Wild Horses – Alba und der Ruf der Freiheit - Helen Martins - E-Book

Wild Horses – Alba und der Ruf der Freiheit E-Book

Helen Martins

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Beschreibung

In der Welt der wilden Pferde ruft die Freiheit Alba ist ein Rennpferd. Die schneeweiße Stute mit den zimtbraunen Augen gehört zu den schnellsten des ganzen Reitstalls – fast so schnell wie der stolze Hengst Nachtwind, den Alba insgeheim bewundert, obwohl er mit niemandem spricht. Als Alba im selben Stall wie Nachtwind noch härter trainiert werden soll, ist sie voller Zuversicht. Doch in diesem Stall geschehen schreckliche Dinge. In größter Not entscheidet sich Alba zur Flucht. Ganz alleine macht sie sich auf den Weg ins Ungewisse – bis sie im weiten Land auf eine Herde Wildpferde stößt. Dort warten auf Alba große Gefahren, unglaubliche Entdeckungen, neue Freundschaften – und ein Wiedersehen mit Nachtwind.  Perfekter Mix aus Pferdeabenteuer und Fantasy — und der Frage nach dem richtigen Platz in der Welt + »Warrior Cats« meets »Ostwind« in einer dramatischen Geschichte um Pferde, Freundschaft und Freiheit + Packender Serienauftakt — Band 2 erscheint im Herbst 2022

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Seitenzahl: 294

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Helen Martins

Wild Horses

Alba und der Ruf der Freiheit Band 1

FISCHER E-Books

Inhalt

Prolog1 Ein Rennen für die Freiheit2 Kopf-an-Kopf-Rennen3 Ein trauriger Abschied4 Viele Runden im Kreis5 Ein hartes Training6 Ein guter Plan7 Regen8 Vertrauter Besuch9 Nicht mehr allein10 Seltsame Begegnung11 Streit12 Kampf um die Macht13 Befehle14 Besuch bei Nachtwind15 Noch eine Flucht16 Rettung in letzter Minute17 Weiter geht’s18 Wiedersehen mit Nachtwind19 Unerwartete Hindernisse20 Ein schwarzer Schatten21 Ein cooler Cowboy22 Ein Winterspaziergang23 Seltsame Beobachtungen24 Überfall25 Das Land in den Sümpfen26 Zwei schwarze Pferde27 Glücklich zu zweit28 Ein unangenehmer Besucher29 Ein Blick in die ZukunftLeseprobeGefahr aus dem Himmel

Prolog

Die Stute rannte, so schnell sie konnte.

In gleichmäßigem Rhythmus schlugen die Hufe gegen den harten Boden des Weges und ließen die Grasnarbe unter ihren Füßen aufplatzen. Bald hatte sie das Tal hinter sich gelassen. Ein Flussbett kam in Sicht, ausgetrocknet und steinig lag es da. Das weiße Pferd durchquerte es mit kurzen flachen Sprüngen. Kies und faustgroße Steine spritzten gefährlich in alle Richtungen.

Vor den Bergen baute sich plötzlich eine finstere Gewitterfront auf. Doch die Stute ließ sich nicht aufhalten. Sie lief der dunklen Wolke, die tief und düster am Fuße des Berges auf sie zu warten schien, mutig entgegen. Der Himmel hüllte sie ein. Regen prasselte auf ihr Fell, durchweichte es, bis die Nässe in dicken Tropfen an ihr herablief. Aber die Stute wusste, dass der Regen irgendwann aufhörte, wenn sie nur weiter und weiter lief.

Endlich blinzelte die Sonne neblig durch die dunkle Regendecke, der Wind vertrieb die letzten Wolken weiter gen Osten.

Die Stute galoppierte den schmalen Pfad zum Berggipfel hinauf, vorbei an Gebüsch und Sträuchern, an Felsen und Geröll. Endlich hatte sie den Gipfel erreicht. Sie hielt an, schnaubte aufgeregt und blickte in das Tal, das vor ihr lag. Grüne Wiesen und gelbe Felder, so weit das Auge reichte. Mitten hindurch führte ein breiter sandiger Weg, der von Birken und Buchen eingerahmt wurde. Ein sanfter Wind bewegte das Feld in einer weichen Welle hin und her.

Die Stute schnaubte erneut. Sie schüttelte das Wasser aus Mähne und Schweif und galoppierte den Berg hinunter auf das Tal zu. Jetzt schob die Sonne die Regenwolken zur Seite und ließ auf der anderen Seite des Himmels einen Regenbogen entstehen.

Die weiße Stute warf ihren Kopf in den Nacken und wieherte.

Dann rannte sie dem Regenbogen entgegen.

Schneller und schneller.

Ihre Hufe berührten kaum den Boden.

Sie schien zu fliegen, denn sie wusste genau, dass am Fuße des Regenbogens ein Schatz auf sie wartete.

1Ein Rennen für die Freiheit

Alba hob die Nase in die Luft und schnupperte. Diese Pferderennen rochen alle ähnlich nach Staub und Schweiß, nach wilden Hengsten und aufgeregten Stuten, nach Furcht, Neid und Wut. Immer ging große Unruhe von den Trainern und Angst von den Pferden aus. Man musste ein sehr erfahrenes Rennpferd sein, wenn man dabei gelassen bleiben wollte.

