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So große Träume.
So viel zu verlieren...
***Mit Farbschnitt in limitierter Erstauflage (Lieferung je nach Verfügbarkeit)***
Sienna hätte nie gedacht, dass sich Liebe so anfühlen kann –wie der erste tiefe Atemzug nach einem langen Sturm.Endlich ist sie angekommen: an der Uni, in Glasgow und anAlicks Seite. Vor ihnen liegt ein unbeschwerter Sommer. Doch einVorfall im Jugendclub, in dem Alick sich ehrenamtlich engagiert,bringt plötzlich alles ins Wanken, was sie sich gerade erstaufgebaut haben. Denn eine Begegnung konfrontiert Alick mitseiner Vergangenheit und stellt ihn vor eine lebensveränderndeEntscheidung. Sienna will für ihn da sein. Aber als ihre beste FreundinHailey zum Semesteranfang nicht aus den Highlands an die Unizurückkehrt, steht Sienna plötzlich selbst vor der Frage:Holt uns die Vergangenheit so lange ein, bis wir denMut finden, ihr entgegenzutreten?
Die gefühlvolle Fortsetzung der bittersüßenRescue-Romance »Will You Hold My Hand«
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Seitenzahl: 544
Veröffentlichungsjahr: 2025
Zum Buch
Nach einem turbulenten aber auch heilsamen Jahr an der Uni Glasgow, in dem Sienna nicht nur neue Freunde, sondern auch die Liebe zu Alick gefunden hat, liegt der erste gemeinsame Sommer vor ihnen. Am glitzernden Loch Lomond bei Alicks wohlhabender und warmherziger Adoptivfamilie erwarten sie unbeschwerte Tage. Konzerte unter bunten Lichterhimmeln, Clangeschichten am Lagerfeuer und die traditionelle Ruderregatta, die einen Überraschungsgast auf den Plan ruft. Doch eine schockierende Nachricht aus dem Stadtviertel, in dem Alick sich für traumatisierte Kinder engagiert, durchbricht den rosaroten Sommer und stellt Alick vor eine Entscheidung, die sein Leben für immer verändern könnte. Wird Sienna an seiner Seite bleiben – kompromisslos? Oder wird sie von ihrer eigenen Vergangenheit überwältigt? Denn zu Beginn des neuen Semesters kehrt ihre beste Freundin Hailey plötzlich nicht aus der gemeinsamen Heimat in den Highlands zurück …
Zur Autorin
Saskia Hirschberg ist SPIEGEL-Bestseller-Autorin und veröffentlicht Romane, unterhaltende Sachbücher und Ratgeber bei großen Publikumsverlagen. Als Co-Autorin und Ghostwriterin schreibt sie außerdem für zahlreiche Persönlichkeiten und schlüpft dabei in unterschiedlichste Rollen und Genres. Ihre riesige Leidenschaft für Poesie teilt sie auf Instagram mitTausenden Followern.
Instagram: @saskiahirschberg.autorin
Saskia Hirschberg
Will You Heal My Heart
GU | reverie
Originalausgabe
© 2025GU bei reverie in der
Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH
Valentinskamp 24 · 20354 Hamburg
Covergestaltung: ki36 Editorial Design, München, Anika Neudert
Covermotiv: Creative Market
E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN9783745705461
reverie-verlag.de
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Ich glaube, dass von diesen Momenten immer etwas an uns hängen bleibt.
Von den Momenten, in denen wir Todesangst verspüren.
Von den Worten, die uns herabstufen.
Uns verletzen.
Unsere Seele merkt sie sich.
Liebe Leser:innen,
herzlich willkommen zurück in Glasgow – wo rote Sandsteintürme in den graublauen Himmel ragen und sich eine Geschichte fortsetzt, die euch bereits verzaubert hat.
Allen, die neu in diese Welt eintauchen, empfehle ich, zunächst »Will you hold my Hand« zu lesen, um mitzuerleben, wie Sienna und Alick einander begegnen, warum Butterkaramellen heilsam schmecken und was es mit jenem großen Regen auf sich hat, der Sienna überhaupt erst in die lebendige Stadt am Ufer des Clyde führte.
Außerdem möchte ich euch sensibel darauf hinweisen, dass dieses Buch Themen berührt, die für manche von euch belastend sein könnten. Die Triggerwarnung auf Seite 396 bietet einen Überblick – aber Vorsicht: Dort warten auch Spoiler!
Mit besonders viel Liebe für Sienna und Alick hat auch dieses Mal meine wundervolle Kollegin Pia Kabitzsch – Psychologin, Bestsellerautorin und Gründerin des Happy Dating Club – alle psychologischen Aspekte der Geschichte aufmerksam geprüft. Danke, liebste Pia, dass du »Will you heal my Heart« in dein Herz gelassen hast.
Nun wünsche ich euch wunderbare Lesestunden und viel Freude beim großen Wiedersehen mit Sienna und Alick. Passt gut auf euch auf – und vergesst nicht: Manchmal beginnt ein Neuanfang genau dort, wo Sonne, Regen und Erinnerungen aufeinandertreffen.
Eure Saskia
It’s Thunder and It’s Lightening – We Were Promised Jetpacks
Quiet Little Voices – We Were Promised Jetpacks
Healing – Fletcher
Demons – Imagine Dragons
Believer – Imagine Dragons
Bad Liar – Imagine Dragons
Eyes Closed – Imagine Dragons
Delicate – Taylor Swift
A Question Of You – Inhaler
You Killed The Morning – Inhaler
Half-Hearted – B.Heights (aus Say it with a Love Song von Katharina Katz)
Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Ich spüre das Klopfen meines Pulses in meinen Ohren. Mr. Millers Aktentasche riecht nach Leder. Eine Schnalle klemmt, und ich quetsche mir die Haut am Zeigefinger ein. Ein Tropfen Blut quillt hervor. Auf dem Flur höre ich Schritte. Vor lauter Angst, dass mich jemand erwischt, halte ich die Luft an. Wenn mich jemand sieht, bin ich geliefert! Dann flieg ich raus! Dieses Mal ganz sicher. Ich krieche noch weiter unters Pult. Mache keinen Mucks. Kommen die Schritte näher? Kommen sie ins Klassenzimmer, oder gehen sie vorbei? Bitte, Gott, lass sie weitergehen! Das hier ist der einzige Ort, an dem alles normal läuft. Und wenn ich jetzt von der Schule fliege, dann …
»Mr. Hogg!«
Ich schrecke im Bett hoch. In meinem Bett.
Mr. Hogg, echot es in meinen Gedanken, und ein Schauer läuft über meinen Rücken. Es ist lange her, dass ich diesen Namen gehört habe. Und es ist komisch. An ihm hängen viele hässliche Erinnerungen, aber ich fühle mich nicht mehr angesprochen. Sein Klang ist mir nicht mehr vertraut. Ich heiße Forbes. Alick Forbes.
Wo eben noch Millers zornrotes Gesicht war, taucht nun Siennas vor mir auf. Ihre weichen, liebevollen Züge. Die langen Haare vom Schlaf zerwühlt, haucht sie mir einen Kuss auf meine nackte Schulter.
»Hast du schon wieder schlecht geträumt?« Ihre Stimme ist ein süßer Kontrast zu der bitteren Erinnerung, die mich bis gerade eben noch verfolgt hat.
»Muss der Ferienmodus sein«, brumme ich unzufrieden und sinke wieder ins Kissen.
»Oder die Kids.« Sienna wirft mir einen vielsagenden Blick zu und zieht die Bettdecke bis an ihr Kinn, als wollte sie vor meiner Reaktion in Deckung gehen.
»Hör auf, so zu gucken.« Vorsichtig ziehe ich die Bettdecke wieder von ihrem Gesicht. »Es gibt keinen Grund, so zu schauen.« Ich bemühe mich um einen unbekümmerten Tonfall.
»Bist du sicher?«
»Jap.«
»Wirklich?«
»Ja, doch!« Dann schiebe ich mich ein Stück näher an sie heran und lege meine Lippen auf ihre. »Guten Morgen, Cinna-Bun.«
»Guten Morgen.« Jetzt lächelt sie. Endlich.
»Heute fangen ganz offiziell die Ferien an«, flüstere ich. »Das heißt, du hast jetzt schon zwei Semester hier geschafft.«
Ihr Lächeln wird breiter.
»Und du hast zwei Semester mit mir geschafft!« Sie zwinkert und rückt ebenfalls dichter an mich heran. »Fast ein Jahr.«
»War das beste Fast-ein-Jahr meines Lebens«, sage ich grinsend, rolle mich über sie und ziehe die Decke über uns beide, bis wir in unserem kleinen, geschlossenen Kokon verschwinden.
»Ja?«, fragt sie, und ihre Augen strahlen.
»Mhm.« Ich hauche einen Kuss auf ihre Nasenspitze. Dann wieder auf ihre Lippen. Zärtlich küsst sie mich zurück. Ich mag, wie ihre Haut morgens riecht und wie warm und verschlafen sie sich unter mir anfühlt.
»Wieso verbringen wir die Ferien nicht einfach im Bett?«, raune ich, und wenn ich an den bevorstehenden Tag denke, erscheint mir diese Option plötzlich noch verlockender.
Okay, der heutige Tag ist wichtig, und ja, ich hab mir das alles selbst ausgesucht. Trotzdem kostet es mich Überwindung, und ich mache es nur, weil ich das große Ganze im Blick habe.
Doch jetzt gerade habe ich viel lieber Sienna im Blick.
Sorgsam streiche ich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und küsse ihre Schläfe. Dann einen Zentimeter darunter. Und noch einen. Ihre Wange hinab, bis zu der zarten, warmen Stelle hinterm Ohr, an der sie so kitzelig ist.
