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Jan Steinbach

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Beschreibung

Zwei Familiengeschichten von Jan Steinbach in einem E-Book Bundle!

Willems letzte Reise

Wenn du noch einmal die Gelegenheit hast, das Richtige zu tun... Einsam und mit seiner Familie zerstritten, lebt der alte Willem auf seinem Bauernhof in Ostfriesland. Dann bringt seine Tochter ungefragt ihren Sohn Finn bei ihm unter, weil sie sich wegen ihrer Trennung nicht anders zu helfen weiß. Und so sehr sich der knurrige alte Mann auch dagegen wehrt – der bezaubernde kleine Junge erobert sein Herz. Ausgerechnet jetzt erhält Willem eine fatale Nachricht. Aber um ein Versprechen zu erfüllen, das er Finn gegeben hat, begibt er sich mit seinem alten Traktor auf eine Reise quer durch Deutschland. Schon bald wird jedoch klar, dass Willem nicht mehr lange drum herumkommen wird, sich seinen Fehlern von damals zu stellen. Einfühlsam und berührend erzählt Jan Steinbach von den Wunden, die sich in der Geschichte jeder Familie finden, und dem Glück, endlich die richtige Entscheidung zu treffen.


Die Schwestern von Marienfehn

Eine Frau zwischen altem Handwerk und neuem Glück. 1968 – die junge Hannah Brook steht vor den Trümmern ihrer Träume: Carl, die große Liebe ihres Lebens, heiratet ausgerechnet ihre Ziehschwester Rosie. Und obwohl Hannah im geteilten Berlin gerade ihre ersten Schritte als Journalistin gemacht hat, muss sie – als einzige Unverheiratete der Familie – in der alten Heimat im Emsland ihren erkrankten Vater pflegen. Gegen große Widerstände übernimmt sie die Leitung der Feinbrennerei Brook und arbeitet sich in Destillierkunst und Getreideanbau ein. Es gelingt ihr, das das Familienunternehmen zu retten, indem sie die traditionelle Handwerkskunst neu belebt und den Alten Korn, hochwertigen Schnaps, der in Holzfässern reift, produzieren lässt. Doch dann begegnet sie Carl wieder, den sie nie vergessen hat ... Die Geschichte eines spannenden alten Handwerks – der Schnapsbrennerei auf den alteingesessenen Familienbauernhöfen auf dem Land.


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Informationen zum Buch

Willems letzte Reise

Wenn du noch einmal die Gelegenheit hast, das Richtige zu tun... Einsam und mit seiner Familie zerstritten, lebt der alte Willem auf seinem Bauernhof in Ostfriesland. Dann bringt seine Tochter ungefragt ihren Sohn Finn bei ihm unter, weil sie sich wegen ihrer Trennung nicht anders zu helfen weiß. Und so sehr sich der knurrige alte Mann auch dagegen wehrt – der bezaubernde kleine Junge erobert sein Herz. Ausgerechnet jetzt erhält Willem eine fatale Nachricht. Aber um ein Versprechen zu erfüllen, das er Finn gegeben hat, begibt er sich mit seinem alten Traktor auf eine Reise quer durch Deutschland. Schon bald wird jedoch klar, dass Willem nicht mehr lange drum herumkommen wird, sich seinen Fehlern von damals zu stellen. Einfühlsam und berührend erzählt Jan Steinbach von den Wunden, die sich in der Geschichte jeder Familie finden, und dem Glück, endlich die richtige Entscheidung zu treffen.

Die Schwestern von Marienfehn

Eine Frau zwischen altem Handwerk und neuem Glück. 1968 – die junge Hannah Brook steht vor den Trümmern ihrer Träume: Carl, die große Liebe ihres Lebens, heiratet ausgerechnet ihre Ziehschwester Rosie. Und obwohl Hannah im geteilten Berlin gerade ihre ersten Schritte als Journalistin gemacht hat, muss sie – als einzige Unverheiratete der Familie – in der alten Heimat im Emsland ihren erkrankten Vater pflegen. Gegen große Widerstände übernimmt sie die Leitung der Feinbrennerei Brook und arbeitet sich in Destillierkunst und Getreideanbau ein. Es gelingt ihr, das das Familienunternehmen zu retten, indem sie die traditionelle Handwerkskunst neu belebt und den Alten Korn, hochwertigen Schnaps, der in Holzfässern reift, produzieren lässt. Doch dann begegnet sie Carl wieder, den sie nie vergessen hat … Die Geschichte eines spannenden alten Handwerks – der Schnapsbrennerei auf den alteingesessenen Familienbauernhöfen auf dem Land.

Über Jan Steinbach

Jan Steinbach, geboren 1973, ist das Pseudonym eines erfolgreichen deutschen Schriftstellers, der auf einem Bauernhof nahe der niederländischen Grenze aufgewachsen ist.

Bei Rütten & Loening und im Aufbau Taschenbuch liegen von ihm die Romane „Willems letzte Reise“, „Das Café der kleinen Kostbarkeiten“, „Das Strandhaus der kleinen Kostbarkeiten“ , "Die Schwestern von Marienfehn" und " Was wir Glück nennen" vor.

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Jan Steinbach

Willems letzte Reise & Die Schwestern von Marienfehn

Zwei Familiengeschichten von Jan Steinbach in einem E-Book Bundle!

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Informationen zum Autor

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Willems letzte Reise

Kapitel eins

Kapitel zwei

Kapitel drei

Kapitel vier

Kapitel fünf

Kapitel sechs

Kapitel sieben

Kapitel acht

Kapitel neun

Kapitel zehn

Kapitel elf

Kapitel zwölf

Kapitel dreizehn

Kapitel vierzehn

Kapitel fünfzehn

Kapitel sechzehn

Kapitel siebzehn

Kapitel achtzehn

Kapitel neunzehn

Kapitel zwanzig

Kapitel einundzwanzig

Kapitel zweiundzwanzig

Kapitel dreiundzwanzig

Kapitel vierundzwanzig

Kapitel fünfundzwanzig

Kapitel sechsundzwanzig

Kapitel siebenundzwanzig

Epilog

Dank

Karte

Die Schwestern von Marienfehn

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Impressum

Jan Steinbach

Willems letzte Reise

Roman

Kapitel eins

Es war kein Tag wie jeder andere, dennoch begann ihn Willem so. Er stand früh auf, stieg in seine Arbeitskleidung, aß eine Banane und stapfte quer über den Hof zum Melkstall. Es war eine dieser magischen Morgenstunden in Ostfriesland, um kurz vor fünf, wenn der Dunst noch über den saftgrünen Feldern hing, wenn die Luft klar und rein war und der weite Himmel still und wie eingefroren wirkte. Willem stand am Gatter und schaute. Die ersten Vögel erwachten, ein rosafarbener Streifen zog am Horizont herauf und kündigte einen weiteren strahlenden Sommertag an. Es war kaum zu glauben, dass dies sein letzter Arbeitstag sein würde. Doch heute war es so weit. Seine Kühe würden abgeholt werden, und zurück blieben nichts als leere Ställe.

Die Vorbereitungen liefen seit Wochen. Sein Hof war zu klein, um zu überleben. Außerdem gab es keinen Nachfolger. Willem musste froh sein, es überhaupt bis zur Rente geschafft zu haben. Er war ja nicht der Einzige, dem es so erging. Überall in der Gegend ging den kleinen Betrieben die Luft aus. Trotzdem. Ihn traf das Endgültige der Situation. Willem war der letzte Bauer in seiner Familie. Nach den vielen Generationen, die auf dem Hof gelebt und gelärmt und gearbeitet hatten, wäre mit ihm Schluss. Das war nicht leicht zu verdauen.

Seine ehrwürdigen Damen trotteten an diesem Morgen in alter Gewohnheit vor ihm her in den Melkstall. Alles war vertraut, alles wie immer. Nur die gute Aggi, die trotz ihres Alters immer noch viel Milch gab und deshalb glücklicherweise zusammen mit dem Rest der Herde verkauft werden konnte, spürte offenbar die Veränderung. Sie war anhänglich an diesem Morgen. Nach dem Melken wollte sie nicht von seiner Seite weichen, im Laufstall hielt sie ständig nach ihm Ausschau, und als Willem das Heu aus der Futtertenne fegte, streckte sie den Kopf durch das Gitter und stupste ihn mit ihrer feuchten Nase an.

Zu Aggi hatte er eine besondere Verbindung – seit einer Winternacht vor zwei Jahren, als es bei der Geburt ihres Kalbes unerwartet Komplikationen gab, der Tierarzt wegen eines Schneesturms nicht kommen konnte und Willem die ganze Nacht an Aggis Seite im Stall verbracht hatte, bis am Ende das Kalb doch noch herauskam und alle Beteiligten wie durch ein Wunder überlebten. Sie hatte nicht vergessen, dass er ihr beigestanden hatte.

»Es wird schon werden, Aggi«, sagte er und klopfte ihr aufs Fell. »Alles wird sich fügen.«

Mit Tieren war es einfach auszukommen. Sie verstanden, wie man fühlte. Was man tief drin für ein Wesen war. Sie nahmen auf eine Weise Verbindung auf, die einzigartig war. Schwierig war es nur mit Menschen. Da wurde schnell alles kompliziert. Es gab Missverständnisse und Streitereien, und keiner sah mehr auf das Wesentliche, auf das, was eine Person im Kern ausmachte. Ob sie es gut meinte, ob sie Liebe für einen empfand. Das jedenfalls waren die Erfahrungen, die Willem in seinem Leben gemacht hatte.

