Wind von Achtern - Thorsten Spanuth - E-Book

Wind von Achtern E-Book

Thorsten Spanuth

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Beschreibung

Sieht schon chic aus, dieses schnittige Segelboot, wie es da so am Steg liegt, oder? Aber nein, hier geht es nicht ums Segeln. Vielmehr dem dahinter verborgenen Traum von dieser Leichtigkeit, einer Schwerelosigkeit, einem vermeintlich mühelosen Dahingleiten. Ganz so, wie man sich idealerweise auch sein eigenes Leben vorstellt. Vermutlich hatten die Akteure der 17 Kurzgeschichten aus meiner Familie im Zeitraum zwischen 1492 bis 2022 auch diesen inneren Wunsch, jedoch gestaltete sich deren Leben oft alles andere als leicht, erlitten sie schwere Schicksalsschläge, wurden sie von geschichtlichen Ereignissen überrollt, hatten sie Wünsche, denen sie nacheiferten und die sich später ganz anders entpuppten, als sie dachten. Aber nie gaben sie die Hoffnung auf, dass das Leben doch mal eine gute Wendung für sie bereithalten würde, sie entspannt loslassen können, sie sich tragen lassen können, von einem leichten Wind von Achtern.

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Familienforschung, fachlich Genealogie genannt, ist für den Forscher selbst ein hochinteressantes Feld, bei dem man in endlosen Stunden alte Fotos versucht zu identifizieren, Dokumente in alter Schrift zu entziffern, anstrebt Personen mittels eines Computerprogramms in Zusammenhang zu bringen und dabei den Staub und Geruch der vergangenen Jahrhunderte einatmet. Dank mehrerer Chronisten meiner Familie gibt es Dokumentationen, die vom Spätmittelalter bis in die Neuzeit reichen und die zu einem riesigen Archiv über jetzt 18 Generationen angewachsen ist.

Unwillkürlich versetzt man sich hinein in das Leben seiner Vorfahren und ihrer Zeit und wünscht sich, sie wieder zum Leben zu erwecken.

Mit diesem Buch habe ich mir selbst diesen Wunsch erfüllt und einige von ihnen lebendig werden lassen, indem ich daraus einen historischen Roman verfasst habe, der sich stark an der Genealogie orientiert, ihn aber aufgrund des Handlungszeitraums von über 500 Jahren in Kurzgeschichten abgefasst habe. Jedes Kapitel beschreibt also eine für sich abgeschlossene Handlung, was nicht bedeutet, dass die Kapitel nicht in Beziehung zueinanderstehen, im Gegenteil: Im Anschluss an jedes Kapitel finden Sie eine Erklärung zu den handelnden Personen und deren Beziehung zu anderen. Gleichwohl können Sie ein Kapitel lesen oder auch überspringen oder wenn Sie es wollen, auch in umgekehrter Reihenfolge lesen.

Den ganz Aufmerksamen unter den Lesern sei gesagt, dass ich sogar einen Bezug zu meinem letzten Roman ‚Ochsenritt‘ darin versteckt habe.

Für Namen oder Begriffe, die mit einem *-Stern gekennzeichnet sind, finden Sie im Anhang ein Glossar mit Erläuterungen oder Hintergrundinformationen.

INHALT

Wiedensahl 1492

Petershagen 1540

Schaumburger Land 1627

Windheim 1658

Loccum 1660

Nienknickern 1702

Windheim 1791

Castle Garden 1848

Hannover 1869

Sedan 1870

Heiligendorf 1911

Ohlendorf 1917

Würzburg 1925

Hamburg 1942

Hannover 1970

Corpus Christi 2010

Hamburg 2022

Glossar

Es waren mindestens acht Jahre des Geschachers, des immer wiederkehrenden Überzeugens, des gegenseitigen Ausspielens der Könige von Portugal, Frankreich und Spanien notwendig, bis er Geld, Schiffe und Zusicherungen seiner erwarteten Schätze und Entdeckungen erreicht hatte und er sich am 3. August 1492 von Palos de la Frontera mit seinen Schiffen ‚Santa Maria‘, ‚Nina‘ und ‚Pinta‘ auf den Weg machte, denn Christoph Kolumbus wollte einen Seeweg nach Indien finden.

1

Wiedensahl* Frühsommer 1492

Tönnies* döste ein wenig nach der Mittagspause am Feldrand, während seine Schwestern, die den Männern die Mittagsmahlzeit brachten, bereits wieder auf dem Rückweg zum Hof waren und sein älterer Bruder, mit Spitzhacke und Harke bewaffnet, wieder in das Feld hineinlief, um die jungen Hafertriebe von Unkraut zu befreien.

Sein Vater saß ebenfalls noch auf seinem Baumstumpf und hob für Tönnies überraschend nun kurz die Hand, nachdem er sich erhob und Anstalten machte, seinem Bruder zu folgen, was ihm bedeutete, innezuhalten. Was er erst viel später verinnerlichen sollte, wartete sein Vater absichtlich darauf, mit seinem Sohn vollkommen allein zu sein, denn er hatte etwas mit ihm zu besprechen, was ihm offenbar schon geraume Zeit schwer auf dem Herzen lag.

Erst schmeichelte er ihm, was er doch schon für ein prächtiger großer Junge geworden sei, nein, er sei doch schon ein richtiger junger Mann!

