Wildnis ist ein weibliches Wort - Abi Andrews - E-Book

Wildnis ist ein weibliches Wort E-Book

Abi Andrews

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Beschreibung

Von einer, die auszog, die Wildnis kennenzulernen Erin ist 19 und Feministin. Sie liebt Geschichten von furchtlosen Aussteigern, die alles hinter sich lassen, um ein Leben in der Natur, fernab der Zivilisation zu wagen. Warum eigentlich, denkt sie, sollen diese Abenteuer immer nur Männern vorbehalten sein? Und macht sich auf: mit dem Schiff nach Island, über Grönland und am Polarkreis entlang nach Kanada und schließlich Alaska. Sie ist zu Fuß unterwegs, per Anhalter, mit dem Hundeschlitten und Fischerbooten. Ihre Erfahrungen inmitten der gottverlassenen Wildnis bringen sie an ihre Grenzen, beflügeln sie und lassen sie für immer verändert zurück. »Ein Buch wie dieses haben Sie noch nie gelesen, so verführerisch, so mutig, so amüsant.« The Guardian

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Seitenzahl: 527

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Abi Andrews

Wildnis ist ein weibliches Wort

Roman

Aus dem Englischen von Mayela Gerhardt

TEMPO

Gewidmet

dem Wal Tilikum (Tilly)

der in seiner Walsprache

wahrscheinlich auf einen anderen Namen hörte

(1981–2017)

Inhalt

JENSEITS DER HELIOPAUSE

VERFOLGT VON GEDANKEN AN EIN ANDERSWO

LAND DER EISKÖNIGINNEN

INTERNATIONALE WEIBLICHE TERRORVERSCHWÖRUNG AUS DER HÖLLE

WIE MAN IN EINER POSTFEMINISTISCHEN GESELLSCHAFT ERWACHSEN WIRD

SYMBIOSE AUS ALGEN UND TIEREN

AUF IN DEN WESTEN, JUNGER MANN

GIFTE REGNEN VOM HIMMEL

ICH KOMMUNIZIERE ÜBER SCHALLWELLEN

DAS DACH IM HIMMEL

DIE BEMANNTE RAUMFAHRT IST DAS TROPHÄENWEIB DES SUPERPHALLUS

NICHT JUPITER, DER ERHABENSTE DER ERHABENEN, ÜBERSTRAHLTE DEN WEISSEN WAL

BESUCH VON DER ROTEN ARMEE

LAUF, QUIMMIG, LAUF, LAUF

DIE GROSSE WEISSE STILLE

KLARER VORTEIL FÜR MEIN GESCHLECHT

RACHEL CARSONS WIEDERAUFERSTEHUNG

ERSTE SPUREN IM FRISCHEN SCHNEE

LEUCHTENDE TEILE DES GANZEN

DER ULTIMATIVE GUIDE ZUM ÜBERLEBEN UNTER DEN ALLERHÄRTESTEN UMSTÄNDEN

WIE MAN UNSICHTBAREN TOD SICHTBAR MACHT

SCHADSTOFFE MIT UNERWARTETEN FOLGEN

FRAUEN FÜR DIE ABSCHAFFUNG DES PAUSCHALURLAUBS

DER MENSCHHEIT ERHABENSTES ZIEL: DIE SUCHE NACH WAHRHEIT UND ERKENNTNIS

DAS PILLEN-FLÜCHTLINGSFORUM

SEGELN PELIKANE GERN DURCH DIE LUFT?

*HUNDESTIMME* DU MUSST JETZT LERNEN, AUF WIEDERSEHEN ZU SAGEN

DIE RECHTE DER NATUR

DER SUPERTRENDIGE SPONGE-CLUB

MACHT’S GUT UND DANKE FÜR DEN FISCH

DER SCHWINDENDE HORIZONT

FLIEG VORSICHTIG, TAPFERE RAUMSONDE, DENN MEINE TRÄUME FLIEGEN MIT DIR

BLUTIGE FRAUENGEHEIMNISSE

SCHUTZPROGRAMM FÜR BIENEN UND ANDERE BESTÄUBER

UND ALLEIN WERDE ICH DORT LEBEN IN BIENENLAUTER LICHTUNG

GIBT ES WASSER AUF DEM MARS? WIR HABEN NÄMLICH DURST

FRAUEN VERÄRGERT ÜBER DISKRIMINIERUNG AM ARBEITSPLATZ

STUDIE BESAGT: FRAUEN LEGEN BEI MÄNNERN NACH WIE VOR WERT AUF GALANTES BENEHMEN

AUF DAS BLANKE GROSS-SEE-WASSER

DIE ERDE IST INDIANISCH

DIE FLECHTEN VON MANITOBA

GRÜN IST DAS NEUE ROT

INS WURMLOCH

PILZSPOREN KÖNNTEN IM WELTRAUM SCHWEBEN

DIE ZÄHMUNG DER WILDEN

DER BÜFFEL UND DIE WANDERTAUBE

LANDBESITZER? BEDANK DICH BEI EINEM INDIANER

ZUM FLUSS WERDEN UND SO GEBORGEN SCHLAFEN WIE IN EINEM FLUSSBETT

BILDERBUCH-BERGE

KEIN MENSCH IST EINE INSEL

DIE DAKOTA HABEN KEIN WORT FÜR »TIER«

SPIRITUELLE MONOKULTUREN

TOP-TIPPS FÜR REISESCHRIFTSTELLERINNEN

GOLDRAUSCH AM YUKON

IST MUTUALISMUS EINE FORM VON LIEBE?

ENGLAND – WIE AMERIKA, NUR ANDERS

RITTERLICHKEIT IST NICHT AUSGESTORBEN – MÄNNER HABEN BLOSS DIE NASE VOLL VON UNDANKBAREN ZICKEN

WIE KANN EIN HIPPIE FRAUENFEINDLICH SEIN?

REUIGE RATTEN, ALTRUISTISCHE BONOBOS

ATLAS WIRFT DIE WELT AB

IN DIE WILDNIS

VERWILDERN

DER BART, DIE GEWEHRE UND DIE KURZEN, KNAPPEN SÄTZE

MEHR RAUM, WO NIEMAND IST, ALS WO IRGENDJEMAND IST

HELDEN EINER PFADFINDERIN

DER ZEITBEGRIFF DER KOLIBRIS

KLEINES HAUS IM GROSSEN WALD

FLASCHENPOST

WIE DER BERG ZU SEINEM NAMEN KAM

ICH BIN, WAS ICH BIN, UND DER REST IST WEIBLICH UND WILD

LEERT DIE DELPHINARIEN!

DAS GOTTESTEILCHEN – DER GOTTESTRICK

DIE WILDNIS ALS PROJEKT DES SELBST

SCHWESTER

VOM TÖTEN UND STERBEN

ERINNERUNG AN DIE WELTSEELE

WIE DU DEIN KRAFTTIER FINDEST

DIE ATOMPRIESTERSCHAFT

WIE PILZE DIE WELT RETTEN KÖNNEN

DIE EITELKEIT MODERNER EXISTENZ

DAS SCHICKSAL LIEGT IM WESTEN

ELCH UND INDIANER

SUCHEN, ABER NIEMALS FINDEN

VOM FILMEN DER MUKOSEN, DEN VERDAUUNGSTRAKT EINES MEERESWURMS UMSCHLIESSENDEN MEMBRAN, DER ZWISCHEN KONTINENTALPLATTEN IN VON VERWERFUNGEN FREIGESETZTEN GASEN LEBT

ALLES, WAS SOLIDE IST, LÖST SICH IN LUFT AUF

DIE DÜNNE SCHICHT

HÖRT DER FALKE SEINEN FALKNER NICHT

DIE ABSTRAKTE WILDNIS

MEIN BERG MEIN MOND

WELCHER PARTIKEL DIESES GEISTES AUCH IMMER IN MIR IST

PETITION ZUR ANERKENNUNG DER RECHTE VON WALEN

UND WEIL ES MEIN HERZ IST

MEIN LEBEN IST EIN EINZIGER GLÜCKLICHER AUGENBLICK

GEHEIMNISVOLLE MATERIE, DUNKLE MATERIE

ABSCHIED NEHMEN

SOLASTALGIE

DAS ERKENNENDE SELBST IST IN ALL SEINEN GESTALTEN PARTIAL

EIN BRIEF AN DEN UNABOMBER

DIE KLITORIS IST EINE DIREKTE LEITUNG ZUR MATRIX

WAS IST DAS FÜR EIN BUCH, DAS NICHT ZU EINEM ENDE KOMMEN MÖCHTE?

EIN BRIEF AN MEIN ZUKÜNFTIGES SELBST

DANKSAGUNG

Biographie

JENSEITS DER HELIOPAUSE

Die Weltraumsonde Voyager 1 hat unseren Planeten im Jahr 1977 verlassen. Jetzt dauert es nur noch Monate, Tage, Minuten, Sekunden, bis sie in den interstellaren Raum vordringt. Damit wird sie das am weitesten von der Erde entfernte menschengemachte Objekt sein und das erste, das die Heliosphäre verlassen hat. Einer der bedeutendsten Momente der Wissenschaftsgeschichte – und wir werden nie erfahren, wann genau er stattgefunden hat. Drei Indizien sprechen dafür, dass Voyager 1 die Grenze der Heliopause bereits überschritten hat: ein Anstieg der kosmischen galaktischen Strahlung, ein Richtungswechsel des Magnetfelds und ein Temperaturabfall der elektrisch geladenen Teilchen. Voyager-1-Berichte verzeichnen einen monatlichen Anstieg kosmischer Strahlung um fünfundzwanzig Prozent. Doch die Signale der Raumsonde brauchen siebzehn Stunden, um mit Lichtgeschwindigkeit zurück zur Erde zu reisen.

Wann hat meine Reise begonnen? Als ich anfing, sie zu planen? Als ich mein Elternhaus in einem mit Möbeln beladenen Lieferwagen verließ und mit einem Freund meines Dads Richtung Norden fuhr? Meine Eltern standen mit unserem Hund vor dem Haus und winkten mir nach; ich filmte, meine Mutter weinte. Das fühlte sich wie ein Anfang an. Oder war es in dem Moment, in dem der Frachter an einem grauen Märztag im putzwasserfarbenen Hafenbecken von Immingham in See stach?