Alba sah sich nach ihrer Freundin Raureif um. Raureif war zum ersten Mal bei einem Pferderennen. Das Gedränge und Geschrei der Menschen ängstigten sie sehr. Das war ihr anzusehen. Sie hatte ihre Ohren bis auf den Mähnenkamm gelegt und den Schweif eingeklemmt. Mit aufgeblähten Nüstern blickte sie um sich. Panik stand in ihren aufgerissenen Augen. Alba konnte ihre Angst zu gut verstehen. Als sie vor einem halben Jahr ihr erstes Rennen laufen musste, war sie auch in heller Aufregung gewesen. Ihre Ohren waren sehr empfindlich, und die Stimmen der Lautsprecher hatte sie für immer abgespeichert. Wie sehr hatte sie damals gezittert. Sie hatte sich kaum auf das Rennen konzentrieren können.

So ging es Raureif heute. Die Menschen drängten sich dicht an ihr vorbei. Alle schrien durcheinander und wedelten mit den Händen. Keiner der Galopper blieb dabei ruhig. Sie waren schließlich sensible Pferde.

Besonders Raureif war sehr scheu und nervös. Sie war noch so jung gewesen, als man sie von ihrer Mutter fortgenommen und zum Rennstall gebracht hatte. Sie hätte noch länger den Schutz der Herde gebraucht, um erwachsen zu werden. Wild zerrte sie jetzt an den Zügeln und hätte sie ihrem Jockey Mike beinahe aus der Hand gerissen.

»Spinnst du?« Mike zog hart an ihren Zügeln. Alba sah, wie sich das Gebiss der Trense scharf in ihren Mundwinkel drückte. Mike war ein herzloser Jockey. Mit seinen Pferden ging er nicht besonders zimperlich um. Raureif zuckte zusammen. Das alles machte ihre Angst nur noch größer.

»Halt bloß still«, flüsterte Alba ihr zu. »Du weißt doch, dass Mike ein hartherziger Kerl ist!«

Doch Raureif konnte sich nicht zusammenreißen. Sie schlug mit den Hinterbeinen aus. Natürlich ließ sich Mike das nicht gefallen. Er fuhr blitzartig herum und klatschte ihr mit der Gerte auf das Hinterteil.

»Hooo!«

Das war so typisch für Mike. Jockeys kannten nur selten Mitleid mit den Pferden, aber Mike war der Gefühlloseste unter ihnen. Raureif wurde nun noch ängstlicher. Trippelnd bewegte sie sich auf der Stelle und warf immer wieder den Kopf in den Nacken. Es fehlte nicht viel, und sie würde steigen. Das durfte auf keinen Fall passieren.

»Raureif! Bitte bleib stehen! Sonst machst du ihn nur noch wütender«, flüsterte sie ihr zu.

Doch Raureif schäumte vor Angst. Sie hatte ihre Ohren immer noch tief in ihre Mähne gelegt und rollte mit den Augen.

»Es bringt nichts, wenn du dich so aufregst«, fuhr Alba fort. »Denk immer daran, dass es schnell vorbei ist.«

Raureif schnaubte und pustete.

»Atme langsam ein und blas ganz viel Luft aus«, riet Alba ihr.

Raureif sah Alba ängstlich an, schnaufte aber nun heftig. Alba nickte ihr aufmunternd zu.

»Gut so! Weiter!«

Noch einmal holte das junge Rennpferd tief Luft, atmete dann langsam und pustend aus. Alba konnte ihr ansehen, dass sie tatsächlich ruhiger wurde. Vertrauensvoll schaute sie ihre Freundin an.

»Gut machst du das«, versuchte Alba, ihr Mut zureden.

Aber kaum hatte Raureif sich einigermaßen gefangen, schnappte sich Mike ihre Zügel.

»Na bitte! Geht doch!«, knurrte er. Als wenn er derjenige gewesen wäre, der die kleine Rennstute beruhigt hätte! Das war so typisch für die Menschen, fand Alba. Sie bemerkten gar nicht, dass es die Pferde waren, die sich gegenseitig beistanden. Alba war schon vor langer Zeit Raureifs Vertraute geworden. Ohne sie wäre sie sicherlich an manchen Tagen durchgedreht.

»Los geht’s!«, knurrte Mike. Er führte das Rennpferd über die lange Bahn, und Raureif wehrte sich nicht mehr. Auch als ein Wagen mit einem Lautsprecher ganz nah an ihr vorbeifuhr, riss sie sich zusammen. Doch Alba konnte genau sehen, wie ihre Freundin vor Angst zitterte.

Alba wurde von ihrer Trainerin Lilian abgeholt und zu ihrer Startposition gebracht. Alba mochte Lilian sehr gern. Im Gegensatz zu Mike war sie eine freundliche Jockeyfrau. Sie schlug Alba nur, wenn die beiden ein Rennen liefen. Das musste man wohl so machen. Immerhin machte Lilian viele Peitschenhiebe in der Luft, nur jeder fünfte traf Albas Hinterteil. Das war nicht so schlimm. Alba hatte sich daran gewöhnt, und Lilian entschuldigte sich immer dafür, wenn das Rennen vorbei war.

»Es tut mir leid, meine Süße«, sagte sie oft und küsste Alba auf das weiche Pferdemaul. »Glaub mir, es tut mir selbst weh.«

Alba richtete dann ihre Ohren zu ihr und schnaubte leise. Ich kann das aushalten, wollte sie damit sagen.

Wenn Alba wieder zu Hause eintraf, war Lilian sehr nett zu ihr. Sie brachte die weiße Stute sogar manchmal auf die Wiese, damit sie sich austoben und frisches Gras fressen konnte. Allerdings durfte sie das nicht zu lange machen. Rennpferde mussten dünn sein, wenn sie die Rennen gewinnen sollen. Und Alba war ein Pferd, das um jeden Preis siegen wollte.