Aber es käme nun auch die Zeit, da er auf eigenen Beinen stehen müsse, er sich eine Stelle als Knecht auf einem Hof und vielleicht auch eine Frau suchen müsse, denn, er führte nochmal an, was ihm aber sowieso vollkommen bewusst war, den Hof wird er nicht erben können, den würde stets der älteste Sohn übernehmen, und daher ist es nun an der Zeit, dass er sich auf den Weg machen müsse.

Sein Vater liebte alle seine Kinder und eines davon zu verlieren, wo es so unendlich schwer war, sie aufzuziehen, tat ihm in der Seele weh. Schnell erhob er sich daher, trat auf ihn zu, legte seinem Sohn eine Hand auf die Schulter, wendete sich dabei aber ab und machte sich geradewegs auf ins Feld. Tönnies blickte ihm kurz nach und sah seinen Vater von hinten, wie er sich mit dem Ärmel kurz über das Gesicht wischte. Dann trottete er ihm hinterher.

Zwei Tage später hatte er seine wenigen Habseligkeiten gepackt und machte Anstalten sich nun von allen zu verabschieden, seiner Mutter, seinem Vater und allen Geschwistern. Allen war offenbar gewahr: Tönnies verlässt den Hof. Und so bedurfte es kaum Worten, nur die Mutter musste sich die Tränen in der Schürze abwischen.

Er hatte nur eine grobe Vorstellung davon, bei welchen Bauern er nach einer Knechtstelle fragen konnte, sein Vater hatte offenbar auch keine rechte Idee, zumal sie wussten, dass eigentlich alle Bauern so arm waren wie sie selbst und so wanderte er aus Wiedensahl hinaus und zog von einem zum nächsten Dorf.

Kein Bauer bot ihm eine Stelle, ob in Pollhagen, Nordsehl, Meerbeck oder Niederwöhren. Alle verwiesen auf ihre Söhne, die auf dem Hof arbeiten würden. Nur einer bot ihm eine Stelle bis nach der Erntezeit im Spätsommer, aber das nützte ihm nichts, denn gerade im Winter brauchte er ein Dach über dem Kopf und etwas zu Essen.

Als er nach Tagen der Wanderung schon gar keine Hoffnung mehr hatte, sagte ihm ein Bauer, er kenne einen Marquard Pedig, der hätte einen großen Hof in Wiedensahl, der könne vielleicht jemanden gebrauchen. Ja und ein Kind hätte der nur, eine Tochter, die Hilla, und als er das so sagte, machte er dabei ein verschmitztes Gesicht.

Tönnies ließ sich nicht anmerken, dass er diesen Pedig und seine Tochter kannte. Deren Hof, der Kellereihof*, den Pedig vor ein paar Jahren als Pächter von dem Kloster Loccum übernommen hatte, stand schließlich nur eine Viertelmeile von dem väterlichen Hof entfernt.

Sie hatten mit den Leuten nie viel zu schaffen, sagten sich nur ‚Guten Tag und guten Weg‘. Pedigs wie auch seine Familie hatten stets genug mit sich selbst zu schaffen, um über die Runden zu kommen.

So marschierte Tönnies am nächsten Morgen nach Wiedensahl zurück, was gegenüber anderen ein sehr spezielles Dorf war, denn es bestand aus einer einzigen ewig langen und geraden Dorfstraße, an denen links und rechts in Abständen die Gehöfte der Bauern angesiedelt waren.

Als er wieder am elterlichen Hof ankam und Mutter und Vater von seiner erfolglosen Suche berichtete, erzählte er ihnen auch von dem Hinweis mit dem Kellereihof. Sein Vater blickte skeptisch, hatte aber offenbar zuvor nie an seinen Nachbarn gedacht und meinte nun, er könne es ja mal bei Pedig versuchen.

Der mal ‚Absche Hoff‘, jetzt aber allgemein ‚Kellereihof‘ genannte Hof liegt mitten im Zentrum, neben der Kirche, linksseitig dem ‚geweihten Teich‘, der dem Dorf seinen Namen gab und der als Wasserspeicher und Feuerlöschteich diente. Die Hausnummer 25 wäre für Unkundige schwer zu finden, denn das Haupthaus liegt doch etwas weiter zurück auf dem Hofgelände.

Linker Hand eine Obstbaumwiese, rechts ein Brunnen und ein in Bau befindliches kleines Gebäude, welches so aussah, als ob es mal ein Backhaus werden sollte, denn es bestand aus einem einzigen gemauerten runden Ofen, dahinter war ein Schweineauslauf und ein flacheres Stallgebäude zu sehen, vermutlich ein Schafstall. Gegenüber dem Backhaus waren zwei Knechte dabei, mit ihren Mistgabeln Heu von einem Fuhrwerk in den Dachschober der langgezogenen Zehntscheune* zu befördern.

Er fragte nach Bauer Pedig. Einer der beiden Männer zeigte kommentarlos auf das Haupthaus, und diesem näherte er sich nun, staunend, ob des weiten Hofes und einem wahrhaft riesigen Hofgebäude. Sein Blick auf das Haus wurde kurz unterbrochen durch das laute Läuten der Kirche, die rechter Hand unmittelbar in Sichtweite neben dem Hof lag.

Er ging am Scheunentor vorbei auf die andere Seite des Gebäudes, wo sich der Wohnbereich befand, klopfte gegen die Eingangstür, die daraufhin von einer Frau im Alter seiner Mutter geöffnet wurde. Auf seine Frage nach Bauer Pedig rief sie laut nach ihm in den langen Flur hinein, der Wohnbereich und Stallungen miteinander verband.