Sie kichert leise, ein wohliger Seufzer dringt durch ihre Kehle, und sie lässt ihre Fingerspitzen durch meine Haare wandern. Ihr Zeigefinger zwirbelt dabei eine meiner Haarsträhnen. Es ist immer dieselbe. So fühlt es sich zumindest an, und ich frage mich, wie sie sie jedes Mal aufs Neue wiederfindet.
»Also, ich wäre dafür, die Semesterferien hier mit dir im Bett zu verbringen«, flüstert sie an meine Lippen. »Wir schließen die Tür ab und tun so, als hätten wir uns in Luft aufgelöst. Der Sommerkurs kann mich mal und alles andere auch.«
Alles andere. Ich weiß, was sie damit meint. Aber ich sage nichts.
Nicht jetzt.
Stattdessen krieche ich ein Stück tiefer unter die Decke, bis ich mit meinen Lippen ihren Bauch erreiche. Ihr Schlaf-T-Shirt ist hochgerutscht, und ich küsse ihren Nabel. Ihr Bauch zuckt. Ein Reflex, weil sie an dieser Stelle auch kitzelig ist.
Mittlerweile kenne ich jeden Millimeter ihres Körpers. Ich weiß, wo sie besonders empfindsam ist und wo sie am allerliebsten geküsst wird.
Bei dem Gedanken wandern meine Lippen zärtlich ihren Bauch hinauf. Mit meiner Nase schiebe ich ihr T-Shirt weiter und weiter nach oben, über die sanfte Kuhle, an der die Rippen zusammentreffen, hinweg, bis zu der zarten Stelle zwischen ihren Brüsten. Nicht ganz in der Mitte, sondern eigentlich ein bisschen mehr auf der linken Seite, platziere ich einen Kuss auf zwei tätowierte Spiralen. Die gleichen, die ich auch habe. Genau über ihrem Herzen.
Sie sind nicht wesentlich größer als zwei Leberflecke. Aber in ihrer Bedeutung sind sie für mich riesig. Nicht bloß, weil Sienna so gar nicht auf Nadeln steht und es sie tierisch Überwindung gekostet hat, sich bei Tāmati unter den Meißel zu legen. Ewan Tāmati McKinnon sticht noch traditionell. Mit einzelnen Schlägen von Hand, nicht mit einer elektrischen Nadel. Eigentlich fühlt sich das sogar sanfter an, weil er es gut kann. Allerdings sieht es irgendwie bestialisch aus, und so war Sienna erst einmal wieder aus dem Studio in Merchant City hinausgerannt, kaum dass sie Tāmatis Equipment gesehen hatte.
»Bist du wieder eingeschlafen?«, fragt sie jetzt mit einem Schmunzeln in der Stimme, weil ich offenbar einen Moment zu lange an derselben Stelle verharre.
»Der Tag, an dem ich mit dem Gesicht zwischen deinen Brüsten einschlafe, wird niemals kommen«, antworte ich und bahne mir meinen Weg weiter in Richtung einer dieser beiden Schönheiten, da klingelt Siennas Handy irgendwo unter dem Bett.
»Vergiss nicht, dass wir uns in Luft aufgelöst haben«, erinnere ich sie, bevor sie anfangen kann, nach dem Teil zu suchen.
»Das ist garantiert Hailey. Sie wollte sich heute früh melden.«
Aber ich mache keine Anstalten, mich von ihr herunterzurollen.
Lachend und ächzend gleichzeitig versucht sie, mich von sich zu stemmen. »Hailey hat nur noch heute Vormittag Zeit für die Anprobe, und wenn ich die verpasse, werde ich kein Kleid haben …«
»Dafür hätte ich dich genau da, wo ich dich haben will«, sage ich zufrieden. »In meinem Bett, in meinem T-Shirt, das mit einem Handgriff …« Ich schnappe mir den Saum des Stoffes und will ihn ihr gerade über den Kopf ziehen, als es Sienna doch gelingt, unter meinen Armen durchzutauchen. Sie rutscht von der Matratze.
»Sorry, aber das ist wichtig! Der ganze Tag ist wichtig, also raus mit dir!« Sie zieht mir die Bettdecke weg, und ich schnappe dabei erneut nach ihrem Arm, greife aber ins Leere.
»Nur fünf Minuten«, bettele ich. »Oder zehn. Komm wieder ins Bett.«
Ich kann ihr ansehen, dass sie für eine Sekunde schwach zu werden scheint, aber dann besinnt sie sich wieder.
»Wenn wir unsere Laufrunde vorher noch schaffen wollen, dann wird’s Zeit, und außerdem steht Hunter wahrscheinlich schon mit überkreuzten Beinen an der Wohnungstür.« Sie lacht und verschwindet durch die Verbindungstür ins Badezimmer.
Einen Moment sehe ich ihr noch nach, dann lasse ich mein Gesicht resigniert ins Kopfkissen sinken und versuche, die morgendliche Energie zu ignorieren, die sich zwischen meinen Beinen anstaut. Im Kopf gehe ich noch mal alles durch, woran ich heute denken muss.
Schließlich schwinge ich mich ebenfalls aus dem Bett und schlüpfe durch die angelehnte Tür ins Badezimmer, wo Sienna gerade ihre Zähne putzt.
»Für dich ist es wirklich okay, wenn ich mit dem Motorrad vorfahre?«
Im Spiegel beobachte ich ihre konzentrierte Mimik, die grünbraunen Augen, die die Bewegung der Zahnbürste verfolgen.
»Wenn du das brauchst, um deinen Kopf frei zu kriegen, dann muss es wohl okay für mich sein, oder?« Sie beugt sich über das Waschbecken, um ihren Mund auszuspülen, und nuschelt undeutlich: »Ich fahr mit Jes, und du passt auf dich auf, ja?«
Alick
Sienna steht an der kleinen Treppe neben der Bühne und streckt mir ihre gedrückten Daumen entgegen. Toi, toi, toi, formen ihre Lippen die tonlosen Worte. Sie trägt ein Kleid in Dunkelviolett und sieht umwerfend darin aus.
Ich räuspere mich kaum hörbar und lockere meine Krawatte unwesentlich. So langsam bahnt sich die Aufregung ihren Weg durch meinen Körper. Aber ich lasse nicht zu, dass sie zu groß wird. Das hier ist wichtig und das Einzige, was jetzt gerade zählt.
Meine Blicke scannen das Publikum. Isobel und Colin stehen ganz vorn im Saal. Colin nickt mir zu, und Isobel schickt mir einen Handkuss. Ihr Lachen ist das einer Mutter, die ihren Sohn unterstützt. Zumindest solange sie mich ansieht, danach verwandelt es sich wieder in ihr Charity-Lächeln.
Ich durchforste weiter die Menge. Alle da, die Rang und Namen haben. Und Geld. Vor allem Geld. Am hinteren Ausgang, an der deckenhohen Flügeltür, steht Liv und betreut die Spendenbox. Sie lässt ihre geballte Faust in die Höhe fahren, als wollte sie damit sagen: Du packst das.
Jes kommt gerade zu ihr, und sie begrüßen sich.
Nach und nach werden die Stimmen im Saal leiser. Die Gespräche werden eingestellt, und mehr und mehr Augenpaare richten sich erwartungsvoll auf mich.
Isobel gibt mir schließlich ein Zeichen, anzufangen.
Ich atme tief ein. »Sehr verehr…«, quietscht meine Stimme unangenehm durchs Mikrofon, und ich trete reflexartig einen Schritt zurück. Mein Blick sucht den Soundtechniker.
Als er mir zwei Sekunden später einen Daumen hoch gibt, starte ich erneut: »Sehr verehrte Gäste.« Diesmal ist der Ton klar. »Ich begrüße Sie zum ersten Charity-Event zur Unterstützung des G20-Projekts. Eines kann ich Ihnen jetzt schon versprechen: Sie werden sich am Ende dieser Veranstaltung besser fühlen als Ihre Ohren gerade.« Leises, amüsiertes Lachen huscht durch den Saal, und die heitere Stimmung der Leute bringt mich nun ebenfalls zum Lächeln.
Einen Moment warte ich, bis wieder Stille einkehrt. »Herzlichen Dank, dass Sie sich auf den Weg zu uns gemacht haben, obwohl ausnahmsweise nicht die bezaubernde Herrin dieses Hauses geladen hat.« Ich zeige auf Isobel, und sie blickt einmal höflich rundherum ins Publikum. »Heute müssen Sie sich leider mit mir zufriedengeben.«
»Untertreiber!«, ruft Liv rein, aber tut so, als wäre sie es nicht gewesen.
Jetzt lachen die Leute ihretwegen, und auch mich kitzelt ein Schmunzeln in den Mundwinkeln. Dadurch überkommt mich ein Gedanke: Vielleicht sollte ich die Rede kicken, die ich geschrieben habe, und stattdessen …
Ich räuspere mich, um den Moment des Zögerns zu überbrücken, dann beginne ich, unsicher, ob meine Entscheidung die richtige ist: »Eigentlich hatte ich diese Ansprache genau geplant – ohne Tonprobleme und Zwischenrufe von den billigen Plätzen.« Ich zwinkere Liv zu, und das Publikum lacht erneut. »Ich habe Unmengen an Zahlen und Fakten für Sie vorbereitet, die Sie davon überzeugen sollen, Ihre Spendengelder an der richtigen Stelle einzubringen. Oder sagen wir, an einer der vielen richtigen und wichtigen.« Ich erhebe einen Zeigefinger. »Verstehen Sie mich nicht falsch, auch wenn ich meine geplante Rede über Bord werfe, Ihr Geld will ich trotzdem.« Amüsierte Gesichter sehen mich an. »Doch wissen Sie, was mir gerade klar geworden ist? Während wir hier so nett zusammen lachen? Dass es nicht die Zahlen sind, die uns erreichen. Sondern die Menschen. Und die Gefühle, die uns verbinden.«
Zustimmend nicken die Köpfe im Publikum, und ich atme noch mal tief durch. »Ich hoffe, Sie sind bereit für eine sehr persönliche Geschichte. Ich bin ehrlich, ich weiß nicht, ob ich es bin …«
»Nur zu, Junge!«, ruft ein Herr aus voller Brust, und die ältere Dame neben ihm fasst sich beherzt an ihr mit üppigen Diamanten geschmücktes Dekolleté.