»Wenn du oft genug gesiegt hast, schenkt man dir eines Tages die Freiheit«, hatte Lilian ihr versprochen. Die Freiheit, das war ein großes Wort. Alba wusste nicht genau, was das war. Aber wenn sie mit Lilian im Gelände ausreiten war, wenn die beiden über die grünen Wiesen tobten, durch den duftenden Wald schritten, hatte sie dieses Gefühl von Weite und Unendlichkeit. Das musste die Freiheit sein: laufen, ohne an einen Zaun zu kommen, schlafen, ohne einen Stall um sich herum zu haben, galoppieren ohne schreiende Jockeys. Freiheit war, wenn man das tat, was man wollte.

Von da an sehnte Alba diesen Tag herbei.

Alba wuchs auf der Ranch der Stacys auf. Hier lebten achtzig Pferde miteinander. Drei Hengste waren dabei, dreißig Stuten, ebenso viele Wallache und einige süße kleine Fohlen. Die Stuten und Wallache waren Rennpferde. Mindestens einmal in der Woche mussten sie an einem Rennen teilnehmen. Dann wurden sie morgens in einen Hänger verladen, wurden auf eine Rennbahn gebracht und mussten unter dem Jubel der Zuschauer und dem Schreien der Jockeys um die Wette laufen. Alba war ein gutes Rennpferd. Mr. und Mrs. Stacy schienen sehr stolz auf sie zu sein. Henny Stacy fotografierte und filmte Alba oft, ihr Mann führte häufig Besucher durch seine Ställe und kam auch mit ihnen an Albas Box vorbei. Dabei sagte er immer: »Das ist Alba, eine meiner besten Stuten. Aus eigener Zucht.«

Alba musste dabei stets grinsen, weil es sich so anhörte, als ob er sie selbst hergestellt hätte.

»Alba ist Latein und bedeutet Weiß«, erklärte Mrs. Stacy dann. »Ist sie nicht wunderschön?«

»Ja, das ist sie wirklich«, erwiderten die Menschen und strichen Alba über die Nase. Alba mochte das nicht so gern, aber sie bemühte sich, ihre Gefühle nicht zu zeigen. Sie wusste ja, dass die Menschen es gut mit ihr meinten.

»Sie hat schon so viele Rennen gewonnen. Die bringt richtig gutes Geld«, fuhr Mr. Stacy fort, und wieder nickten die Menschen beeindruckt und streichelten das Rennpferd erneut.

Alba verstand nicht, was an diesem Geld so wichtig war, aber sie wusste, dass es ihre Besitzer glücklich machte, und darum freute sie sich mit ihnen.

Besonders aber gefiel es ihr, wenn Mr. Stacy ihr nach einem guten Rennen die Futterraufe mit leckerem Kraftfutter füllte. Manchmal bekam sie noch eine Portion Möhren und Äpfel obendrauf. Das genügte, um Alba überglücklich zu machen, und sie nahm sich vor, auch beim nächsten Mal wieder so schnell zu laufen, wie sie konnte. Vielleicht wartete nach dem Sieg schon die Freiheit auf sie.

Jetzt waren Alba und Lilian an den Startboxen angekommen. Alba wusste, dass es nun für Raureif ernst wurde. Jetzt nämlich ging es in die enge Box.

Alba erinnerte sich daran, wie sie zum ersten Mal in dieser Box gesteckt hatte, mit einem Jockey auf dem Rücken. Sie hatte so unglaubliche Panik gehabt, war sich sogar sicher gewesen, dass sie sterben müsste. Als sich nach einer gefühlten Ewigkeit die Tür öffnete, rannte sie um ihr Leben. Auf ihrem Rücken saß ein Jockey, der schrie und mit der Peitsche schlug. Sie hörte erst auf zu laufen, als ein hoher Zaun sie aufhielt und der Jockey an den Zügeln riss.

Erst als sich diese Rennen immer wieder so abspielten, verstand Alba, dass das zum Alltag eines Rennpferdes gehörte. Sie wusste auch, dass sie in dieser Box nicht sterben würde. Die Pferde wurden darin eingesperrt, damit sie Angst bekamen, denn dann rennen sie wie verrückt. Pferde sind Fluchttiere.

Bei einem Rennen kam es darauf an, der Schnellste zu sein. Auch das war Alba nach den ersten Wettkämpfen klar. Nur der Sieger wurde bejubelt und bekam anschließend eine leckere Belohnung.

Alba fand schnell heraus, wie sie sich bei einem Rennen an die Spitze setzen konnte. Es war eine Frage der Konzentration. Die Türen, die sich zur Startbahn öffneten, hatten oben ein Gitter, durch das man auf die Rennbahn blicken konnte. Darunter waren sie aus massivem Holz.

Viele Pferde stierten nun oben durch das Gitter und warteten darauf, dass ein Mensch kam, um die Tür zu öffnen. Das war nicht besonders schlau. Es kam ja niemand. Die Türen sprangen automatisch auf. Also war es wichtig, den Türspalt im Blick zu behalten. Die Tür klackte leise, bevor sie sich öffnete. Zwischen dem Klacken und dem Öffnen lag ein winziger Moment. Diesen Augenblick wusste Alba genau abzupassen. Jede Sekunde, die sie früher als die anderen losrannte, brachte sie in Führung.

Alba hatte gelernt, ihre Augen deshalb genau auf diesen Spalt zu richten. Sie stellte die Ohren nach vorne und lauschte. Dabei setzte sie schon mal das rechte Bein vor. Mit rechts konnte sie besonders gut abspringen.