Als die Morgensonne blutrot über den weiten Feldern stand und die Tiere versorgt waren, wischte er sich den Schweiß von der Stirn, kehrte ins Haus zurück und bereitete das Frühstück vor. Er kochte Kaffee, briet sich ein Spiegelei und setzte sich an das Ende des Küchentischs, von dem aus er den Kuhstall sehen konnte. Solange sie noch da waren, wollte er die Tiere im Blick behalten.

Spiegeleier. Die gehörten zu den wenigen Gerichten, die er selbst zubereiten konnte. Emmi Terhöven, eine Bauersfrau aus der Nachbarschaft, war nach dem Tod seiner Frau da gewesen, um ihm ein bisschen unter die Arme zu greifen. Sie war vierzehn Jahre älter als Willem, in ihrer Familie die Älteste von fünf Kindern und hatte ihn schon als Dreikäsehoch zusammen mit anderen Kindern aus der Gegend betreut. Nach dem Tod seiner Frau hatte sie ihn bei einem Überraschungsbesuch dabei erwischt, wie er versucht hatte, sich ein Spiegelei zu braten. Zugegeben, eine ziemliche Katastrophe war das gewesen. Unten angebrannt, oben glibberig, und als er es aus der Pfanne auf den Teller hieven wollte, war das Eigelb aufgeplatzt und hatte eine Spur vom Pfannenrand über die Anrichte bis zu seinem Teller hinterlassen.

»So kannst du das nicht machen, Willem«, schimpfte sie, als wäre er immer noch der kleine Junge, auf den sie aufpassen musste. Dabei waren beide längst grau auf dem Kopf, und Emmi war schon im Rentenalter. »Die Pfanne ist zu heiß. Und außerdem: Spiegelei. Das mit dem Wenden ist doch viel zu kompliziert.« Sie sah ihn kopfschüttelnd an, dann machte sie sich hemdsärmelig in der Küche zu schaffen und bestimmte: »Wir fangen mal mit Rührei an. Da kommen die Eier in die Schüssel. Ein Schluck Milch dazu und umrühren. Immer rühren. Siehst du? Butter in die Pfanne, Eier rein und rühren. Da kann nichts passieren, Willem.«

Ohne dass er darum gebeten hatte und ohne ein weiteres Wort darüber zu verlieren, war Emmi in den folgenden Wochen regelmäßig aufgetaucht, um ihm das Kochen beizubringen. Nur das Nötigste, das er brauchte, um über die Runden zu kommen. Bratkartoffeln, Strammer Max, Wurzelgemüse.

»Morgens und abends kannst du dir Stullen machen. Aber mittags, Willem, da brauchst du was Warmes im Bauch.«

Auf die Jüngeren aufzupassen, das steckte eben in ihr drin. Gewisse Dinge änderten sich nie, egal, wie alt man wurde.

»Jetzt fehlt nur noch eins«, sagte sie zum Ende ihres Kochkurses. »Wir backen zusammen einen Kuchen. Dann sind wir fertig.«

»Wozu denn einen Kuchen? Ich brauch keinen Kuchen. Das reicht mir so.«

»Für sonntags, Willem. Nur was Einfaches. Marmorkuchen vielleicht oder Streuselkuchen. Es ist doch sonst kein richtiger Sonntag. Nicht, wenn man keinen Kuchen hat.«

Ohne seine verstorbene Frau Anna war eh kein Sonntag ein richtiger Sonntag. Allein vor einem Stück Kuchen zu sitzen würde es nur schlimmer machen. Aber das wollte Willem ihr nicht sagen. Stattdessen hatte er sich einfach geweigert. Er brauche keinen Kuchen, fertig. Emmi, die es nicht gewohnt war, Widerworte zu bekommen, wollte nicht so schnell klein beigeben. Es hatte ein ziemliches Gerangel gegeben, aber Willem hatte sich am Ende durchgesetzt. Keinen Kuchen!

Im letzten Frühjahr war Emmi plötzlich gestorben. Ein Schlaganfall, zum Glück war alles ganz schnell gegangen. Nicht wie bei ihrem Mann Heinz, der jahrelang ein Pflegefall gewesen war und sich bis zum Schluss verzweifelt ans Leben geklammert hatte. Sie hatte einfach beim Hofkehren verwundert innegehalten, dann war sie tot umgefallen. Zu ihrer Beerdigung hatte Willem schließlich doch einen Kuchen gebacken. Einen Streuselkuchen. Ganz allein. Ein Nachbarsjunge hatte ihm auf seinem Tablet-Computer gezeigt, wie man Videos abrief, auf denen Schritt für Schritt gezeigt wurde, wie es ging. Ein ganzer Tag Arbeit war das gewesen, verflucht anstrengende noch dazu, nachdem der erste Kuchen verbrannt war und der zweite aus nicht nachvollziehbaren Gründen nach alten Schuhsohlen geschmeckt hatte. Doch schließlich hatte es ein Blech richtigen Streuselkuchen gegeben, das er beim Beerdigungskaffee einfach zu dem restlichen Kuchen dazugestellt hatte. Keiner hatte etwas gemerkt, keiner hatte gefragt. Und am Abend war das Blech leer gewesen, offensichtlich hatte der Kuchen allen geschmeckt. Willem hatte das leere Blech wieder eingesteckt und war nach Hause gegangen.

Sein Spiegelei sah gut aus. Trotzdem hatte Willem keinen Appetit. Er sah zur Uhr. Noch eine halbe Stunde, bis das Fuhrunternehmen seine Kühe abholte.

Auf dem Hof erschien ein Mann mit Schirmmütze und in Arbeitshosen. Es war sein Nachbar, Alfred Janssen. Wie Willem war er ein Leben lang Landwirt gewesen, jetzt war er in Rente, und sein Hof wurde von seinem Schwiegersohn weitergeführt. Der Betrieb vergrößerte sich sogar. Ein riesiges Ungetüm von einem Sauenstall hatten sie im letzten Jahr gebaut. Fünfhundert Tiere, nur in diesem Stall. Schwer zu glauben, dass so etwas überhaupt möglich war. Alfred machte sich immer irgendwie nützlich auf dem Hof. Er wurde noch gebraucht, hatte noch eine Rolle zu spielen in seinem Leben. Im Gegensatz zu Willem.

Willem stand auf und zog sich in der Waschküche die Stiefel an. Dann trat er vor die Tür und blinzelte in die Sonne.

»Was machst du denn hier, Alfred?«

»Moin, Willem.«

»Moin.«

»Geld einsammeln. Die Beiträge für den Schützenverein.«

»Ist das Jahr schon wieder um?«

»Sieht so aus. Sonst wär ich nicht hier.«

Willem war klar, dass der Beitrag für den Schützenverein, den Alfred Janssen als Vereinskassenwart einmal im Jahr überall persönlich einsammelte, nur ein Vorwand war. Sein Nachbar, dessen Hof in Sichtweite hinter einem Erlenwäldchen lag, wusste natürlich genau, dass heute die Kühe abgeholt werden würden. Er wusste, was dieser Tag für Willem bedeutete. Alfred Janssen war da, um Willem heute nicht allein zu lassen. Auch wenn er das niemals offen zugegeben hätte.

»Dann geh ich gleich mal und hol das Geld.«

»Ich hab’s nicht eilig. Ganz wie du willst. Aber sag mal: Wann kommt denn der Fuhrunternehmer?«

»Wegen der Kühe? Der müsste jeden Moment da sein.«

Das Rolltor zum Stall stand offen. Willem konnte den Kühen dabei zusehen, wie sie sich gemächlich über das Heu hermachten.

»Hast du vielleicht einen Schnaps?«, fragte Alfred, schob die Hände in seine Arbeitshose und sah sich auf dem Hof um, als müsste er sich alles genau einprägen. »Ich weiß nicht. Irgendwie könnte ich einen gebrauchen.«

Das gab es eigentlich nie, dass die Männer an einem gewöhnlichen Tag einen Schnaps tranken, schon gar nicht am Vormittag. Alfred fragte jedoch so beiläufig, als wolle er einfach nur wissen, ob Willem es für möglich hielt, dass es heute noch Regen geben würde. Einen Schnaps. Willem merkte, dass er den tatsächlich gut vertragen könnte.

»In der Küche«, sagte er. »Ich hole mal die Flasche.«

Ehe er jedoch ins Haus gehen konnte, donnerte der Viehtransporter auf den Hof. Ein riesiger in der Sonne blitzender Lkw. Hinterm Steuer ein junger wohlgenährter Mann mit roten Wangen und Baseballkappe, der freundlich – beinahe zu freundlich – herüberwinkte. Er fuhr den Transporter rückwärts an den Kuhstall heran und ließ die Laderampe heruntergleiten. Dann sprang er vom Führerhaus auf den Hof und winkte wieder.

»Moin.« Er deutete zum Stall. »Sind das die Kühe?«

Willem fixierte ihn düster und schwieg. Das Lächeln des jungen Mannes wirkte nun etwas irritiert. Es war Alfred Janssen, der den Daumen hob und rief: »So ist es. Das sind die Kühe.«

Der Junge machte sich gleich gutgelaunt an die Arbeit. Sicherte die Rampe und ging in den Stall.

Alfred Janssen stieß einen Seufzer aus.

»Na, Willem. Nun ist es so weit.«

»Ja«, sagte er und betrachtete das Geschehen aufmerksam. »Es ist so weit.«

Er gab sich einen Ruck und trat zu dem jungen Fahrer in den Stall. Der war längst damit beschäftigt, seine Kühe auf den Lader zu treiben. Allerdings bewegte er sich zwischen den Tieren nicht so, wie Willem es für gewöhnlich tat. Er hatte es offensichtlich eilig. Willem spürte den Stress, in den seine Kühe gerieten. Sie bewegten sich ruckartig, stolperten zur Rampe und drängten sich aneinander. Mit rollenden Augen und gequältem Laut sprang Brigitte als erste Kuh auf den Transporter.