Nach ein paar Minuten des Wartens kam ein korpulenter Mann aus dem langen Gang durch die Küche hindurch zur Tür und sah ihn grußlos mit fragendem Blick an. Tönnies nahm seine Mütze vom Kopf, grüßte freundlich und fragte nach einer Knechtstelle.

Pedig blickte ihn an und erkannte ihn erst, nachdem Tönnies ihm erzählte, er sei der Sohn des Kötners* von der anderen Straßenseite, woraufhin sein Gesichtsausdruck ein klein wenig freundlicher wurde.

Was er denn mitbringe, fragte Bauer Pedig und Tönnies berichtete frank und frei von seinen Kenntnissen und Erfahrungen in der familiären Landwirtschaft, wie sehr er anpacken würde, egal bei welchem Wind und Wetter, wenn er denn eine Mahlzeit am Tag und ein Dach über dem Kopf dafür bekäme.

Bauer Pedig brummte ab und zu zu Tönnies Ausführungen, sah ihn dabei weiterhin an und Tönnies versuchte seinem Blick standzuhalten und nicht mit den Augen zu zwinkern. Dann rief er laut wie zuvor die Frau in die Küche hinein, dass es wirklich im ganzen Haus zu hören war:

„Hilla!!!“

Er sah ihn weiter an und Tönnies Blick wurde zunehmend fragender, was jene Hilla nun mit seinem Begehren nach einer Knechtstelle zu schaffen haben würde. Als diese nun trotz des auffordernden Rufes ziemlich gemächlichen Schrittes zur Tür kam, fühlte er sich jetzt, wo beide, Vater und Tochter nebeneinanderstanden und ihn ansahen, als würden sie einem Stück Vieh gegenüberstehen und abwägen, ob sie es denn kaufen sollten oder nicht, ziemlich unwohl. Er wunderte sich, dass die Tochter genauso wohlgenährt daherkam, wie ihr Vater, was sehr ungewöhnlich war, denn Tönnies selbst war sehr schlank, wie eigentlich alle Leute aus der Gegend, denn so viel zu essen, um so rundbäckig zu werden, hatte eigentlich niemand im ganzen Schaumburger Land.

„Was meinst Du mein Schatz, können wir noch einen weiteren Knecht auf unserem Hof gebrauchen?“

So genau hatte er sich Hilla, der er zuvor kaum begegnet war und eigentlich nur aus Kindheitstagen kannte, noch nie betrachtet. Jetzt schaute er ihr ins Gesicht, wusste er doch, dass die Entscheidung offenbar von ihrem Urteil abhing.

Bauer Pedig sah ebenfalls seine Tochter an, die wiederum nach doch recht kurzem Blick auf Tönnies fast ein wenig schüchtern und errötend zur Seite blickte und für Tönnies fast unhörbar zu ihrem Vater sagte:

„Ja, den können wir sicher brauchen.“

„Gut, dann nimm ihn man mal an die Hand“, sagte er ironisch süffisant, „und zeig ihm seinen Schlafplatz hinten auf dem Schober.“

Natürlich nahm sie ihn nicht an die Hand, sondern sie ging schüchtern vor und er folgte ihr, nach einem zusätzlichen Nicken von Pedig durch den langen Flur des Wohnbereiches zu den Stallungen. Hier befanden sich mehrere Pferde auf der einen und einige Kühe auf der anderen Seite, jeweils in Verschlägen. Noch nie hatte Tönnies einen Bauernhof erlebt, der so viele Stück Vieh halten konnte. Eine steile Treppe führte hinauf unter das Dach, wo mehrere Räume mit Türen versperrt vorhanden waren. Sie öffnete eine der Türen und es zeigte sich ein kleines Zimmer mit einem Bettgestell in einer Ecke, darüber ein Kruzifix an der Wand hängend, einem alten, wackeligen Schrank und einem kleinen Fenster mit Blick auf den Kirchhof.

„Tut es dir gefallen?“, fragte sie schüchtern.

„Ja, es ist recht“, sagte er freundlich lächelnd und ein wenig überlegen kokett, angesichts ihrer Unsicherheit. Er hatte überhaupt keine Scham, mit einem Mädchen allein in einem Raum zu stehen, hatte er doch mit seinen Schwestern immer genug Weibsbilder um sich herumgehabt.

„Wie ist dein Name?“, fragte sie schon weniger schüchtern, mehr geschäftsmäßig, angesichts dessen, dass sie ihn eigentlich noch hätte wissen können.

„Ich bin der Tönnies“, sagte er, „Tönnies Span Uth“.

Sie nickte kurz.

„Der Vater wird dir heute Abend beim Essen sagen, welche Arbeit er morgen für dich hat.“

Damit ging sie hinaus, ließ dabei die Tür offenstehen und kraxelte vorsichtig die steile Treppe wieder hinab.

Tönnies freute sich, endlich eine Stelle gefunden zu haben, konnte sich aber noch keinen rechten Reim auf die Pedigs machen. Erstmal kletterte er auf einen Heuschober neben seinem Raum, fand ein paar Jutesäcke, stopfte sie mit Heu und presste sie in das Bettgestell, sodass sie eine weiche Liegefläche bildeten. Um zu schauen, ob es gut genug ist, sprang er mit einem Satz auf sein hergerichtetes Bett und war zufrieden. Er verschränkte die Hände unter dem Kopf und blickte zur Decke und zum Fenster. Nach Tagen der Ungewissheit entspannte er sich und nickte ein wenig ein.