Dann wartete sie, dass das Gitter der Tür ruckte. Das Metall zitterte immer ganz leicht, und die Tür schwang wie von Geisterhand auf. Alba spürte dann stets Lilians Beine an ihrem Körper, stieß sich mit dem rechten Vorderbein ab, sprang in den Galopp und rannte los. Sie richtete ihre Augen auf das Ziel und hetzte die Bahn entlang, so schnell sie konnte. So lief es immer wieder ab, Rennen für Rennen.

Während sie lief, schaltete sie all ihre Gedanken aus, vergaß die anderen Pferde und die jubelnden Menschen um sich herum. Vor ihren Augen erschien eine wunderschöne Landschaft. Den Berg vor ihr musste sie hinauflaufen, bis sie den Gipfel erreicht hatte. Wild galoppierte sie darauf zu. Sie dachte daran, dass dahinter das weite Tal folgte. Und dann sah sie diesen leuchtenden Regenbogen vor sich und träumte von dem großen Schatz, der darunter verborgen war: die Freiheit.

Sie stellte sich vor, dass die Menschen hinter der Ziellinie auf sie warteten, ihr den Sattel und die Trense abnahmen und ihr freundlich auf den Hals klopften: Lauf los, Alba! Du bist frei für immer, würden sie sagen. Und dann würde etwas Neues beginnen. Ein wundervolles Leben. Ein Leben ohne Rennbahn, Jockeys und Peitschenhiebe.

Dieser Traum führte dazu, dass Alba schneller und schneller rannte. Wenn ein anderes Pferd vor ihr war, setzte sie alles daran, es zu überholen. Die Peitschenhiebe brannten im Takt zum Galopp und machten ihr klar, dass sie in Bewegung bleiben musste.

Sie wollte unbedingt siegen. Siegen, um frei zu sein.

2Kopf-an-Kopf-Rennen

Für Raureif war das alles neu hier. Ihre Angst war deutlich zu sehen. Alba wusste, dass sie ihre Freundin auf das vorbereiten musste, was gleich passierte. Sonst würde sie wieder in Panik geraten. Leise trat sie an Raureif heran.

»Siehst du diese kleinen Boxen?«, fragte sie.

Raureif starrte Alba ängstlich an.

»Ja. Was ist das?«

»In einen dieser kleinen Kästen stecken sie dich gleich«, erklärte Alba.

Nun wurde Raureifs Furcht noch größer.

»O nein. Warum denn?«, flüsterte sie.

Vorsichtig warf Alba Mike einen Blick zu. Merkte er, dass sie und Raureif dichter aneinandergerückt waren? Aber nein. Er hatte nur Blicke für die anderen Pferde. Bestimmt überlegte er, wie er das Rennen gewinnen konnte.

Das war so typisch für die Menschen, dass sie nicht merkten, wie die Pferde miteinander redeten. Nur weil die Tiere nicht ihre Sprache sprachen, dachten sie hochmütig, dass die Pferde sich nicht verständigen konnten. Dabei waren jedes Schnauben, jedes Zucken mit den Ohren und jeder Hufschlag ein Wort, jede Abfolge von Bewegungen ein Satz. O ja, die Pferde sprachen so viel mehr miteinander, als die Menschen glaubten. Aber vielleicht war es gut, dass sie sie nicht verstehen konnten. Mike hätte sich sicherlich geärgert, wenn er gehört hätte, wie hartherzig und wie dumm sie ihn fanden.

Alba redete weiter mit Raureif auf diese ganz eigene Weise.

»In dieser engen Kiste passiert dir nichts«, erklärte sie. »Es ist zwar sehr dunkel darin, aber du bist nicht allein. Mike ist bei dir. Er setzt sich auf deinen Rücken. Und wenn sich die Tore öffnen, rennst du los. Lauf, so schnell du kannst.«

Doch es gelang Alba nicht, Raureif die Angst zu nehmen. Im Gegenteil. Die Freundin wurde richtig wehleidig.

»Ich will gar nicht laufen. Ich will nach Hause«, jammerte sie. Und wieder zerrte sie an den Zügeln. Alba schluckte. Wie konnte Raureif nur so dumm sein? Sie machte Mike richtig sauer damit.

Jetzt schoss er zu ihr herum.

»Lass das!«, fuhr er sie an. »Hör auf damit! Kapiert?«

Er ging nun auf sie zu und hob drohend die Reitpeitsche. Raureif rollte erschrocken mit den Augen. Dann wich sie drei Schritte zurück.

»Na bitte!«, knurrte Mike. »Wir haben uns verstanden, oder?«

Raureif schlug die Augen nieder. Sie wusste genau, dass Mike sie sonst hart strafte.

Jetzt drehte sich Mike wieder zu den anderen Pferden um. Vorsichtig rückte Alba noch einmal an sie heran.

»Reiß dich bloß zusammen«, raunte sie ihr mit einem kaum merklichen Zucken der Ohren zu. »Du weißt doch, wie gehässig er werden kann.«

Zu ihrer Beruhigung bewegte sich Raureif nun nicht mehr. Alba seufzte erleichtert.

Natürlich wussten Raureif und sie, dass Pferde stärker als Menschen waren. Wenn die Pferde all ihre Kraft einsetzten, konnten sie einen Menschen umrennen und ihn sogar zu Tode trampeln. Aber Menschen hatten eben auch diese Dinge wie Peitschen und scharfe Gebisse erfunden. Damit gelang es ihnen, die Pferde klein und ängstlich zu halten.

Alba hatte sich schon lange damit abgefunden. Sie bemühte sich, ruhig und freundlich zu bleiben. Dann blieb es ihr erspart, so ein schreckliches Gebiss in den Mund geschoben zu bekommen. Zu gut wusste sie, dass es einem die Zunge abklemmen konnte. Darum machte sie seit vielen Jahren genau das, was die Menschen wollten. Sie ließ sich in die Kiste sperren, sie rannte schnell, und sie versuchte, zu siegen. Ein Rennen war ja irgendwann vorbei, und danach bekam man Futter und durfte sich ausruhen.

