Windschatten - Isabella Mey - E-Book
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Isabella Mey

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Beschreibung

Windschatten Julia, die Tochter des Schattenlords und einer Feuermagierin, fühlt sich zur Außenseiterin verdammt. Ohne besondere magische Fähigkeiten wünscht sie sich nichts sehnlicher, als ein ganz normales Leben. Doch irgendwas verbergen die Eltern vor Julia. Ob das Geheimnis etwas mit den schwarzen Blättern, der Stimme aus dem Nichts oder dem spurlosen Verschwinden von Markus zu tun hat? Und was führt dieser mysteriöse Sandro im Schilde?   Ein fantastischer Liebesroman voller Gefahren, Gefühle und Gegensätze   Nichts ahnend biege ich um die Ecke, wo ich geradewegs in jemanden hineinrenne. Schockiert reißt es mich zu Boden, während mein Gegenüber leicht schwankend auf mich herabschaut: Sandro! Sandro?Das darf doch nicht wahr sein!   »Wa-was machst du denn hier?«, stammele ich erschüttert. Reiner Zufall oder ist er uns etwa gefolgt? Doch statt zu antworten, wendet er sich einfach ab und trabt davon. Von meinem Harndrang ist nichts mehr zu spüren, dafür keuche ich noch immer fassungslos, als auch schon das nächste Chaos über mich hereinbricht: Es passiert in dem Moment, als ein Krähenpärchen über mir hinwegflattert und sich ein letzter Sonnenstrahl den Weg über den Horizont, an meinem Gesicht vorbei, zur Wand des Gebäudes bahnt. Der Schatten, welcher meinen Umriss zeichnet, entfaltet urplötzlich einen ungeheuerlichen Sog. Genau, wie es bereits in meinem Traum geschehen ist, zerfließt die Materie meines Körpers zu einer Art schwarzer Wolke, welche von meinem eigenen Schatten eingesogen wird. In meinem Hirn dreht sich alles, als ich plötzlich als zweidimensionales, schwarzes Wesen an der Gebäudewand klebe. Das kann doch nicht wahr sein! Dieses Mal träume ich doch nicht, oder hat mich der Zusammenstoß in die Ohnmacht befördert??? Doch mein Dasein als Schattengestalt fühlt sich viel zu real an für einen Traum. Meine schwarzen Finger können deutlich die Textur der Metallwand erspüren und …      

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Isabella Mey

Windschatten

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Inhalt

 

 

Schwarze Blätter

Julia, Eppstein, Dienstag, 5. Mai

Dichte Nebelschwaden wabern zwischen den Bäumen hindurch, verschleiern die Sicht auf das Unbekannte und hüllen den Wald in gespenstische Düsternis. Vom steilen Anstieg muss ich keuchen, wobei mein Atem kondensiert und damit seinen Beitrag zum Nebel leistet. Der Schrei einer Krähe lässt mich jäh zusammenfahren, als sie sich vom Ast über mir in die Lüfte erhebt, um vom weiß-grauen Dunst verschlungen zu werden. Mein Herz donnert unnatürlich laut und ich versuche, die aufkommende Nervosität zu verdrängen. Normalerweise bin ich nicht so schreckhaft, doch dieses eklige Gefühl, beobachtet zu werden, haftet schon seit geraumer Zeit in meinem Nacken – ein Umstand, der von der schlechten Sicht nicht gerade begünstigt wird. Obwohl ich dem Pfad schnaufend bergan folge, fröstele ich in meiner dünnen Jacke. Unwillkürlich schüttelt es mich, als sich die Atmosphäre schlagartig verändert. Im ersten Moment kapiere ich überhaupt nicht, was vor sich geht (die Bäume und Sträucher wirken plötzlich dunkler, trister) doch dann erkenne ich den Grund dafür, was mich augenblicklich schockiert innehalten lässt: Alles Grün, alle Blätter und Halme haben sich verdunkelt. Fassungslos fixiere ich den Busch am Wegrand. Die Blätter, die gerade eben noch in sattem Maigrün geleuchtet hatten, haben sich innerhalb eines einzigen Atemzugs rabenschwarz gefärbt.

Das kann doch nicht wahr sein!

Schwer atmend spähe ich nach allen Seiten, doch in diesem undurchdringlichen Nebel könnte ich nicht mal meine beste Freundin erkennen, selbst wenn sie nur ein paar Schritte entfernt von mir stünde.

Schwarze Magie! Das muss schwarze Magie gewesen sein …, erkenne ich schockiert. War ich das etwa oder ist hier noch jemand?