Willem blieb fassungslos stehen. Der Mann sah kurz auf und lächelte ihm zu, bevor er sich die nächste Kuh vornahm. Es war Alma, die ebenfalls kurz davorstand, in Panik zu geraten.

»Was machen Sie denn da?«, rief Willem. »Seien Sie doch nicht so hektisch!«

»Ich bin nicht hektisch. Ich treibe sie einfach auf den Laster. Wie soll man das sonst machen?«

Die Frage war offenbar rhetorisch gemeint, denn er schob sich unbeirrt durch den Stall und scheuchte die Tiere weiter vor sich her.

Willem wurde wütend.

»Gehen Sie weg! Ich mache das.«

»Nicht nötig. Ich hab’s doch gleich schon.«

Da sah Willem den Elektrotreiber in der Hand des Mannes. Ehe er sich versah, stieß er ihn einer Kuh ins Hinterteil, ausgerechnet Baldine, die erschrocken hochsprang und ängstlich in Richtung Transporter floh.

»Hören Sie auf!«, befahl Willem. »Und nehmen Sie den Viehtreiber aus der Hand. Sie sind doch wahnsinnig.«

Der junge Mann wunderte sich über Willems Tonfall. Seine gute Laune bekam sichtbar Kratzer.

»Ich mach hier nur meine Arbeit«, sagte er beleidigt. »So wie jeden Tag. Bisher hat sich noch nie einer beschwert. Die Kühe müssen halt auf den Transporter. Ich kann’s doch nicht ändern.«

»Meine Kühe brauchen keinen Treiber. Verflucht noch mal. Bei denen geht das auch so.«

Seine Kühe reagierten auf Körpersprache. So hatte er das sein Leben lang gemacht. Man musste Kontakt mit ihnen aufnehmen. Sie im Blick haben. Dann ließen sie sich auch ohne Stress auf einen Lader führen.

Dem Fahrer schien das Ganze einfach nur lästig zu werden. Er blickte sehnsüchtig zu seiner Ladefläche. Es fehlten noch drei Kühe. Mit dem Treiber in der Hand wäre es jetzt eine Sache von wenigen Sekunden. Doch Willem ging es hier ums Prinzip.

»Den Treiber weg!«, befahl er und stellte sich ihm entschlossen in den Weg. So ein Verhalten würde er auf seinem Hof nicht dulden. Er war bereit, sich mit diesem ungezogenen Jungen einen Kampf zu liefern, ganz unabhängig davon, dass der vierzig Jahre jünger und natürlich im Gegensatz zu Willem kein bisschen gebrechlich war. Sollte ihm dieser Mann eben die Zähne ausschlagen, wenn es nicht anders ging. Solange Willem noch auf zwei Beinen stand, würde der Mann seinen verfluchten Elektrotreiber nicht mehr zum Einsatz bringen.

Der Typ hielt inne. Blickte Willem resigniert an. Dann hob er die Hände, wie um sich zu ergeben, und ließ den Treiber in seiner Arbeitshose verschwinden.

»Zufrieden?«

Willem nickte und gab den Weg frei. Die letzte Kuh, die in den Transporter stieg, war Aggi. Willem trat an sie heran und klopfte ihr den Hals. Mach’s gut, Aggi. Er spürte, wie sie sich unter der Berührung beruhigte und der Stress von ihr abfiel. Dann summte die Hydraulik der Laderampe, und die Tiere verschwanden aus seinem Blickfeld.

Willem betrachtete den Treiber in der Tasche des jungen Mannes. Er war immer noch wütend.

»So können Sie doch nicht mit Tieren umgehen. Das sind Lebewesen und keine Objekte.«

»Ich mach das nicht erst seit heute.« Seine gute Laune war nun gänzlich verschwunden. »Außerdem sind das doch gar nicht mehr Ihre Tiere.«

»Solange sie noch auf meinem Hof sind, sind das sehr wohl meine Tiere. Sie sollten sich was schämen. Man muss doch Respekt vor dem Vieh haben. Eines können Sie sich gleich hinter die Ohren schreiben: Wenn mir eine Sache überhaupt nicht gefällt, dann ist es …«

Eine Hand legte sich beschwichtigend auf seinen Arm. Es war Alfred Janssen. Er sagte nichts, aber Willem verstand auch so. Lass gut sein, hieß das. Es geht doch gar nicht um den Elektrotreiber.

Und Alfred hatte ja recht. Willem stieß die Luft aus. Es hatte doch keinen Zweck.

»Wo muss ich unterschreiben?«, fragte er.

Der Fahrer hielt ihm erleichtert ein Klemmbrett hin. Nachdem er seine Unterschrift erhalten hatte, machte er sich eilig davon, ehe Willem es sich anders überlegen konnte. In einer Abgaswolke verschwand der Transporter mit Willems Kühen knatternd vom Hof. Es wurde still. Sehr still.

Alfred blickte mit gerunzelter Stirn in den Himmel und spuckte aus.

»Was willst du machen? Das ist der Lauf der Dinge.«

Willem nickte düster. Die Sonne fiel durch das offene Rolltor in seinen leeren Stall.

»Ja«, sagte er. »Gar nichts machst du da.«

»So ist es, Willem. Gar nichts machst du.«

Beiden war klar: Es war jetzt wirklich an der Zeit, die Flasche Schnaps zu holen. Denn auch so ein Tag würde vorübergehen, und am nächsten Morgen würde es irgendwie weitergehen. Das tat es schließlich immer.

»Gehen wir in die Küche«, sagte Willem. »Dann kann ich dir das Geld für den Schützenverein geben.«

»Gut. Du weißt ja, zwanzig Euro.«

»Zwanzig Euro. Die hab ich noch. Komm mit.«

Sie betraten gemeinsam das Haus, um sich in die Küche zu setzen, einen Schnaps zu trinken und den Beitrag für den Schützenverein zu übergeben. Vor allem aber taten sie es, um einander beizustehen an diesem schweren Tag, an dem Willems Kühe abgeholt worden waren.

•••••

Der Schnaps brannte angenehm im Rachen. Er wärmte Willem die Brust. Er blickte durchs Küchenfenster hinaus zum leeren Stall. Ein Anblick, an den er sich sicher nicht gewöhnen würde.

Alfred stieß einen tiefen Seufzer aus.

»Ich hab einfach Glück gehabt, Willem.«

Er meinte natürlich seinen Schwiegersohn, der war Bauer mit Leib und Seele, und seine Tochter, die mit ihrem Mann alles weiterführte.

»Glück. Das ist alles.«

Sicher hatte Alfred da recht, denn er, Willem, hatte bisher nicht viel Glück gehabt. Seine Frau war gestorben, als er einundfünfzig gewesen war. Viel zu früh. Zu seinen beiden Kindern hatte er kaum noch Kontakt. Martin war irgendwann zum Studieren nach Hamburg gezogen und hatte sich seitdem selten wieder blicken lassen. Marion hatte es zwar nur ins zwanzig Kilometer entfernte Leer verschlagen, und sie kümmerte sich noch um Willem, doch mehr aus Pflichtgefühl als aus Zuneigung, dessen war er sich durchaus bewusst. Er war der letzte Grote auf dem Hof. Mit ihm verlosch die Fackel, und es war seine Schuld.

»Willem!«

Er blickte auf. Alfred sah natürlich, wie ihm zumute war. Beinahe schämte er sich. Wenigstens solange sein Nachbar da war, sollte er sich zusammenreißen.

»Denk nicht mehr an die Kühe«, sagte Alfred. »Dies ist nicht das Ende. Es geht für dich noch weiter.«

Ja, ein knappes Jahr ging es noch weiter, dachte Willem mit bitterer Ironie. Wenn es stimmte, was die Ärzte sagten. Mehr Zeit hatten sie ihm nicht gegeben. Nur Alfred wusste davon, sonst niemand. Auch ihm hatte Willem anfangs kein Wort gesagt, natürlich nicht. Doch wenn zwei Männer so lange nebeneinander lebten und arbeiteten, ließen sich ein paar Dinge einfach nicht voreinander verbergen. Alfred hatte Lunte gerochen. Vielleicht lag es daran, dass Willem noch schweigsamer geworden war als üblich. Doch irgendwann hatte er ihm sein wettergegerbtes Gesicht zugewandt, die Augen zusammengekniffen und gefragt: »Steht es so schlimm, Willem?« Willem hatte nichts erwidert, nur zum weiten Horizont geschaut, und so hatte Alfred seine Antwort bekommen.

»Jetzt reiß dich zusammen, Willem.«

Alfred goss einen weiteren Schnaps ein, den Willem sofort hinunterkippte. Der Alkohol wirkte. Er fühlte sich langsam besser. Die Welt nahm wieder klare Konturen an.

»Dies ist nicht das Ende«, wiederholte Alfred. »Es hilft nichts, dem Hof nachzutrauern.«

Das stimmte. Es endete nicht hier und jetzt.

»Du hast noch etwas zu erledigen, Willem.«

»Ich weiß.«

»Die Zeit läuft dir davon.«

Auch das stimmte. Willem hatte noch eine wichtige Sache vor sich. Darauf wollte er sich nun konzentrieren. Es war die letzte Möglichkeit, etwas richtig zu machen in seinem Leben, in dem er so viel falsch gemacht hatte. Er musste diese Gelegenheit nutzen, bevor es auch hierfür zu spät war.