Er erwachte dadurch, dass jemand laut in die Scheune hinein seinen Namen rief. Er erkannte Hillas Stimme, die, als er kurz laut ‚ja‘-zurückrufend antwortete, sie ebenso laut „Essen!“ rief.

Er stand auf, zog die Hände einmal durch die Haare und über das Gesicht, dann stieg er die Treppe hinunter und ging in die große Wohnküche des Hofes, wo bereits mehrere Männer, darunter die beiden, die beim Betreten des Hofes Heu schaufelten und Bauer Pedig am Kopfende des großen Tisches saßen, während Hilla und ihre Mutter die Teller, die jeder der Männer vor sich hatte, auffüllte. Keiner der Männer beachtete ihn, wie er etwas peinlich im Raum stand, bis Hilla ihm Zeichen machte, sich auf einen letzten freien Platz seitlich am anderen Ende des Tisches zu setzen. Auch sein Teller wurde von Hilla befüllt, mit Grießbrei, gekochten Karotten und sogar einem kleinen Stück Fleisch, Schweinefleisch, wie er vermutete.

Die Frauen setzten sich zuletzt und der Blick aller Personen am Tisch ging zu Bauer Pedig, der strengen Blickes die Hände zum Gebet faltete, woraufhin alle anderen ihm dies nachmachten und auch Tönnies die Arme auf dem Tisch aufstellte und die Hände faltete. Sein Nachbar schlug ihn leicht gegen den Ellenbogen, was ihm bedeutete, nur die Unterarme mit gefalteten Händen auf dem Tisch aufzulegen, was offenbar im Hause Pedig so Sitte war, denn er sah nun, dass alle es so machten.

Vom Armstubser überrascht bekam er gar nicht mit, dass Bauer Pedig ein kurzes Gebet sprach, welches er aber, bis auf das ‚Amen‘ am Schluss nicht verstehen konnte. Er entschuldigte sich selbst damit, dass er vermutete, dass keiner der Anwesenden das Gebet wirklich verstehen konnte. Aber alle sprachen das ‚Amen‘ laut nach.

Dann griff Pedig sowie die Frauen nach Messer und Gabel und die Knechte alleinig nach einem Löffel, denn sie hatten keine Messer am Tisch und viele stopften das Essen hungrig in sich hinein. Tönnies hatte großen Hunger, aß aber mit Bedacht und die anderen Anwesenden beobachtend, von denen nach wie vor keiner ihn beachtete.

Niemand sprach ein Wort.

Nach ein paar Minuten hatte Bauer Pedig seinen größten Hunger gestillt und knabberte am Knochen seines großen Stückes Fleisches. Dabei fing er an zu brabbeln und Tönnies erkannte, dass er Anweisungen erteilte für die Arbeit am nächsten Tag. Dabei sprach er offenbar jeden Mann einzeln der Reihe nach am Tisch an und jeder musste für sich selbst erkennen, ob er mit der Ansprache gemeint war. Für die Männer schien das kein Problem, nur Tönnies musste sehr die Ohren spitzen, als er seinen Namen hörte und irgendetwas von ‚Schafstall‘ heraushörte, aber nichts weiter. Pedig, der ihn die ganze Zeit, während er ihn ansprach nicht ansah, sah ihm nun doch direkt ins Gesicht, erwartend, dass Tönnies zumindest durch ein Nicken zu erkennen gab, er hätte verstanden. Er hatte bis auf das eine Wort allerdings nicht wirklich verstanden, was Pedig ihm sagte, trotzdem sagte er laut: „Jawohl, Herr Pedig“, was seine direkten Sitznachbarn grinsen ließ.

Nachdem Bauer Pedig dem letzten Knecht Anweisungen erteilt hatte, stand er auf, woraufhin alle anderen am Tisch ebenfalls aufstanden, denn das Mahl war damit beendet, egal, ob man selbst aufgegessen hatte oder nicht. Tönnies nahm noch im Stehen mit seinem Löffel das Stück Fleisch auf und schob es sich, den anderen den Rücken zudrehend, im Ganzen in den Mund, legte den Löffel auf den Teller zurück und alle Männer schoben ihre Mützen auf die Köpfe und verließen die Küche.

___

Es dauerte eine Weile, bis Tönnies sich eingewöhnt hatte und verstand, wie Bauer Pedig seinen Hof führte: Mit Strenge und manchmal harten Worten, aber gerecht, wie Tönnies meinte. Pedig war da nicht viel anders, als sein eigener Vater. Mit der Zeit hatte er den Eindruck, dass Pedig zunehmend zufriedener mit ihm war, war er im Gegensatz zu den anderen Knechten doch jünger und kräftiger und hatte auch ein Gespür dafür entwickelt, es seinem Herrn stets recht zu machen. Ja, keinem begegnete Pedig freundlicher und manchmal auch zuvorkommender als Tönnies, was in der Knechtschaft zu dem einen oder anderen bösen Blick und auch mal zu einem bösen Wort führte.