Im Grunde kann ich es nicht gewesen sein, gleich aus zweierlei Gründen: Ich bin keine Magierin und wenn ich eine wäre, dann würde das Tattoo in meinem Nacken verhindern, dass ich etwas zaubere, was nicht vom Gefühl des Wohlwollens begleitet ist.

… kaum vorstellbar, dass jemand mit diesem Gefühl Blätter einschwärzt …

Mir wird ganz anders zumute, als ich nun deutlich den Blick eines Fremden in meinem Rücken spüre. Ich fahre herum und versuche verzweifelt, durch die dichte weiße Wolkenwand zu spähen, was mir natürlich nicht gelingt.

Ein Ast knackt.

Todesmutig hole ich tief Luft und bringe ein klägliches »W-wer ist da?« heraus.

Ein Schatten huscht durchs Gebüsch. Eigentlich bräuchte ich mich nicht zu fürchten, denn diesen Pfad durch den Wald nehme ich jeden Morgen zur Schule und es kann nicht lange dauern, bis hier auch andere Schüler auftauchen. Dennoch sträuben sich mir die Nackenhaare, wenn ich mir nur vorstelle, nach dem Verursacher der schwarzen Blätter zu suchen. Nicht, dass ich Angst vor Magie hätte, schließlich bin ich damit aufgewachsen. Meine Mutter Inea ist eine Feuermagierin, mein Vater Torin der Schattenlord und meine Großtante Liliana eine Lichtmagierin, die wunderbar Pflanzen wachsen lassen kann. Nur mir fehlt jegliche magische Begabung, weshalb ich mich nicht selten fremd in meiner eigenen Familie fühle und lieber etwas mit meiner nichtmagischen Freundin Mai unternehme.

Meine Beine können sich noch immer nicht entscheiden, ob sie lieber die Flucht ergreifen, oder nach der Ursache für die schwarzen Blätter suchen sollen. Daher stehe ich erstarrt zwischen schwarzen Büschen und Gräsern und kämpfe mit meinem pochenden Herzen. Wieder knackt es. Jemand schnauft und ich kann Schritte hören. Ein grauer Schatten zeichnet sich im Nebel ab.

»Hey …« Vicky hält keuchend inne, wobei sie sich auf ihre beiden Wanderstöcke stützt, und stiert mich zornig an. »Was glotzt du denn so?«

Tatsächlich starre ich meine vollschlanke Klassenkameradin noch immer ziemlich verdattert an, weil mein Hirn einfach nicht kapieren will, was sie mit den schwarzen Blättern zu tun hat, bis mir endlich die Erleuchtung kommt: Vicky hat rein gar nichts mit den Vorfällen zu tun, sie ist einfach nur zufällig hier aufgetaucht. Normalerweise treffe ich sie nicht auf meinem Schulweg, aber vielleicht nimmt sie ja heute einen Umweg, um ihre Figur zu optimieren. Das scheint ohnehin der zentrale Fixpunkt ihres Lebens zu sein.

»Na los! Geh endlich weiter, Hungerhaken, und mach den Weg frei!«, fährt sie mich an. Die schwarzen Blätter scheint sie nicht mal zu bemerken und ich will sie auch nicht darauf aufmerksam machen. Die meisten Menschen können mit magischen Phänomenen nicht umgehen. Entweder sie ignorieren ungewöhnliche Dinge, als wären sie nicht existent, oder sie rasten hysterisch aus. Lediglich meine Kindergartenfreundin Mai kennt meine Familie von klein auf, daher ist sie so ziemlich der einzige Mensch außerhalb, dem ich mich anvertrauen kann. Vor einem Jahr war da auch noch Emma, doch nachdem sie mit ihren Eltern nach Irland gezogen ist, hat sich der Kontakt allmählich im Sande verlaufen.

Mein Kopf ist viel zu voll vom Thema der schwarzen Blätter, um mich mit Vicky rumzuärgern, daher wende ich mich ab und stapfe den Pfad bergauf, Richtung Wingtersberg. Von dort gelangt man an den Sportplätzen vorbei zu den Schulen oben auf der Anhöhe. Dabei wollen mir die schwarzen Blätter einfach nicht aus dem Kopf gehen und doch hilft das Grübeln nicht, die Lösung des Rätsels zu finden. Immerhin lichtet sich der Nebel, je höher ich komme.

