin ein Normalo. Warum sagst du es nicht gleich?«

»Nicht deswegen, du Idiot.«

»Weshalb dann?«

»Du bist nicht chinesisch.«

»Was?«, fragte Franny und konnte der Logik nicht folgen.

»Wir haben Joker im Revier. Wir haben Asse, aber wir sitzen am Rand von Chinatown, und nur zwei von uns sind chinesenstämmig, und nur eine Handvoll spricht Chinesisch. Wie wollt ihr Verbrechen in meinem Viertel ermitteln, wenn ihr noch nicht einmal die Sprache sprecht?«

»Wir holen uns einen Dolmetscher.«

Bill schnaubte. »Ja, so läuft das super.«

»Schau mal, Bill …« Doch der Große wandte Franny den Rücken zu und ging aus der Umkleide.

Im Büro fand Franny seinen Schreibtisch. Er stand neben demjenigen von Michael Stevens. Die Polizisten in der Wache tratschten liebend gern über Stevens und grinsten dann anzüglich – er lebte mit zwei Freundinnen zusammen und hatte eine Asstochter. Und ich kriege nicht mal ein Date hin, dachte Franny. Slim Jim McTate lächelte ihn aufmunternd an und reichte ihm eine Akte. »Hier ist eine Liste der vermissten Joker.«

Franny hatte eben erst angefangen, sie durchzusehen, als ihm auffiel, dass ihn jemand anstarrte. Als er aufsah, entdeckte er Apsara Na Chiangmai, die neben seinem Schreibtisch stand und auf ihn herablächelte. Apsara war die Archivarin der Wache und das schönste Mädchen, das Franny je gesehen hatte. Dunkles Haar floss ihr bis zum kurvigen Hintern, und die Haut ihres ovalen Gesichts war glatt und vollkommen wie Elfenbein. Ganz frisch im fünften Bezirk, hatte er sie einmal eingeladen, aber eine Abfuhr bekommen. Zwar war ihm die Abfuhr charmant und mit einem Lächeln erteilt worden, aber sie war dennoch ein Dämpfer gewesen. Und jetzt stand sie vor ihm. Sie holte tief Luft, weil sie im Begriff stand, etwas zu sagen, und dabei schob sich ihr unglaublicher Vorbau fast in sein Gesicht. »Detective Black, ich wollte Ihnen gratulieren«, sagte sie mit Flötenstimme.

»Ah … oh … Danke.«

»Wollen Sie sich vielleicht mit mir verabreden?«

»Ähmmmm …«

Bande fürs Leben

von Mary Anne Mohanraj

Teil 1

Detective Michael Stevens betrat die Wache in Jokertown und blieb verdutzt stehen, als ihm Lärm entgegenschlug, der bei seinem pochenden Kopfschmerz nicht gerade hilfreich war. Der Tag war schon scheiße gewesen, ehe er zur Arbeit gegangen war. Michael war mit einer gewaltigen Erektion aufgewacht, hatte aber irgendwie den Wecker verschlafen. Seine beiden Freundinnen waren schon aufgestanden und hatten sich angezogen, und auch seine Tochter war auf und verlangte lauthals nach ihrem Frühstück. Deshalb kam es nicht mehr infrage, eine der beiden Frauen zurück ins Bett zu bitten, selbst wenn er noch nicht zu spät gewesen wäre. Und dann war Minal abgelenkt worden, weil Isai auf den Küchenboden gepinkelt hatte, und deshalb waren die Eier zu lange gekocht worden, und wenn Michael eines hasste, dann waren es zu harte Eier. Und Pisse auf dem Küchenboden. Eigentlich ging Isai schon auf den Topf, aber manchmal war sie zu abgelenkt. Schließlich war Michael dem Familiendrama entkommen und hatte die U-Bahn zur Arbeit genommen, eingeklemmt zwischen einem Typen mit lauter Stacheln und einer Frau, die nach fauligem Fleisch roch. Vor Erleichterung seufzend hatte Michael die Wache betreten, und jetzt schlug ihm Lärm entgegen wie ein Stahldorn, der auf seinen Kopf einhämmerte.