»Musst du nicht deinen Koffer packen?«

»Ja, unter anderem. Ich hab eine Menge zu tun.«

Viel würde er nicht brauchen. Ein paar Hemden und Hosen, Unterwäsche, eine Zahnbürste. Dafür reichte der alte braune Lederkoffer, der auf dem Dachboden stand. Er spürte, wie seine Lebensgeister zurückkehrten. Mit der flachen Hand schlug er auf den Tisch.

»Am besten fange ich gleich damit an. Ich habe genug Zeit vertrödelt.«

»Siehst du, Willem, sag ich doch. Genau meine Worte.«

•••••

Nachdem Alfred gegangen und Willem seinen Koffer gepackt hatte, trat er hinaus auf den Hof. Die verwaisten Ställe wollte er nicht weiter beachten. Er wollte stattdessen an die Reise denken, die ihm bevorstand. Darauf kam es nun an. Auf die letzte Reise seines Lebens.

Als plötzlich Sonnenstrahlen zwischen vorbeieilenden Schönwetterwolken hindurchbrachen und ein weiches Licht auf die weite Landschaft warfen, überkam ihn beinahe so etwas wie Vorfreude. Eine leichte Aufregung. Als wäre er noch einmal jung. Als hielte das Leben noch eine Überraschung für ihn bereit. Eine Reise zu unternehmen war ihm in seinem Leben sehr selten vergönnt gewesen. Wer Tiere hatte, der arbeitete nun mal an sieben Tagen in der Woche. Da konnte man nicht einfach nach Mallorca fliegen. Oder für ein paar Tage an die Nordsee. Er hatte das nie bedauert. Er kannte kein Fernweh. Trotzdem spürte er nun diese seltsame Aufregung, die vielleicht so etwas wie Reiselust war.

Mit einem Ruck schob er den Riegel vom Scheunentor zur Seite. Dann zog er die knarrende Holztür auf. Drinnen herrschte graues Zwielicht. Ein paar Staubkörner tanzten in den durchs offene Tor hineinfallenden Sonnenstrahlen. Willem schob einen Keil unter die Tür und trat ins Innere. Es herrschte andächtige Stille, beinahe wie in einer Kirche.

Die Scheune war in den letzten Monaten seine Werkstatt gewesen. Überall standen Arbeitsgeräte herum. Farbeimer, Schleifblätter, Schraubenschlüssel, ölgetränkte Tücher. Ein ziemliches Durcheinander. Mittendrin ragte wie ein Altar ein blitzsauberer, frisch renovierter Lanz Bulldog hervor. Ein Traktor aus den Fünfzigern, der ein halbes Jahrhundert hier vor sich hin gerostet hatte, bis er wiederentdeckt worden und wie ein Phönix aus der Asche auferstanden war. Ein Sonnenstrahl fiel durchs löchrige Scheunendach und ließ die Motorhaube aufleuchten. Taubenblauer Lack, dazu Felgen in hellem Rot. Ein tiefschwarzes Auspuffrohr, das stolz in den Himmel ragte. Und vorn auf dem Kühler funkelte erhaben das rot-goldene Emblem der Marke Lanz.

Willem ließ die Hand über den Kotflügel gleiten. Der Traktor war wirklich ein Schmuckstück. Morgen früh würde es losgehen. Einmal quer durch Deutschland. Die sanften Schmerzen, die ihn stets im Hintergrund begleiteten, erinnerten ihn daran, dass es höchste Zeit war, aufzubrechen. Noch waren diese Schmerzen kaum mehr als eine sanfte Dünung bei ruhigem Wetter, doch ließen sie bereits den Abgrund erahnen, die gewaltigen Kräfte des Meeres, die beim nächsten Sturm entfesselt werden konnten.

Aber so weit war es noch nicht. Und heute wollte er nicht daran denken. Er kletterte auf den Traktor und ließ den Motor an. Das charakteristische Tuckern des Einzylinders erfüllte die Scheune. Ein Geräusch aus seiner Kindheit, das sich schon damals für ihn nach Vergangenheit und alten Zeiten angehört hatte. Willem legte den Gang ein, ließ die Kupplung kommen. Dann setzte sich der alte Lanz mit einem sanften Ruck in Bewegung, rollte langsam und würdevoll hinaus ins helle Sonnenlicht.

Kapitel zwei

Ein Jahr zuvor

Die Strecke war so vertraut, dass sie die letzten Kilometer mit verbundenen Augen hätte fahren können. Sie kannte jeden Wiesenpfahl, jeden Wassergraben und jedes noch so kleine Schlagloch in der Straße. Auch wenn sie schon seit Ewigkeiten in der Stadt lebte und nur noch selten herfuhr, strahlte die Landschaft ein altvertrautes Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit aus. Als wäre sie noch immer sieben Jahre alt, als zähmte sie kleine Katzen in der Scheune, und gleich würde ihre Mutter den Kopf aus der Tür strecken und alle zum Essen rufen.

Sie empfand plötzlich Sehnsucht nach diesem Zuhause, das es doch längst nicht mehr gab. Nach allem, was in den letzten Wochen passiert war, wünschte sie sich nichts mehr als einen sicheren Ort zum Verkriechen. Ihr altes Leben hatte sich über Nacht in Luft aufgelöst. Nichts war mehr wie zuvor. Erst Joosts Affäre, die aufgeflogen war, und dann, während sie noch überlegt hatte, wie ihre Ehe zu retten wäre, war er schon ausgezogen. »Das bringt nichts, Marion. Du siehst ja auch keine Zukunft mehr. Ich habe schon lange gemerkt, dass du innerlich auf Distanz gegangen bist. Du denkst doch auch, dass es das Beste ist.« Wie gewohnt unterstellte er ihr, zu denken und zu fühlen, was ihm am besten in den Kram passte. Und wie so oft war sie zu sprachlos, um etwas darauf zu erwidern.

Hinter einer Kurve tauchte der Bauernhof ihres Vaters auf. Ein Häuflein kleiner Gebäude, die sich, von Eichen und Haselsträuchern umgeben, in die weite Landschaft schmiegten. Alte Backsteinmauern, leuchtend weiße Sprossenfenster und grüngestrichene Blendläden. Auf den Wiesen davor die Kühe, die sich schlenkernd am Elektrozaun entlangbewegten. Ein Ort, an dem die Welt scheinbar noch in Ordnung war.

Das Bild versetzte ihr einen Stich. Was sie jetzt überhaupt nicht brauchte, waren trügerische Erinnerungen an eine idyllische Vergangenheit, die es wahrscheinlich nie gegeben hatte. Für solche Sentimentalitäten war sie zu dünnhäutig. Kein Wunder nach den vielen Streitereien der letzten Wochen. Nach all den Nächten, in denen sie keinen Schlaf gefunden hatte. In denen sie in dem dunklen Loch zu versinken drohte, das Joost hinterlassen hatte. Wie hatte er alles einfach wegwerfen können? Ihre Ehe, ihre Liebe, seine Familie? War das alles so wenig wert? War sie so wenig wert? Marion wäre bereit gewesen, für ihr gemeinsames Leben zu kämpfen. Doch Joost war längst in seinem neuen Leben angekommen.

Nun wurden auch noch die trügerischen Bilder ihrer Kindheit wach. Egal, wie sehr sie gerade einen Ort zum Zurückziehen brauchte. Sie konnte es sich nicht leisten, rührselig zu werden. Sie musste stark sein. Den Kopf um jeden Preis oben behalten. Für Finn.

»Muss ich wirklich dahin, Mama?«, kam es von der Rückbank.

»Bitte, Finn. Wir haben doch darüber gesprochen.«

»Aber ich will nicht zu Opa.«

»Es ist nur heute. Ich habe einen Kundentermin in der Bank, der kam ganz plötzlich rein. Ich wollte das auch nicht, aber jetzt geht es nicht anders.«

Im Rückspiegel sah sie ihren kleinen Sohn, zusammengesackt in seinem Kindersitz. Er ließ den Kopf hängen und wirkte unglücklich. Es brach ihr das Herz.

»Wir sehen heute einfach, ob es dir bei Opa gefällt, ja? Wenn nicht, dann musst du nie wieder dahin. Dann denken wir uns beim nächsten Mal was anderes aus. Ist das in Ordnung?«

Obwohl sie das keinesfalls gewollt hatte, schlich sich Verzweiflung in ihre Stimme. Finn fiel in Schweigen, er merkte, dass sie sich ihrer Sache nicht sicher war. Ihr schlechtes Gewissen drohte überhandzunehmen. Egal wie schwierig die Organisation ihres Alltags geworden war, seit sie ihre Arbeitsstunden in der Bank hatte erhöhen müssen, sie wollte Finn auf keinen Fall emotional erpressen.

»Da gibt es Kühe, Finn. Und bestimmt auch Katzen. Früher gab es immer Katzen auf dem Hof. Du magst doch Katzen?«

»Ja, schon«, kam es lustlos von der Rückbank.

Es war ganz natürlich, dass Finn nicht zu seinem Opa wollte. Die beiden kannten sich kaum. Mit seinen acht Jahren war Finn drei- oder höchstens viermal auf dem Bauernhof gewesen. Sein letzter Besuch lag einige Jahre zurück. Wenn überhaupt, dann sah Willem sein Enkelkind, wenn er bei ihr und Joost in der Stadt zu Besuch war.

»Wieso kann ich denn nicht zu Papa?«

»Das habe ich dir doch erklärt. So was müssen wir planen. So kurzfristig geht das nicht.«

Das stimmte zwar nicht ganz. Doch was sollte sie sonst sagen? Dass Joost ihr Finn wegnehmen wollte und nur darauf wartete, dass sie die Betreuung des Kindes nicht allein organisieren konnte? Dass er jede Schwäche, die sie zeigte, für sich ausbeuten würde? Dann war es schon besser, Finn mit einer Notlüge zu vertrösten.