Als ich wenig später auf dem Schulhof eintreffe, kommt mir meine Freundin Mai mit hochrotem Kopf entgegen. Eigentlich heißt sie Maila, aber wir fanden es schon immer lustig, unsere Namen Julia und Maila zu Juli und Mai zu kürzen, als seien wir Monate. Meine Eltern kamen auf die absurde Idee, mir den Namen Amalia Julia zu verpassen, aber Amalia wollte ich schon im Kindergarten nicht gerufen werden, deshalb verwende ich lieber die Kurzform meines Zweitnamens.

»Du wirst es nicht glauben, aber ich habs tatsächlich gefunden«, erklärt Mai aufgeregt. »Es war gar nicht leicht, weil es auf der Karte nicht gekennzeichnet ist, aber ich war dort und …«

»Äh, wovon redest du eigentlich?«, unterbreche ich sie verwirrt.

Mai stößt ein unwilliges Stöhnen aus und verdreht die Augen. »Sag mal, worüber haben wir gestern den halben Tag gesprochen? Hast du es etwa schon wieder vergessen?«

»Ach ja, die Hühner …«, fällt mir wieder ein. »Und was genau hast du jetzt gefunden?«

»Hallo?! Was ist denn nur los mit dir heute Morgen?« Mai schüttelt den Kopf, wobei sie ihren Mund so schräg verzieht, dass ihr Gesicht eine krasse Asymmetrie annimmt. »Ich spreche natürlich vom Hühner-KZ – eine riesige Halle aus Metall, nur ganz weit oben sind kleine Fenster drin. Wenn man die Vögel nicht hören könnte, würde man von außen gar nicht ahnen, was da drin abgeht. Das ist einfach nur grausam …«

»Ja und jetzt? Was willst du unternehmen?«, frage ich noch immer etwas dumm-doof, weil das schwarze-Blätter-Phänomen offenbar meine Hirnfunktionen lähmt.

»Na was wohl?« Sie kommt nah an mein Ohr heran und wispert: »Schon vergessen, dass wir Fotos schießen wollten, um später Plakate aufzuhängen, damit die Leute sehen können, unter welchen grausigen Bedingungen die Tiere gehalten werden. Du bist doch dabei, oder?«

»Äh, ja klar«, flüstere ich zurück und setze ein erschrockenes »Heute?« hinzu, weil mir die Sache im Moment doch ein wenig über den Kopf wächst.

»Nein, natürlich nicht. Die Aktion benötigt eine ausgeklügelte Planung und Vorbereitung. Das Gebäude ist mit einem Stacheldrahtzaun umfasst und an die Fenster oben kommen wir nur mit Leiter oder Kletterutensilien. Das lass mich mal machen …«

Ein geräuschvolles Quaken unterbricht ihren Wortschwall.

»Was war das?« Ich schaue an meiner Freundin herab, die genau wie ich eine leichte Jacke und eine lederne Tasche über der Schulter trägt.

»Oh, Mist! Den habe ich glatt vergessen …« Mai fischt einen dicken grünen Frosch aus der Tasche. Seine Glupschaugen schauen mich an, während der Gaumen auf und ab wippt.

»Igitt, einfach widerlich!«, ruft Vicky, die gerade auf dem Schulhof eintrifft. Sie verzieht angeekelt das Gesicht. Ihre Stöcke muss sie irgendwo auf dem Weg versteckt haben, denn davon ist nichts mehr zu sehen.

»Du musst ihn küssen, dann verwandelt er sich zu deinem Traumprinzen.« Mit einem breiten Grinsen im Gesicht streckt Mai Vicky den Frosch entgegen, was diese augenblicklich in die Flucht schlägt.

»Ihr seid einfach nur abartig«, schimpft sie und wirft dabei die lange schwarze Mähne zurück. Ihre Haarspitzen glänzen im Rot längst vergangener Färbeversuche.

»Wo hast du den Frosch aufgegabelt?«, erkundige ich mich bei meiner Freundin, ohne Vicky weiter zu beachten.

»Ich musste ihn einfach retten. Er hat verzweifelt versucht, aus einem Gully herauszuhüpfen. Ich bring ihn mal schnell rüber in den Wald, bevor der Unterricht anfängt …« Damit rauscht sie davon, dreht sich aber dann nochmal um. »…Wir sehen uns in der Pause!«, ruft Mai winkend, was im Gong untergeht, der die erste Schulstunde einläutet.