Als Tönnies und der Knecht Arnold eines Morgens von Frau Pedig weit vorm Melken geweckt wurden, um in dem Kuhstall bei einer Geburt zu helfen, fanden sie Bauer Pedig mit der am Boden liegenden Kuh, wie er gerade vergeblich dabei war, das Kalb an seinen Läufen aus dem Körper der Kuh zu zerren. Sie banden einen Strick um die Läufe, weil sich dieser deutlich besser greifen ließ als die blutigen und verschmierten Beinchen des Kalbes. Alle drei Männer mussten sich anstrengen zu ziehen und dann wieder zu warten, bis die Kuh von Wehenschub zu Wehenschub wieder Kraft hatte, ihr Kalb aus ihrem Körper zu pressen. Nach einer Stunde hatten sie es endlich geschafft. Das Kalb lebte und Tönnies rieb es mit Stroh ab und stellte es auf seine wackeligen Beinchen. Kurz danach brachten sie auch das Muttertier wieder zum Stehen.

Pedig war zufrieden und wies Arnold an, die blutige Nachgeburt zu greifen und nach draußen zu schaffen. Alle drei Männer waren müde und erschöpft, aber Tönnies war überrascht, dass Arnold nun wutentbrannt brüllte:

„Wieso muss ich das machen Herr! Lassen sie den Tönnies doch auch mal die Drecksarbeit machen!“

Pedig sah ihn streng an, sagte aber nichts, hob nur seinen Arm mit ausgestrecktem Zeigefinger und wies vom Boden auf die Stalltür.

Arnold griff die blutigen Überbleibsel aus Mutterkuchen und Nabelschnur mit bloßen Händen und verschwand damit durch die Stalltür. Pedig wies Tönnies an, im Stall zu bleiben und auf Kuh und Kalb weiter achtzugeben, dann verschwand er wieder im Wohnhaus.

Tönnies mistete den Verschlag etwas aus und brachte frisches Stroh hinein, dann schloss er das Gatter und beobachtete lächelnd Kuh und Kalb, wie sie sich aneinander annäherten und die Kuh ihr Kalb ableckte.

Plötzlich bekam er einen Schlag von der Seite, etwas Stinkendes, schmieriges hatte ihn mitten ins Gesicht getroffen. Arnold stand neben ihm und prügelte mit der Nachgeburt der Kuh auf ihn ein. Tönnies packte ihn an den Armen und überlegte für eine Sekunde, ihm ins Gesicht zu schlagen, ließ es aber sein, angesichts dessen, dass er viel stärker als der andere war, er ihn mit seinen bloßen Händen festhalten konnte und er so lang und fest zudrückte, bis Arnold das blutverschmierte Gedärm zu Boden fallen ließ.

„Verdammter Mistkerl!“, stammelte Arnold, „mir war die Hilla und der Hof versprochen und nun kommst Du hergelaufener Jüngling daher und willst sie mir wegschnappen!“ Dabei versuchte er, sich von Tönnies Armen zu befreien und nach ihm zu treten. Tönnies stieß ihn von sich und Arnold griff ihn nicht erneut an, stattdessen drehte er sich um und verschwand. Tönnies hatte den Eindruck, Arnold unterdrückte dabei Tränen der Wut.

Als er nun allein im Stall stand, griff er nach einer großen Schaufel, nahm die Nachgeburt der Kuh damit auf und schaffte alles auf den Misthaufen nach draußen.

Zum ersten Mal wurde ihm klar, wieso Pedig und Hilla sich dafür entschieden hatten, ihn als Knecht einzustellen: Es ging ihnen einzig darum zu prüfen, ob er zum Ehemann, Schwiegersohn und Hoferbe taugen würde.

___

An einem herrlichen Frühsommertag des Jahres 1492 betrat nun Tönnies Span Uth als letzter die übervolle Kirche in Wiedensahl in einem etwas engen, aber sehr sauberen Anzug, den ihm seine Mutter von einem Verwandten geborgt und etwas geändert hatte. Die innere Anspannung, die Blicke aller Männer und Frauen in Richtung der Tür ließen sein sonst so großes Selbstbewusstsein ganz klein werden, als er wie in Trance Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand in das Weihwasser tauchte, sich bekreuzigte und langsamen Schrittes auf dem Mittelgang der Kirche dem Altar zuging, wo Hilla, in einem weiten, weißen Leinenkleid, von den durch die Fenster einfallenden Sonnenstrahlen erleuchtet, wie ein Engel aussehend, ihn erwartete. Neben ihr stand Pastor Küte, der ihn mittels einer einladend wirkenden Handbewegung andeutete zu ihm zu kommen, sich neben Hilla zu stellen und mit seiner linken etwas unsicher ihre rechte Hand zu ergreifen.

Wenn er in späteren Jahren von seinen Kindern gefragt wurde, wie das denn war, damals bei der Hochzeit mit der Mutter, erinnerte er sich tatsächlich an nichts außer seiner engelsgleichen Braut, die ihn bis zu seinem Tod begleiten sollte.

Genealogie zu Kapitel 1

Vorab ein paar grundlegende Informationen zu Personen und deren Namen: Erst in der Zeit der Renaissance kam es steter auf, dass auch einfache Menschen einen Nachnamen hatten. Maßgeblich war zuvor immer der Vorname, und um den Namen der Familie fortzuführen, war es üblich, dass man dem ältesten Sohn den Namen des Vaters gab. Gleichzeitig war das Spektrum der üblichen Namen gegenüber heute sehr begrenzt, mit der Folge, dass es viele Namensgleichheiten gab und man in der Forschung sich erst einmal orientieren muss, um welche Person es sich tatsächlich handelt. Daher werden nachfolgend alle geschilderten Personen zusätzlich mit ihrer Nummer in der Genealogie in Klammern dahinter genannt. (Nummer des Familienzweiges / Bindestrich / persönliche Nummer. Jeweils angeheiratete Personen oder Personen, die nur kurz gelebt haben, haben keine Stammnummer).