»Wir beißen nicht, Sweetheart!«
»Na gut, also …« Ich ringe mir ein tapferes Lächeln ab. »Heute Nacht … da hatte ich einen Traum.« Automatisch treffen meine Blicke Siennas.
Sie sieht mich mit diesem Ausdruck im Gesicht an, den sie schon heute Morgen im Bett hatte, und schnell widme ich meine Aufmerksamkeit wieder dem Publikum.
»Eigentlich handelt es sich vielmehr um eine Erinnerung, die im Schlaf ihren Weg zu mir zurückgefunden hat, und ich denke, diese Geschichte erklärt besser als jede PowerPoint-Präsentation, worum es mir heute und hier geht.«
Die Erwartungshaltung im Saal steigert sich zunehmend, und bevor mein Körper noch mehr unnützes Adrenalin produziert, sage ich es geradeheraus: »Als ich ungefähr sechs oder sieben Jahre alt war, wurde ich beim Klauen in der Schule erwischt. Ich hatte Geld aus der Tasche meines Lehrers gestohlen.«
Ein undefinierbares Raunen geht durch die Reihen. »Ja, ich schiebe es auch gern auf diese Aktion, dass der alte Miller mich in zwei Fächern hat durchfallen lassen …«
Schon huscht wieder ein leises Schmunzeln durch die Menge. Doch es erstirbt, sobald ich fortfahre: »Mister Miller zog mich an meinem Kragen unter seinem Pult hervor, wo ich mich versteckt hatte, während die anderen Kinder auf dem Pausenhof spielten oder auf dem Gang Brote tauschten. Er zerrte mich über den Schulflur zum Büro des Direktors, sodass es alle sehen konnten. Wochenlang, nein, monatelang, beschimpften mich meine Mitschüler als Dieb. Niemand aus meiner Klasse vertraute mir mehr. Das konnte ich regelrecht spüren. Keiner ließ seinen Bücherranzen oder den Sportbeutel mit mir allein im selben Raum zurück. Jedes Mal bekam ich einen prüfenden Blick zugeworfen, wenn ich ein bisschen langsamer zusammenpackte und länger in der Klasse brauchte, bevor ich in die Pause ging. Alle waren enttäuscht von mir. Angewidert. Schockiert, dass ein Kind aus ihrer Klasse klaute. Und ich konnte es verstehen. Natürlich wusste ich als Kind schon, dass Diebstahl kein tolerierbares Verhalten ist. Dass es gegen das Gesetz verstößt, zu stehlen. Ich schämte mich unendlich.« Meine Blicke treffen Isobels. Ich habe sie selten ernster gesehen. Sie kennt diese Geschichte und doch hört sie mir zu wie beim ersten Mal.
»Ich war also ungefähr sieben Jahre alt«, wiederhole ich und sehe nun wieder das Publikum an. »Und hatte Angst, man würde mich ins Gefängnis stecken. Mit echten, gefährlichen Verbrechern. Sogar der Direktor hatte mir mit der Polizei gedroht, bevor er mich für zwei Wochen vom Unterricht ausschloss. Zwei Wochen nicht in die Schule gehen. Zwei Wochen zu Hause festgesetzt sein – für manche mag das wie der Jackpot klingen, aber für mich war das schlimmer als jede Gefängnisstrafe. Denn mein Zuhause, mein früheres Zuhause …«, korrigiere ich mich, »… war kein besonders behüteter Ort. In der Schule gab es Lehrer, die nach uns sahen, die mit uns redeten. Es gab die Pausen zum Spielen und Toben und mittags in der Cafeteria etwas Warmes zu essen – sofern man eben Geld dafür hatte«, betone ich demonstrativ. »Im Winter war es nie kalt im Schulhaus, weil die Heizung immer funktionierte. Ebenso wie der Strom und das warme Wasser.« Ich mache eine kurze Pause. »Und warum funktioniert all das? Weil die Regierung, die Stadtverwaltung und kommunale Förderprogramme finanzielle Mittel für all diese Dinge bereitstellen, die für die meisten Leute in ihren vier Wänden selbstverständlich sind. Die für jeden von Ihnen selbstverständlich sind.« Ich blicke einige Personen aus den ersten Reihen stellvertretend für alle an.
»Für uns Menschen aus der westlichen Welt gehören all diese Dinge in der Regel zur Sicherung unserer Grundbedürfnisse. Wenn wir an Menschen denken, für die Elektrizität, warmes und regelmäßiges Essen, Bildung und so weiter nicht selbstverständlich sind, dann denken wir zuerst an Kinder und Jugendliche, Frauen und Männer aus Entwicklungsländern – überwiegend irgendwo auf der anderen Seite des Äquators. Ja, es ist wichtig, dass wir an diese Menschen denken, und wir alle, die wir hier heute anwesend sind, investieren Herzblut, Zeit und Geld in die unterschiedlichsten Projekte, die dazu beitragen sollen, die Welt unterhalb des Äquators ein bisschen besser zu machen. Sie wissen, wie sehr meine Familie und ich Ihre Großzügigkeit schätzen, mit der Sie unsere gemeinnützige Arbeit schon seit Jahren unterstützen. Doch jeder von Ihnen, der mich ein bisschen besser kennt, weiß auch, dass es mir ein besonderes Anliegen ist, die Aufmerksamkeit zusätzlich auf die Menschen vor unserer Haustür zu richten, wo ich mich gegen Obdachlosigkeit einsetze, gegen Gentrifizierung, gegen Slumbildung, gegen Machtmissbrauch. Und welche Personengruppe ist besonders vom Machtmissbrauch betroffen?« Ich schaue fragend in die Runde. »Kinder. Die Kinder sind es, die allen erdenklichen Schicksalen machtlos ausgeliefert sind. Und eines dieser Kinder war ich, bevor Isobel und Colin mich bei sich aufgenommen haben.«
Über Isobels Gesicht kullert nun eine Träne, doch sie wischt sie nicht weg. Sie sieht mich einfach nur an, und ich spüre ihre Liebe wie ein unsichtbares Band. Colin greift ihre Hand.
»Sie alle hier wissen, dass ich von diesen beiden großzügigen Menschen adoptiert wurde.« Ich mache eine Geste in die Richtung der beiden. »Wir reden selten darüber, weil es für uns einfach Gewohnheit geworden ist, dass ich zu dieser Familie gehöre.« Mein Blick fliegt jetzt auch zu Jes, und er nickt kaum merklich. »Aber es gibt Momente, und diese häufen sich, seit ich im Kinder– und Jugendprojekt G20 arbeite, da erinnere ich mich wieder mehr an mein Leben davor – bevor ich hier war. Bevor es normal wurde, dass jemand nach der Schule mit mir sprach und Abendbrot auf den Tisch brachte. Bevor es normal wurde, dass es warm im Haus war und der Strom funktionierte. Bevor es normal wurde, dass Erwachsene die Verantwortung dafür übernahmen, dass Rechnungen gezahlt wurden und Essen im Haus war – und ein siebenjähriger Junge nicht aus Verzweiflung Geld klauen musste, damit er seine Grundbedürfnisse sichern konnte.«
Erschütterte Gesichter blicken mich aus dem Publikum an. Mitfühlende Mienen. Gesichter, in denen Wut auf meine leiblichen Eltern aufsteigt, weil sie mich im Stich gelassen haben, auf meine Mutter, auf die Gesellschaft. Wut, die ich nur zu gut kenne. Mitleid, das ich nur zu gut kenne.
»Alles, was Sie gerade empfinden, sind die Gefühle, die mich antreiben, G20 zu einem Safe Space für die Kinder aus dem Postleitzahlengebiet G20 zu machen, das Maryhill und die umliegenden Viertel in Glasgow umfasst. In unserem Club finden die Kinder und Jugendlichen Ansprechpartner, denen sie sich mitteilen können. Dort finden sie Leute, die ihnen in schulischen Fragen unter die Arme greifen, oder wenn es darum geht, einen Ausbildungsplatz zu finden. Vor allem aber soll unser Treff ein Ort sein, an dem die Kids aufatmen können. Wo sie nicht permanent in Alarmbereitschaft sein müssen. Wo sie sich mit alterstypischen Dingen beschäftigen können, wie Sport oder kreativen Hobbys. Wo sie spielen oder einfach mit Freunden Zeit verbringen können.« Erneut bleibt mein Blick bei Isobel hängen. Ich kann ihr Kämpferherz förmlich durch ihre Brust schlagen sehen, und ich glaube, auch Colin strafft die Schultern gerade noch ein bisschen mehr als sonst.
»Und bevor die ersten von Ihnen sich jetzt gleich heimlich wegschleichen, weil Sie denken, der hört ja gar nicht mehr auf, mache ich an dieser Stelle einen Punkt und bedanke mich ganz herzlich für Ihre Aufmerksamkeit. Ich bin mir sicher, dass Sie sich wieder äußerst großzügig zeigen werden. Allein schon deshalb, weil hier sowieso niemand von Ihnen rauskommt, ohne einen dicken Scheck bei der wundervollen Olivia Fraser abzugeben.« Mit einer Handbewegung verweise ich auf die Tür, in der Liv sich demonstrativ aufbaut. In ihrem eleganten schwarzen Kleid macht sie sich im Türrahmen breit und tut so, als würde sie niemanden vorbeilassen.