So war die Idee dazu entstanden: Ich hatte einen Film über einen Aussteiger namens Chris McCandless gesehen, der sein Eliteuni-Treuhandkonto-Leben über Bord wirft und quer durch Amerika nach Alaska reist, um den Jack-London-Traum zu leben, dort aber giftige Wildkartoffeln isst und stirbt. Das war 1992, ein Jahr vor meiner Geburt. Ich weinte und beschloss, ein Sparkonto für eine Reise nach Alaska anzulegen, wo ich ebenfalls in der Wildnis und in vollkommener Abgeschiedenheit leben würde. Dann sah ich mir den Film noch einmal Abschnitt für Abschnitt an und dachte darüber nach, welche Unterschiede es gegeben hätte, wenn der junge Mann eine junge Frau gewesen wäre.

Tatsächlich wäre es ein komplett anderer Film gewesen. Nicht nur, weil darin Situationen vorkamen, die für eine Frau vermutlich anders ausgegangen wären (als McCandless beispielsweise von einem Schaffner verprügelt wird, der ihn als blinden Passagier in seinem Güterzug erwischt), sondern auf grundlegenderer Ebene, weil ein Mädchen, das der modernen Gesellschaft den Rücken kehrt und mir nichts, dir nichts in die Wildnis verschwindet, um dort von selbst erlegten kleinen Tieren und Wildpflanzen zu überleben, bloß als verstörend wahrgenommen würde.

Der holzhackende Mystiker Henry David Thoreau ist dafür mitverantwortlich. Er sagte Dinge wie »Keuschheit ist des Menschen Blüte, und was man Genius, Heroismus, Heiligkeit usw. nennt, sind nur die verschiedenen Früchte, die durch sie gezeitigt werden.« Als würde Mann sich seinen Transzendentalismus ruinieren, indem er Sex mit einer Frau hat. Mit »Menschen« meinte Thoreau die männlichen Vertreter unserer Spezies. Wenn »Mensch« den Kampf gegen die Elemente aufnimmt, sie bezwingt, ist die Natur meistens weiblich.

Wildheit bedeutet bei Frauen nicht Autonomie und Freiheit; ihre Wildheit ist ein irrationales Fieber. Gleichzeitig sind wir, was den Überlebenskampf angeht, das schwache Geschlecht und können individuell, außerhalb der Gesellschaft oder ohne den Schutz eines Mannes, nicht gedeihen. Frauen werden zugleich von der Natur ausgeschlossen und dorthin verbannt.

Selbst in den Dokumentarsendungen über ganze Familien, die sich in der Wildnis ansiedeln, ist die Frau immer Mountain Mans Anhängsel und garantiert nie Mountain Woman, bloß schmückendes Beiwerk, so wie sein Bart, seine Pfeife und sein Gewehr. John McPhee beschreibt in Coming into the Country: Travels in Alaska detailverliebt eine Vielzahl von Mountain Men und erwähnt nur flüchtig eine Handvoll Mountain Women. Ein Mann berichtete John McPhee, er habe absolut und vollkommen allein leben wollen, abgeschieden im tiefsten Innern des Landes, bloß mit drei Töchtern und einer Frau, seinem »Frauenvolk«, wie er sie nannte.

Natürlich gibt es Ausnahmen von diesem Unsichtbarkeitsbann. Calamity Jane etwa, das Cowgirl. Nellie Bly, die in zweiundsiebzig Tagen um die Welt reiste. Die Autorin Freya Stark, die über ihre Reisen in den Nahen Osten berichtete. Die Forschungsreisende Mary Kingsley. Und die alte Dame, die sich in einem Holzfass die Niagarafälle hinabstürzte. Aber das Problem besteht eben darin, dass sie Ausnahmen sind. Es scheint, als gäbe es in der Wildnis etwas Bedeutendes zu lernen, das aber ausschließlich Männern zugänglich ist. In der Wildnis bilden Männer ihr individuelles und männliches Selbst heraus – als stünde Frauen kein individuelles und authentisches Selbst zu. Auch wenn die Geschichte genau die gleiche Handlung hat, bedeutet »eine Frau allein in der Wildnis« das genaue Gegenteil. Also kam mir die Idee, nach Alaska zu reisen.

Mag sein, dass ich zu viele heroische Fantasy-Romane à la Der Herr der Ringe gelesen habe, aber ich kann die Vorstellung nicht abschütteln, dass man sich einem wirklich weit entfernten Ziel würdig erweisen muss, indem man eine Expedition dorthin unternimmt, so wie Menschen aus Gottesfurcht eine Pilgerreise machen. Das andere Element meines Reiseethos entstammte einer Aversion gegen Flugzeuge, einer Kombination aus CO2-Bilanz-Bedenken und Misstrauen gegenüber dem Paradox, innerhalb weniger Stunden mehrere Zeitzonen zu durchqueren, um sich schlagartig und gleichgültig an einem Ort wiederzufinden, an den man von Natur aus nicht gehört. Ich wollte nicht bloß irgendwohin fliegen und mich dort mit anderen zusammenscharen, wie bei einer Charterreise.

Meine Familie hat immer im Ausland Urlaub gemacht – außer während der Jahre, in denen mein Dad arbeitslos war. Als ich von zu Hause auszog, war ich in neun verschiedenen Ländern gewesen. Wenn mich jemand aufgefordert hätte, diese Länder zu beschreiben, hätte ich berichten können, dass die Strände in Spanien voller sind als die in Griechenland, dass man in der Karibik nur an Strände gehen soll, die zum eigenen Hotel gehören und sicher abgeschirmt sind, und dass Disneyworld zu weit von der Küste entfernt ist, um an den Strand zu gehen, man sich aber an künstlich angelegte Strände innerhalb des Vergnügungsparks legen kann. An einem davon gibt es sogar einen Pool mit Unterwasserrutsche durchs Delphinbecken.

In einem technologischen Zeitalter zu leben bedeutet, dass das andere Ende der Welt theoretisch betrachtet nur wenige Mausklicks entfernt ist. Jeder Winkel der Erde ist erforscht und in einer Enzyklopädie verzeichnet worden. Und das Internet hat all diese Enzyklopädien zusammengeführt und sie zu einem chaotischen, aber zweckmäßigen Nachschlagewerk angeordnet. Es gibt keine Mysterien mehr. Und das Reisen ist deutlich weniger elitär geworden. Ich kann das Internet nutzen, ein Mann aus früheren Zeiten brauchte ein mit Federkiel verfasstes Empfehlungsschreiben, das ihm die Überfahrt auf dem Tabakfrachter eines Freundes seines Vaters ermöglichte.

Heutzutage bekommt man leicht das Gefühl, dass die Menschheit alles durchdrungen hat, dass wir die Welt erobert haben. Wenn man sich die Erde im Zeitraffer ansähe, von ihrer Entstehung bis zum heutigen Tag, würde für sehr, sehr lange Zeit erst einmal wenig passieren. Die Kontinentalplatten verschieben sich nach und nach, ab und zu schlägt ein Asteroid ein, und mit etwas Glück bekäme man den Ausbruch eines Supervulkans zu sehen, dem winzige Rauchpilze entströmen. Die Erde bleibt eine relativ ruhige Murmel, deren schimmernde Atmosphäre wirbelt und wabert. Dann, im achtzehnten Jahrhundert, beginnt die Metamorphose: Städte breiten sich aus wie Blutergüsse, fruchtbarer Boden verwandelt sich in Wüste, Weltraumschrott sammelt sich zu einem tristen metallischen Sternbild an.

Heute kreisen Satelliten am Himmel, die uns lange überleben werden, groß wie Fußballfelder schweben sie im geostationären Orbit, rund 35786 Kilometer über dem Meeresspiegel, in einer Entfernung, die ihnen ermöglicht, sich synchron zur Erde zu bewegen. Weil sie kaum atmosphärischen Widerstand erfahren, können sie nicht von der Erde angezogen werden. Vermutlich werden sie erst dann nicht mehr existieren, wenn alles in der Nähe der Erde von unserer sich ausdehnenden Sonne verschluckt wird. Bis dahin werden sie zu den Artefakten der Menschheit zählen, die am längsten überdauert haben, und das Vermächtnis des einundzwanzigsten Jahrhunderts sein. Unsere Zivilisation wird sich in diesen grauen Exoskeletten verewigen statt in den Kulturen der Ägypter, der Maya und der Maori.

Die Erde ist rund viereinhalb Milliarden Jahre alt. In sechs Milliarden Jahren, wenn die Sonne stirbt, wird alles Leben auf unserem Planeten verdampfen und so weit von uns entfernt sein wie wir von den kleinen Fischen, die vor Ewigkeiten aus dem Meer gehüpft sind. Doch wir sind kurzsichtig. Im Gesamtkontext ist der Zeitraum der Veränderung über die letzten hundert Jahre bloß ein Blinzeln für das Universum, und trotzdem habe ich so scheißlang gebraucht, um neunzehn Jahre alt zu werden. Meine Reise soll mich daran erinnern, dass ich klein bin und noch kleiner werde. (Ich stehe auf einem Ballon auf einem Punkt, alle Punkte haben den gleichen Abstand voneinander, und während sich der Ballon ausdehnt, entfernen sich die anderen Punkte von meinem.)

Alaska ist der Ort, um das zu spüren. In der kollektiven Psyche ist Alaska als das Land der Mountain Men verankert, als die Letzte Große Wildnis. Es ist groß und weit und überwiegend von Menschen unbewohnt. Die Britischen Inseln würden siebenmal hineinpassen, und etwa ein Siebtel Alaskas steht unter Naturschutz. Die Gesamtbevölkerung beträgt ein Zehntel der Einwohnerzahl Londons.