Nachnamen entwickelten und veränderten sich über die Jahrhunderte. So schrieb sich die hier geschilderte Familie Pedig später Peck und heißt heute Peeck.

Viele Namen leiten sich von deren Berufen ab. Klassisch sind Namen wie ‚Müller‘, sprich jemand, der eine Mühle betrieb oder ‚Meier‘, jemand, der einen Bauernhof mit Milchwirtschaft betrieb. Der Familienname Span Uth leitet sich von den sog. Hand- und Spanndiensten ab. Gemeint ist damit das alltägliche Ein- und Ausspannen von Pferden oder auch Ochsen und ihrem Fuhrwerk, deren Versorgung und Pflege und dem Einsatz von landwirtschaftlichen Geräten, wie Eggen oder Pflügen. Über die Jahrhunderte veränderte sich der Name in dem weitverzweigten Familienstamm zu Spanuth, Spanaus oder Spanutius jeweils mit einem oder Doppel-n geschrieben.

Tönnies Span Uth (#1-1) (1470-1547), seit 1492 verheiratet mit Hilla Pedig (geb. 1474., gest. unbek.); 5 dokumentierte Kinder, unklar ist ein 6. Kind (ebenfalls mit Namen Tönnies (#1-2)), das aber vermutlich eher ein Kind eines Bruders von #1-1 sein könnte (siehe Kapitel 2). Ab 1519 wird Tönnies (#11) Pächter des Kellereihofes (Hof 25, Adresse heute Wilhelm-Busch-Str. 6 in Wiedensahl, auf dem jetzt das Gebäude der Ortsfeuerwehr steht)

Die letzten Hofgebäude auf dem Grundstück wurden 1973 abgerissen. Gerettet wurde lediglich ein Balken aus dem Hausgiebel von 1612, in dem sich Johan Spanuth (#5-49) (siehe Kapitel 3) verewigt hatte und der heute im Museum des Pfarrhauses in Wiedensahl ausgestellt ist.

Es war der verzweifelte Versuch, die verloren geglaubte Weinernte zu retten, als man sich am Ende des trockensten Jahres seit Menschengedenken daran machte, in Würzburg den Kaiserwein zu ernten. Erst Jahre später stellte sich heraus, dass die 1540er-Ernte mit dem ‚Würzburger Stein‘ den ältesten bekannten Lagerwein des Jahrtausends hervorgebracht und man ganz nebenbei die Spätlese erfunden hatte.

2

Petershagen Sommer 1540 *

Er war bereits wach, als mit dem ersten Morgengrauen, die Vögel, allen voran die Amseln, ihren Morgengesang anstimmten und er hatte sich vorgenommen, heute besonders früh aufzustehen, weil er zuerst dran sein sollte mit der Schaufelei im Schacht, aber er fühlte sich schwach, wie kaum zuvor, nein, schlimmer, er hatte den Eindruck, er würde von Tag zu Tag immer schwächer.

Dabei glaubte er sich mit seinen vierzig Jahren eigentlich noch jung und gesund, kannte er doch lebenslänglich kein anderes Leben als dieses harte und entbehrungsreiche auf dem Hof. Aber dieses Jahr war verdammt. Das sprach er so nie aus, sondern dachte es nur, würde ein solches Wort allein als Gotteslästerung ausgelegt, aber er wusste keinen anderen Ausdruck, für diese unerträgliche Hitze, die der Herrgott über sie hereinbrachte.

Das ging im letzten Winter bereits los, nur da ahnten sie noch nicht, was auf sie zukommen würde. Kalt war es manchmal, aber nicht besonders, vor allem fiel seit Menschengedenken im ganzen Winter kein Schnee. Erst später bemerkten sie, dass es auch kaum geregnet hatte.

So waren die Felder im Frühjahr ausgetrocknet, konnte man, so tief man auch schaufelte, kaum feuchte Erde hervorbringen. Und da hinein brachten sie ihre Saat aus und mussten zusehen, wie der Wind die Erde zu großen Staubwolken aufwirbelte und die Saat gleich mit ihr. Kaum eine Kornpflanze trat aus dem Boden, aber angesichts der Unmöglichkeit, das Feld mit Kannen und Eimern aus dem Sahl zu gießen, verdorrten die zarten Pflänzchen in der Frühsommersonne, ehe sie richtig sprießen konnten.

Erst gab es also keinen Niederschlag und dann kam die Sonne hinzu, die bei stets wolkenlosem Himmel von Tag zu Tag immer heißer hernieder schien.

Seine Frau, die Alheit stupste ihn an, woraufhin er nur kurz brummte und sie sich dann wieder zurückdrehte. Es war ohnehin unerträglich in ihrer Kammer unter dem Dach, schliefen sie ohne die daunenen1 Decken, weil die Wärme der Vortage in dem fensterlosen Raum außer über die Lücken in den Ziegeln nicht entweichen kann und es in dem Raum nachts kaum abkühlte. Zusätzlich hörte er unten in der Küche bereits seine Vettern rumoren und die große Familie sich unterhalten.