Nichts Gutes ahnend betrete ich den Klassenraum. Dass die Mädchenbande unter Vickys Führung kichernd die Köpfe zusammensteckt, bin ich ja schon gewohnt. Dass mich heute aber auch die Jungs mit grinsenden Blicken mustern, erscheint mir jedoch verdächtig. Dabei hat mir der heutige Schulweg schon genug zugesetzt, auf weiteren Stress verzichte ich herzlich gerne.

»Hey Julia, der Freak, den wir gestern beim Bäcker getroffen haben, das war doch dein Dad«, trompetet Lukas durch den Saal, um von der restlichen Klasse beifälliges Gekicher zu erhaschen. Ich knalle die Tasche auf den Tisch, den ich für mich alleine habe, seit meine Freundin Emma fortgezogen ist.

»Wie kommst du auf den Quatsch?«, blaffe ich ihn an, dennoch ahne ich bereits Schreckliches.

Mein Vater, der Lord der Schatten (ich weiß, es klingt albern und maßlos überheblich) scheint allmählich ein wenig senil zu werden, denn immer häufiger vergisst er, sich magisch zu tarnen. Und wenn er dann mit seinem schwarzen Umhang und Schwert durch die Gegend läuft, erregt dies unvermeidlich Aufsehen. Wenn er tatsächlich in diesem Aufzug beim Bäcker aufgekreuzt sein sollte, würde es mich nicht wundern, wenn das im ganzen Dorf die Runde macht. Dabei will ich doch nichts anderes, als ein völlig normales Leben führen, ohne blöde Magie, derer ich ohnehin nicht mächtig bin und ohne peinliche Vorkommnisse, die mein Selbstbild einer ganz normalen Schülerin zu erschüttern drohen.

»Na, so ganz in Schwarz und mit dem Umhang könnte er glatt als Graf Dracula durchgehen«, spottet Lukas weiter.

Habe ich ihm irgendetwas getan, oder was soll das eigentlich?

Normalerweise haben es lediglich die Mädchen der Fantastic-Girls-Clique auf mich abgesehen, aber heute scheine ich ins Kreuzfeuer der ganzen Klasse geraten zu sein.

»Läuft halt nicht jeder in so 0-8-15 Klamotten rum wie du«, brumme ich zur Antwort, bleibe dabei an meinem Platz stehen, um mich durch die niedrigere Sitzposition nicht unterlegen zu fühlen. »Außerdem ist mein Vater verreist«, setze ich noch hinzu, doch zu meinem großen Ärger schwingt in dieser Lüge ein kläglicher Unterton.

»So?«, mischt sich Jola ein. »Dabei bin ich mir sicher, dass er mir erst gestern Abend über den Weg gelaufen ist, mit einem Säbel um die Hüfte.«

Das Kichern der Fantastic-Girls hallt unwirklich in meinen Ohren. Jetzt lasse ich mich doch frustriert auf meinen Platz sinken.

Sicher war es ein Schwert, kein Säbel, aber das ist ja auch völlig egal.

Jola drängt sich an Lukas heran.

Ach, deshalb redet er plötzlich genauso blödes Zeug wie diese dummen Puten.

»Kann es sein, dass dein Alter nicht mehr ganz dicht im Hirn ist?«, setzt Vicky hinzu. »Amalia?«

Mal wieder bedauere ich zutiefst, jemals jemandem meinen vollen Namen genannt zu haben: Amalia Julia von Arkantis.

Was haben sich meine Eltern nur dabei gedacht?

Amalia klingt nach dem vorletzten Jahrhundert, deshalb bestehe ich darauf, Julia, oder noch besser, Juli gerufen zu werden, was Vicky und ihre Fantastic-Girls-Clique jedoch noch weniger interessiert als das Interferenzmuster in der Quantenmechanik.

»Wisst ihr was, kümmert euch doch um euren eigenen Mist, da warten mehrere Äonen harter Arbeit, bis der ganze Dreck weggeschaufelt ist …«

»Also, gibst du es zu?«, trällert die perfekt gestylte Sinja triumphierend. »Es war dein Vater, den Lukas gesehen …«

»Gar nichts gebe ich zu. Ich …«

In diesem Moment marschiert die Klassenlehrerin Frau Richter mit einem Hefte-Stapel unter dem Arm in den Raum hinein und platziert ihre schwere Tasche auf dem Pult, womit sie mir Erlösung von weiteren unangenehmen Diskussionen bringt.

Die Doppelstunde Mathe quält sich so dahin, vor allem, weil mir die Integralrechnung leichtfällt und ich mit den Aufgaben viel schneller fertig bin als alle anderen. Daraufhin versinke ich in meine Gedanken. Zuerst rege ich mich innerlich über die Gedankenlosigkeit meines Vaters auf, dann schweife ich zu den Ereignissen auf meinem Schulweg ab.