Ich lächele sie an, und sie zwinkert mir zu.
Schallender Applaus erfüllt den Raum.
»Whoohoo!«, jubelt Liv und wirft ihre Arme zum Klatschen in die Luft.
Irgendwo aus der Mitte ertönen begeisterte Pfiffe.
Es dauert einen Moment zu lang, bis der Beifall verebbt, und ich weiß gar nicht, wo ich die ganze Zeit hinschauen soll. Die meiste Zeit fliegen meine Blicke deshalb zu Sienna. Sie formt mit beiden Händen ein Herz und sieht sehr gerührt aus. Und stolz.
Ich beobachte, wie die ersten Leute jetzt allmählich ihre Scheckhefte zücken und sich langsam im Raum zerstreuen. Jeder von ihnen sucht das Gespräch mit Bekannten und Freunden.
An der Treppe neben der Bühne nimmt Sienna mich in Empfang.
»Du warst toll.« Ihr Lachen ist überdimensional, und sie reckt sich mir für einen Kuss entgegen.
Der Stoff ihres Kleides ist seidenweich unter meinen Händen und jetzt, da ich mich für einen Moment unbeobachtet fühle, entweicht ein tiefer Atemzug aus meinem Brustkorb und nimmt die Anspannung mit sich.
»Danke, dass du da bist«, raune ich leise.
»Ich will nirgends anders sein«, antwortet sie mit einem liebevollen Ausdruck in ihren Augen und tritt einen Schritt beiseite, weil Isobel und Colin neben uns auftauchen.
»Ich bin so stolz auf dich, Darling.« Isobels Augen füllen sich schon wieder mit einem zarten Tränenfilm, den sie aber dieses Mal gekonnt weglächelt.
»Gut gemacht, Junge!« Colin legt eine Hand auf meine Schulter, und ich glaube, er will gerade noch etwas sagen, da nimmt Mrs. McLaren bereits Kurs auf uns.
»Deine Ansprache war grandios, Alick!«, flötet sie schon von Weitem. »Wirklich herzzerreißend!« Sie berührt Isobel am Arm, als sie uns erreicht. »Sind die Kinder nicht bezaubernd? Das schönste Paar im Saal.«
Isobel lächelt zustimmend, während sich Mrs. McLaren an Sienna wendet: »Deine Haare sehen toll aus, Liebes!«
Verlegen zupft Sienna an ihren Haarspitzen. »Naturwellen.«
»Kindchen, was würde ich dafür geben, noch mal so jung und natürlich schön zu sein!« Mit beiden Händen drückt Mrs. McLaren ihre silberne Dauerwelle zurecht, die von einer monströsen, mit Diamanten besetzten Spange zusammengehalten wird. »Oh, da vorn sind Victoria und Reginald.« Ihr Blick fliegt zu den Carmichaels. »Ihr entschuldigt mich?«
»Selbstverständlich«, antworten wir alle im Chor, und während Isobel und Colin schon in der nächsten Sekunde von Gordon Sinclair, von Sinclair Luxuries, in Beschlag genommen werden, sehe ich die Campbell-Zwillinge auf uns zusteuern.
»Cairstine. Blair«, begrüße ich die beiden, und Sienna nickt höflich.
»Nices Kleid!« Die Zwillinge betrachten Sienna von oben bis unten. »Ist das Versace?«, fragt eine der beiden.
Siennas Augenbrauen zucken amüsiert. »Ähm, nein.«
»Moschino?«, schießt die andere heraus. »Oder Dolce? Es ist Dolce und Gabbana, stimmt’s?«
»Mindy Shah.« Sienna unterdrückt sichtlich ein Schmunzeln.
Die Zwillinge schauen irritiert.
»Das ist die Designerin«, erklärt Sienna. »Meine beste Freundin hat es mir geliehen.« Dann hebt sie eine Hand, um anzudeuten, dass wir jetzt weitermüssen.
»Wieso machst du Werbung für Mindy?«, frage ich, kaum dass wir außer Hörweite sind. »Wir mögen sie ja nicht mal.«
»Stimmt. Aber Cairstines und Blairs oberflächliches Geschwafel mag ich noch weniger.« Sienna kichert, und wir bahnen uns noch eine gefühlte Ewigkeit unseren Weg durch den Saal. Immer die gleichen Worte auf den Lippen: Guten Abend! Wie geht’s? Danke, gut. Und Ihnen? Nettes Kleid! Tolle Rede! Vielen Dank, dass Sie gekommen sind. Und so weiter.
Irgendwann erreichen wir endlich Liv, die immer noch an der großen Flügeltür steht und die Spendenbox bewacht.
Fletcher Douglas belagert sie, Gründer von Douglas Developments, einer der größten Immobiliengesellschaften des Landes. Ich kann ihn nicht ausstehen. Es sind Firmen wie seine, die den Mietpreisspiegel in der Stadt in die Höhe treiben. Ausgerechnet dieselben geldgeilen Säcke drücken auf Spendengalas wie dieser Almosen für die Leute ab, deren Lebensgrundlage sie zuvor geraubt haben. Ein kranker Kreislauf. Seine Tochter Tracy unterhält sich mit Jesper. Sobald sie uns sehen, lösen Liv und Jes sich aus ihren Gesprächen.
Jes kommt auf mich zu und klopft mir auf die Schulter. »Das war groß von dir.«
»Danke, Mann!« Ich schlage mit ihm ein, während Liv überschwänglich ihre Hüfte gegen Siennas stößt.
»Du siehst heiß aus! Ich liebe dieses Kleid an dir!«
»Danke«, sagt Sienna. »Du siehst auch toll aus!«
»Ja, nicht wahr?« Liv klatscht sich frech auf den Hintern.
»Baggerst du etwa schon wieder meine Freundin an?«, frage ich scherzhaft.
»Ich?« Liv klingt künstlich entsetzt. »Niemals!« Ihr Blick fliegt zu Sienna auf der Suche nach Bestätigung.
»Niemals!«, pflichtet Sienna ihr bei, und die beiden grinsen eingeschworen.
Ich schüttele den Kopf.
»Im nächsten Leben werde ich eine Frau, und dann komm ich in euren Club!«
»Du bist doch in unserem Club!« Liv lehnt sich jetzt in meinen Arm. »Hast du gut gemacht, da oben.« Sie drückt mich fest. »Die meisten Leute haben mehr gespendet als sonst.«
Ich bin erleichtert, das zu hören. Als ich vorhin auf der Bühne stand, habe ich mich immer wieder gefragt, ob es die richtige Entscheidung war, so persönlich zu werden. Einerseits war mir zwar klar, dass ich mit meiner eigenen Geschichte am ehesten zu den Herzen und den Geldbeuteln der Leute durchdringe, aber andererseits ist mir auch völlig bewusst, dass jedes einzelne Wort von mir in nur wenigen Stunden in der Presse stehen wird. Ich möchte mir gar nicht erst ausmalen, wie viel Benzin die Redakteure sämtlicher Online-Magazine zusätzlich ins Feuer gießen, um sich in ihren Klicks gegenseitig zu übertrumpfen.
»Also …« Livs Stimme durchbricht meine Gedanken. Sie löst sich aus meiner Umarmung, und ihr Gesicht bekommt jetzt diesen Ausdruck, den sie schon als Kind hatte, wenn sie was im Schilde führte. Sie zieht die Schultern dann immer bis zu den Ohren, und ihre Augen funkeln ganz frech. »Verdrücken wir uns jetzt von hier?«
Sienna
Hunter liegt unter dem Tisch wie ein kuscheliger Teppich. Ich vergrabe meine nackten Füße in seinem Fell. Es duftet nach frisch gepresstem Orangensaft, nach gebratenen Eiern, aufgebackenen Scones und Toast. Ich liebe den Geruch, der aus Robinas Zauberwerkstatt strömt, und die behaglichen Geräusche, wenn morgens alle beim Frühstück zusammenkommen. Tee plätschert beim Ausgießen in die Porzellantassen, als wollte er uns mit seinem fröhlich leichten Klang Lust auf den Tag machen. Besteck klimpert leise auf den filigranen Tellern und Untertassen. Wärme und Geborgenheit durchströmen zusammen mit der Junisonne, die durch die Fenster einfällt, jeden Winkel des Esszimmers.
Colin rührt in seiner Tasse, Isobel löffelt eine Grapefruit, und als Robina den brutzelnden Speck bringt, stechen Jesper und ich gleichzeitig hinein.
»Bringt euch nur um mit diesen fettigen Arterienverstopfern«, sagt Alick sarkastisch. »Halt! Du nicht!« Er spießt meinen Speck auf und legt ihn grinsend auf Jes’ Teller.
Dafür erntet er von Isobel einen strengen Blick.
»Spaß, Mum«, beteuert er, und ich beobachte, wie Isobels strahlend blaue Augen noch ein bisschen mehr aufleuchten.
Mum. Dieses Wort rutscht Alick nur ganz selten heraus. In Momenten, in denen er richtig glücklich ist. Und jetzt gerade sieht er glücklich aus. Seine Haare sind noch vom Schlaf verwuschelt, er trägt Jogginghosen und ein T-Shirt. Er lacht beim Kauen, und seine Augen verfolgen den Weg seines Löffels in die Müslischale.
Unterm Tisch lege ich meine Hand auf seinen Oberschenkel, und ich habe für einen Moment das Gefühl, mein Herz springt mir gleich aus der Brust, wenn ich ihn betrachte.
Gott, ich liebe dich, Alick Forbes.