Der Lütje, Wilcken und Marquard warteten bereits auf ihn und angesichts dessen, dass es kaum was zu essen und zu trinken auf dem Hof gab, oder besser die Männer dieses Wenige den Frauen und Kindern überließen, gingen sie vor die Tür, griffen nach Schaufel, Kiepe und Seilen und gingen das Stück hinüber zum gemauerten Brunnen.

Sie verstanden sich ohne jegliche Worte, war diese Arbeit doch bereits Routine der letzten Wochen, wonach sie abwechselnd sich das Tauende um die Hüfte knoteten, Schaufel und Kiepe in den Brunnen hinunterwarfen, ein Talglicht entzündeten und nun heute Tönnies, von allen nur der Olde genannt, über die Brunnenmauer stieg, sich langsam in den tiefen Schacht hinunter hangelte, während ihn die drei anderen mit dem Seil vorsichtig abseilten.

Langsam und vorsichtig drückte er seinen Körper an den steinernen Wänden des Brunnens, um nicht abzurutschen, sich zu verletzen oder sogar hinunter zu stürzen, denn der Brunnen war schon so einige Ellen tiefer geworden, als er ursprünglich war.

Die stete Hoffnung, am Boden in tiefes Wasser einzutauchen, wurde erneut enttäuscht, reichte das Wasser doch wie gestern nur bis zu den Knöcheln.

Er klemmte das kleine Licht zwischen zwei Feldsteine, mit denen sie die Ummauerung laufend tiefer bauten, löste das Seil um die Hüften und band die Kiepe daran fest, dann begann er Sand zu schaufeln, bis die Kiepe mit der höchstmöglichen Menge Sand befüllt war und von den anderen nach einem kurzen Pfiff vom Olden heraufgezogen wurde. Anschließend ließen sie mit der Kiepe weitere Feldsteine hinunter.

Er genoss die Kühle in dem Schacht, war diese doch die Entschädigung für die schwerste und unangenehmste Arbeit, die er zu verrichten hatte, zumal sie bisher unbefriedigend war, weil sie trotz wochenlanger Arbeit nicht auf mehr Wasser stießen als zuvor. Dazu kam die stetige Angst, der Schacht könne einstürzen, einen von Sandmassen begraben oder von den großen Feldkieseln erschlagen.

Nach ein paar Stunden erlosch sein Talglicht, das Zeichen, dass seine Schicht beendet war. Er band sich erneut das Tau um die Hüften, dann zogen ihn die anderen nach oben und er stemmte sich mit letzten Kräften, an der Brunnenmauer hangelnd und stützend wieder hinauf.

Die Erleichterung, es wieder hinauf geschafft zu haben, wurde sofort durch das grelle Sonnenlicht und die mittlerweile enorme Hitze getrübt, brach er regelrecht wegen des Temperaturunterschiedes oben zusammen und musste sich von den anderen helfen lassen, in den Schatten einer kleinen Bank an der Hauswand zu gelangen.

Wohl wissend, dass es ihm nicht guttut, hatte er zuvor unten im Schacht zwei Hände voll von dem sandigen Brackwasser getrunken und er musste etwas husten und speien angesichts des Sandes, den er im Mund und Hals verspürte.

Langsam öffnete er wieder die Augen, blinzelte den Sand aus ihnen heraus und versuchte gleichmäßig zu atmen. Er hatte das Gefühl, dem Tode ganz nahe zu sein. Dabei war er eigentlich stolz, in seinem Alter noch so gesund zu sein, setzte er seinen Körper möglichst nie irgendwelchen Risiken der Verletzung oder Ermüdung aus, trank im Gegensatz zu den meisten anderen kein Bier, obwohl es gerade auf diesem Hof seiner Vettern stets zu haben ist, zu haben war, bis ihnen das Wasser ausging, hatten sie doch eine Brauberechtigung des Klosters, was bis zum letzten Jahr eine schöne zusätzliche Einnahmequelle war, nun benötigen sie das Wasser aber für Wichtigeres als Bier.

Mittlerweile war Wilcken in den Schacht gestiegen und der Olde erhob sich, ging wieder rüber zum Brunnen und half ihn abzuseilen.

Wenn mittags die Sonne am höchsten stand, hörten sie auf mit der Arbeit, erholten sich etwas im Schatten und arbeiteten nachmittags weiter.

Seit einigen Wochen gab es auf dem Hof deutlich weniger von den normalen Hofarbeiten zu tun. Die Felder konnten sie ohnehin nicht mehr retten, die mussten sie nun vollends verdorren lassen, aber das Vieh konnten sie schon seit dem Frühling nicht mehr versorgen. Es gab nicht genug Wasser und auch kaum Futter, denn dieses mussten jetzt die Hofbewohner für sich selbst aufsparen.

Also fingen sie an, das Vieh zu schlachten, stellten aber fest, dass sie das Fleisch nicht richtig pökeln konnten, denn plötzlich gab es im ganzen Schaumburger Land kein Salz mehr zu kaufen, egal wohin sie fuhren, bis nach Stadthagen im Süden, Petershagen im Westen, nirgends war Salz zu bekommen. Auf den Gedanken, das eigene Vieh zu schlachten, sind wohl noch sehr viele andere Bauern gekommen.

Bis vor Wochen aßen sie also sehr viel Fleisch, viel mehr, als sie zuvor im Leben jemals gegessen hatten, aber sie hatte nur die Wahl, es zu essen oder es verderben zu lassen.