Die schwarzen Blätter hatten etwas Bedrohliches, aber war da wirklich noch jemand, der mich beobachtet hat, oder habe ich mir das nur eingebildet?

Was, wenn ICH das mit den Blättern gewesen bin? Wenn doch irgendeine Magie in mir wohnt, die ich aber nicht unter Kontrolle habe?

Wie so oft, wenn mich etwas beschäftigt, versuche ich, meine Gedanken in Worte zu fassen und wie von selbst entsteht dabei manchmal sogar so etwas wie Poesie:

Schwarze Schatten, verhüllt von weißen Nebelschwaden

Ein einzelner Atemzug, dann welkt das junge Grün dahin

Welch unsichtbares Wesen wirkt den Schaden

Kohlenschwarze Blätter …

Plötzlich reißt mir jemand das Blatt unterm Füller fort, sodass die Feder das Papier zerschlitzt. Mein erschrockenes Keuchen verwandelt sich in unbändigen Zorn, den ich Vicky entgegenschleudere, die mein kleines Gedicht belustigt mustert.

»Na, was haben wir denn da Niedliches …«

Ich muss so in Gedanken versunken gewesen sein, dass ich das Ende der Schulstunde verpasst habe, denn von der Klassenlehrerin ist nichts zu sehen und die anderen Schüler hocken schon nicht mehr auf ihren Stühlen. Ich springe auf und schnappe nach dem Zettel, doch Vicky wendet sich im selben Moment ab, wobei ihre Freundinnen sie von rechts und links von mir abschirmen.

»O mein Gott, Schwarze Schatten, verhüllt von weißen Nebelschwaden. Sag mal, was hast du denn geraucht?«

»Gib das her!«, rufe ich wütend und rempele Sinja unsanft an, um an mein Blatt zu gelangen.

Gleichzeitig ärgere ich mich über mich selbst, meiner Neigung zu Dichtung ausgerechnet in der Schule nachgegeben zu haben. Früher hatten es die Fantastic-Girls eher auf die schüchterne Lina oder die unscheinbare Melanie abgesehen, doch seit sie sich zusammengetan haben und sich weitgehend aus dem Fokus der Aufmerksamkeit heraushalten, war ich nach Emmas Umzug umso mehr zur Zielscheibe geworden.

Während ich noch wie ein Depp um die Mädels herumspringe, um das Gedicht wieder in meinen Besitz zu bringen, machen sich diese gackernd über die restlichen Zeilen her.

»Welch unsichtbares Wesen wirkt den Schaden …«, gluckst Jola.

»Mann, glaubt sie etwa an Geister?«, kichert Vicky. Bevor ich mein Blatt erhaschen kann, zerknüllt sie es zu einer Kugel und wirft es Lukas zu, der sich zwischenzeitlich in eine Ecke begeben hat und bereits johlend die Hände danach ausstreckt.

Nicht mal im Kindergarten meiner Mutter benehmen sich die Kleinen derart kindisch. Mein Kopf glüht und ich kann nicht bestimmen, ob eher mein Zorn oder die Scham Schuld daran trägt. Am liebsten würde ich beide Gefühle abstellen, denn natürlich füttere ich mit meiner Reaktion nur die Genugtuung dieser Puten. Sicher würde ich ihnen die ganze Freude verderben, wenn mich ihr Gegacker völlig kalt ließe, aber so stark und abgebrüht bin ich nun mal nicht, auch wenn ich es gerne wäre. Aber vor allem wäre ich gerne ganz NORMAL! Mir scheint jedoch, je mehr ich das versuche, desto bescheuerter falle ich aus der Rolle.

Es wäre wohl besser, diesen Tag komplett aus dem Kalender zu streichen.

Während sich die Klasse ausgiebig über meinen Text lustig macht, lasse ich mich frustriert auf meinen Platz sinken und starre aus dem Fenster, wo ein Baum sein frisches, grünes Laub der Scheibe entgegenstreckt.

»Hey, Amalia! Fang auf!«, ruft Lukas, doch da knallt das zerknüllte Gedichtblatt schon gegen meine Stirn, kullert über meinen Tisch. Reflexartig patsche ich darauf und stopfe den Ball zu den Schulsachen in meiner Tasche. Die Fantastic-Girls präsentieren mir ihr triumphierendes Grinsen, während ich meinen düsteren Blick ins Nirwana richte – das Geschenk meiner Aufmerksamkeit will ich ihnen nicht geben.