Ich habe zweitausend Pfund gespart, den ungefähren Preis für ein Hin- und Rückflugticket nach Alaska. Nach dem Abi habe ich einige Monate gearbeitet und extrem sparsam gelebt. Das Geld ist ausschließlich für Reisekosten gedacht und muss mich von England nach Island, nach Grönland, nach Kanada und weiter bis nach Alaska bringen. Alles Geld, das ich für meinen Lebensunterhalt brauche, werde ich unterwegs verdienen. Ich werde alles oben Erwähnte zu einem geschmackvollen Begleitkommentar zusammenfassen und damit eine geheimnisvolle und wolkenverhangene Videomontage von allen Orten unterlegen, die ich bereisen werde.

Meine Reise wird über See und Land führen, eine heldenhafte Odyssee, ich ganz allein, ein Mädchen, auf einer weiblichen Suche nach Authentizität.

VERFOLGT VON GEDANKEN AN EIN ANDERSWO

Meine Kabine liegt an einem Flur, von dem auch alle anderen Kabinen abgehen; jede Kabine hat zwei Schlafkojen, zwei Lampen, zwei Schließfächer und ein Bullauge. Die Türen lassen sich nicht abschließen, und der Typ aus der Kabine nebenan kommt ständig in meine gelatscht, weil er sie mit seiner verwechselt. Soweit ich verstanden habe, arbeitet er schichtweise als Ingenieur. Die meisten Besatzungsmitglieder sind Isländer, sprechen aber zumindest gebrochenes Englisch. Wir verständigen uns mit einem Kauderwelsch aus ihrem rudimentären Wortschatz und den Sätzen aus meinem Pocket-Sprachführer.

Außerdem befinden sich noch zwei Studenten an Bord: Kristján und Urla, die in Manchester und Leeds studieren und mit dem Frachter in den Semesterferien günstig nach Island heimreisen. Sie wohnen in verschiedenen Städten und haben sich auf ihrer ersten Überfahrt kennengelernt. Seitdem fahren sie immer gleichzeitig, um sich gegenseitig Gesellschaft zu leisten, und sie kennen die reguläre Schiffsbesatzung. Alle scheinen zu glauben, dass sie ineinander verliebt sind oder sich noch ineinander verlieben werden.

Ich versuche, die »Essenz« des Lebens an Bord der Blárfoss für meinen Dokumentarfilm einzufangen. Kann ich das, indem ich eine Speicherkarte mit Bildern und Videos von jedem Winkel des Schiffs fülle, genug, um aus den Mosaikteilchen eine 3-D-Nachbildung zu erstellen? Kann man zur Essenz von etwas vordringen, indem man es aus jedem Blickwinkel betrachtet, als wäre das eine wissenschaftliche Untersuchungsmethode, die alle Möglichkeiten ausschöpft? Vermutlich nicht, denn die Speicherkarte ist schon fast zu einem Viertel voll. Außerdem habe ich so gut wie jeden Englisch sprechenden Menschen an Bord interviewt. Besonders Urla findet den Dokumentarfilm »total cool«. Jeder hat sich beteiligt, zunächst, um ein wenig der Langeweile zu entfliehen, aber dann hat es sich zu einem merkwürdigen, ruhmbescherenden Ritual entwickelt, weil die Interviewpartner in der winzigen Welt des Schiffs Berühmtheit erlangen. Erst hatte ich befürchtet, das könnte dem Dokumentarfilm schaden, aber letztlich hilft es, die Situation an Bord zu veranschaulichen.

Die Ausstattung des Frachters ist funktionell und schmucklos, einfallslose, stumpfe Formen in kühlen Pastellfarben, die das Innere des Aufenthaltsraums, die Farben der Brettspiele und das Brummen der Heizkörper intensiver wirken lassen. Abgesehen vom allgegenwärtigen Schiffsmotor, den man mehr spürt als hört, ist außerhalb des Aufenthaltsraums so gut wie kein Geräusch zu hören, außer den gelegentlichen Lautsprecherdurchsagen unseres Kapitäns (dem wir den Spitznamen Käpten Oz verpasst haben). Uns allen ist aufgefallen, dass wir ein ungewöhnliches Interesse an Essen und Essenszeiten entwickelt haben; es gibt fast immer das Gleiche: Plokkfiskur – Fischeintopf in all seinen Varianten. Dem ganzen Erlebnis liegt eine Stimmung zugrunde, die ich als Trägheit oder Verträumtheit bezeichnen würde, oder eine Kombination aus beidem: verträumte Trägheit. Ein Schwebezustand, zugleich unbewegt und bewegt, wackelig, aufgrund des eigenartigen Gefühls von Bewegung, während sich nichts Sichtbares bewegt, die Schwerkraft mit dem Wellengang des Ozeans wetteifert. Wenn man sich auf einem schwimmenden Objekt befindet, wird einem die Schwerkraft bewusster. Da ich Zeit zum Nachdenken hatte, habe ich mir ausgedacht, wie sich Schwerelosigkeit anfühlen muss.

Ich könnte mir vorstellen, dass man im Weltraum ein stärkeres Bewusstsein für die propriozeptive Wahrnehmung entwickelt – darunter versteht man die Eigenwahrnehmung der Lage einzelner Körperteile zueinander (das habe ich in der Pro Bodybuilding Weekly gelesen, einer der wenigen englischen Zeitschriften im Aufenthaltsraum). Das Gehirn kann die Sinne so anpassen, dass sie einander ausgleichen, weshalb ein blinder Mensch besser hören und fühlen kann. Im Weltraum, wo es nur minimale Stimuli für Gehör, Augen, Nase, Zunge und Haut gibt, verstärkt sich vermutlich die propriozeptive Wahrnehmung. Schwerelosigkeit macht jede Körperbewegung mühelos. Aus dem Innern deines Körpers entströmt Energie, dein Puls pocht durch deine Gliedmaßen, und du fühlst dich im wahrsten Sinne des Wortes »verkörpert«. Das ist alles bloße Langeweile-Spekulation. Ich stelle mir auch gern vor, wie es sich anfühlen würde, nur einen Arm zu haben oder einen dritten Arm oder einen Penis.

LAND DER EISKÖNIGINNEN

Jeder Stern ist eine Sonne. Jede Sonne hat ihre eigenen Planeten. Jeder Planet steht mit den anderen Planeten in bestimmten Konstellationen. Die 3-D-Welt ist das Hologramm einer 2-D-Welt, die vom Rand eines schwarzen Lochs projiziert wird.

WELT

RAAAAAAAAAAAAAAUUUUUUUUUUUM

Wir beachten den Weltraum kaum noch. Die einzige verbliebene Grenze ist für die meisten Menschen nicht mehr von besonderem Interesse. Ich nehme an, das ist eine gute Sache und praktisch. Die Dinge wären verzwickter, wenn sich jeder seiner Winzigkeit ultrabewusst wäre. Meine Mum glaubt nicht an den Weltraum. Als ich noch jünger war, habe ich sie einmal gefragt, ob sie an Außerirdische glaubt, und sie antwortete: »Red keinen Blödsinn, Erin.« Ich sagte, wenn der Weltraum unendlich sei, müsse die Wahrscheinlichkeit, dass es Außerirdische gibt, doch ziemlich hoch sein. Sie entgegnete, darüber habe sie sich noch nie Gedanken gemacht. Ich bohrte ein wenig nach, weil ich wissen wollte, was sich in ihrer Vorstellung hinter dem blauen Himmel befindet, wenn nicht der Weltraum. Sie sagte, ich solle den Mund halten, sie müsse über wichtigere Dinge nachdenken, wie Überstunden zu machen, um mehr Geld zu verdienen, jetzt wo Dad seine Arbeit in der Cadbury-Fabrik verloren habe, weil die Amerikaner sie gekauft hatten.

Weil meine Eltern so viel um die Ohren hatten, verbrachte ich den Sommer häufig in Ferienlagern und ernährte mich von panierter Tiefkühlkost in lustigen Formen. Unser häusliches Leben wurde von Bequemlichkeit bestimmt. Folie vor dem Erhitzen entfernen, Mikrowellen-Pommes-frites-Super-Schnell mit Chicken-Nuggets-deluxe. Nur ging mit der modernen Bequemlichkeit nicht die versprochene Befreiung einher, weil Mum trotzdem noch arbeiten und staubsaugen musste, vielen Dank, Mr. Dyson. Also kann man ihr wirklich nachsehen, dass sie nicht innehielt, um über die Unendlichkeit nachzusinnen.

Ich stehe draußen auf dem Deck und schaue aufs Meer hinaus. Das Meer, das sich ohne Unterbrechung bis zum Horizont erstreckt. Dort gibt es nichts, nichts außer Möwen, und ich frage mich, wie fliegen die Möwen, ohne müde zu werden? Geraten sie nicht in Panik, weil es keinen Ort gibt, an dem sie ihre Flügel ausruhen können, außer auf dem Meer selbst, und dort könnten sie von etwas Größerem gefressen werden, das für sie einer anderen Dimension angehören muss? Kein Ort, um ihre Augen auszuruhen und zu schlafen? Der leere Raum erinnert mich an eine schematische Darstellung aus einem Physikbuch, die eine Newton’sche Gesetzmäßigkeit veranschaulicht: Eine Kugel rollt über eine Ebene, eine einzelne Anordnung von Materie, das einsamste Objekt der Welt. Wir sind die Kugel, und das Meer ist die Ebene. Ich war erst einmal auf einer solch lückenlosen und leeren Fläche wie dieser, auf einer P & O-Fähre nach Frankreich, und die Überfahrt dauerte nur wenige Stunden. Am dritten Tag an Bord fühle ich mich wie Coleridges alter Seemann.

Urla liest gern, und wir werden schnell warm miteinander. Wir haben einen Zweipersonen-Buchklub gegründet, tauschen unsere Bücher aus und reden darüber. Bisher haben wir ein wenig über Die linke Hand der Dunkelheit von Ursula Le Guin gesprochen und über Alles Meer ein gleitender Marmor von Elizabeth Bishop. Urla sagt, Le Guin gefalle ihr; der Planet Winter erinnert sie ein bisschen an ihre eigene frostige Heimat, aber von Bishop hält sie nicht so viel, vielleicht, weil ihr ein paar sprachliche Feinheiten entgehen oder weil sie BWL studiert. Ich habe in ihr Buch reingelesen, Lean In: Frauen und der Wille zum Erfolg von Sheryl Sandberg. Es handelt davon, wie Frauen in einem männerdominierten Arbeitsumfeld beruflichen Erfolg haben können, indem sie lernen, sich mehr wie Männer zu verhalten.