Ich. Liebe. Dich. In meinem Kopf klingt es so selbstverständlich. Doch ich habe es noch nie laut ausgesprochen. Er hat es auch noch nicht gesagt, und darum warte ich. Aber ich spüre, dass es so ist. Und wenn man etwas spüren kann, wie wichtig ist es dann noch, es zu hören?
Ich wünschte, ich könnte ihn ewig ansehen. So. Mit diesem unbeschwerten Lachen im Gesicht. Gar kein bisschen ernst. Auch wenn es ganz unbestritten seine Ernsthaftigkeit war, in die ich mich zuerst verliebt habe – oder an zweiter Stelle. Oder dritter.
Nach allem, was er gestern erzählt hat, nach allem, was ich von ihm weiß, empfinde ich Momente wie diesen, die so voller Frieden und Glück sind, als eine Art Wiedergutmachung für jene, die in seinem Leben nicht gut waren. Ich würde alles dafür tun, wirklich alles, wenn ich seine Vergangenheit für ihn ungeschehen machen könnte.
Andererseits, was bliebe von ihm übrig ohne seine Vergangenheit?
Was bleibt von uns allen übrig, ohne die Erfahrungen, die wir machen?
Ohne die Erlebnisse in seiner Kindheit, in seinem Viertel, wer weiß, ob Alick sich so sehr für die Menschen engagieren würde, die es nicht so gut getroffen haben. Was mich gleichzeitig zu dem Gedanken bringt: Was macht meine Vergangenheit aus mir? Wo ist der Part, der mich zu einer besseren Version meiner selbst macht? So wie bei Alick? Ich schätze, es gibt diesen Anteil nicht. Oder sehe ich ihn nur nicht?
Alicks Hand wandert jetzt ebenfalls unter den Tisch. Er fädelt seine Finger zwischen meine und holt meine Aufmerksamkeit zurück an den Frühstückstisch, wo Colin gerade seinen Arm nach dem Teller mit dem gebratenen Speck ausstreckt.
»Würde mir bitte jemand die Cholesterinbomben reichen?«, fragt er mit einem ungewohnt schelmischen Schmunzeln um die Lippen.
Dafür erntet er von Isobel einen kritischen Blick.
»Schätzt euch glücklich und seid dankbar, dass wir alle gesund sind. Darüber macht man keine Scherze«, mahnt sie.
»Ich bin glücklich, dass wir alle gesund sind, mein Liebling.« Er neigt sich seiner Frau entgegen, um ihr einen Kuss auf die Wange zu hauchen.
Isobel lächelt und senkt für einen Wimpernschlag die Augenlider. Die schwarze Mascara zieht ihre geschwungenen Wimpern in die Unendlichkeit, und ich kann meinen Blick nicht von ihr abwenden, bis es an der großen Flügeltür klopft und Alasdair eintritt.
»Miss Fraser ist hier«, kündigt er Livs Besuch an, doch da stürmt sie bereits herein. In ihrer Hand mehrere Zeitungen.
»Habt ihr das schon gesehen?« Sie knallt eine umgeschlagene Doppelseite auf den Frühstückstisch, direkt auf den Teller mit dem Speck.
Lost Son or Lost Soul? Heart-wrenching confessions at Forbes Manor, lautet eine fett gedruckte Headline.
»Verlorener Sohn oder verlorene Seele?«, regt sie sich auf. »Herzerweichende Geständnisse auf dem Forbes-Anwesen. Was für Aasgeier!« Sie wirft eine weitere Zeitung obendrauf.
Hero or Victim? Glasgow’s rebel heart drops darkdetails, lese ich, und Liv schnaubt. »Held oder Opfer? Ist das zu fassen? Das soll die Quintessenz aus dem ganzen Aufriss sein? Aus der wochenlangen Organisation, den Hunderttausenden Pfund, die wir gesammelt haben? Was ist mit der Publicity für G20?« Sie sieht uns fassungslos an. »Es ist doch jedes Mal dieselbe gequirlte Kacke! Was ist das bitte für eine Berichterstattung, die sich nur auf deinen Seelenstriptease stürzt?« Sie sieht Alick an und nimmt weitere Zeitungen von ihrem Arm. »The Glasgow Times, The Helensburgh Adviser, The Lennox Herald.« Eine nach der anderen wirft sie auf den Stapel. »Und das wollen seriöse Tageszeitungen sein?!«
»Seriös?!« Alick zieht eine Braue hoch. »Welche Berichterstattung ist bitte unabhängig? Die Medien verfolgen nur den Zweck, die Massen zu beeinflussen. Manipulation verpackt als Information. Wenn ihr mich fragt, dann ist die ganze Medienwelt bloß noch ein Spiegel dafür, wie kaputt alles ist. Es geht doch nur noch darum, reißerische Schlagzeilen zu produzieren. Alles Clickbaiting-Scheiße, die die Welt noch schlechter macht, als sie eh schon ist.« Alick schlägt verächtlich mit dem Handrücken die Ecke der aufgeklappten Zeitung beiseite, die auf seinem Teller gelandet ist.
Ich nehme die oberste vom Stapel. Alick in Großaufnahme auf dem Titel. Er sieht toll aus, wie immer. Seine ernsten graublauen Augen stechen aus seinem Gesicht hervor, und sein Haar fällt ihm in diesem frisierten Unfrisiert-Look in die Stirn. Seine dunklen Tattoos ranken sich aus dem weißen Hemdkragen seinen Hals hinauf. Der Anzug steht ihm fantastisch – auch wenn er ihn nicht gern trägt. Zum Teil überlagert wird sein Foto von einem Bildausschnitt, in dem Isobel zu sehen ist. Auf ihrer Wange funkelt eine Träne, eingekreist in Rot. Darunter Jes, der sich die Nase schnäuzt.
»Die benutzen meinen Heuschnupfen für ihr Schmierentheater?«, empört er sich. »Eigentlich darf man diese Art des Journalismus gar nicht unterstützen, indem man auch noch Geld dafür ausgibt.« Sein Blick fliegt scheltend zu Liv, die sogleich abwehrend ihre Hände hebt.
»Also, ich will schon wissen, was irgendwelche sensationsgeilen Redakteure in die Welt hinausposaunen und worüber die Gesellschaft hinter unserem Rücken tratscht.«
»Seit wann interessiert dich, was die Leute denken?«, fragt Alick und nimmt jetzt den ganzen Zeitungsstapel vom Tisch. Er faltet ihn mit zwei Handgriffen grob zusammen.
»Mich interessiert nicht, was sie denken, sondern was sie verbreiten, das ist ein Unterschied!«, wehrt sich Liv, und Robina, die rundherum gerade Tee nachschenkt, nimmt Alick das zusammengefaltete Altpapier aus der Hand.
»Geben Sie mir das, Mister Alick.« Sie klemmt es sich unter den Arm. »Die eignen sich wunderbar für Hunters großes Geschäft.« Schon folgt ihr der Hund in die Küche, wo sicherlich Essensreste für ihn abfallen werden.
»Speck ist schlecht für seinen Magen!«, ruft Alick Robina noch hinterher, und weil die Tür ein wenig offen stehen bleibt, können wir sie mit Hunter sprechen hören: »Als hättest du auf der Straße nur gedämpfte Hühnerbrust serviert bekommen …«
»Robina, bitte …« Alick schiebt seinen Stuhl zurück und will gerade aufstehen, da hält Isobel ihn am Arm fest.
»Schatz, eine Sekunde, bitte.« Sie zückt ihren Terminplaner. »Bezüglich des Sommerfests im Jugendclub.« Konzentriert blättert sie durch die Seiten. »Du hattest mich doch gefragt, ob ich in der Stadt einen Caterer an der Hand habe, der euch mit Tischen aushelfen kann …«
»Ach, darüber habe ich im Übrigen mit Frederik Spencer gesprochen«, mischt sich Colin ein, und während die drei in ein Gespräch abdriften und Jesper sich vom Tisch entschuldigt, um einen Anruf entgegenzunehmen, quetscht sich Liv mit einer Pobacke zu mir auf den Stuhl. Sie tippt etwas in ihr Handy ein und hält es mir unter die Nase. Auf einem der vielen kleineren Fotos unterhalb der Artikel über die gestrige Spendengala bin auch ich abgebildet. Ein Schnappschuss davon, wie Alick und ich gerade mit Cairstine und Blair zusammenstehen. Die schönen Reichen und die, die es noch werden wollen – die einen reich, die anderen schön, lese ich den Text darunter. Hermès erblasst neben Shah. High-Society-Rohdiamant Sienna McGregor öffnet Jungdesignerin die Tore zur Oberschicht. Daneben ein kleines Foto von Mindy. Sie haben ihr Profilbild von Instagram verwendet, auf dem ihre neongrünen Haarspitzen und das starke, kunstvolle Make-up mehr hervorstechen als üblich.
»Shah«, flüstert Liv. »Die haben doch einen Knall!«
Über Rohdiamant verlieren wir kein Wort. Das ist nichts Neues. So nennen sie mich gern.
»Ob Mindy schon gesehen hat, dass sie jetzt en vogue ist?« Liv zoomt den Ausschnitt heran, und wir kichern.