Während der folgenden Doppelstunde Deutsch schweife ich gedanklich immer wieder ab, was nicht nur an meinen Erlebnissen liegt. Es erschließt sich mir einfach nicht der Sinn, zu lernen, was Relativpronomen sind. Meinem Empfinden nach macht es die Sprache kaputt, wenn man sie dermaßen auseinandernimmt. Das wäre, als würde ich mich an den Farben eines Regenbogens erfreuen und dann käme jemand daher, um mir zu erklären, wie die Lichtbrechung funktioniert. Außerdem geht nicht nur mir das ständige Gegackere und Gekicher von Jola und Sinja aus der Bank hinter mir auf die Nerven. Auch unserem Deutschlehrer Dr. Brenner wird das irgendwann zu viel, sodass die beiden nicht mehr ganz so fantastischen Girls eine Strafarbeit aufgebrummt bekommen. Danach ist erst einmal Ruhe im Kindergarten.

Der Gong erlöst mich schließlich in die Pause.

»Ein Atemzug, dann welkt das Grün«, rezitiert Jola hinter mir mein Gedicht fehlerhaft, um den Beifall ihrer Freundinnen heischend, doch zu meiner Erleichterung scheint sich das Thema inzwischen so ausgeleiert zu haben, dass niemand mehr kichert.

Seit etwa einem Jahr hat sich in meiner Klasse unter Vickys Führung die Mädchenbande Fantastic-Girls formiert, zum inneren Kreis zählen Jola und Sinja. Sie folgen stets dem neuesten Trend und sehen sich sogar ähnlich mit ihren blondierten Haaren, obwohl keinerlei Verwandtschaftsverhältnisse bekannt sind. Je nach Vickys Laune werden auch Marika und Tammi im Kreis der Auserwählten akzeptiert. Emma und mich hatte sie zu Beginn der Formierung der Gruppe ebenfalls bei den Fantastic-Girls haben wollen, doch da wir die ganze Mädchen-Banden-Sache als lächerlich empfanden, haben wir uns damit wohl automatisch in die Reihe der Gegner katapultiert. Vor allem, seit meine Freundin weg ist, hat sich die Lage verschlimmert, weil ich als einzelnes Opfer natürlich eine leichtere Beute darstelle und meine Versuche, sie zu ignorieren scheitern leider nur allzu oft an ihrer boshaften Hartnäckigkeit.

Auf dem Schulhof begebe ich mich zu einer stillen Ecke unter einem alten Baum, wo Mai und ich uns meistens treffen. Es dauert auch nicht lange, da steuert sie geradewegs auf mich zu.

»Wie siehst du denn aus?«, begrüßt sie mich.

»Wieso?«

»Du schaust drein, als ob sie dich in der Klasse heftig gemobbt hätten.«

Ich seufze tief und schüttele den Kopf. »Wie kannst du mir das ansehen?«, wundere ich mich.

»Da hängen noch jede Menge Papierschnipsel in deinem Haar. Warte, ich picke sie dir mal raus.«

Mai zieht lauter winzige Papierfetzen aus meinen Haaren am Hinterkopf, wo ich sie natürlich nicht sehen konnte.

»Ach, deshalb haben die Puten hinter mir nicht aufgehört zu gackern«, geht mir ein Licht auf. »Das ist so kindisch, dass ich mich nicht mal mehr darüber ärgern kann«, brumme ich.

»Wäre auch völlige Energieverschwendung«, stimmt mir Mai zu. »War sonst noch was los heute Morgen? Ich hatte dich ja gleich so überfallen, dass mir erst hinterher klarwurde, dass du ziemlich durch den Wind gewirkt hast.«

»Hm, ja, jetzt wo du’s sagst …« Ich zögere, weil ich mir nicht ganz sicher bin, ob ich meiner besten Freundin wirklich von den schwarzen Blättern erzählen soll. Im Nachhinein erscheint mir die Sache ja selbst ziemlich verrückt.

Vielleicht habe ich mir doch nur alles eingebildet.

»Na los! Egal, was es ist, ich will es hören!« Das warme Leuchten aus Mailas braunen Augen strahlt vor Neugier.

»Okay, aber es klingt ein bisschen abgedreht und vielleicht spinne ich ja auch nur …«

Ich berichte meiner Freundin von den schwarzen Blättern und dass ich das Gefühl hatte, beobachtet zu werden.