Ein Teil der Reise soll natürlich meiner persönlichen Entwicklung dienen, und ich habe beschlossen, die ausgedehnte Gelegenheit zu nutzen, um eine reifere Persönlichkeit aus mir zu machen. Mein Fünf-Punkte-Plan lautet wie folgt:

 

Viele aufschlussreiche Bücher lesen

Vor der Ankunft die Geschichte jedes Orts in groben Zügen kennen

An jedem Ort in die Kultur eintauchen

In jeder Sprache wichtige Sätze lernen

Schreiben. Jeden Tag

Urlas Eltern sind geschieden. Ihre Mutter ist Isländerin, ihr Vater Engländer. Er wohnt in Leeds, in der Nähe von Urla, die, seit sie zehn ist, zwischen England und Island pendelt. Ich hatte vorgehabt, mir in Reykjavík ein billiges Hostel zu suchen, aber Urlas Mutter hat ein Gästezimmer, in dem ich übernachten kann, bis ich rausgefunden habe, wie ich nach Grönland komme. Ich muss also meine erste fremde Stadt nicht mit der unbedarften Grobheit einer Touristin erobern, sondern habe Urla, die mich herumführen wird. Sie hat einen Geländewagen, also können wir uns sogar die schönsten Flecken der isländischen Landschaft ansehen, was in Anbetracht meines Budgets sonst einiges an Logistik erfordert hätte. Urla redet, als müsste ihr jeder zuhören, und besitzt die Angewohnheit, sich wie eine träge Katze auf jeglicher Unterlage zu drapieren. Ich glaube, das, was ich für Urla empfinde, ist ein Girl Crush – ein Gefühl der Verbundenheit und Bewunderung ohne einen Funken Eifersucht.

INTERNATIONALE WEIBLICHE TERRORVERSCHWÖRUNG AUS DER HÖLLE

INNEN, AUFENTHALTSRAUM – Urla fläzt sich mit eselsohriger Ausgabe von Moby Dick auf der Couch – in dem großen Raum stehen drei Sofas zu einem Rechteck angeordnet, in der Mitte ein Tisch mit Büchern und Zeitschriften – kleiner Fernseher und Videorekorder an der Wand montiert – Bücherregal mit Videos, CDs – CD-Player oben auf dem Regal – kleine, balkonartige Vorbauten am Regal, damit Bücher bei Seegang nicht rausfallen – vor den großen Fenstern der Ozean – weiße Seevögel – Meereswand hebt sich, senkt sich, hebt sich, senkt sich mit Bewegung des Schiffs – ein anderes Sofa von zwei Männern besetzt – breitbeinig, Zeitschriften lesend.

 

ERIN(hinter der Kamera) Vielleicht kannst du uns einfach etwas über den Feminismus in Island erzählen.

 

URLA Klar, gern.

 

Setzt sich auf und wendet sich den Männern auf dem Sofa neben ihr zu.

 

URLA Wollt ihr mit mir über den Feminismus in Island reden?

 

Die Männer blicken von ihren Zeitschriften auf und zucken mit den Schultern.

 

URLA Sie sprechen kaum Englisch. Also gut. Viele Studien besagen, dass Island das beste Land der Welt ist, um eine Frau zu sein. Weil es das beste Land der Welt ist, um ein Mensch zu sein. Wir haben keine Armee. Wir versorgen uns mit erneuerbarer Energie. Die Leute sind insgesamt sehr glücklich, abgesehen von denjenigen, denen die Dunkelheit im Winter aufs Gemüt schlägt.

 

Der Mann zu ihrer Linken hält eine isländische Zeitschrift über Geländewagen in den Händen – er beobachtet Urla über den Rand der Seite hinweg.

 

URLA Lass mich mal nachdenken; also 1975 sind neunzig Prozent der isländischen Frauen in den Streik getreten und haben Lohngleichheit gefordert, und sie haben Lohngleichheit bekommen. Wir haben 1980 als erstes europäisches Land eine Frau zur Präsidentin gewählt. Finnbogadóttir. Sie war wie meine Mutter geschieden und alleinerziehend und wurde dreimal wiedergewählt, bis sie in Rente gegangen ist. Wir haben die erste offen lesbische Premierministerin der Welt, und sie war früher einmal Stewardess. Eine Bischöfin ist das Oberhaupt unserer Staatskirche. Und wir haben als weltweit einziges Land Strip-Clubs aus feministischen Gründen verboten.

 

Geländewagen-Mann gibt ein halb diskretes »Hmpf« von sich – Urla dreht sich demonstrativ zu ihm um – er senkt den Blick und streicht die Seiten seiner Zeitschrift glatt.

 

ERIN Glaubst du, es kommt daher, dass Nacktheit bei euch als krasser empfunden wird, weil ihr wegen der Kälte immer mehrere Kleiderschichten übereinander tragt? Als würde die menschliche Figur anonymisiert, wodurch manche Probleme gar nicht erst entstehen, die mit der Sexualisierung des Körpers einhergehen. Wie in Die linke Hand der Dunkelheit, wo Kälte und Androgynität zu einer Gesellschaft ohne Frauenfeindlichkeit und ohne Krieg geführt haben?

 

Geländewagen-Mann schüttelt ungläubig den Kopf – Urla bemerkt es nicht – sie blickt an ihrem Körper hinunter, eingehüllt in einen Wollpullover mit Rollkragen, dicke graue Jogginghose, die unten in die Wollsocken gesteckt ist.

 

URLAIch weiß nicht. Vielleicht (Pause). Was noch. Frauen müssen ihren Nachnamen nicht ändern, wenn sie heiraten. Und wenn sie ein Kind bekommen, haben beide Elternteile den gleichen Anspruch auf Elternzeit. ABER –

 

Sie reckt den rechten Zeigefinger schulmeisterlich in die Luft, drückt sich mit der anderen Hand das Buch an die Brust.

 

URLASelbst im weltbesten Land, um eine Frau zu sein, ist es immer noch besser, ein Mann zu sein.

 

Sie sieht zu Geländewagen-Mann hinüber, der mit nonchalanter Miene die Seiten umblättert.

 

ERINNirgendwo ist geschlechtliche Ungleichheit vollkommen abgeschafft worden, und bei uns haben manche Leute jetzt die Einstellung: Okay, schon gut, wir haben’s ja kapiert. Ihr habt doch alles gekriegt, was ihr wollt. Ihr habt es von allen Frauen auf der Welt am besten, also hört auf mit eurer Leier. Anderen Frauen geht es lange nicht so blendend. Also beruhigt euch mal wieder! Auch wenn es total süß ist, wenn ihr euch so aufregt.

SCHNITT

WIE MAN IN EINER POSTFEMINISTISCHEN GESELLSCHAFT ERWACHSEN WIRD

Du bist vierzehn Jahre alt und hast gerade angefangen, als Kellnerin in einem kleinen Restaurant zu arbeiten, einem Familienbetrieb; jedes Familienmitglied packt in der Küche mit an und vertickt nebenbei Drogen. Da es dein erster Job überhaupt ist, glaubst du, alles hier wäre repräsentativ für die Arbeitswelt. Du bist keine Feministin, weil Feministinnen Lesben sind, die Männer hassen, und das tust du nicht. Du magst Jungs lieber als Mädchen; Mädchen sind langweilig und ängstlich und zickig, und du hängst lieber mit den Jungs ab, skatest und machst Quatsch. Die einzigen Mädchen, die du magst, wollen ebenfalls Jungen sein.

Stuart ist der Vater der Familie und Manager des Restaurants. Er ist klein, fett, glatzköpfig und glupschäugig. Als du ihm vorgestellt wirst, grapscht er mit seinen schwitzigen Wurstfingern über die Arbeitsplatte nach deiner Hand und knutscht sich mit seinen dicken, feuchten Lippen deinen Arm hinauf. Du quiekst auf, schreckst zurück, und die anderen Mädchen lachen über dich. Draußen vor der Küche sagt eins der älteren Mädchen, daran gewöhnst du dich.

Du gewöhnst dich tatsächlich daran, und nach einer Weile schaffst du es, dich nicht mehr vor Ekel zu winden, wenn Stuart deinen pubertären Po betatscht, der schön straff ist in den eng anliegenden Schuluniformhosen, die er dich tragen lässt, weil er darauf abfährt, wenn du dich windest. Wenn er sich von hinten an dich ranschleicht, während du im Restaurant hinter der Kassentheke stehst, und dich schmatzend auf den Nacken küsst, sagt keiner der Gäste ein Wort, obwohl sie es gesehen haben müssen.

Du beobachtest, wie ein siebzigjähriger Mann ein Callgirl zum Abendessen ausführt, während Stuart dir über die flaumigen Härchen an der Wölbung an deinem unteren Rücken streicht, und du sagst dir: Die Wölbung an meinem unteren Rücken ist bloß die konkave Krümmung in einer Anordnung von Materie, die den Körper bildet, in dem ich hause. Als deine Mum fragt, wie es auf der Arbeit war, sagst du, ganz gut, denn wenn du ihr davon erzählen würdest, könnte es für dich peinlich werden. Sie würde vielleicht die Polizei rufen oder so. Von den anderen Mädchen hat auch keins etwas gesagt, die Gäste sagen auch nie etwas, was also macht dich so besonders, die Polizei zu rufen? Du bist erwachsen genug, um es zu ignorieren. Es gehört zum Frausein dazu. Als ein neues Mädchen anfängt, Jodie, ärgerst du dich fast, als sie ständig erzählt, dass Stuart sie mag, weil sie hübscher ist als du.

Die Arbeit ist einfach, und du willst sie nicht verlieren, denn dann könntest du Sachen wie ins Kino gehen abschreiben. Wenn du kündigst, musst du dir eine gute Ausrede für Mum einfallen lassen, und dir fällt keine ein. Und du kannst froh sein, dass du diesen Job überhaupt hast, denn sie sagen dir ständig, wie schlecht du ihn machst. Du machst alles falsch, bist langsam und tollpatschig und lächelst nie. Und die anderen Mädchen sagen immer, er ist so nett zu uns, er kümmert sich um uns, er gibt uns Essen umsonst, er ist wie ein Vater.