Eines Nachmittags kam Pfarrer Turnah zu ihnen auf den Hof. Die Männer unterbrachen die Arbeit, stellten sich steif in einer Linie nebeneinander auf und nahmen die Mützen vom Kopf. Der Pfarrer wollte sie zur Arbeit auf dem Gottesacker verpflichten. Der kirchliche Totengräber könne die Arbeit nicht mehr alleine schaffen, da einfach zu viele Gräber zu schaufeln seien. Trotz der sengenden Hitze zitterten die Männer, nickten dem Pfarrer stumm mit gesenkten Köpfen zu, woraufhin dieser sich umdrehte und auf die Dorfstraße zurückkehrte, sicher auf dem Wege, weitere Gemeindemitglieder zu diesem Dienst zu verpflichten.

Der Olde konnte den Pfarrer insgeheim nicht ausstehen, konnte er dessen stetige Predigt einer göttlichen Bestrafung nicht mehr hören. Nein, er hat viel darüber nachgedacht, er ist sich keiner Schuld bewusst, weshalb Gott ihn und die Seinen mit dieser Hitze und Dürre so strafen sollte. Bei der letzten Beichte hat er dann auch keine Sünde bekannt und der Pfarrer war regelrecht erzürnt über ihn. Aber er blieb stur. Wenn er sich keiner Sünde bewusst ist, wird er sich auch zu keiner bekennen.

Und mit einem inneren Grimm gingen die Männer nun nachmittags rüber zur Kirche und setzten das fort, was sie vormittags bereits taten:

Sie gruben Löcher in den Boden.

Vor ein paar Tagen wurde er nachts wach, auch seine Frau erwachte, denn es waren Schüsse und Schreie zu hören. Sie standen nicht auf, um zu schauen, denn dem Olden war ohnehin klar, was da los war. Als er am Morgen dann von einem seiner Vettern die Nachricht hörte, in die Zehntscheune drüben auf dem Kellereihof bei seinem Onkel Tönnies und Vetter Johan hätten welche eingebrochen, um dort Korn, Mehl oder irgendwas anderes Essbares zu stehlen, war das für ihn keine Überraschung, denn schon seit Wochen hatte der Loccumer Vogt* die Zehntscheune mit bewaffneten Männern bewachen lassen. Trotzdem wirkte dies auf alle in der Familie als ein Zeichen, es ginge nun mit ihnen dem Ende zu.

Nach dem Sonntagsgottesdient schritten die Menschen nach der Verabschiedung vom Pfarrer schnellen Schrittes aus der prallen Sonne vor der Kirche und gingen nach Hause, einzelne trafen sich auf der sonnenabgewandten Seite der Kirche, um sich dort noch etwas zu unterhalten, denn die Wirtschaft hatte schon geraume Zeit geschlossen.

Der olde Tönnies schickte seine Frau und die Kinder nach Haus, er selbst käme gleich nach, sagte er und ging auf eine Gruppe dreier Männer zu, die abseits aller anderen im Schatten standen und sich unterhielten.

Er reichte den Männern die Hand. Alle waren sie Nachbarn und kannten sich seit Kindheitstagen. Was für andere aber nicht erkennbar war, war die Tatsache, dass sie sich heute Mittag hier nicht zufällig trafen. Gleichwohl verstummten die Männer nach dem der Olde dazukam und dieser versuchte durch ein offenes Wort die anderen wieder zum Sprechen zu bringen:

„Ich kann die Predigten des Pfarrers nicht mehr ertragen“, meinte er griesgrämig, „diese ewigen Ermahnungen, nicht zu stehlen, der Herrgott würde dies strafen.“

„Die Leute stehlen nicht, weil sie Diebe sind, sondern, weil sie verzweifelt sind“, meinte Cordt, und der Olde hatte ihm damit den Mund geöffnet, den anderen von seiner Idee, die er vorab schon einmal ankündigte, zu berichten.

„Wir müssen das Überleben unserer Familien sichern, ohne dass der Herrgott uns zürnt“, fuhr er fort.

„Meine Felder sind verdorrt, das Vieh ist fort und die Kammer ist leer“, sagte Hanß, „sollen wir jetzt die Rinde von den Bäumen essen?“

„Ich war letzten Winter einige Tage in Petershagen“, fuhr Cordt fort, „dort lagen an jedem Abend Frachtkähne am Kai, weil sie nachts wegen der Dunkelheit nicht weiterfahren können. Die sind vollbeladen, viele mit Ziegeln oder Fässern, aber auch einige mit Korn.“

Die anderen sahen ihn gespannt an, sagten aber kein Wort.

„Ich weiß, dass den Schiffern die Fracht auf ihren Kähnen nicht gehört, sie haben nur den Auftrag, sie von Minden nach Bremen zu bringen.“

„Willst Du damit sagen, wenn wir uns etwas von dem Korn nehmen, wir es damit nicht stehlen?“, fragte Henrich etwas unsicher.

„Wir stehlen es nicht dem Schiffer. Gleichwohl wird er uns nicht freiwillig davon abgeben“, antworte Cordt, „aber ich habe eigentlich noch eine ganz andere Idee.“

Die anderen sahen ihn gespannt an.

„Ich will, dass wir uns von dem Korn nur borgen.“

„Borgen?“, fragte Hanß, „wie einen Pflug?“