»Echt? Ist ja krass! Die Blätter haben sich plötzlich alle schwarz gefärbt? Könnte das dunkle Magie gewesen sein?«

»Möglich. Aber wer sollte so was machen und warum? Vielleicht gibt es auch eine andere Erklärung. Zum Beispiel, dass da irgendein Gift ausgesprüht wurde.«

»So plötzlich und ohne, dass du selbst Vergiftungen erlitten hast? Unwahrscheinlich, wenn du mich fragst. Weißt du was, auf dem Heimweg begleite ich dich durch den Wald, da schauen wir uns zusammen an, ob die schwarzen Blätter noch da sind.«

»Okay …«, seufze ich. »Ich weiß jetzt gar nicht, ob ich hoffen soll, dass ich mir das alles nur eingebildet habe …«

»Egal, was wir finden werden, ich bin mir sicher, du hast dir gar nichts eingebildet«, erklärt Mai und sieht mir dabei fest in die Augen.

Eine bessere Freundin kann ich mir kaum wünschen.

»Hi, Mädels!« Ich schrecke ein bisschen zusammen, als sich Benni plötzlich zu uns gesellt. Gut sieht er wieder aus mit seinen dunklen Augen und dem schelmischen Lächeln im Gesicht, das er zweifellos von Markus geerbt hat – dem besten Freund meines Vaters. Im Gegensatz zu mir ist er ein echter Magier – noch dazu ein Schattenmagier mit der besonderen Begabung, Gegenstände zu verbiegen und Gefühle zu manipulieren. Allerdings benötigt er bei seinem Charme keine Magie, um die weibliche Welt zu betören. Ich mag Ben noch immer sehr gerne und die Verkupplungsversuche unserer Väter hatten zunächst auch recht gut funktioniert. Über ein Jahr lang waren wir ein Paar, doch wurde mir mit der Zeit immer klarer, dass ich nicht die Liebe empfinde, die zu so einer Beziehung gehört, deshalb habe ich mich wieder von ihm getrennt. Das hindert den um ein Jahr älteren Schattenmagier jedoch nicht daran, regelmäßig mit mir zu flirten.

»Hi, Ben«, antworten Mai und ich synchron.

»Ich habe etwas für dich gedichtet, Juli:«, erklärt er feierlich. »Deine nussbraunen Augen haben mich betört, jetzt schlägt mein Herz ganz unerhört. Wie findest du das?«

Kurz muss ich auflachen, aber zum Glück wirkt er nicht beleidigt.

»Äh … Benni, das ist ja wirklich goldig von dir, dass du dich im Dichten übst, aber du weißt ja, es wird nichts mehr mit uns.«

»Wirklich schade«, meint er kopfschüttelnd. »Und nicht mal mit meiner Magie kann ich dich zurückkriegen …«

»Sag bloß, du hast schon mal versucht, ihre Gefühle zu manipulieren!«, empört sich Maila.

Bennis Pupillen wandern beschämt nach oben, als beobachtete er das Schulhausdach.

»Ähm, Juli … Um ehrlich zu sein, einmal wollte ich tatsächlich testen, ob ich dich dazu bringen kann, dich wieder in mich zu verlieben. Ich weiß, das war ziemlich selbstsüchtig und es tut mir leid, dass ich es überhaupt versucht habe, aber du bist ja sowieso immun gegen jeglichen Zauber.«

»Na, zum Glück. Wenn ich schon keine eigene Magie besitze, dann wirkt bei mir wenigstens auch keine. Irgendeinen Vorteil muss ich ja haben, als Nichtmagierin in einer Magierfamilie. Und Papa kann mir mit seinem Schatten auch nicht hinterherspionieren.«

»Also, dein Vater kann seinen Schatten wegschicken, um jemanden zu suchen, aber bei dir klappt das nicht?«, wiederholt Maila, wie um sich selbst eine Erklärung zu liefern.

»Nope. Für seinen Schatten bin ich komplett unsichtbar.«

»Echt? Das wusste ich ja gar nicht«, staunt Ben.

Der Gong läutet das Ende der Pause ein.

»Ciao. Wir sehen uns heut Nachmittag.« Ben hebt die Hand zum Abschied.

»Was? Wieso?« Ich schüttele verwundert den Kopf.

»Du bist mal wieder schlecht im Bilde, Schatzilein.« Schelmisch lachend stupst er meine Nase mit dem Zeigefinger. »Meine Eltern und ich sind heute Nachmittag bei euch zum Kaffee eingeladen.«

»Oh, ach so.«

Ben zwinkert mir noch zu, bevor er sich abwendet und unter die ins Gebäude strömenden Schüler mischt.