Alba konnte sehen, dass Raureif immer noch zitterte. Auch Mike sah es. Er lächelte boshaft, schwieg aber. Seine Laune war so schlecht, dass Alba es nicht mehr wagte, mit Raureif zu reden.

Dafür aber fiel ihr Blick zur Startbahn neben sich. Dort stand ein schwarzer Hengst mit einem kleinen weißen Stern auf der Stirn, den sie kannte. Es war ein ziemlich großer stattlicher Hengst mit langen Beinen und einem kräftigen gebogenen Hals. Vorsichtig blickte sich Alba nach Mike um, aber der beachtete sie nicht. Unbemerkt trat sie näher an den Hengst heran.

»Nachtwind?«, flüsterte sie. »Was machst du hier?«

Der Hengst sah stur geradeaus, aber an dem Zucken seines linken Ohres konnte sie erkennen, dass er sie verstanden hatte.

Es war ihm wohl zu albern, auf die Frage zu antworten. Schließlich konnte jeder erkennen, was er hier machte. Nachtwind würde auf der Startbahn neben ihr das Rennen gegen sie antreten.

Alba kannte Nachtwind aus zwei anderen Rennen. Damals war er längst nicht so groß und stattlich gewesen, und sie hatte leichten Hufes gegen ihn gewonnen. Wie war es möglich gewesen, dass er so an Größe und Kraft zugelegt hatte? Das wollte sie unbedingt herausfinden.

Er schaute stur geradeaus auf die Rennbahn. War er tatsächlich so eingebildet? Oder sammelte er nur seine Konzentration für das Rennen? Das musste Alba unbedingt herausfinden. Die Kraft, die von ihm ausging, imponierte ihr. Er wirkte so ruhig und selbstbewusst, als wenn er sich ganz sicher wäre, dass er gewinnen würde.

Vorsichtig ging sie etwas näher zu ihm hinüber, damit er sie besser verstehen konnte.

»Du siehst gut aus«, wisperte sie.

Nachtwind reagierte immer noch nicht. Er blickte mit stolzem Gesicht geradeaus, als wenn es unter seinem Niveau wäre, mit der Stute zu reden.

Eingebildeter Typ, schoss es Alba durch den Kopf. Dann beschloss sie, ihn ebenfalls nicht zu beachten. Sie war sich sicher, dass er sie bemerken würde, wenn sie neben ihm lief, ihn überholte und schließlich den Sieg einholte. Auf sein blödes Gesicht freute sie sich jetzt schon.

Ein Gong ertönte. Alba wusste, dass sich nun alle in die Boxen begeben mussten. Lilian war an ihre Seite getreten.

»Na, Alba? Bist du bereit?«, fragte sie und strich ihr kurz über die Augen. Alba liebte es, wenn sie das machte.

Kurz sah Nachtwind zu ihr herüber und beobachtete sie. Darüber freute Alba sich. Er sah sogar ein bisschen neidisch aus. Alba hatte mit Lilian sehr viel Glück gehabt. Sie war der netteste Jockey, den sie kannte. Und Alba kannte viele.

Jetzt schloss sich die Tür hinter ihnen. Die Boxen waren sehr eng. Sie boten gerade so viel Platz, wie man unbedingt brauchte, damit der Reiter auf das Pferd steigen konnte. Dann waren sie alle in diesen Rennkäfigen gefangen. Nur das Gitter über der Tür gab ihnen die Möglichkeit, nach draußen zu schauen und zu sehen, dass die Welt dort weiterging. Vielen Pferden machte das Eingeschlossensein große Angst. So war es Alba früher auch gegangen, aber seit sie wusste, dass es nur für eine kurze Zeit war, hatte sie gelernt, es auszuhalten. Immerhin, schön war es nicht. Der Angstschweiß der Vorgängerpferde steckte in allen Ecken.

Raureif wieherte nebenan. Ängstlich stellte Alba ihr Ohr in die Richtung und horchte. Hoffentlich blieb sie ruhig.

Alba hörte Mike fluchen. Aber im Grunde war keine Zeit, sich zu streiten. Wenn die Türen verschlossen wurden, ging es schnell los. Lilian stieg auf Albas Rücken. Die Stute spürte, wie sie ihre Füße in die Bügel stellte und sich klein machte. Dann waren beide bereit. Wie immer stellte sich Alba so nah wie möglich an die Tür. Dann starrte sie auf den kleinen Schlitz an der Seite, der ihnen versprach, dass hinter der Tür das Leben weiterging. Auch Lilian schaute in diese Richtung. Alba konnte Lilians Anspannung spüren.

Es klackte. Dann flogen die Türen auf. Alba stieß sich hart vom Boden ab und fiel in den Galopp. Neben ihr lief Raureif um ihr Leben. Ihr Atem ging keuchend.

Der schwarze Hengst hatte sich bereits an die Spitze gesetzt. Alba hörte, wie die Leute seinen Namen riefen.

»Nachtwind! Nachtwind!«

Er hatte einen unglaublich weiten Galopp und sprang bei jedem Schritt kräftig nach vorne. Das sah unglaublich kraftvoll, ja geradezu edel aus. Alba dagegen stieß ihre Beine in kleinen Schritten vom Boden ab. Das war ebenfalls eine gute Methode, um schnell voranzukommen. Jetzt hatte sie einen Teil der Pferde hinter sich gelassen, die mit ihr zusammen gestartet waren. Raureif hatte sie schnell überholt. Weiter und weiter hetzte sie. Sie hörte, wie Menschen nun auch ihren Namen riefen.