Sie verstand doch auch nicht, was in ihren Mann gefahren war. Oder sollte sie ihn besser schon Exmann nennen? Es war ja nicht so, dass Joost sich früher besonders viel um seinen Sohn gekümmert hatte. Finns Erziehung war an ihr hängengeblieben. Obwohl Joost selbständig war und als Grafiker von zu Hause aus arbeitete, war immer sie für Finn zuständig gewesen. Seine Arbeit war vorgegangen, egal, welche Probleme Finn gerade hatte. Das Arbeitszimmer seines Vaters war stets tabu für ihn gewesen.

Und jetzt hatte Joost verkündet, er wolle das Wechselmodell. Finn solle abwechselnd eine Woche bei ihm und eine Woche bei ihr leben. Ganz plötzlich. Das hatte er mit einer Kälte und einer unterschwelligen Aggressivität verkündet, die ihr sofort klarmachten, dass er nicht zögern würde, ihr mit aller Gewalt entgegenzutreten, wollte sie sich ihm in den Weg stellen.

Sie war immer noch wie unter Schock. Erst hatte ihr Mann sie betrogen, dann abserviert, und nun wollte er ihr den Jungen wegnehmen. Sie musste kämpfen, so viel hatte sie verstanden. Doch sie wusste nicht, woher sie die Kraft dafür nehmen sollte.

»Wenn wir mehr Vorlauf haben, dann können wir Papa fragen, ob er Zeit hat. Aber heute ging das leider nicht.«

Finn antwortete nicht. Im Rückspiegel sah sie, wie er schweigend aus dem Fenster starrte.

»Ich beeile mich in der Bank, mein Schatz. Ich bin ganz schnell wieder hier und hole dich ab, versprochen.«

Sie fuhr auf den Hof. Ihr Vater hörte sie nicht kommen, das lag an ihrem Elektromotor. Sie war so stolz gewesen auf ihren e-Golf. Selbst in der Bank, die Kunden immerhin mit nachhaltigen und ökologischen Investitionen lockte, gab es noch einzelne Benziner im Fuhrpark. Glücklich, wie sie war, wollte sie Joost den Neuwagen präsentieren. Dabei hatte sie ihn mit der anderen Frau überrascht.

Sie hupte, um auf sich aufmerksam zu machen, und kurz darauf trat Willem mit dem Besen in der Hand hinter dem Kuhstall hervor, um zu sehen, wer da aufgetaucht war. Völlig verdattert und mit offenem Mund sah er ihr entgegen. Als wäre sie in einer dunklen Staatslimousine samt Polizeikorso herangerauscht. Sofort spürte sie ein schlechtes Gewissen. Sie hätte ihn vorwarnen sollen. Aber war es denn tatsächlich so eine große Sache, einmal ohne Ankündigung bei ihm aufzutauchen? Natürlich hätte sie ihn häufiger besuchen können in der Vergangenheit. Doch so selten war sie nun auch wieder nicht auf dem Hof, fand sie.

Sie stellte den Motor ab, holte tief Luft und stieß die Tür auf. »Warte kurz hier, Schatz. Ich will schnell mit Opa reden«, sagte sie und trat ihrem Vater entgegen.

Willem war schmal geworden. Seine Bewegungen wirkten linkisch. Die Haare wurden dünner und immer weißer. Wieder einmal fragte sie sich, wie lange er den Hof noch bewirtschaften wollte? Die körperliche Arbeit musste ihn doch längst überfordern. Wie würde es weitergehen, wenn er älter wurde? Wer kümmerte sich dann um alles? Irgendwann würden sie sich diesem Thema stellen müssen.

»Hallo Willem.« Vater oder Papa, das kam ihr schon lange nicht mehr über die Lippen. »Ein Glück, dass du zu Hause bist. Ich hab angerufen, aber im Haus geht keiner ans Telefon. Ich hab gehofft, dass du irgendwo auf dem Hof bist.«

»Natürlich bin ich auf dem Hof. Wo soll ich sonst sein?« Er fixierte sie. »Du  … du siehst überhaupt nicht gut aus.«

So war Willem. Was für eine Begrüßung.

»Danke. Wie nett von dir.«

»Nein, ich meine nur …«

»Schon gut. Sag mal, hast du heute noch was vor?«

»Heute? Also … ich will den Stall ausmisten. Und das Scheunentor reparieren. Wieso fragst du?«

»Dann bleibst du also den ganzen Tag auf dem Hof? Gut. Pass auf, Willem. Wir haben ja schon darüber gesprochen. Über Finn. Dass in der nächsten Zeit bei mir ein paar Betreuungslücken auftreten könnten.«

Er sah sie an, als würde ihm das Thema nicht gefallen. Dabei hatten sie alles längst geklärt. Es war ja nicht so, dass Marion selbst ein besonders gutes Gefühl dabei hatte, ihren Sohn hier abzuladen. Doch es ging nun einmal nicht anders. Jedenfalls fürs Erste. So lange, bis ein Hortplatz gefunden wäre. In der Regel bekam sie auch alles unter einen Hut, den Jungen, den Haushalt, den Job, selbst mit den zusätzlichen Stunden in der Bank. Nur an Tagen wie heute, wenn so ein blöder Kundentermin dazwischenkam, dann musste sie sich eben was einfallen lassen.

»Jedenfalls habe ich jetzt gerade so eine Betreuungslücke. Ein Kundentermin, den ich nicht absagen kann.«

»Meinst du etwa heute? Das kommt aber kurzfristig. Was ist denn mit Joost? Kann der sich nicht kümmern?«

Sie versuchte, sich zusammenzureißen.

»Nein. Kann er nicht.«

Bitte, Willem, dachte sie. Mach doch einfach mal mit. Mir zuliebe. Hilf mir dieses eine Mal.

»Wo ist Joost eigentlich? Was macht er überhaupt so?«

»Was Joost macht? Das ist es, was dich interessiert?«

»So war das doch nicht gemeint. Ich wollte nur …«

Marion versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Was hatte sie denn auch gedacht? Dass ihr Vater sensibel wäre und verstünde, wie es ihr gerade ging? Sie womöglich moralisch unterstützte? Sie kannte ihn doch gut genug, um zu wissen, dass sie darauf vergebens warten würde. Sie massierte sich die Nasenwurzel, sorgfältig darauf bedacht, das Make-up nicht zu ruinieren.

»Hör zu, Willem. Eigentlich hatte ich heute frei. Dummerweise haben sich die Pläne geändert, und ich muss in die Bank. Es geht nicht anders.«

Willem schien die Sache unangenehm zu sein, er sah aus, als überlegte er fieberhaft, wie er aus dieser Situation rauskäme. War es denn wirklich so schwer, ihr einmal unter die Arme zu greifen?

»Finn kann nicht zu Joost. Der wartet nur darauf, dass ich eine Schwäche zeige. Wenn ich das mit der Betreuung nicht hinkriege, wird das ein Fest für ihn.«

»Ich weiß nicht, Marion. Da übertreibst du sicher. Er ist schließlich der Vater.«

Der Wutausbruch kam selbst für sie überraschend.

»Meinst du, ich will Finn aus Spaß hierlassen?«, fuhr sie ihn an. »Ausgerechnet hier?«

Er sagte nichts, schaute über die Kuhwiesen. Es tat ihr sofort leid. Sie musste sich zusammenreißen. Ihr Stress durfte nicht auf so eine Weise nach außen dringen.

»Entschuldigung«, schob sie kleinlaut hinterher. »Es war nicht so gemeint.«

Willem stieß ein Brummen aus. Zog sich die Mütze zurecht, blickte zu Boden.

»Weißt du, Willem, Joost hat sich nie um Finn gekümmert. Immer ist alles an mir hängengeblieben. Ich hab in der Umweltbank nur halbtags gearbeitet, damit er seine Karriere voranbringen konnte. Joost hockt Tag und Nacht vor seinem Computer. Dabei darf ihn keiner stören. Er weiß doch gar nichts über Finn. Und jetzt will er plötzlich, dass Finn bei ihm lebt. Verstehst du? Er will Finn für sich haben.«

Sie wartete auf eine Reaktion. Doch Willem schien überfordert. Als könne er keine Stellung beziehen, ohne beide Seiten gehört zu haben. Natürlich ergriff er keine Partei für sie. Warum erzählte sie ihm das Ganze überhaupt. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Sie war spät dran. Innerlich straffte sie sich.

»Finn bleibt hier. Du hast mir versprochen, dass er das darf. Ich hole ihn heute Abend wieder ab.«

»Heißt das etwa, er ist …?«

Willem sah überrascht zum Golf. Erst jetzt bemerkte er, dass der Junge auf der Rückbank saß und ängstlich zu ihm herübersah. Er war zu weit entfernt, um verstehen zu können, was die Erwachsenen sprachen. Doch ihre Körpersprache war sicher deutlich genug.

»Finn!«, rief Marion. »Komm doch her zu uns.«

Er rührte sich nicht. Sie ging zum Auto. Der Junge hatte genauso wenig Lust auf dieses Beisammensein wie sein Großvater. Sie konnte ihn gut verstehen.