»Morgen ist das wieder vergessen.« Ich winke ab. »Dann berichtet irgendein Magazin darüber, dass König Charles und Königin Camilla nicht mehr länger mit zwei toten Enten auf dem Silbertablett begrüßt werden, wenn sie den Kanalinseln ihren königlichen Besuch abstatten, und damit kräht kein Hahn mehr nach Mindy.«
»Bitte was?«, fragt Liv. »Wer tötet Enten und Hähne auf dem Silbertablett?«
Ich lache. »Egal, bloß Clickbaiting-Scheiße, die ich mal gelesen habe.« Ich zitiere Alick. Denn er hat recht. Man hat nichts, aber auch gar nichts von dem Gewäsch, das in solchen Magazinen steht. Außer Aufmerksamkeit, die man nicht haben will – also ich nicht. Auch Alick nicht – zumindest nicht, was die privaten Details angeht. Aber offenbar kann man sich das nicht aussuchen, und anscheinend wird man in gewissen Kreisen nicht mit dem Recht auf Privatsphäre geboren. Oder man gibt es automatisch auf, sobald man ein Teil von diesen Kreisen wird – freiwillig oder unfreiwillig.
Als ich das erste Mal meinen Namen in der Boulevardpresse entdeckt habe, dachte ich, ich sehe nicht richtig.
Das war kurz vor Weihnachten im vergangenen Jahr. Kurz bevor wir nach San Francisco abgehauen sind, weil die Feiertage vor der Tür standen und ich sämtliche Feiertage boykottiere, seit sie, ohne meine Eltern, nicht mehr feierlich für mich sind – sondern Tage, an denen das Vermissen wieder ganz, ganz schrecklich wird.
Jedenfalls war mein Erscheinen an Alicks Seite auf dieser weihnachtlichen Spendengala mein erster öffentlicher Auftritt auf einer dieser hochoffiziellen Veranstaltungen im Hause Forbes und ein spannender Aufmacher in der Presse, wie sich am nächsten Tag herausstellte.
Mein Blog bekam über Nacht so viele neue Abonnenten, dass ich zuerst Schiss hatte, die Leute wären nur zum Spionieren da, und alles, was ich von jetzt an schreibe, würde von den Medien in kleine intrigante Fetzen zerrissen werden. Glücklicherweise sind die Menschen, die bei mir geblieben sind, an meinen Gedanken und Gefühlen interessiert und nicht an meinen Outfits oder irgendwelchem Klatsch und Tratsch. Seither wächst mein Blog ungefähr doppelt so schnell. Der Kanal, auf dem ich meine The-Phantom-of-Glasgow-Reihe schreibe, sogar noch schneller.
»Also, Kinder, was sind eure Pläne für die Ferien?«, fragt Isobel plötzlich in die Runde und reißt mich damit aus meinen Gedanken. »Jes fliegt mit den Jungs nach Spanien.« Ihr Blick wandert einmal quer durch den Raum, auf der Suche nach Jes, der seit dem Anruf nicht mehr aufgetaucht ist. Dann sieht sie den Rest von uns an. »Und ihr?« Damit stößt sie meine Gedanken auf ein Thema, das Alick und ich seit Wochen nur alles andere nennen – alles Unbequeme, was mit jeden Ferien und Feiertagen einhergeht und was mir mit jedem Mal, wenn einer dieser Anlässe vor der Tür steht, zu denen die meisten Leute freudig nach Hause fahren, schwerer fällt. Weil ich meine Großeltern wieder enttäuschen werde. Sie wissen es noch nicht, aber ich werde auch diese Ferien nicht heimfahren. Bisher habe ich sie am Telefon immer vertröstet, drum herumgeredet, gesagt, ich müsste noch einige Termine klären. Aber tatsächlich ist es so, dass ich überhaupt nicht weiß, wann oder ob ich jemals wieder heimkehren werde. Ich weiß nicht mal, ob Fort Augustus überhaupt noch mein Zuhause sein kann. Wie soll es das sein, wenn das Wichtigste fehlt?
Zwei Jahre ist es jetzt her, seitdem meine Eltern verstorben sind. Ziemlich genau zwei Jahre sogar. Es war der Abend nach dem Abschlussball, nach meinem Abschlussball, die Sommerferien standen vor der Tür. Aber dann hatten sie diesen schrecklichen Autounfall, und das war’s mit der unbeschwerten Zeit.
Davor waren die Sommer in Fort Augustus immer die schönste Zeit des Jahres – auch wenn sie für uns gleichermaßen die geschäftigste Zeit des Jahres war. Nie kamen mehr Touristen zum Loch Ness. Wir waren auf unserem Nessie-Kutter täglich ausgebucht. Während alle meine Freunde in den Urlaub fuhren oder Jobs nachgingen, verwandelten wir die schulfreien Wochen für Dutzende Kinder in ein riesiges Abenteuer. Schon wenn ich nur darüber nachdenke, wie es dort aussieht, wie es dort riecht, wie der Sommer in Fort Augustus klingt, zieht sich mein Herz derart schmerzlich zusammen, dass mir klar wird: Ich kann nicht nach Hause fahren.
Mein neues Leben in Glasgow gibt mir Halt, neue Routinen, Menschen, die meine neuen Anker geworden sind. Ich bin nicht bereit, diese Stabilität zu gefährden.
»Wir bleiben erst mal ein Weilchen hier«, beantworte ich schließlich Isobels Frage. »Natürlich nur, wenn euch das recht ist. Und in zwei Wochen geht dann mein Sommerkurs an der Uni los.«
Isobel lächelt mich sanft an. Ihr Blick verrät mir, dass sie meine Strategie durchschaut hat.
»Selbstverständlich, Liebes. Wir haben euch nur zu gern hier.« Ich kann ihr ansehen, dass sie mehr dazu sagen will, aber sie fragt schließlich nur unverfänglich: »Für welchen Kurs hast du dich angemeldet?«
»Kreatives Schreiben.«
»Kennen wir den Professor?«, will Colin jetzt wissen. Obwohl er und Isobel beide an der St Andrews studiert haben, sind sie mit einigen Profs der UofG gut bekannt. Allerdings überwiegend aus anderen Fachschaften. BWL. Jura.
»Professorin Calloway«, antworte ich.
»Hm.« Er zuckt die Schultern. »Sagt mir nichts.«
»Sie ist neu«, erkläre ich. »So was wie die Jane Austen der Gegenwart – klug, scharfsinnig.« Ich gerate ins Schwärmen. »Angeblich reicht ihr ein einziger Blick auf eine Seite, und sie erkennt, ob jemand schreibt, weil er es liebt und bereit ist, sein Leben dem Schreiben zu widmen, oder ob jemand glaubt, es bloß durch ein gutes Gespür für Sprache in der Literatur schaffen zu können – ohne die Disziplin aufzubringen, die es dafür braucht.«
»Hört sich nach einer klugen Frau an«, sagt Colin. »Denn am Ende ist auch die Literatur bloß ein Rechenbeispiel und nichts anderes als ein Wirtschaftszweig, wenn sie existieren will.«
»So ist es«, bestätigt ihn Isobel, und ihr Blick ist jetzt wieder neutral. »Die meisten Menschen romantisieren die Branche viel zu sehr.«
»Kunst und Kultur muss man sich leisten können, behaupte ich immer.« Colin lacht, dann nimmt er den letzten Schluck aus seiner Teetasse und schaut auf seine Uhr.
Isobel tut es ihm gleich. »Schon so spät?« Sie zieht die Stoffserviette von ihrem Schoß und legt sie gefaltet auf den Tisch. »Na gut, es gibt noch alle Hände voll zu tun. Von euch kennt jeder seine Aufgaben?«, fragt sie in die Runde und erhebt sich vom Frühstückstisch.
»Jap.«
»Jawohl.«
»Ja«, bestätigen wir alle brav, denn an diesem Wochenende findet der Loch Lomond Summer Tide statt. Liv redet schon seit Wochen von nichts anderem mehr als von den Partys, den Bands und der großen Sternschnuppennacht. Die Jungs haben sich zum Ruderwettkampf angemeldet, und jeder von uns hat von Isobel irgendwelche Dienste aufgedrückt bekommen, weil sie dem Planungskomitee des Wassersportvereins vorsitzt.
In diesem Moment kommt Jesper ins Esszimmer zurück. »Ich befürchte, es gibt ein Problem.« Demonstrativ hält er sein Handy hoch. »Cullen hat sich die Schulter ausgekugelt und fällt aus.«
Entgeistert sehen sich plötzlich alle an.
»Mit sieben Mann bekommen wir keine Starterlaubnis«, stellt Alick fest.
»So ist es.« Jesper hebt die Brauen. »Also, was machen wir jetzt? Ich hab schon den halben Ruderclub abtelefoniert.« Sein Blick fliegt ratlos zu Colin.
»Ich bin bereits im Team, frag deine Mutter.«
»Soll ich mich etwa vierteilen?« Isobels makellos geschwungene Augenbrauen ziehen sich empört zusammen.
»Komm schon, Mum, du warst eine der besten Ruderinnen im Club. Mit dem Uni-Team habt ihr damals sogar die Meisterschaften gewonnen!«
»Damals«, wiederholt Isobel. »Das klingt, als wäre ich steinalt!«
»Das ist die Idee!« Liv fährt ruckartig in die Höhe, als hätte sie den Einfall des Jahrtausends. »Wieso fragt ihr nicht Roderick?«
Für einen Moment herrscht Stille.
Und wenn sie sich auch sonst nicht immer so einig sind, protestieren Alick und Jes augenblicklich im Chor: »Auf keinen Fall!«
Alick
»Roderick Forbes, der Mann, der die Gewässer bezwingt«, sage ich im Ton eines strengen Offiziers.
»Und sämtliche Lebewesen darin und drum herum«, schiebt Jesper bitter hinterher.
Fast synchron lassen wir einen tiefen genervten Atemzug entweichen, während wir über die Terrasse gehen, die hinterm Haus hinaus in den Garten führt.
Ich fädele meine Finger zwischen Siennas und werfe Liv einen vorwurfsvollen Blick zu. »Jeder hier ist froh, dass Roderick nur alle Schaltjahre zu Besuch kommt, und du lädst ihn praktisch ein!«
Unter großem Protest hat Colin ihn tatsächlich angerufen.