»Alba! Ja, du schaffst es!«

Lilians Peitsche knallte immer wieder auf die gleiche Stelle auf ihren Rücken. Sie meinte es nicht böse, aber die Schläge brannten wie Feuer.

Jetzt erwachte sie, Albas Phantasie. Sie war ihr Weg, das alles um sich herum zu vergessen und schneller und schneller zu werden.

Renn, so schnell du kannst. Den Berg hinauf bis zum Gipfel. Dann wieder hinunter. Jetzt führt der Weg durch die Felder. Das Tal ist so weit. Siehst du, wie der Regenbogen leuchtet?

Die Geschichte mit dem Regenbogen hatte ihr Lilian mal erzählt. Als sie auf einem Ausritt waren, hatte sich ein wunderschöner Regenbogen über das Tal gespannt. Alba und Lilian ritten ihm entgegen, und Lilian erzählte ihr, dass dort am Fuße des Regenbogens ein Schatz verborgen sei. Alba zweifelte nicht daran, dass diese Geschichte stimmte. Und sie war sich auch sicher, dass sie diesen Schatz eines Tages finden würde.

Weiter und weiter rannte sie. Der Wind stellte sich gegen sie, verfing sich in ihrer Mähne und versuchte, sie aufzuhalten. Aber sie lachte nur.

Am Fuße des Regenbogens beginnt ein neues Leben. Renn! Los! Schneller!

Jetzt hatte Alba den braunen Hengst links neben sich eingeholt. Und nun sogar die schnelle Fuchsstute rechts außen. Nur Nachtwind lag noch vor ihr. Himmel, war er schnell!

Alba legte an Tempo zu. Lilians Peitsche klatschte im Takt ihrer Galoppsprünge. Die Stute keuchte.

Gleich hast du es geschafft! Gleich bist du frei! Renn!

Endlich war sie auf einer Höhe mit Nachtwind. Sie sah, dass sein Hals nass war. Er pustete und schäumte. Speichel tropfte aus seinem Maul. Er tat, als bemerke er sie nicht. Doch er nahm sie wahr. Das konnte sie spüren.

»Nachtwind! Nachtwind!«, schrien die einen.

»Alba, Alba!«, die anderen.

Die Ziellinie kam näher und näher.

Alba und Nachtwind kämpften gegeneinander um den Sieg. Alba gab alles. Sie wollte Nachtwind imponieren. Er sollte sie endlich bemerken, sollte sehen, dass sie besser war als er.

Renn! Denk nicht an ihn! Denk an den Regenbogen. Denk an die Freiheit. Du hast sie gleich.

Um noch weiter an Tempo zuzulegen, sprang Alba hastig hintereinander ganz hart ab. Doch leider versprang sie sich dabei und geriet aus dem Takt. Mist! Bevor sie ihre Hufe wieder in Gleichklang gebracht hatte, war Nachtwind an ihr vorbeigezogen.

Da kam auch schon die Ziellinie. Jetzt geriet Alba in Panik! Sie galoppierte in wilden Sprüngen auf das Ziel zu, aber es gelang ihr nicht mehr, den Hengst einzuholen. Nachtwind überquerte die Linie knapp vor ihr. Die Menschen rissen die Arme hoch und jubelten. Nachtwind hatte gesiegt.

Alba schnappte nach Luft und keuchte. Gemeinsam rannten die beiden Pferde bis zum Ende der Startbahn. Alba bemerke, dass Nachtwind kurz zu ihr herüberschaute. Er sah völlig erschöpft aus, aber er zog die Oberlippe hoch und flehmte. Der Jockey auf ihm klopfte ihm kurz gegen den Hals. Selbst diese Hiebe sahen hart aus, aber Nachtwind nahm sie, ohne mit der Wimper zu zucken, hin. Lilian dagegen umarmte ihre weiße Stute und streichelte ihren Hals liebevoll. Dann wuschelte sie ihr durch die Mähne.

»Klasse Ritt, Alba«, raunte sie in ihr Ohr. »Und den schwarzen Hengst kriegen wir beim nächsten Mal.«

Alba schloss für einen kurzen Moment die Augen. Sie war völlig erledigt. Mehr als alles hatte sie gegeben, und doch hatte es nicht gereicht. Einen kurzen Moment sah sie zu Nachtwind hinüber. Er beobachtete Alba aufmerksam. So etwas wie Respekt war in seine Augen getreten, als hätte er ihr nicht zugetraut, so schnell zu sein. Ein kurzes Aufblitzen seiner Augen, ein Ohrenspitzen in ihre Richtung. Dann kaute er mit seinem Maul, als müsste er den Schrecken verarbeiten, dass er beinahe gegen sie verloren hätte. Doch als er bemerkte, wie sie ihn ebenfalls musterte, setzte er wieder diesen arroganten Blick auf und schaute in die Ferne. Er wollte sich offenbar seine Gefühle nicht anmerken lassen. Typisch Hengst!

Alba wollte fair zu ihm sein. Er hatte schließlich gewonnen. Also sah sie ihn direkt an.

»Glückwunsch!«, sagte sie anerkennend.

Er reagierte nicht auf sie.

Jetzt kam Raureif an Alba vorbei. Sie sah niedergeschlagen und traurig aus. Ihr Jockey Mike machte ein saures Gesicht. Offenbar war ihm sein Pferd nicht schnell genug gewesen. Alba wollte ihrer Freundin etwas zurufen, doch das ließ er gar nicht zu.