Du lässt Stuart gewähren, weil es ihn antörnt, wenn du dich wehrst. Als du an einem Tag im Umkleideraum bist, testet er, wie weit er gehen kann, und schiebt seine Finger bis in deine Unterhose, die mit den Entchen drauf. Du erzählst den anderen Mädchen nichts davon, denn sie würden bloß denken, dass du dich für etwas Besonderes hältst. Niemand sonst hat sich beschwert, also sei keine Heulsuse. Als du die Augen schließt, um zu schlafen, siehst du deutlich die Spucke auf seinen dicken Lippen vor dir.

SYMBIOSE AUS ALGEN UND TIEREN

Urlas Mutter heißt Thilda. Ihr Haus steht ganz am Ende von Reykjavík, und man blickt über die Rückseiten aller Gebäude bis zum Meer. Es ist Frühling, und die Bäume und Parks sind sehr grün und das Wasser und der Himmel sehr blau. Die Häuser sind so nah ans Meer gebaut, dass es bei bestimmtem Licht, wenn der Horizont nicht zu sehen ist und die Häfen und Seen mit Himmel gefüllt sind, aussieht, als hocke die Stadt am Rand der Unendlichkeit. Die Sonne geht unter, scheint aber bloß außer Sichtweite zu schlummern, und ich musste mir eine Schlafmaske kaufen, um meinen Körper davon zu überzeugen, dass es Nacht ist. Für isländische Verhältnisse ist es recht warm, aber ich trage draußen immer meine Skijacke.

Die Blárfoss zu verlassen, hätte eine emotionale Angelegenheit werden können, aber da es für die meisten anderen eher eine Unterbrechung der Erfahrung ist als ein Ende – denn die meisten von ihnen werden die Überfahrt noch oft wiederholen, mit leicht veränderter Crew –, war es das nicht. Ich muss lernen, mich nicht emotional an Übergangsorte zu binden, schließlich ist die ganze Reise ein Übergang. Selbst Urla und Kristján haben sich erstaunlich gleichmütig voneinander verabschiedet. Sie sagt, die Blárfoss sei ihre Beziehung, sie hätten vereinbart, sich außerhalb des Frachters nicht zu treffen, bevor sie mit der Uni fertig sind, und sie glaubt nicht, dass ihre Beziehung überhaupt unabhängig davon existieren kann. Ich finde das sehr vernünftig.

Tatsächlich scheint sie in der Lage zu sein, ihre Beziehung mit einer männlichen, objektiven Klarheit zu betrachten, die ich bewundere. Sie macht den Eindruck, als wäre ihr Kristján vollkommen egal; tatsächlich hat sie die meiste Zeit an Bord mit mir verbracht, ist nur nachts zu ihm in ihre gemeinsame Kajüte gegangen. Wenn ich ihnen begegnete, verschwand Kristján jedes Mal unter irgendeinem Vorwand, was für Urla zu einem Running Gag wurde; sie lachte und rief ihm »Tschüss, Kristján« nach. Ich fing an, mich deswegen richtig schlecht zu fühlen, und ließ sie in Ruhe, aber daraufhin kam Urla zu mir.

Sie sagte, sobald sie mit der Uni fertig sei, wolle sie auch so eine Reise machen wie ich, die Reise sei mutig und wichtig. Ich wuchs innerlich vor Stolz, als wäre ich ein bisschen wie sie geworden, weil sie mein Vorhaben gutheißt. Ihre Selbstsicherheit beeindruckt mich, ihre Art zu reden und ihre Körperhaltung. Sie gehörte auf der Schule ganz offensichtlich zu den Mädchen, mit denen jeder befreundet sein wollte – oder die man zumindest nicht zur Feindin haben wollte, nicht ihre Verachtung zu spüren bekommen, von der ich annehme, dass sie schonungslos ist.

Ich blieb in der Schule lieber für mich. An den Wochenenden fuhr ich mit dem Fahrrad an verschiedene Orte, mein Rucksack – das Gegengift zur typisch weiblichen Handtasche – voll mit praktischen Dingen, die ich auch benutzte, wenn es gar nicht unbedingt nötig war, bloß um alles fein säuberlich mit einem Taschenmesser zu schneiden, selbst das, wofür ich meine Zähne hätte benutzen können, die kleinsten Schrammen mit meinem Verbandskasten zu verarzten, meinen Kompass zu benutzen, selbst wenn ich den Weg kannte, nur um das beruhigende Gefühl zu haben, genau zu wissen, wo Norden war. Diese Ordnung und simple Wahrheit verliehen mir das angenehme Gefühl, patent und autonom zu sein wie Thoreau.

Zu einem Ort fuhr ich besonders gern; eine Stunde mit dem Fahrrad entfernt, über den Fluss und über verwaiste Landstraßen bis zu einem Baum oberhalb eines verlassenen Kalksteinbruchs, hinter dem ich mich versteckte. Dort hockte ich mit meinem Fernglas und beobachtete Vögel. Die einzigen Vögel, die ich in der Stadt jemals zu Gesicht bekam, waren gewöhnliche Gartenvögel, wie Meisen, Buchfinken, Spatzen und Bachstelzen, aber draußen beim Steinbruch, außerhalb der Stadt, gab es Vögel, die andere Tiere, andere Vögel jagten, aufregende Raubvögel.

Mit meinem Handbuch der Vogelbestimmung für Großbritannien saß ich stundenlang reglos da, bloß um ihren Anblick, ihre Namen und deren Klang wie Talismane zu sammeln. Zahlreiche Bussarde und Turmfalken zischten auf ihrer Jagdroute dort vorbei, glitten in der warmen Luft dahin, schwebten wie Schnorchler an der Wasseroberfläche auf der Stelle und beobachteten, verdrehten die Hälse wie Periskope, brachten sie vor dem Abtauchen in Position, bündelten alle Bewegung für die finale Aktivität. Oder das aufgeregte Schwirren der Habichte, die sich gelegentlich im Tal hinter dem Steinbruch oder auf der gegenüberliegenden Seite der Schlucht zwischen den Bäumen entlangschlängelten, ein- und wieder auftauchten. Manchmal führten die Habichte einen Balztanz auf, spreizten die Schwanzfedern wie Finger und fielen wie greifende Hände durch die Luft.

Doch worauf ich wirklich wartete, waren die Tage, an denen ich einen oder sogar das Paar der seltenen Wanderfalken zu sehen bekam, die in den Bäumen beim Steinbruch nisteten. Sie erfüllten mich immer mit dem Zauber der Hoffnung, wenn ihre winzigen kämpferischen Körper am Himmel kreisten, so klein vor dem Großen, so dunkel vor dem Blau und so frei. In ihrem Himmelstanz trotzten sie der Tatsache, dass sie in bestimmten Regionen bereits ausgestorben waren.

In der Lage zu sein, den Unterschied zwischen diesen Vögeln anhand ihrer Form und ihrer Bewegungen zu bestimmen, auf sie zu deuten und ihre Namen zu nennen, diente mir immer als Bestätigung für die solide Wahrheit der Natur als ein System, das mittels Taxonomie beschrieben werden kann, und rief mir meinen Platz darin in Erinnerung. Und es wirkte beruhigend auf mich; es zeigte mir, dass diese Dinge nach wie vor existierten, weil ich sie sammeln konnte. Dass es immer noch Orte gab, die ich beobachten konnte, und dass ich Teil einer echteren Ordnung war, außerhalb der abgetrennten Zivilisation.

Ich weiß nicht, ob Urla mir anmerkt, dass ich in der Schule zu den Personen gehört habe, die ihre Mittagspause in einer Toilettenkabine verbrachten, mit angezogenen Beinen, damit niemand mich an den Schuhen erkannte. Meine Eltern können mein plötzliches Unabhängigkeitsstreben und den mangelnden Drang nach Sesshaftigkeit nicht mit dem in Einklang bringen, was sie für meine Natur halten: Introvertiertheit und Fügsamkeit. Mein Selbstvertrauen verwirrt sie, und sie glauben, dass hinter diesem Impuls eine Erkrankung stecken muss; dass ich zu viel über Dinge nachgrüble, zu viel fühle, dass ich keine Nachrichten mehr sehen sollte, wenn sie mich so sehr ängstigen, dass ich alles hinter mir lassen will, was ich offenbar als unabwendbaren Zusammenbruch der modernen Gesellschaft ansehe.

Was sie nicht zu verstehen scheinen: Dieser beschränkte Teil meiner Persönlichkeit ist einer der Gründe dafür, warum ich weggehen will; ich möchte lernen, frei davon zu sein. Ich will mir und allen anderen beweisen, dass Abgeschiedenheit nicht nur Mountain Mans Ding ist, sondern auch meins und nicht automatisch Einsamkeit und Vertreibung bedeutet, bloß weil ich eine Frau bin. Meine Suche nach Abgeschiedenheit ist wohldurchdacht und beabsichtigt und war von Anfang an Bestandteil meines Plans. Ich habe meinen Eltern immer gehorcht, war eine Vorzeigetochter. Mum und Dad haben gesagt, ich solle die Schule zu Ende machen und mich anstrengen, also habe ich es getan. Ich habe mich nie in Ärger verwickeln lassen und immer brav mein Gemüse gegessen (tiefgefroren fürs Erntefrischgefühl).

Schon jetzt spüre ich, dass sich etwas verändert. Ich beobachte Urla, wie die Informationen nur so aus ihr heraussprudeln, und frage mich: Liegt es an diesem Projekt, dass sie mich so wahrnimmt? Bin ich diese Person, wenn auch nur aus einem bestimmten Winkel betrachtet? Verleiht mir die Tatsache, dass ich eine Kamera und einen Plan habe, diese Autorität? Oder liegt es einfach daran, dass ich neunzehn Jahre alt bin, weiblich und allein reise? Vielleicht hat sich Kristján in meiner Gegenwart unwohl gefühlt, weil er so etwas wie Ehrfurcht verspürt hat, so wie für Urla, der er nie widerspricht.