»Pass auf, Finn. Wenn wir wieder zu Hause sind, dann mache ich dir zum Abendessen Fischstäbchen mit Pommes. Was hältst du davon?«

Finn liebte Fischstäbchen, doch die gab es extrem selten bei ihnen. Die ökologisch produzierten mochte Finn nämlich nicht, und die üblichen kamen Marion nicht ins Haus. Ausgerechnet Fischstäbchen. Selbst die ökologischen waren alles andere als vorbildlich, was Nachhaltigkeit anging. Aber man brauchte einem Kind natürlich nichts von industriellem Fischfang mit Grundschleppnetzen und Überfischung der Weltmeere zu erzählen. Und genauso wenig ließ sich ein Kind einen Karpfen als befriedigenden Ersatz auf den Tisch stellen. Trotzdem konnte sie sich sonst nicht überwinden, so etwas einzukaufen. Fischstäbchen waren wirklich ein rotes Tuch für sie.

»Ich besorge sie auf dem Rückweg. Deine Fischstäbchen, nicht meine, ausnahmsweise mal. Wie wäre das?«

Die Aussicht auf ökologisch zweifelhafte Fischstäbchen brachte ihn immerhin dazu, aus dem Auto zu klettern. Es war nicht leicht für ihn, das wusste sie. Sie nahm ihn in den Arm und gab ihm einen Kuss.

Es geht alles vorüber, hätte sie am liebsten gesagt. Wir werden unser neues Leben schon in den Griff bekommen. Mit der Zeit wird es einfacher werden. Dann stieg sie ins Auto und fuhr los, ohne sich noch einmal umzublicken. Sie hätte es nicht ertragen, ihn noch länger mit hängenden Schultern auf dem Hof stehen zu sehen.

Als sie wieder auf der schmalen Landstraße war, die schnurgerade an einem Abwassergraben vorbeiführte, war ihr zum Weinen zumute. Alles fiel auseinander. Hatte sie nicht längst die Kontrolle verloren? Finn, der sowieso schon unter allem litt, wurde jetzt bei seinem Großvater abgeliefert, als wäre er ein lästiges Haustier, das keiner haben wollte. Wie hatte es nur so weit kommen können?

Würde nur ihre Mutter noch leben. Anna Grote hätte mit ihrer unerschütterlichen Liebe alles irgendwie eingerenkt. Sie hätte gewusst, was zu tun wäre, wie Marion alles in Ordnung bringen könnte. Ihre Mutter hatte immer einen Weg gesehen, egal, wie verfahren die Sache sein mochte.

Doch sie war tot. Sie konnte schon lange nicht mehr helfen. Da war nur noch Willem, und für den gab es nur seine Tiere. Wie hatte es überhaupt möglich sein können, dass zwei Menschen, die so unterschiedlich waren, glücklich miteinander verheiratet waren? Aber irgendwie waren sie das gewesen, ihre Eltern. Jedenfalls glücklicher als sie und Joost, wie Marion hatte feststellen müssen.

Das Handy klingelte. Ohne den Blick von der Straße zu nehmen, zog sie es hervor. Es war Sandra, mit der sie sich das Büro teilte.

»Wo bleibst du, Marion?«

»Ich bin gleich da, in zehn Minuten. Ist der Kunde schon da?«

»Nein, das nicht …« Es hing ein deutliches Aber in der Luft. »Egal, wir sehen uns ja gleich.«

»Ist irgendwas passiert?«

»Nein. Ich … ach was. Nein.«

»Jetzt sag schon, Sandra!«

»Ich habe gerade Joost gesehen. In der Mittagspause.«

»Ja, und weiter? Ist das wichtig?«

»Er hat mich nicht gesehen. Er kam bei Bertram & Partner aus der Tür, du weißt schon.«

Die große Kanzlei in der Innenstadt. Scheidungsanwälte. Marion hatte das Gefühl, einen Schlag in den Magen zu bekommen. War Joost bereits gegen sie in den Krieg gezogen? Ohne ihr etwas davon zu sagen? War er längst dabei, sich für den Kampf mit harten Bandagen zu wappnen?

»Ich hab gleich bei Mandy angerufen, du kennst doch meine Nichte, die in der Kanzlei arbeitet. Die hat natürlich Schweigepflicht und so weiter, aber sie meinte, Joost wäre da gewesen, um über eure Scheidung zu sprechen und über Finn.«

Also machte er Ernst. Marion fühlte sich hilflos. Leer und erschöpft. So eine Frau hatte sie nie sein wollen, eine, die nach einer Trennung gleich zum Anwalt läuft. Es fühlte sich alles so unwirklich an. Aber wenn sie an Joosts Sturheit dachte, an seine manipulative Art und an seinen festen Willen, den er ihr immer aufzudrücken versuchte, dann passte es irgendwie ins Bild. Er hatte einfach beschlossen, seine Interessen durchzusetzen, koste es, was es wolle.

»Du musst dir auch eine Anwältin nehmen, Marion. So schnell wie möglich. Ich habe dir doch gesagt, ich kenne da eine …«

»Ich weiß nicht, Sandra. Geht das nicht auch ohne?«

»Marion. Du musst kämpfen. Sonst nimmt der Typ dir alles weg.«

Kämpfen. Gegen Joost. Hatte sie überhaupt die Kraft dafür? Er war immer stärker gewesen als sie.

»Triff dich einfach mal mit ihr, Marion. Nur um zu sehen, wo du stehst. Mehr nicht. Und wenn Joost Ernst macht, lass sie deinen Fall übernehmen. Ich schwöre dir: Falls es je vor Gericht geht, sage ich für dich aus. Fest versprochen.«

Das entlockte Marion ein schwaches Lächeln.

»Das ist nett von dir.«

»Dann triffst du dich mit ihr? Es ist ja nur für alle Fälle, Marion.« Da sie nicht antwortete, drängte Sandra: »Er soll Finn doch nicht bekommen, oder? Wenn du dich nicht wehrst, wird er dir alles wegnehmen, was er haben will.«

Ein Knacken in der Leitung, ein Murmeln im Hintergrund, dann war Sandra wieder am Apparat. »Ich muss Schluss machen. Dein Kunde ist gerade gekommen. Beeil dich.«

Sie beendeten das Gespräch. Marion wäre in wenigen Minuten in der Bank.

Eine Anwältin. Allein das Wort machte ihr Angst. Wieder wünschte sie sich, ihre Mutter würde noch leben. Um ihr Schutz und Rat zu geben. Doch wie es aussah, musste diese Rolle nun eine Anwältin übernehmen.

•••••

Finn schaute dem Wagen seiner Mutter hinterher, bis er nicht mehr zu sehen war, dann schob er unsicher die Hände in die Hosentaschen und richtete den Blick auf den Boden.

Willem stieß die Luft aus. Das war ja kaum mitanzusehen. Ihm gefiel das alles zwar überhaupt nicht, trotzdem gab er sich einen Ruck.

»Na, komm schon«, sagte er. »Komm mit. Ich fress dich nicht.«

Dann nahm er den Besen wieder auf und ging zurück Richtung Kuhstall. Der Junge blieb erst unschlüssig stehen, trabte dann jedoch mit eingezogenen Schultern hinter ihm her. Als sie an die angrenzende Weide traten, auf der die Kühe grasten, veränderte sich die Haltung des Jungen. Mit offenem Mund starrte er die Tiere an. Willem wunderte sich kurz, doch dann begriff er, dass Finn den Tieren noch nie so nah gekommen war. Er war ein seltener Gast hier auf dem Hof, und im Stall oder auf der Weide war er mit seiner Mutter noch nie gewesen.

»Du weißt aber doch, dass Kühe nicht lila sind, oder?«

»Na klar. Ich bin ja nicht blöd.«

Wenigstens das. Der Junge konnte reden. Und frech war er auch. Das fing ja gut an.

»Kannst du dich erinnern, dass du schon mal hier warst, Finn?«

»Klar weiß ich das noch. Da war ich noch im Kindergarten. Aber ich durfte nicht zu den Kühen. Mama hat das verboten. Damit ich mich nicht schmutzig mache.«

»Ach so? Tja, so muss es wohl gewesen sein.«

Typisch Marion. Hatte Angst davor, dass ein Kind sich auf einem Bauernhof schmutzig machte. Noch dazu auf dem ihres Vaters, auf dem sie selbst aufgewachsen war. Dabei hatte sie es als Kind geliebt, in den Ställen herumzutoben. Er fragte sich oft, ob Marion vielleicht irgendwann mal beschlossen hatte, auch alles Gute aus ihrer Kindheit zu vergessen. Einen Schlussstrich zu ziehen, und fertig.

Willem nahm den Besen und fuhr mit seiner Arbeit fort. Zuerst wollte er die Scheune fegen. Danach wäre Zeit zum Ausmisten, dann der Nachmittagstee. Alles schön der Reihe nach. Er wollte trotz des Jungen an seiner Routine festhalten. Finn trat scheu an den Wiesenzaun. Die Kühe versammelten sich auf der anderen Seite und glotzten zu ihm herüber. Er begaffte sie staunend. Zuerst mit Sicherheitsabstand, dann wagte er sich näher an den Zaun heran und spähte hinüber. Das Ganze mit einer Vorsicht, als wäre er auf Großwildsafari in Afrika.

»Die sind ja riesengroß«, sagte Finn.

»Was dachtest du denn?«

»Ich weiß nicht. Irgendwie dachte ich, die sind viel kleiner. Aber das sind ja echte Monster. Mit riesigen Monsterköpfen. Und Monsteraugen. Und Monsterzähnen. Und – guck doch mal – was für eine Monsterzunge!«

Willem schüttelte den Kopf. Wahrlich, sein Enkel hatte mit der Landwirtschaft nicht viel am Hut. Er bliebe tatsächlich der letzte Bauer der Familie.

»Beißen die?«, fragte Finn voller Ehrfurcht.