»Jetzt stellt euch mal nicht so an! Ihr seid doch keine zehn mehr.« Liv macht einen Hopser von der letzten Stufe der Terrassentreppe hinab auf den Schotterweg, der den Rasen vor uns teilt. Die zurechtgestutzten Büsche stehen ihr Spalier. »Freut euch lieber, dass die Regatta gerettet ist.«
»Yay!« Jesper verzieht die Mundwinkel zu einem künstlichen Lächeln und schnippt im Vorbeigehen mit dem Zeigefinger gegen eine der Beeren, die zuhauf in den Büschen am Wegesrand wachsen.
»Jetzt kommt schon!«, versucht Liv, die Stimmung aufzuheitern. »Ich weiß, er ist nicht gerade der Großvater, auf dessen Knien man Hoppereiter macht. Aber immerhin nimmt er für euch den ganzen Weg aus Aberdeenshire auf sich. Das ist seine Art, Liebe zu zeigen.«
»Das ist seine Art, Pflichtbewusstsein zu erfüllen«, korrigiert Jes sie. »Wenn es darum geht, den Erfolg der Familie sicherzustellen, würde er aus Timbuktu anreisen.« Er drängt Liv vom Schotterweg ab, um über die Wiese, wo die Streuobstbäume stehen, zum alten Schuppen zu gelangen.
»Vielleicht ist er ja gar nicht mehr sooo schlimm«, spekuliert Liv.
Jes und ich werfen ihr einen vielsagenden Blick zu. »Er war nur nie schlimm zu dir«, behaupten wir gleichzeitig.
»Ach, alte Löwen brüllen doch bekanntlich nicht mehr so laut.« Sie grinst frech.
»Aber auch ein alter Löwe wird nicht plötzlich harmlos«, schnauft Jes.
Liv sieht Sienna an und setzt eine gruselige Stimme auf. »Na, freust du dich schon darauf, das gefürchtete Familienoberhaupt kennenzulernen?«
»Und wie! So wie ihr von ihm schwärmt …«
»Keine Sorge, für gewöhnlich nimmt er nur die Jungs hart ran.«
»Hab schon gehört …« Sienna sieht mich mitleidig an.
»Konzentrieren wir uns doch erst mal auf das, was heute ansteht: den Stand für das Festival bauen.« Liv hakt sich auf Siennas freier Seite unter. Wir laufen gemeinsam über die Streuobstwiese, bis der alte Schuppen in Sicht kommt, dem an diesem Vormittag ein paar schwache schottische Sonnenstrahlen aufs Dach fallen.
Das Holztor steht schon für uns geöffnet, weil Alasdair bereits einiges vorbereitet hat. Er hat Bretter anliefern lassen und eimerweise Farbe. Auf der Werkbank liegen Hammer und Nägel für uns parat, ebenfalls Pinsel in verschiedenen Stärken und Farbrollen, an denen die Geschichten von mindestens zehn Jahren Loch Lomond Summer Tide kleben. Den Boden hat er mit einer Plane ausgelegt, die beim Drüberlaufen unter unseren Füßen knistert. Durch zwei Fenster fällt Sonnenlicht und macht feine Staubpartikel in der Luft sichtbar. Der Geruch nach Maschinenöl und Rostschutzmitteln, nach alten Werkzeugen und Holzspänen vermischt sich mit der Feuchtigkeit, die hier in allen Ecken sitzt.
Jedes Mal, wenn ich den Schuppen betrete, erinnere ich mich an die Momente, in denen wir uns als Kinder hier drin vor Alasdair versteckt haben. Wir haben uns hinter Regalen und alten Kanistern verschanzt und die Luft angehalten, um mucksmäuschenstill zu sein. Das konnte ich gut. Besonders als ich neu war, habe ich mich hier auch ganz allein versteckt, vor allem, was mich überfordert hat. Vor den vielen Leuten, die den ganzen Tag auf dem Anwesen ein und aus gingen. Vor dem Personal, das einen andauernd überwachte. Vor den Bällen und Empfängen. Vor dem Klirren der Champagnergläser. Vor den Blicken der gemalten Porträts an den Wänden. Die fand ich am allergruseligsten. Egal, wo ich ging oder stand, fühlte ich mich von irgendeinem Forbes-Vorfahren beäugt. William Forbes, Duncan Forbes von Culloden, James David Forbes – ich hab bis heute keinen blassen Schimmer, wer all diese Männer tatsächlich waren, unter deren Ölgemälden Jahreszahlen wie 1671 – 1745 standen. Mal abgesehen von ihren Namen und ihren Adelstiteln. Lord Forbes of Pitsligo, Baronet of Foveran, Earl of Was-weiß-ich. Manche dieser Titel sind wie eingebrannt in mein Gedächtnis, so oft bin ich an den Bildern vorbeigelaufen, anderen habe ich kaum Beachtung geschenkt. So oder so: Als Kind waren diese Standbezeichnungen für mich nichtssagend und angsteinflößend zugleich. Grafen, Freiherren – was wusste ich schon, warum die so wichtig waren. Aber sie klangen wichtig und mächtig und vornehm. Sie klangen nach allem, was nichts mit mir und meiner Herkunft zu tun hatte, und erinnerten mich daran, dass ich hier nicht hergehörte.
Heute bin ich nur noch selten im Schuppen. Einmal im Jahr, wenn wir unsere Buden für das Festival bauen. Oder wenn Hunter sich hierher verzieht – wahrscheinlich aus dem gleichen Grund wie ich früher: weil dieser Ort ein bisschen wie eine Zone zwischen den Welten ist. Zwischen den Kontrasten. Für mich war es die Zone zwischen dem heruntergekommenen Viertel, in dem ich aufgewachsen bin, bei einer Mutter, die sich jeden Tag ins Delirium getrunken hat, und der funkelnden Welt bei den Forbes. Für Hunter ist es die Zone zwischen dem Beton auf Glasgows Straßen, unter der Brücke beim alten Everett – R.I.P., mein Lieber – und den handgeknüpften Teppichen aus dem 18. Jahrhundert im Kaminzimmer.
»Also, was ist der Plan?« Siennas tatkräftiges Klatschen in die Hände holt meine Gedanken zurück zu unserem Bauprojekt. »Bleibt es bei der Stand-up-Paddle-Challenge zum Erhalt des Sees?«
»Paddle for a cleaner Loch.« Livs Hände demonstrieren anschaulich, dass sie sich einen Schriftzug vorstellt. »Jeder Teilnehmer fischt entlang der geplanten Strecke Müll aus dem Wasser.«
»Ich dachte, wir könnten die Boards vorn am Ufer beim Cameron House aufstellen«, schlägt Jesper vor. »Und hiermit …«, er legt eine Hand auf den Bretterstapel, »bauen wir eine Art Tor, durch das die Teilnehmer starten, und am gegenüberliegenden Ufer eine Zieleinfahrt.«
»Perfekt!« Liv nickt zufrieden.
»Klingt cool«, sage ich.
»Na also dann, los!« Jesper nimmt sich einen Bleistift und einen Skizzenblock und beginnt damit, eine grobe Zeichnung anzulegen, während ich mir einfach die Bretter schnappe und eins nach dem anderen raus auf die Wiese trage.
»Wenn wir einen hohen Torbogen zimmern wollen, brauchen wir mehr Platz, als der Schuppen hergibt.« Ich werfe die Bretter in einer sinnvollen Reihenfolge auf den Rasen. »Wir müssen nur auf die Statik achten, damit das Teil auch frei stehen kann.«
»Dafür sorgt der hier.« Jes kommt mit seinem Plan raus. »Wir können entweder Füße anbringen, dann sähe das so aus, oder wir bauen den ganzen Korpus wie eine Art Zylinder, damit …«
»Wir brauchen doch keine Anleitung für das bisschen Zusammennageln«, falle ich ihm ins Wort. Wenn ich Schilder und Barrikaden für Hausbesetzungen und Demos baue, fertige ich nie einen Plan an. »Das ist doch alles total logisch.«
»Stabil und gerade sollte es trotzdem sein, und ich würde Schrauben verwenden statt Nägel.«
»Jetzt geht das wieder los«, erklärt Liv Sienna und stellt zwei Farbeimer ab, die sie soeben nach draußen getragen hat. »Die beiden machen mich jedes Jahr fast wahnsinnig mit der Nägel-verus-Schrauben-Diskussion!« Sie setzt Gänsefüßchen in der Luft. »Mit Nägeln geht es schneller, und sie sind günstiger«, zitiert sie mich. Dann verweist sie auf Jes. »Schrauben leisten sauberere Arbeit, und man kann die Konstruktion später besser demontieren.« Schließlich lässt sie ihre Handflächen genervt gegen ihre Oberschenkel klatschen. »Wenn ihr euch nicht umgehend einigt, bekommt jeder einen hiervon über den Kopf!« Ihr Blick fliegt warnend zu den Farbeimern. »Dann könnt ihr duschen gehen, und Sienna und ich bauen das Teil allein!«
»Das will ich sehen«, sage ich und meine damit eigentlich, wie Liv allein dieses Ding zusammenzimmert, aber da fliegt mir auch schon ein fetter Schwall blauer Farbe entgegen.
»What the fuck?« Unerwartet schwer und kalt rinnt die nasse Masse an meinem T-Shirt hinunter.
Mit weit geöffnetem Mund starrt Sienna mich an, und Liv schlägt erschrocken ihre Hand vor den Mund, als könnte sie nicht glauben, dass sie das getan hat.
Nur Jes’ Lippen kräuseln sich.
»Findest du witzig, ja?«, frage ich ihn.