»Komm, du lahmer Gaul!«, zischte er und zog sie an Alba vorbei zu den Boxen.

3Ein trauriger Abschied

Nach diesem Rennen schmeckte Alba das Heu nicht so gut wie sonst. Sie hätte zu gern gesiegt. Auch wenn ihr Lilian mehrfach versichert hatte, wie stolz sie auf sie war, wusste sie doch genau, dass Lilian ebenfalls lieber den ersten Platz belegt hätte. Nun stand die weiße Stute in der kleinen Box, in der die Pferde nach dem Rennen untergebracht waren, und zog sich die Heuspitzen durchs Maul. Wirklich Appetit hatte sie nicht.

»Verstehst du endlich, warum du sie abgeben solltest?«, hörte Alba eine Stimme direkt vor sich in der Stallgasse.

»Das ist doch Quatsch!«, antwortete eine andere Stimme. »Sie war gut. Großartig sogar.«

Alba erkannte Lilians Stimme. Und wer war der andere, der da redete? Die Stute drehte sich um und schaute durch die Gitterstäbe der Rennstallbox. Lilian lehnte dort an der Wand neben der Schubkarre. Sie strich sich ihre blonden verschwitzten Haare aus dem Gesicht und richtete ihre hellgrauen Augen auf jemanden, der ihr genau gegenüberstand. Alba konnte nicht viel von ihm sehen, nur dass er klein war und eine karierte Schirmmütze trug. Aber sie erinnerte sich daran, dass sie ihn schon häufiger bei Pferderennen gesehen hatte. Vielleicht gehörte ihm ein Rennstall.

»Sie ist nicht schlecht. Aber sie könnte viel besser sein. Sogar den Hengst würde sie locker einholen«, redete der Mann auf Lilian ein. Er klang wütend. »Doch sie braucht ein anderes Training. Sieh es doch endlich ein.«

Alba hatte ein gutes Gespür für Menschen. Auch jetzt konnte sie fühlen, wie traurig Lilian war. Das tat ihr schrecklich leid. Bei diesem Rennen waren sie beide so schnell gewesen wie noch nie in ihrem Leben. Lilian hatte keine Fehler gemacht, hatte sie genau im Takt mit der Peitsche berührt. Zusammen hatten sie alles gegeben, aber es hatte nicht gereicht. Vielleicht stimmte es, was der Mann gesagt hatte: Vielleicht brauchte Alba tatsächlich ein anderes Training.

Jetzt musste sie wieder an Nachtwind denken. In kurzer Zeit war er so kraftvoll und schnell geworden. Was für ein Training er wohl bekommen hatte?

»Lass es uns ausprobieren!«, drängelte der Mann.

Alba blickte zu Lilian. Sie hielt ihren Kopf gesenkt und antwortete nicht. Stattdessen öffnete sie nun Albas Boxentür und kam zu ihr. Alba konnte hören, wie sie schluckte. Sie drehte sich zu ihr herum und hielt ihr den Hals entgegen. Schließlich wusste Alba genau, dass Lilian gleich ihr Gesicht in ihr Fell drückte. Das tat sie immer, wenn es ihr ganz schlecht ging. Und tatsächlich schlang Lilian ihre Arme um Albas Hals und presste ihr Gesicht dagegen. Dann atmete sie tief. Alba spürte, wie ihr Hals nass wurde. Lilian weinte. Das machte die weiße Stute noch trauriger. Zu gern hätte sie ihre Menschenfreundin getröstet, aber sie wusste nicht, wie. So stand sie ganz still, spürte Lilians Nase tief in ihrem Fell und wartete.

Nun tauchte der Mann an der Boxentür auf. Er beobachtete die beiden mit kühlem Blick. Lilian schien das nicht wahrzunehmen. Alba machte eine kurze Bewegung mit dem Hals, damit ihre Menschenfreundin bemerkte, dass sie nicht mehr alleine waren. Es war nur ein kurzes Zucken, doch Lilian wusste sofort, dass sich etwas verändert hatte. Sie löste ihr Gesicht aus dem Fell und drehte sich zu dem Mann um. Dabei schluchzte sie laut.

»Ich will sie nicht abgeben!«

»Komm, jetzt heul nicht rum!«, sagte der Mann verärgert. »Es ist doch nicht für immer. Die Stute wird gut trainiert, und dann holt sie einen Sieg nach dem anderen. Und wenn sie alles von alleine macht, kriegst du sie zurück.«

Alba musterte den Mann. So wirklich verstand sie nicht, warum Lilian traurig war. Der Mann wollte offenbar, dass Alba durch ein anderes Training besser wurde. Das war doch eine gute Idee. Es würde ihr auch gefallen, wenn sie noch schneller rannte. Vor allem würde Alba alles darum geben, beim nächsten Mal diesen arroganten Hengst besiegen zu können.

»Hab dich nicht so!«, brummte der Mann. »Lass die Stute jetzt in Ruhe. Die soll sich noch mal satt fressen.«

Lilian schluchzte erneut, küsste Alba dann kurz auf das Maul und rannte aus dem Stall.

Alba schaute ihr bedrückt nach.

 

Nachdem Alba sich satt gefressen hatte, kam der Mann mit der karierten Mütze allein zu ihr. Er legte ihr ein Halfter um und führte sie zu einem großen Hänger, auf den in goldener Schrift ein paar Buchstaben gemalt waren. Erst jetzt verstand Alba, dass sie nicht mehr nach Hause zurückkehren würde.