Gestern ist Thilda mit uns zu einer Thermalquelle gefahren. Keine von uns hatte daran gedacht, Badesachen einzupacken, also mussten wir in Unterhose und BH ins Wasser. Aber es war nicht weiter schlimm, weil es geregnet hat und außer ein paar Wanderern niemand vorbeikam, und die waren zu weit weg, um Unterwäsche von Badesachen zu unterscheiden.

»Regen ist der beste Zeitpunkt, um zu den Quellen zu fahren, weil die Touristen lieber trocken bleiben. Aber wir Isländer finden, wenn man von unten nass wird, kann man auch von oben nass werden«, hatte Thilda gesagt.

Sie parkte den Wagen dort, wo das Gelände abseits der Straße nicht mehr schräg abfiel, ein Stück von den Quellen entfernt, deren graues Schillern wir gerade erkennen konnten. Der Himmel hing tief wie das Fell eines traurigen, nassen Schafs, der Regen verwischte alle Umrisse zu einem verschwommenen Aquarell, und der moosbewachsene Erdboden umgab die Felsen und das Wasser, leuchtete im Kontrast. Wir zogen uns die Kleider und Schuhe aus, schlugen die Autotüren zu und liefen lachend und kreischend auf das dampfende Wasser zu. Der Regen peitschte unsere Haut rosa.

Wir ließen uns vornüber ins heiße Wasser fallen, rutschten und ruderten mit den Armen, versuchten so weit wie möglich unterzutauchen, raus aus der Kälte, spuckten, husteten und lachten, während uns das Wasser in den Mund lief. Dann beruhigten wir uns, nur unsere Augen und der Oberkopf ragten noch aus dem Wasser, wir blinzelten uns den Regen von den Wimpern und reckten die Nasen wie Seehunde in die Luft. Thilda erzählte uns eine Geschichte.

»Die berühmte Legende von Erik dem Roten handelt in Wahrheit von einer starken Heldin, einer Skörungur, wie wir sie nennen. Ihr Name war Gudrid, die Weitgereiste, sie war seine Frau und lebte im zehnten Jahrhundert.«

Island ist von Sagen und Mystik durchdrungen, weil die Landschaft mit Leben erfüllt ist, als würde sie ihre eigenen Geschichten erzählen. Gletscher wandern, der Boden bewegt sich, Magma sickert, und Geysire brechen aus dem Blasloch eines buckligen Giganten aus – als wären es Lebewesen, die ihre eigenen Erzählungen in Szene setzen. Die isländischen Sagen wurden von den Elementen geformt, weil die Elemente hier überall präsent sind.

Und die Landschaft ist unberechenbar und grimmig. Die Isländerinnen sind starke Frauen, wie Thilda sagt, weil sie von den Wikingern und Eroberern abstammen und weil sie von den eisigen Meerwinden aufgezogen werden, die sie in die Wangen kneifen, von den heißen Dämpfen der Geysire, die sie abbrühen. Und in einem Land, in dem Feuer und Eis miteinander kämpfen und sich wenig um das scheren, was sie umgibt, müssen alle Menschen stark sein.

In der Landschaft verschmelzen die Elemente miteinander, als könnten sie alles ungehindert durchdringen, als gäbe es keine klar umrissenen Konturen. Du spürst, wie sie in dich einsickern, wie sie durch die Algen im Wasser und den Schlamm zwischen deinen Zehen strömen, als nährten sich alle gegenseitig. Du spürst, wie das Beben des Wassers deinen Körper dazu bringt, ihm umgekehrt alles entgegenzustrecken, jedes Haar ein Tentakel. Halb untergetaucht in der heißen Quelle; drinnen und draußen; halb still und warm, halb kalt und aufgepeitscht; Ohren unter Wasser, Augen draußen; das Prasseln des Regens auf der Oberfläche, das Keuchen der Quelle.

Thildas Geschichte ruft ein Gefühl des Wiedererkennens in mir hervor, der Unvermeidbarkeit und Vervollkommnung, als würde etwas einrasten. Als ob man etwas wiederfindet, wovon man gar nicht wusste, dass man es verloren hatte, bis man es wiederfindet und einem klar wird, dass seine Abwesenheit einen die ganze Zeit gequält hat. Ich erkenne es wieder, weil mir seine Antithese vertraut ist – mein eigenes Zuhause und meine Umgebung. Dort wo ich herkomme, gibt es diese Grenzenlosigkeit nicht. Die Natur, die ich kenne, ist zerstückelt und zerstreut.

Unsere Stichstraße in einer Vorstadtsiedlung, errichtet am Standplatz eines ehemaligen Kraftwerks, das noch bis in die achtziger Jahre in Betrieb war. Alle Häuser sehen gleich aus, mit säuberlich gestutzten, rechteckigen Rasenflächen und Fachwerk im Tudor-Stil, kein Unkraut (dagegen gibt es Sprays), alle Straßen tragen die Namen berühmter Schiffe. Unsere Stadt war eine Industriestadt in den Midlands, direkt am Kanal- und Flussnetz gelegen. Es gab ein Kraftwerk, eine Essigfabrik, eine Zuckerrübenfabrik und mehrere Teppichfabriken; in einer davon hat meine Mutter als Sekretärin gearbeitet, während ich in ihrem Bauch war. Das Kraftwerk wurde mit Kohle betrieben und war veraltet, und die Fabriken wurden nach China verlegt, also wurden sie allesamt abgerissen und an ihrer Stelle die Vorstadtsiedlung und ein riesiger Supermarkt erbaut. Meine Eltern fanden eine halbe Autostunde entfernt Arbeit, Richtung Großstadt, und niemand konnte bei uns in seinem Garten Obst oder Gemüse anbauen, weil das Kohlekraftwerk im Mutterboden Radon hinterlassen hatte.

Die Natur, die ich kenne, ist landwirtschaftlich geprägt, ein Raster aus reglementierten Flächen in Privatbesitz, für die Produktion gebändigt. Manche Menschen finden die englische Landschaft schön, und das ist das Tragische daran.

Denn sie spiegelt wider, wie unser kleines Land erbaut wurde, als ein Haufen reicher Männer das bis dahin gemeinschaftliche Land in Parzellen unterteilte, damit es leichter war, das Feld zu bestellen und die Erträge zu steigern. Unsere gemeinsame Wildnis wurde zu Wirtschaftsgut. Auf einer so kleinen Insel sind die Spuren davon schwer zu übersehen: ein monotones Patchwork aus Rechtecken, durch Hecken abgegrenzt. Besonders in den Midlands, wo es kaum Berge, Sumpfland oder andere Flecken widerspenstig unprofitablen Lands gibt und wo gescheiterte Industrie eine Friedhofslandschaft hinterlassen hat, deren Stümpfe notdürftig mit Vorstadt-Prothesen versorgt wurden.

Der Wanderfalken-Steinbruch war der einzige Ort, den ich kannte, der zumindest den Anschein von Wildnis erweckte, von Reichhaltigkeit und Unbegrenztheit. Es ist eine unsichtbare Art der Armut – die völlige Abwesenheit jener komplexen Natur, in die Urla und ihre Mutter hineingeboren wurden.

Gudrid lebte zur Zeit der großen Langschiffe und wütender See. Sie reiste an den Ort, den wir heute Neufundland nennen, der auch meine erste Anlaufstation in Kanada sein wird. Das war lange vor Christoph Kolumbus’ glücklicher Irrfahrt, und Thilda erklärt stolz, auch wenn die Spanier gern behaupteten, die Legenden wären bloß ausgedacht, wüssten die Isländer, wer das neue Land wirklich entdeckt hat. Gudrid war die erste europäische Mutter in der westlichen Hemisphäre.

Sie bekam einen Sohn, den sie Snorri nannte. Aber ihr Clan war klein, er besaß nicht die Waffen der Spanier und wurde von den Eingeborenen verjagt. Oder von den Wilden, wie Thilda sie nennt.

Sie beendet ihre Geschichte mit den Worten: »Gudrid ist weiter in der Welt herumgekommen als alle ihre Ehemänner, die einer nach dem anderen gestorben sind, und sie hat schon früh in der Geschichte bewiesen, dass ein großer Abenteurer keinen Penis zwischen den Beinen braucht.« Ich blicke zu den hohen Bergen hinauf und denke, dass Gudrid sie personifiziert, so wie die Geysire, die Winde und die bedrohlich aufragenden, ausdauernden Vulkane, den bewegten Boden. Und wie viel von Thilda in Urla steckt – und Gudrid in ihnen beiden. Und dieses ganze Durchdringen hat etwas Weibliches. Wie Empfängnis.

Es ist die raue Zartheit einer Landschaft, die zugleich fruchtbar und feindselig ist. Für mich und für meine Reise nimmt es diese Bedeutung an, und ich quieke unter Wasser in die Blasen, weil ich zum ersten Mal das Gefühl habe, genau zu wissen, warum ich genau jetzt da bin, wo ich bin.

AUF IN DEN WESTEN, JUNGER MANN

Urlas und meine Pläne für Grönland haben sich plötzlich auf großartige Weise weiterentwickelt. Urla und Thilda hatten im Geheimen ausgeheckt, uns auf das Boot von Urlas Onkel einzuschleusen. Er heißt Larus, ist Meeresbiologe und beobachtet Wale. Larus hat ein eigenes Forschungsboot und plant, in der Dänemarkstraße, der Meerenge zwischen Island und Grönland, eine Schule Langflossen-Grindwale zu beobachten. Sie hatten mir nichts davon erzählt, falls es nicht klappen sollte, aber es klappt, und in vier Tagen brechen wir nach Grönland auf.

Eigentlich widerspricht es den Vorschriften, weil höchstens zwei Personen an Bord erlaubt sind, aber Urla hat angedroht, sich als blinder Passagier aufs Boot zu schmuggeln, falls ihr Onkel mich mitnähme und sie nicht. Sie wird mich so lange begleiten, bis sie zurückfahren muss, um ihren Sommerjob anzutreten, also teilen wir uns die Doppelkajüte, und Larus schläft im Ruderhaus auf dem Boden. Danach wird Urla weiter mit mir durch Grönland reisen, bis ich einen Weg gefunden habe, um auf Gudrids Spuren nach Kanada zu kommen. Urla wird in Grönland für mich dolmetschen, und sie hat versprochen, die dänischen Untertitel zu erstellen, wenn ich das Rohmaterial für den Dokumentarfilm nachbearbeite. Die Überfahrt wird fünf Tage dauern, weil ihr Onkel Larus unterwegs seine Forschungen anstellen muss, aber so können wir Wale beobachten und etwas über das Verhalten von Langflossen-Grindwalen lernen.