»Wenn du nicht aufpasst, fressen sie dich sogar auf. Mit Haut und Haaren.«

Der Junge machte ein skeptisches Gesicht.

»Kühe fressen keine Kinder. So viel weiß ich auch.«

Widerworte zu geben war offenbar nichts Ungewöhnliches für ihn. Der Junge hatte nicht lange gebraucht, sich auf dem Hof zu akklimatisieren.

Finn beschäftigte sich weiter mit den Kühen. Er entdeckte, dass die Tiere ihm folgten, wenn er am Zaun auf und ab ging. Langsam wurde er mutiger. Er machte Spielchen mit den glotzenden Kühen, lief immer schneller am Zaun entlang, um die Tiere zu verwirren. Dann machte er ruckartige Bewegungen und ergötzte sich daran, wenn ein paar Tiere in den Fluchtmodus wechselten, verschreckt zurücksprangen und dann doch wieder neugierig zurückkehrten. Schließlich lehnte er sich über den Zaun, um einer Kuh auf den Hintern zu schlagen.

»Finn!«, rief Willem. »Lass das. Du bringst zu viel Unruhe in die Herde.«

Er zog die Hand zwar zurück, Willem sah ihm jedoch förmlich an, wie er darüber nachdachte, was er stattdessen für Faxen machen konnte.

»Komm da weg. Lass die Kühe in Ruhe.«

Widerwillig riss er sich los und kehrte zu Willem zurück.

»Und was machen wir jetzt?«, fragte er.

»Was wir machen, weiß ich nicht. Ich kann dir sagen, was ich jetzt mache. Den Stall ausmisten. Mit dem Frontlader.«

Seine Augen wurden groß. »Du mistest den Stall mit dem Trecker aus? Wirklich?«

Verwundert nahm Willem zur Kenntnis, dass der Junge wusste, was ein Frontlader ist. Er fragte sich, wie es zusammenpasste, dass Finn von Kühen überhaupt keine Ahnung hatte und trotzdem wusste, dass die hydraulische Ladevorrichtung bei einem Traktor Frontlader genannt wurde. Marion hatte ihm das ganz sicher nicht beigebracht.

»Darf ich mit auf den Trecker? Bitte! Ich möchte so gern Trecker fahren.«

»Nein, das geht nicht. Ich hab keine Zeit für so was.«

»Ich bin noch nie mit einem Trecker gefahren. Bitte.«

»Der Trecker ist für dich tabu, verstanden? Da fällst du nur runter. Ich will keinen Ärger mit deiner Mutter haben.«

»Was hast du denn für einen? Der hat doch sicher einen Kindersitz, oder?«

Willem verschränkte die Arme. Am besten stellte er gleich zu Anfang ein paar Dinge klar.

»Du kannst gern hier auf dem Hof sein, wenn sich sonst keiner um dich kümmern kann, Finn. Aber ich habe hier zu tun, verstehst du? Ich muss arbeiten. Das heißt, du suchst dir eine ruhige Ecke, wo du spielen kannst und nichts kaputtmachst.«

»Ich mach nichts kaputt, versprochen. Ich möchte nur …«

»Musst du eigentlich keine Hausaufgaben machen?«

»Die sind schon fertig.«

»Siehst du da vorn die Heuballen? Neben dem Scheunentor. Da setzt du dich hin. Und da bleibst du. Das sind die Regeln hier: Du darfst mir nicht im Weg rumstehen und musst mich in Ruhe arbeiten lassen. Vor allem hältst du dich vom Trecker fern. Haben wir uns verstanden?«

Finn nickte. Mit hängenden Schultern trottete er davon. Er gehorchte. Immerhin. Willem holte den Traktor, steuerte ihn über den Hof. Finn sah ihm sehnsüchtig dabei zu. Es war wirklich ein trostloser Anblick. Willem spürte sein schlechtes Gewissen. Im Grunde wäre ja nichts dabei, den Jungen auf dem Trecker mitfahren zu lassen. Er konnte selbst nicht so richtig erklären, warum er das nicht wollte.

Vielleicht lag es daran, dass der Kindersitz Marions angestammter Platz war. Früher, in den Zeiten, in denen sie noch sein kleines Nesthäkchen gewesen war. Da hatte sie ihn überallhin begleitet, aufs Feld, zum Heuholen, in den Landhandel. Sie hatten auf dem Trecker gemeinsam geschwiegen, oder Marion hatte alles, was passierte und was um sie herum zu sehen war, kommentiert. Der Kindersitz war ihr Stammplatz gewesen, auf dem sie ihm wie selbstverständlich Gesellschaft geleistet hatte, tagein, tagaus, sommers wie winters. Wie sehr er diese Stunden mit seiner Tochter auf dem Trecker genossen hatte, war ihm erst bewusst geworden, als er sein kleines Mädchen längst an die Welt verloren hatte und ganz allein auf seinem Hof zurückgeblieben war.

Letztlich spielte das alles aber keine Rolle. Dies war sein Hof, und er stellte die Regeln auf. Punktum. Der Junge würde bald wieder fort sein. Sobald Marion einen Hortplatz für ihn hatte. Bis dahin würden sich alle Beteiligten irgendwie mit der Situation arrangieren müssen. Finn musste sich an die Regeln halten: keine Kinder auf dem Traktor.

Von seinem Heuballen aus warf der Junge ihm nun einen wahren Hundeblick zu. Doch Willem setzte als Reaktion nur ein steinernes Gesicht auf. Er würde sich nicht von einem Achtjährigen manipulieren lassen, der traurig aus der Wäsche schaute. Sollte Finn sich ruhig schon daran gewöhnen. Er, Willem Grote, würde sich nicht von großen Kinderaugen weichkochen lassen. Nie im Leben.

Kapitel drei

Willem betrachtete prüfend den Himmel. Er hatte offensichtlich Glück, was das Wetter betraf, denn wie es schien, würde er seine Reise in Begleitung eines stabilen Hochdruckgebiets antreten.

Der Lanz stand stolz und würdevoll im Sonnenlicht. Das rot-goldene Emblem auf der Kühlerhaube funkelte, der taubenblaue Lack war matt und makellos, über allem thronte das tiefschwarze bauchige Auspuffrohr. Dieser Trecker war ein echtes Schmuckstück. Kaum zu glauben, dass er vor einem Jahr kaum mehr als ein großer Rosthaufen im Schuppen gewesen war.

»Glaubst du, er wird es schaffen?«, hatte Alfred Janssen gefragt, als er den fertig aufgearbeiteten Traktor von allen Seiten begutachtet hatte. »Schließlich sind es tausendzweihundert Kilometer. Sechshundert hin und sechshundert zurück. Eine ganz schöne Strecke.«

»Fünfhundertdreiundsiebzig pro Strecke«, hatte Willem korrigiert. »Hab ich genau ausgerechnet.«

»Du weißt, was ich meine. Ist keine leichte Aufgabe für ein so altes Schätzchen.«

Sie würden sehen. Der Motor war überholt, alles auf Vordermann gebracht. Letztlich war der Lanz wohl wie eine alte Dame – wenn Willem sie gut behandelte, würde sie ihm schon eine treue Begleiterin sein. Und ihn ans Ziel bringen. Er hatte ohnehin keine Wahl. Dies war seine einzige Chance. Bis zum nächsten Sommer konnte er nicht warten.

An der Rückseite hatte Willem einen Holzkasten montiert. Er nahm seinen braunen Lederkoffer und stellte ihn zu den anderen Dingen in den Kasten: ein Rucksack mit Lebensmitteln, ein Schlafsack, falls er unterwegs kein Gasthaus fand, eine große Plane, wenn es mal einen Regenschauer gab, daneben das Werkzeug für den Lanz, eine Ölkanne, alte Lappen und ein Dieselkanister.

Nachdem die Kiste verschlossen war, kletterte er auf den Bock und ließ den Motor an. Lautes Knattern erfüllte den Hof. Ein Schwall dunkler Rauch wurde durch das Auspuffrohr geblasen. Willem warf einen letzten Blick über Haus und Ställe. Es war so weit. Seine Reise begann.

Zum ersten Mal in seinem Leben verließ er für mehr als drei oder vier Tage sein Zuhause. Es roch nach Sommer und nach Dieselöl, ein warmer Wind wehte ihm um die Nase, und auf einmal erfasste ihn ein unvermutetes Gefühl von Freiheit. Es fühlte sich gut an.

Unterhalb des Lenkrads hatte er seine Karte festgeklemmt. Die Strecke war sorgfältig eingezeichnet. Er würde hauptsächlich kleine Nebenstraßen befahren, damit seine alte Dame den Verkehr nicht allzu sehr behinderte. Es ging einmal quer durch Deutschland.

Ein paar Kilometer von seinem Hof entfernt, noch immer auf vertrautem Terrain, passierte er den Friedhof seiner Kirchgemeinde. Ein von Buchenhecken und hohen Eichen umgebenes Areal am Rande der Zweihundert-Seelen-Gemeinde.

Auf dem Friedhofsvorplatz gab es einen kleinen Brunnen, der unter einer prachtvollen Linde stand. Die Linde gab es schon seit ein paar Jahrhunderten an dieser Stelle. Unter ihrer beeindruckenden Baumkrone hatte sich schon einiges ereignet. Sie hatte viele kommen und gehen sehen und würde noch dort stehen, wenn Willem längst begraben war.

Trotz der Schönheit dieses Ortes war ihm unwohl. Er überlegte kurz, ob er einfach weiterfahren sollte. Aber das wäre ihm falsch vorgekommen. Nein, er musste anhalten. Auch wenn es jedes Mal ein schwerer Gang für ihn war. Wo er schon einmal hier war, wollte er sich von seiner Frau verabschieden. Er würde nach dem Rechten sehen und das Grab in Ordnung bringen. Danach würde er seine Reise fortsetzen.