Lilian fiel ihr sofort ein. Ihr wurde nun klar, warum sie ihr Gesicht in Albas Fell gedrückt und geweint hatte. Sie mussten sich voneinander trennen. Das tat Alba schrecklich leid für Lilian. Sie selbst allerdings freute sich ein wenig, in andere Hände zu kommen. Genau genommen war sie sogar stolz darauf. Offenbar schien der Rennstall, zu dem dieser Hänger gehörte, sehr groß zu sein.

Alba hatte den Hänger mit der goldenen Schrift schon oft bei den Pferderennen gesehen. Der Rennstall hatte viele erfolgreiche Pferde. Die wunderschöne braune Stute, die neben ihr gelaufen war und den dritten Platz geholt hatte, gehörte dazu. Und auch Nachtwind war in diesem Rennstall. Nachtwind! Alba zog ihre Lippen über die Zähne und begann zu kauen. So konnte sie besser über ihn nachdenken. Er würde sich ärgern, wenn er sie wiedersah. Dann wusste er nämlich genau, dass auch sie gut trainiert wurde. Und er konnte sich sicher sein, dass sie ihn beim nächsten Mal besiegen würde.

Aus verschiedenen Richtungen kamen nun die Jockeys, um ihre Pferde zu diesem Hänger zu bringen. Einer von ihnen hatte Nachtwind am Halfter. Als Alba ihn sah, hätte sie beinahe vor Freude gelacht.

»Hallo, Nachtwind. So schnell sieht man sich wieder«, raunte sie ihm zu.

Er richtete seine Ohren nach vorne und schaute die Stute überrascht an. Was machst du denn hier?, schienen seine Augen zu fragen, aber er sagte nichts. Typisch.

Na gut, dachte Alba. Wenn er mich nicht fragt, sage ich auch nichts.

Sie reckte ihren Hals und schaute in eine andere Richtung.

In diesem Moment wurde Raureif an ihr vorbei zu dem Hänger geführt, mit dem auch sie gekommen war. Raureif schaute ihre Freundin überrascht an.

»Alba? Was machst du hier?«, wollte sie wissen.

Jetzt wurde Alba doch ein bisschen wehmütig.

»Ich wechsle den Reitstall«, sagte sie. »Ich soll noch besser trainieren, damit ich in Zukunft alle Rennen gewinne.«

Nun war es heraus. Wie auf einen Schlag drehten sich alle Pferdeköpfe zu dem weißen Rennpferd rum. Auch Nachtwind hatte seine schwarzen Augen aufmerksam auf sie gerichtet. Seine Ohren spielten. Dann legten sie sich verärgert nach hinten. Klarer Fall. Er war sauer. Wahrscheinlich ahnte er, dass Alba in kurzer Zeit zu einer starken Konkurrenz für ihn werden würde.

Raureif wurde traurig.

»O nein! Bitte nicht!«, rief sie. »Was mache ich denn ohne dich?«

Unglücklich blieb sie stehen und versuchte, zu Alba hinüberzukommen. Sofort rastete Mike aus.

»Was ist los, du blöder Gaul!«, zischte er. »Komm endlich! Wir haben nicht ewig Zeit. Du bist lange genug durch die Gegend geschlichen!«

Wieder zerrte Raureif am Halfter. Klatsch! Die Peitschte knallte auf ihren Widerrist. Erschrocken zuckte Raureif zusammen. Dann drehte sie sich so, dass sie Mike ihre Brust zeigte, und reckte den Hals hoch. Böse rollte sie mit den Augen. Nur das Weiße war noch zu sehen.

»Hooo!«, schrie Mike. Er sah jetzt doch ein bisschen ängstlich aus. Drohend hob er die Peitsche.

»Schlagen Sie das Pferd nicht!«, rief eine Frau und zückte ihr Handy, um ihn zu filmen.

»Geh besser!«, riet ihm ein anderer Jockey. »Wir haben schon genug Ärger mit den Tierschützern!«

Mike riss sich zusammen. »Komm!«, sagte er nun und zog Raureif weiter. Sie blickte sich noch einmal nach Alba um und wieherte unglücklich. Richtig verzweifelt sah sie dabei aus. Sie war doch Albas beste Freundin, und die beiden waren seit einem Jahr unzertrennlich.

Alba versuchte, sie zu trösten. »Ich komme bald zurück!«, rief sie. »Bestimmt nur ein paar Wochen. Dann bin ich wieder da!«

Doch Raureif sah aus, als wenn sie gleich in verzweifeltes Wiehern ausbrechen würde. »Aber was mache ich in der Zeit ohne dich?«, wollte sie wissen.

Mike zerrte Raureif an den Zügeln. Jetzt fing sie so kläglich an zu jammern, dass Alba zurückwieherte. Ein Hin- und Hergeschrei war das! Es schmerzte Alba, Raureif so unglücklich zurücklassen zu müssen. Sie tat ihr schrecklich leid. Raureif war noch so jung. Sie wusste ja nicht, dass das alles nur für eine kurze Weile war.

Doch Mike ließ den Pferden keine Zeit für den Abschied. Im Gegenteil. Er beeilte sich, Raureif aus Albas Blickfeld zu ziehen. Das machte die beiden Pferde noch unglücklicher. Alba trippelte aufgeregt hin und her und warf den Kopf in den Nacken. Am liebsten hätte sie laut gewiehert. Doch als sie die kleine Freundin nicht mehr sehen konnte, versuchte Alba, sich wieder zu beruhigen. Sie wollte kein wildes Geschrei von sich geben, schon gar nicht vor Nachtwind. Der hatte nämlich seine Ohren eng aneinandergelegt, zum Zeichen dass er das Geheule lächerlich fand. Heul doch, du Hottepferdchen, sagten seine Ohren verächtlich. Mimosenpony.