»Bisschen schon.« Seine Augen funkeln amüsiert, und ehe er sichs versieht, werfe ich mich auf ihn.
Wir stürzen zu Boden, und ich wälze mich ordentlich über ihn, sodass die Farbe von meinem Shirt überall an ihm klebt.
»Nicht dein Ernst!« Er tastet wild um sich, bis er den anderen Eimer zu fassen bekommt.
»Jungs!«, schreit Sienna, doch im Gerangel um den Bottich dringt sie nicht zu uns durch.
Jes’ Finger kämpfen mit dem Plastikverschluss. Meine Finger kämpfen gegen seine.
»Ha!« Mit einem satten Plopp hebelt er den Deckel auf, und schon im nächsten Moment fliegt mir eine Portion Rot entgegen.
»Boah, jetzt bist du geliefert!« Ich fasse ebenfalls in die Farbe und haue ihm eine Ladung um die Ohren.
»Jungs!«, ruft Sienna erneut. »Spinnt ihr? Ihr saut die ganze Wiese ein!«
Aber keiner von uns denkt auch nur daran, vom anderen abzulassen, bis der Eimer leer ist. Erst dann rollen wir uns auf den Rücken – völlig außer Puste. Die Farbe stinkt und klebt überall.
»Nägel«, beharre ich und wische mir die Augen frei.
»Schrauben«, keucht Jes.
»Haltet jetzt beide sofort die Klappe!« Liv beugt sich mit verschränkten Armen über uns und funkelt uns an. »Ihr macht mich irre! Als wäre das ein Wettkampf! Als würde es …«
Ein kurzer Blickwechsel zwischen Jes und mir genügt, dass wir fast zeitgleich aufspringen. Einer packt Liv an den Füßen, der andere greift sich ihren Oberkörper.
»Was? Nein!« Liv zappelt wild, aber meine Hände schließen sich fest um ihre Knöchel.
Ich rechne kein bisschen damit, dass Sienna mit voller Wucht auf meinen Rücken springt. »Zwei gegen einen ist unfair!«
Kurz gerate ich ins Straucheln. »Wow! Du verrätst mich, Cinna-Bun?« In einem Reflex lasse ich einen von Livs Knöcheln los und greife nach Siennas Handgelenk. Ihre Beine um meine Hüften und ihre Arme um meinen Hals geschlungen, hängt sie an mir.
Livs Körpergewicht kippt, einer ihrer Füße schleift über den Rasen, und sie quietscht hysterisch. »Lasst mich nicht fallen!« Ihre Finger krallen sich in Jes’ T-Shirt, der vergeblich versucht, das Gleichgewicht für uns alle zu halten, während wir schwankend in den Schuppen stolpern.
Unsere Körper prallen gegen den Türrahmen. Jes und ich ächzen, und die Mädchen kreischen schrill. Liv fleht zwischen Lachattacken um Gnade.
Aber wir denken gar nicht daran, sie zu verschonen.
Mit einem ungeschickten Ruck setzen wir sie auf der ausgelegten Plastikplane ab und kreisen sie ein. Über ihren Kopf hinweg besprechen wir uns.
»Lila oder grün? Was steht ihr wohl besser?«, frage ich grinsend.
»Wieso nicht beides?« Dramatisch langsam öffnet Jes den Deckel des lila Farbeimers, da raunt Sienna mir ins Ohr: »Weißt du, was witzig wäre?« Ihr Atem kitzelt mich, warm und nah. Instinktiv lockert sich mein Griff – ein Fehler. »Das hier!« Blitzschnell reißt sie sich los und stürzt sich auf die nächstbeste Farbrolle, die sie zu greifen bekommt. Sie taucht sie in den Eimer, von dem Jes gerade den Deckel aufgemacht hat, und rollt mir einfach übers Gesicht. »Mädchen gegen Juuungs!«, brüllt sie, während ich eine Sekunde fassungslos dastehe.
»En garde!« Mit blitzenden Augen streckt Liv einen Pinsel wie einen Degen aus. Im Wechsel richtet sie ihn auf mich und Jes.
»Damit ist dein Schicksal besiegelt, Olivia Fraser!« Jes setzt seine tiefste Theatralik-Stimme auf und greift sich ebenfalls einen Pinsel, den er demonstrativ in die lila Farbe taucht. »Du hast wohl vergessen, dass ich Jahrgangsbester im Fechten am Internat war.« Mit präzisen, flinken Bewegungen verpasst er ihr bunte Farbtupfer auf die Wangen – ein Punkt, noch einer, genau zwischen die Augen. Dann wirbelt er blitzschnell herum und fixiert Sienna mit erhobenem Pinsel. »Mädchen gegen Jungs, ja? Noch kannst du das Team wechseln!« Er lässt zwei dramaturgische Sekunden verstreichen und zielt schließlich mit der Pinselspitze direkt auf ihr Herz.
»Sorry, aber das kann ich nicht zulassen.« Mit meiner eigenen Farbrolle voraus stürze ich mich auf Jes, und dann bricht das völlige Chaos aus. Jeder kämpft gegen jeden. Farben spritzen, Pinsel wirbeln durch die Luft, Hände und Kleidung werden zu lebendigen Leinwänden, und wir sind ein wildes Durcheinander aus Pinselschwertern.
Die Plastikplane unter unseren Füßen verwandelt sich bald in eine rutschige Lache aus matschigem Braun, in der die Farben ineinander verlaufen. Es dauert nicht lange, bis die Erste auf die Nase fliegt: Liv rutscht kreischend aus und reißt Jes mit sich zu Boden. Beim Versuch, irgendwo Halt zu finden, zieht er mich mit sich und ich schließlich Sienna.
Lachend und komplett in Farbe getaucht, liegen wir alle vier am Boden. Sienna bäuchlings auf mir. Ihr Gesicht ist ein lustiger Anblick aus bunten Farbsprenkeln, und das Leuchten in ihren Augen kommt mir in diesem Moment unbezahlbar vor.
Ich denke an einen unserer ersten gemeinsamen Momente im vergangenen Herbst, als wir in Caledonian Crescent im Waschkeller unter dem gemalten Sternenhimmel lagen und ich dieses immense Gefühl verspürt habe, ihrer Welt die Farben zurückzuholen. Wenn ich sie jetzt so ansehe – nicht nur, weil sie über und über in Lila, Blau und Grün getaucht ist –, glaube ich, ich habe es geschafft. Wir haben es geschafft. Sie hat es geschafft.
Es gibt mittlerweile so viele Tage, an denen Sienna nicht mehr so leicht aus der Fassung zu bringen ist. Selbst wenn das sensible Thema auf den Tisch kommt. Vielleicht liegt es an der Zeit, die vergeht. Vielleicht liegt es an den Gesprächen mit ihrer Therapeutin, die sie immer noch regelmäßig wahrnimmt – nur dass die Abstände zwischen den Terminen immer größer werden. Wahrscheinlich liegt es an allem. An allem, was sich in ihrem Leben zum Besseren verändert hat. Meistens schafft sie es ganz gut, stabil zu bleiben. So wie vorhin am Frühstückstisch. Wenn sie gute Tage hat, auf jeden Fall. Hier draußen hat sie meistens gute Tage.
Darum haben wir auch beschlossen, einen Teil der Ferien hier zu verbringen. Wir wollen wandern gehen, die Wasserfälle besuchen, Boot fahren auf dem Loch Lomond. Wenn ich ganz ehrlich bin: Zusammen mit Sienna gefällt es mir hier auch besser. Es ist, als ob ich alles noch mal mit anderen Augen sehe. Durch ihre Augen. Das Haus, die Bräuche und Gewohnheiten, Isobel, Colin und Jesper, ja, sogar Alasdair, wenn sie ihm bei den Rosen hilft. Dann sehe ich nicht mehr den überkorrekten Butler, der uns früher das Fußballspielen verboten hat, um uns den Spaß zu vermiesen, sondern ich sehe einen geduldigen Mann, der seine ganze Aufmerksamkeit und Hingabe den Rosenranken widmet. Dieselbe Konzentration lässt auch Sienna alles um sich herum vergessen. Sie ist so fokussiert auf diese Arbeit, dass ihre Gedanken still sind. Das hat sie mir schon oft gesagt, und ich merke es ihr auch an. Sie ist ausgeglichener und ruhiger, nachdem sie Zeit bei den Rosen verbracht hat.
Wahrscheinlich sind die Rosen auch Alasdairs Ausgleich, und er war nie so streng zu uns, weil er uns den Spaß verderben, sondern weil er seinen Ort der Ruhe schützen wollte. Seinen Safe Space, den er jetzt an manchen Tagen mit meiner Freundin teilt. Meine Freundin. Manchmal kann ich es noch immer nicht glauben, dass wir jetzt schon fast zehn Monate zusammen sind.
Wieder fliegen meine Blicke über ihr Gesicht. Sie liegt noch immer auf mir, und ihre Augen leuchten glücklich. Die Farbe trocknet langsam in ihren Haaren und auf ihrer Haut. Das Lachen und Reden hinterlässt bröckelige Risse.
»Weißt du, was ich mir überlegt habe?«, fragt sie und neigt sich mir noch ein wenig mehr entgegen, um einen Kuss auf meine Nasenspitze zu hauchen. »Wieso laden wir Hailey und Finlay nicht ein, uns für einen oder zwei Tage hier zu besuchen, wenn sie sich auf den Weg nach Fort Augustus machen?« Sie schenkt mir ein bettelndes Grinsen. »Immerhin liegen wir genau auf der Strecke. Es wäre also noch nicht mal ein Umweg. Und der Summer Tide steht an. B.Heights spielen als Hauptact. Hailey und ich stehen auf die Band. Ich glaube, es würde ihr richtig gut gefallen. Und …«