Also parkte er den Bulldog im Schatten der Linde und kletterte vom Sitz. Er trat durch das Eingangsportal auf den einsamen Friedhof. Sonnenlicht fiel durch die Blätter der Eichen und warf Muster auf den Kiesweg. Es war so still und friedlich, dass Willem schon verstehen konnte, warum andere Angehörige hier Trost fanden und die Nähe zu ihren Lieben suchten.

Die Grabstelle seiner Familie befand sich abseits des Hauptwegs im Schatten einer dunklen Eibe. Er sah gleich, dass es gut war, hergekommen zu sein. Unkraut hatte sich zwischen den Bodendeckern breitgemacht. Löwenzahn blühte. Auf dem Grabstein klebte Vogeldreck. Willem kniete sich schwerfällig hin und machte geduldig alles sauber.

Dann stand er wieder auf, klopfte sich die Hose sauber und legte die Hände ineinander. Er hörte den eigenen Atem. Jetzt gab es nichts mehr zu tun. Beklommen ließ er den Blick auf dem Grabstein ruhen. Anna Grote, geb. Boeckhoff, 14. 09. 1948–28. 07. 1999.

Im Schatten der Eibe hielt sich die feuchte Morgenkühle. Es war klamm und roch nach faulem Moos. Jetzt spürte Willem die Einsamkeit, die er beim Aufbruch noch von sich hatte fernhalten können. Die Feuchtigkeit und der modrige Geruch waren ihm unangenehm. Er fühlte sich plötzlich mutterseelenallein, ohne einen Halt in der Welt. Er war hier nur von Kälte umgeben. Von Stille und Tod. Unwillkürlich schüttelte er sich.

»Sie bauen jetzt einen Kreisverkehr an der Stelle.«

Willem drehte sich ruckartig um. Bernhard Ostermeier stand hinter ihm. Mit zittrigen Beinen und auf einen Stock gestützt. Er war schon über neunzig. Ein lebendes Lexikon der Gegend, wenn er nicht gerade wirr redete. Was in den letzten Jahren immer häufiger geschah.

»Was meinst du?«, fragte Willem. »An welcher Stelle?«

»Da, wo sie verunglückt ist.« Er deutete mit dem Stock auf den Grabstein. »Anna. Da bauen sie jetzt. Wegen der vielen Unfälle. Aus der Kreuzung wird ein Kreisverkehr. Ich habe das in der Zeitung gelesen.«

Also war er gerade klar im Kopf.

»Na, dann ist es ja gut.«

Willem sah sich nach Bernhards Begleitung um. Er war sicher nicht von selbst zum Friedhof marschiert. Allerdings war keiner zu sehen.

»Bist du etwa allein hier?«

»Ach was. Das Deernken ist da.« Das Deernken war Astrid, seine jüngste Tochter. »Sie lässt mich nicht mehr aus den Augen. Keine Sekunde. Als könnte ich abhauen und mit dem nächsten Schiff nach Amerika auswandern.« Bernhard blickte zum Grabstein. »Was haben wir, Willem?« Er schien angestrengt nachzudenken. »Zweitausend…?«

»Sechzehn, Bernhard. Es ist zweitausendsechzehn.«

»So lange schon.«

»Ja. Siebzehn Jahre.«

»Es kommt mir vor wie gestern.«

»Mir auch.«

»Zum Glück hast du die Kinder. Die hängen so an dir. Das hat man nicht oft. Auf deine Kinder kannst du dich verlassen, Willem. Sieh zu, dass ihr zusammenhaltet.«

»Was?«, stieß er mit brennenden Augen hervor. Bernhard wusste doch, dass er kaum noch Kontakt mit seinen Kindern hatte.

»Gestern habe ich Marion gesehen«, fuhr der Alte unbeirrt fort. »So ein hübsches Mädchen. Sie ist schon fast erwachsen, nicht wahr?«

Jetzt verstand Willem. Es fiel Bernhard schwer, Vergangenheit und Gegenwart auseinanderzuhalten. Man merkte es nicht immer gleich, wenn ihm die Zeitebenen durcheinandergeraten waren.

»Sei froh, dass du sie hast«, sagte er. »Das ist nicht selbstverständlich, dass Kinder ihren Vater so lieben.«

Willem schwieg. Wäre er nur nicht auf den Friedhof gegangen. Er wollte das alles nicht hören. Wollte nicht an seine Vergangenheit erinnert werden.

»Zusammen werdet ihr das überstehen«, sagte Bernhard. »Du und deine Kinder.«

Er schloss die Augen. Die Kälte zog tiefer in seine Glieder.

»Dich trifft keine Schuld, Willem. Das weißt du doch?«

»Natürlich nicht. Warum sollte mich Schuld treffen?«

»Es war Schicksal. Dieser Bengel in dem anderen Auto, der ist zu schnell gefahren. Der hat Anna nicht gesehen. So sind die jungen Leute.«

Eine Stimme schallte über den Friedhof.

»Papa! Wo bist du denn?«

Im nächsten Moment tauchte Astrid auf. »Ach da. Hallo Willem.« Sie sah ihm gleich an, dass ihn etwas bewegte, und fragte beunruhigt: »Alles in Ordnung, Willem? Hat er etwa …?«

»Nein. Alles ist gut.«

»Ein Glück. Komm schon, Papa. Wir haben nicht ewig Zeit. Lassen wir Willem in Ruhe.«

»Dein Vater ist da«, sagte Bernhard.

Er deutete auf den Lanz Bulldog vorm Friedhoftor.

»Sein Traktor steht da vorn.«

Astrid achtete gar nicht darauf.

»Komm schon, Papa.« Sie zog ihn weg. »Wir müssen los. Tut mir leid, Willem. Schönen Tag noch.«

»Grüß deinen Vater von mir«, rief Bernhard, dann verschwanden sie hinter der Eibe.

»Das mach ich«, kam es Willem mühsam über die Lippen.

Er holte Luft. Das Grab war sauber. Der Löwenzahn entfernt. Es war Zeit, Abschied zu nehmen.

»Bis bald, Anna«, sagte er mit belegter Stimme.

Er räusperte sich, wandte sich ab und verließ mit schnellen Schritten den Friedhof.

Draußen auf dem Vorplatz empfing ihn die Sonne mit wärmenden Strahlen. Sie verscheuchte ein wenig die Kälte, die ihn am klammen Familiengrab erfasst hatte. Lichtflecken tanzten unter der Linde am Boden, Blütenstaub erfüllte die Luft. Er setzte sich an den Brunnen, aus dem frisches Wasser in eine Sandsteinschale plätscherte. Das Wasser war eiskalt und klar. Er wusch sich zuerst den Schmutz von den Händen, dann benetzte er seine Stirn.

Am liebsten wäre er wieder umgekehrt. Auch wenn ihn zu Hause nur die leeren Ställe erwarteten. Er fühlte sich alt und müde. Vielleicht war er gar nicht stark genug für diese Reise. Vielleicht war seine Krankheit schon zu weit fortgeschritten.

Helles Lachen war hinter ihm zu hören. Er drehte sich um. Zwei junge Frauen standen mit vollgepackten Fahrrädern vor seinem Lanz. Offenbar hatten sie den Traktor entdeckt, als sie auf der schmalen Straße vorbeigekommen waren, und waren von den Rädern abgestiegen, um ihn näher in Augenschein zu nehmen. Das historische Gefährt war natürlich ein ziemlicher Blickfang. So etwas bekam man nicht häufig zu sehen. Wie ein Fenster in die Vergangenheit. Ein hochpoliertes Museumsstück vielleicht, aber nichts, was man auf einem Parkplatz neben einem Friedhof am Ende der Welt erwartet.

Die beiden wirkten, als wären sie ebenfalls auf großer Fahrt, genau wie Willem. Sie trugen Funktionskleidung: Fahrradhosen, Halbarmshirts aus Polyester, wasserabweisende Windjacken, Radrennhandschuhe und Fahrradhelme. Ihre Räder waren beladen mit Gepäck. Willem glaubte ein Zelt zu erkennen. Schlafsäcke, Isomatten, Campingutensilien. Und seitlich ausgebeulte Radtaschen, die nach einer Menge Gewicht aussahen.

Die jungen Frauen waren gutgelaunt. Obwohl die Räder aussahen, als hätten sie schon eine Menge hinter sich, strahlten die Mädchen nur so vor Frische und Reiselust. Eine trug eine Kurzhaarfrisur, die unter dem Fahrradhelm kaum zu erkennen war. Die andere hatte lange blonde und kaum zu bändigende Haare, die wild unter ihrem Helm hervorquollen, als würde der Helm jeden Moment von der Frisur gesprengt werden können. Irgendwie erinnerte ihn diese blonde junge Frau an Marion, als die gerade achtzehn geworden war. Damals hatte sie auch immer so fröhlich und unbekümmert gewirkt und dazu genauso eine blonde Löwenmähne besessen.

Die beiden bemerkten Willem erst, als er direkt hinter ihnen auftauchte und auf den Lanz zusteuerte.

»Ist das Ihrer?«, fragte die Blonde.

»Ja, das ist meiner. Ein Lanz Bulldog.«

»Wow. Der sieht wirklich toll aus. Wie aus einem alten Film. Oder aus dem Museum. Fährt der noch?«

Willem lachte. »Sonst wäre ich kaum hier, oder?«

»Stimmt«, lachte sie mit. »Wie schnell fährt der denn?«