Mich irritiert, wie leicht Thilda Urla wieder losziehen lässt, um mit einer Fremden quer durch ein unbekanntes Land zu reisen, obwohl sie sich nach langer Zeit gerade erst wiedergesehen hatten. Ich nehme an, dass ihr das Vorhaben sicher erscheint, weil wir vermutlich bei ihrem Onkel unterkommen werden und danach bei Freunden der Familie in Nuuk, sobald wir eine Möglichkeit gefunden haben, an die Westküste zu kommen. Vielleicht ist sie es auch gewohnt, dass Urla kommt und geht, schließlich studiert sie im Ausland und hat wegen der Trennung ihr halbes Leben bei ihrem Vater verbracht. Aber es ist ein heftiger Kontrast zu der Reaktion meiner Eltern.

Warum kannst du nicht wie andere Mädchen in deinem Alter sein, warum suchst du dir nicht in der Stadt einen Job und arbeitest dich hoch, oder wenn du schon weggehst, dann zumindest, um zu studieren und etwas aus dir zu machen?

Was haben wir dir getan, dass du so versessen darauf bist, uns zu verlassen?

Wir werden nicht mehr ruhig schlafen, bis du zurück bist.

Wir werden nie wieder ruhig schlafen.

Ich konnte ihnen nicht verständlich machen, dass es unvermeidlich ist, dass ich das Nest verlasse, denn nur dadurch wird die Geschichte der Welt am Laufen gehalten. Die Kinder verlassen immer irgendwann das Nest. Zumindest die männlichen Nachkommen unserer Spezies. Wäre ich ein Junge, wäre mein Fortgehen persönlichkeitsbildend, ein Initiationsritual. Frauen, die fortgehen, verlassen immer. Man male sich bloß die äußerste Steigerung davon aus – die Mutter, die ihre Kinder und ihren Mann zurücklässt. Unnatürlich! Ungeheuerlich! Und der Mann, der so etwas tut? Ich wette, der sucht sich selbstgefällig eine jüngere Frau und zahlt für seine Kinder nur den Pflichtunterhalt.

Urla muss sich Thilda nicht mühsam entwinden, weil Thilda sie gehen lässt. Die beiden sind unangestrengt miteinander verbunden, durch ihre Eigenheiten, eher wie Schwestern als wie Mutter und Tochter. Mir ist lieber, mein Wesen ist klar umrissen, ich weiß, wo es endet und was meine Eigenschaften sind. Ich habe die Nase meines Vaters, die grünen Augen und dunkelbraunen Haare meiner Mutter. Ich habe seine Sturheit geerbt und ihre Neigung, überempathisch zu reagieren, schnell zu weinen. Aber ich gebe mir auch große Mühe, nicht wie sie zu sein.

Wanderfalke; Buchfink; Ringeltaube.

Feld; Hecke; Fluss.

Mutter; Vater; ich.

GIFTE REGNEN VOM HIMMEL

Larus hat mir Der stumme Frühling von Rachel Carson geschenkt, weil es »eins der wichtigsten Bücher ist, die du je lesen wirst«. Der stumme Frühling ist 1962 erschienen und enthüllte damals, dass verschiedene Chemikalien, die ursprünglich entwickelt worden waren, um in den Weltkriegen Menschen zu töten, als Pestizide eingesetzt wurden und unerwartete Folgen nach sich zogen, wie den Tod von Vögeln und Kindern. Damals in den Sechzigern waren die Leute doppelt sauer auf die Regierung, weil man sie ohnehin schon der Gefahr von Nuklearwaffen aussetzte, die jederzeit ohne Vorwarnung auf sie niedergehen konnten, und ihnen vorgaukelte, sie könnten sich unter einem Schreibtisch in Sicherheit bringen.

Carsons Buch führte dazu, dass der großflächige Einsatz von DDT verboten wurde, und ließ in den USA ein allgemeines Umweltbewusstsein aufkeimen. Die Unterdrückung durch das ambivalente System wurde nicht länger fraglos hingenommen. Frauen konnten Rechte haben, Schwarze konnten Rechte haben, Homosexuelle konnten Rechte haben, Tiere konnten Rechte haben, sogar Gras und Bäume konnten Rechte haben, und wenn man mit Plakaten in einer Menschenmenge auf die Straße ging, konnte man alles erreichen.

Larus verwendet seine selbst erfundenen Sammelbegriffe wie »die aufkeimende Jugend von heute« und »die ignorante Herde« entschieden zu oft. Er ist genau der Typ Mann, wie man sich einen Mann vorstellt, dem das Bienensterben zusetzt. Er redet, als spielte er einen inneren Monolog im Dauerdurchlauf ab, den er in die Welt aussendet, als wäre sein Mund ein Lautsprecher. Ein Blick genügt, und ich denke, dass er bei der Erwähnung von Ölbohrungen in der Arktis in Tränen ausbrechen wird.

Es gibt gewisse Stereotypen über Menschen, denen unser Planet nicht scheißegal ist, und komischerweise besitzen sie im Allgemeinen feminine Züge. Um ein sozial akzeptierter Umweltschützer zu sein, muss man entweder weiblich sein, ein Kind oder ein Exzentriker (was wiederum etwas Weibisches an sich hat, falls man schon ein erwachsener Mann ist). Das liegt vermutlich daran, dass Umweltprobleme als melodramatisch empfunden werden, und Melodramatik gehört in die weibliche Domäne, weil Frauen natürlich von Haus aus hysterisch sind, »mit der Natur im Einklang«, und bei Bildern von Möwen, die in Coladosen feststecken, untermalt von trauriger Klaviermusik, in Tränen ausbrechen. Melodramatisch, weil es dringlichere Themen gibt, wie Terroristen und Faschismus und die drohende Jobkrise durch Roboterarbeitskräfte, wen interessieren da die Bienen. Frauen mögen Tiere nur, weil sie niedlich sind und ihre mütterlichen Instinkte wecken.

Es ist ein Teufelskreis, weil man diese Themen unmöglich ansprechen kann, ohne sich einen ganzen Vortrag anhören zu müssen, der durch unseren angeblichen Hang zur Melodramatik negativ vorbelastet ist. Sich Sorgen um die Umwelt zu machen, ist öde, Greenpeace wird von Panikmachern und verrückten Verschwörungstheoretikern geleitet, und ja, die Bienen sind irgendwohin verschwunden, aber das ist ein langweiliges Mysterium.

Kannst DU nur ein Pfund im Monat spenden? NUR EIN PFUND IM MONAT? Mit einem Pfund könnte man Katzen wie Maurice ein ganzes Jahr lang füttern, ihm einen Unterschlupf für regnerische Nächte und windige Tage bereitstellen und die Liebe kaufen, nach der er sich so sehnt. Maurice hat sein Frauchen und Herrchen geliebt (Einsatz traurige Klaviermusik, Bild von Maurice, der durchnässt in einem Karton am Straßenrand hockt), aber eines Tages haben sie ihn ins Auto gepackt und ihn einfach am Straßenrand zurückgelassen, weil er Flöhe hatte und stank. Wir müssen Tiere wie Maurice beschützen, die kleinen Pelzgeschöpfe, die Gott in unsere Obhut gegeben hat.

Aber Bienen bestäuben so ziemlich alles, was wir essen. Also mal ernsthaft, Larus, wohin sind die Bienen verschwunden?

ICH KOMMUNIZIERE ÜBER SCHALLWELLEN

Wir haben die Schule Langflossen-Grindwale entdeckt. Es sind über hundert, und sie bieten ein unglaubliches Schauspiel, wie ihre Körper geschmeidig und gewölbt wie Luftpolsterfolie aus dem grauen Wasser auftauchen, wie sie Luft aus ihren Blaslöchern pusten, Wasser verspritzen wie Spucke aus einem Luftballon, den man aufbläst und loslässt. Nachdem wir sie zwei Tage lang beobachtet haben, verliere ich langsam die Angst, dass sie sich alle zusammen als ein riesiger Grindwal aus dem Wasser erheben werden, um unser kleines Boot umzukippen. Beruhigt hat mich die Tatsache, dass sie auch mit Delphinen gemeinsam herumschwimmen. Delphine sind Tiere, denen ich vertrauen kann. Zu unserer Schule hier gehört eine Gruppe Atlantischer Weißseitendelphine; Larus erzählt, sie treiben gemeinsam mit den Walen die Beutefische zusammen. Die Delphine sind neugierig auf uns und kommen bis ans Boot herangeschwommen, spielen in dem Schaum, den unsere Schiffsschraube erzeugt. Aus ihren Gesichtern und Geräuschen scheint unbändige Freude über dieses seltsame Ding zu sprechen, das ihr Wasser zerhackt und schaumig macht.

Inzwischen duldet mich der mürrische Larus. Er hatte lamentiert, dass »Leute wie ich« Bali zerstört haben, weil wir uns für spirituell halten und alles mit unseren Yogamatten zupflastern. Seines Erachtens ist das ein psychischer Makel der heutigen Jugend. Als ich wissen wollte, wie viele Kinder er habe, antwortete er, er habe fünf, von drei verschiedenen Frauen, weil das in den sechziger Jahren nun mal so war. Ich habe ihn gefragt, ob die Tatsache, dass Bali so überlaufen ist, nicht bloß das unvermeidliche Ergebnis der Überbevölkerung sei, und angemerkt, dass in den sechziger Jahren schon die gleichen nervigen Yogamatten-Touristen dort waren, nur dass es in den Sechzigern weniger Menschen gab und somit einen geringeren Yogamatten-Andrang, und dass in Wahrheit seine Generation schuld daran ist, weil sie sich so ungehemmt fortgepflanzt hat. Er murmelte irgendein unverständliches Zeug, aber seitdem ist er halbwegs freundlich zu mir.