Keine durch eine Wild Card erzeugte Woge, nur das normale morgendliche Chaos in Fort Freak. Was man eben so erwarten sollte in einer Wache, in der sich eine Handvoll unterbezahlter Cops mit Händen und Füßen bemühte, in einem immer seltsamer und komplizierter werdenden Stadtteil von New York für Ordnung zu sorgen. Auf dem Eingangsschalter, wo sie eigentlich nichts verloren hatte, saß Apsara und beugte sich so nach vorn, dass der Sergeant dort auch ja alle ihre verschwenderischen Vorzüge zu Gesicht bekam. Hey, Süßer. Hast du was für mich? Sie sprach laut genug, dass man sie in all dem Lärm hörte. Darcy, die Politesse, ging gerade hinaus – zum Glück, es hätte ihm gerade noch gefehlt, ihr Lamentieren über Recht und Gesetz und die Zivilgesellschaft anzuhören.

Klar, deshalb war Michael Polizist geworden, um zu beschützen und zu dienen. Tief in seiner Seele war es dieser Wunsch, der ihn zu seinem Tagwerk motivierte, das Bedürfnis, ein guter Cop zu sein, sich zu beweisen. Als Kind hatte er mit ansehen müssen, wie seine Eltern um den Lebensunterhalt gekämpft hatten. Er hatte sich vorgenommen, eines Tages einen Job zu ergreifen, der mehr war als nur ein Mittel, um Essen auf den Tisch und Kleider auf den Leib zu bekommen. Die Schule hatte Michael zwar nie gemocht, aber er hatte die Zähne zusammengebissen und sich durchgeschlagen. Bis spät in die Nacht hatte er mit seinen Büchern am zerschrammten Plastiktisch in der Küche gesessen, während seine Mutter Bi Bim Bap gekocht hatte und sie zusammen darauf gewartet hatten, dass sein Vater von seinem Zweitjob nach Hause kam. Michaels Eltern hatten sich Urlaub verkniffen, hatten sich Mahlzeiten verkniffen, manchmal hatten sie sich sogar den sonntäglichen Besuch in der Kirche verkniffen, weil sie sich wegen ihren abgetragenen Klamotten schämten. Neue Kleider hatten sie sich nicht gekauft, weil sie das Geld für Michaels Grundschuluniform, seine Bücher in der Highschool und seine Bewerbungsgebühren fürs College gebraucht hatten.

Er schuldete ihnen so viel, dass er einen Kloß im Hals spürte, Liebe und Dankbarkeit, die sich mit Wut mischten. Michael war entschlossen gewesen, es ihnen zurückzuzahlen, und schließlich hatte er das auch getan, wenigstens teilweise. Als er es zum Detective gebracht hatte, war sein Gehalt endlich ausreichend gewesen, um eine Anzahlung auf eine Eigentumswohnung für seine Eltern zu berappen, und außerdem half er ihnen jeden Monat mit den Raten. Er hatte so viel gearbeitet, um aufzusteigen, um besser als alle anderen zu sein – ein besserer Student, ein besserer Cop und jetzt ein besserer Detective. Michael Stevens war entschlossen, der beste Polizist des gesamten Reviers zu werden. Doch anders als Darcy musste er nicht die ganze Zeit darüber labern.

Die Tür wurde aufgestoßen, und ein kreischender Junge kam herein. Er kreischte wirklich, und zwar drei Oktaven höher als jede normale Stimme. Mit dem Kreischen nahmen Michaels Kopfschmerzen sprunghaft zu, und er musste sich beherrschen, sich nicht die Ohren zuzuhalten. Das würde nicht professionell aussehen, aber verdammt, wenn dieser Junge nicht gleich die Fresse hielt … oh, Gott sei Dank. Beastie hatte ihn sich geschnappt und hielt ihm mit seiner Pelzpfote den Mund zu. An manchen Tagen fragte sich Michael, weshalb er sich von all diesem Irrsinn nicht einfach verabschiedete. Er war ein Normalo und als solcher nicht vom Virus betroffen – zumindest bisher. Nach der erfolgreichen Niederschlagung der Dämonenprinzen vor ein paar Jahren hätte er sich in jede andere Stadt versetzen lassen können, hätte die Freaks und Missgeburten zurücklassen und ganz normale Bürger beschützen können. Dort hätte Michael die Karriereleiter hinaufklettern, es vielleicht gar bis zum Captain bringen können oder sogar noch weiter. Er hatte überlegt, nach D.C. zu gehen, sich beim CIA oder beim SCARE zu bewerben. Doch letztlich hatte er sich entschieden, in Jokertown zu bleiben.