Zusätzlich zu seinen Forschungen für die Ocean Association betreibt Larus seine eigenen. Der Schwarm Grindwale ist für ihn wegen der Delphine von besonderem Interesse. Er benutzt die Ausrüstung an Bord, um ihre Schallwellen aufzuzeichnen und sie graphisch darzustellen, und wertet die Muster in der Hoffnung aus, dadurch ihre Sprache zu entschlüsseln. Die Diagramme im Ruderhaus beweisen bereits, dass die Delphine sprechen; Larus hat die Rangfolge der unterschiedlichen Lauteinheiten in absteigender Ordnung auf einer horizontalen Achse dargestellt und die relative Häufigkeit, mit der sie auftreten, auf einer vertikalen Achse. Ein Diagramm, das die Übermittlung von Informationen veranschaulicht, resultiert immer in einem Fünfundvierzig-Grad-Winkel, weil alle Sprachen aus Einheiten bestehen, die sich in einem Spektrum von häufig bis selten bewegen. Entsteht dabei kein Fünfundvierzig-Grad-Winkel, sind die Geräusche zufällig und dienen nicht der Kommunikation. Das gilt für jede Sprache, egal ob Isländisch, Englisch oder Delphinisch.

Larus sagt, er kann diese Methode auf jede längere Tonsequenz anwenden. Außerdem beschäftigt er sich mit Geräuschen, die von Satelliten aufgefangen werden, die auf den Weltraum gerichtet sind. Ein amerikanischer Freund von ihm hat sich hinter seinem Haus in der Wüste eine Satellitenschüssel gebaut und wertet gemeinsam mit Larus die Daten aus, weil die einzige von der Regierung finanzierte Satellitenschüssel, die speziell dazu gedient hatte, Signale von Außerirdischen aufzufangen, das Big-Ear-Radioteleskop aus Ohio, 1998 abgerissen wurde, um Platz für einen Golfplatz zu schaffen. Das Radioteleskop war zweiundzwanzig Jahre im Einsatz und fing tatsächlich die Art Signal auf, nach der man Ausschau gehalten hatte. Es schien nordwestlich vom Kugelsternhaufen M 55 im Sternbild Schütze zu kommen und dauerte zweiundsiebzig Sekunden an. Bekannt wurde es als Wow!-Signal, denn genau das hatte Astrophysiker Jerry R. Ehman auf den Computerausdruck geschrieben.

Doch das Signal wiederholte sich nicht, und nachdem man vergeblich versucht hatte, ein weiteres aufzufangen, nahm man schließlich an, dass es bloß Zufall gewesen sei, weil man davon ausging, dass jegliche intelligente Zivilisation ein Signal wiederholt aussenden würde, um die Wahrscheinlichkeit, gehört zu werden, zu erhöhen. 1974 wurde ein dreiminütiges Signal von der Erde zu einem Sternhaufen am Rand der Milchstraße ausgesendet und danach nie wiederholt. Bis eine hypothetische Zivilisation das Signal erhalten und eine Antwort zurückgesendet haben könnte, werden wir uns etwa im Jahr 52000 nach Christus befinden. Die Aufmerksamkeitsspanne eines durchschnittlichen Menschen beträgt zwischen fünf und zwanzig Minuten. Die Männer, die das Signal aussendeten, nannten sich The Order of the Dolphin. Eins der Mitglieder, der Meeresbiologe John C. Lilly, hatte in der Vergangenheit Halluzinogene genommen und war in Delphinbecken gestiegen, um artübergreifende Kommunikation zu erforschen. John Lilly fand heraus, dass Delphine in der Lage sind, menschliche Satzstrukturen zu verstehen. Er brachte ihnen bei, zwischen Kommandos wie Bring the ball to the doll und Bring the doll to the ball zu unterscheiden.

Er sprach über Delphine, als hielte er sie für Menschen. Larus spielte uns die Aufnahme einer Spoken-Word-Dichterin vor, die mir gefiel. Sie stellte sich vor, was ein Wal zu John Lilly sagen würde, wenn er telepathisch mit ihm kommunizieren könnte: Während der Wal in seinem gefliesten Gefängnis im Kreis herumschwamm, fragte er, ob jeder Ozean Wände habe.

Weil es so schwierig ist, eine Nachricht durch tiefen Raum und tiefe Zeit zu übertragen, hält Larus es für möglich, dass Außerirdische vor mehreren Milliarden Jahren auf die Erde gekommen sind und in unserer DNA eine verschlüsselte Botschaft hinterlassen haben, in unseren ungenutzten Genen, die nur faul herumsitzen. Er erzählt, dass manche Entschlüsselungsgeräte nach mathematischen Mustern suchen, weil intelligente Zivilisationen Dinge wie Pi und Primzahlen als sprachübergreifende, universelle Wahrheiten verstehen müssen. Wie Pythagoras sagte: Der ganze Kosmos ist Harmonie und Zahl.

Einige Mitglieder des Order of the Dolphin, wie der Celebrity-Kosmologe und Rollkragenliebhaber Carl Sagan, arbeiteten auch an den Golden Records, den Datenplatten, die zusammen mit der Sonde Voyager 1 in den Weltraum geschickt wurden, die sich mittlerweile außerhalb unseres Sonnensystems befinden könnte und auf dem Weg zu einem anderen. Die Golden Records sind eine Art Zeitkapsel. Sie enthalten Bilder von unterschiedlichsten Kulturen und Lebewesen, Geräusche von unserem Planeten wie Geschrei und Gelächter und Grüße in vielen verschiedenen Sprachen. US-Präsident Jimmy Carter hinterließ den Außerirdischen in der Zeitkapsel eine schriftliche Nachricht:

Dies ist ein Geschenk einer kleinen, weit entfernten Welt, eine Probe unserer Klänge, unserer Wissenschaft, unserer Bilder, unserer Musik, unserer Gedanken und unserer Gefühle. WIR VERSUCHEN, UNSER ZEITALTER ZU ÜBERLEBEN, UM SO BIS IN EURE ZEIT HINEINLEBEN ZU DÜRFEN.

Präsident Carter

Die Zeitkapsel ist Präsident Carters Baby. Mit ihr hat er die Zukunft gedanklich kolonisiert.

DAS DACH IM HIMMEL

Ich habe mich bereit erklärt, Larus zu helfen, während Urla fürs Abendessen angelt, weil ich gern mit ihm zusammensitze und mich über den Weltraum unterhalte. Ich helfe ihm, alle Geräusch-Clips, die er von den Delphinaufnahmen hat, in Kategorien zu ordnen, die ähnlich klingen. Er spielt sie auf dem Computer ab, und wir entscheiden, in welchen der sieben Ordner wir sie ablegen.

Als kleines Mädchen wollte ich Astronautin werden – bis ich dreizehn war und am Berufsfindungstag meinen Eltern und meinem Jahrgangsleiter davon erzählte; sie lachten, als wäre das niedlich, und er wies mir ein Praktikum in einem Paragliding-Zentrum zu, basierend auf der Annahme, dass ich etwas fürs Fliegen übrighätte.

Larus war zum Start der Apollo-11-Mission am Kennedy Space Center. Er war dort, um zu protestieren, stand in einer Reihe, hielt der Startrampe den Rücken zugewandt und reckte ein Schild mit der Aufschrift Derweil in Harlem in die Höhe, doch sobald er das Dröhnen der Antriebsmotoren hörte, drehte er sich um und konnte den Blick nicht mehr abwenden. Irgendwo gibt es ein Foto von den Demonstranten, auf dem er sich umdreht und zur Rakete hinüberstarrt; er hat es nie aus der Zeitung ausgeschnitten, weil er die Glaubwürdigkeit seiner Gruppe untergraben hatte. Er hat es mir im Vertrauen erzählt, und ich musste ihm versprechen, Urla nichts zu verraten, weil sie ihn nie wieder damit in Ruhe lassen würde.

Als Kind hatte ich nicht den geringsten Zweifel daran, dass ich einmal Astronautin werden würde, schließlich hatte meine Mum immer gesagt: Dir steht die ganze Welt offen, und bis zu jenem Berufsfindungstag hatte ich keinen Grund gehabt, ihr nicht zu glauben. Mir war egal, dass die Astronauten in den Zeichentrickfilmen alle Männer waren. Ich glaube, ich habe mich schon immer in der männlichen Rolle gesehen, ohne mir dessen bewusst zu sein. Wenn ich einen Film gesehen oder ein Buch gelesen habe, in dem ein männlicher Held vorkam, habe ich mich vollkommen in ihn hineinversetzt. Nennt mich Ismael. Nennt mich Ralf, nennt mich John McClane. Es ist nicht fair, dass nur Jungs den ganzen Spaß haben dürfen.

Das mit dem Spaß sagte ich zu Mum und Dad, als sie gegen meine Idee protestierten, nach der Schule diese Reise zu machen. Sie brauchten eine Weile, bis ihnen dämmerte, dass ich es ernst meinte und mittlerweile volljährig war, ihre Einwilligung also gar nicht brauchte. Mum sagte: »Dein Vater und ich haben beschlossen, deine Reise nicht finanziell zu unterstützen, weil wir nicht dahinterstehen.« Ich sagte, das sei schon in Ordnung, ich würde die Sache selbst finanzieren. »Was, wenn du an einem unsicheren Ort bist und einen deiner Anfälle bekommst?« (Damit meinte sie meine Neigung, gelegentlich aus unerfindlichen Gründen ohnmächtig zu werden.) Natürlich habe ich ihnen weder von meinem wahren Tundra-Wildnis-Plan erzählt noch vom gesamten Ausmaß meines »Survival«-Experiments, das wäre unnötig grausam gewesen, wo ich doch weiß, was sie für Ängste ausstehen würden.

Als Amerika eine Rakete zum Mond schoss, war die sexuelle Revolution bereits in vollem Gang, es aber für eine kosmische noch zu früh. Larus hat mir von einem unabhängigen Programm namens Mercury 13 erzählt (über das er gewillt war, vor der Kamera zu sprechen). Dabei durchliefen erfahrene Pilotinnen den gleichen Test, den die NASA bei ihren Astronauten durchführt – das Mercury-7