»Also, ich verstehe bis heute nicht, warum du mit Ben Schluss gemacht hast«, meint Mai kopfschüttelnd. »Ihr wart so ein schönes Paar.«

»Ich mag ihn ja auch, aber es hat halt nicht gereicht«, erkläre ich schulterzuckend, während wir beide uns ebenfalls in Bewegung setzen.

»Aber wenn ihr heute Besuch bekommt, verschieben wir die Plakataktion besser auf morgen.«

»Ach, Quatsch. Ich kann etwas nichtmagische Gesellschaft gut gebrauchen, außerdem habe ich überhaupt keine Lust auf dieses Kaffeekränzchen.«

»Na gut, wenn du meinst …«

Wie besprochen begleitet mich meine Freundin nach der Schule ein Stück auf dem Heimweg. In meinem ganzen Leib kribbelt es vor Nervosität. Dicht gefolgt von Maila marschiere ich den Waldweg bergab, während eine einzige Frage in meinem Hirn rotiert:

Sind die schwarzen Blätter noch da?

Je näher wir der Stelle kommen, desto aufgeregter werde ich. Schon aus einiger Entfernung kann ich erkennen, dass der Wald dort weniger grün leuchtet, als seine Umgebung und mit jedem Schritt, den wir uns nähern, wird klar, dass die Vegetation hier tatsächlich an Grün eingebüßt hat. Allerdings ist von schwarzen Blättern nichts zu sehen, dafür sind Bäume, Unterholz und Krautschicht äußerst kahl. Nur hie und da sprießt neues junges Grün hervor. Durch die Sonnenstrahlen, die bis zum Waldboden hinabscheinen, wirkt die ganze Szene jedoch nicht ansatzweise so bedrohlich wie heute Morgen und es kommt mir inzwischen lächerlich vor, mich gefürchtet zu haben.

»Also, hier stimmt definitiv etwas nicht«, meint Mai, wobei sie sich nach allen Seiten umschaut.

»Von den schwarzen Blättern ist aber keine Spur«, brumme ich.

»Vielleicht sind sie einfach verdorrt, oder zu Staub zerfallen. Wir sollten dennoch besser von hier verschwinden, nicht dass der Boden verseucht ist.« Sie zieht mich mit sich fort.

»Also glaubst du doch nicht, dass die Ursache dunkle Magie sein könnte?«, frage ich mit gerunzelter Stirn.

»Doch, aber man muss dennoch sämtliche Eventualitäten in Betracht ziehen«, meint Mai gewichtig.

»Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, was ich schlimmer finden soll …«

Vor allem eine Frage, die ich kaum auszusprechen wage, lauert in meinem Hinterkopf:

Zerhackter Tortenmatsch

Julia, Eppstein, Dienstag, 5. Mai

Flammen tanzen um ihren Kopf. Die Augen meiner Mutter leuchten glutrot. Selbst aus dem langen grünen Kleid züngeln Flämmchen hervor, ohne es zu verbrennen.

»Juli, ich verstehe dich nicht. Warum willst du unsere Gäste nicht wenigstens begrüßen?«, fragt sie ruhig, doch die Flammen verraten, wie zornig sie ist.

»Mach das Feuer aus, Mama«, entgegne ich dementsprechend gereizt. »Du weißt ganz genau, dass ich das in meinem Zimmer nicht mag. Wenigstens hier will ich das Gefühl haben, in einer ganz normalen Familie zu leben.«

Mit meinem Lieblingsbuch in den Händen liege ich auf meinem Bett, doch zugegebenermaßen habe ich nicht wirklich gelesen. Mir geht es einfach nur noch schlecht und das Schlimmste an der Sache ist, ich kann nicht mal genau sagen, woran das eigentlich liegt. Wenn ich eine Ahnung hätte, könnte ich immerhin etwas daran ändern, aber so will ich einfach nur in Ruhe gelassen werden.

Vielleicht ist heute zu viel zusammengekommen: Erst diese schwarzen Blätter, dann das Mobbing in meiner Klasse und schlussendlich der Besuch, der mich mal wieder an mein Außenseiterdasein als Nichtmagierin erinnert.

»Ja, natürlich.« Meine Mutter schüttelt sich, augenscheinlich verwundert darüber, dass ihr die Flammen unbeabsichtigt entwichen sind. »Aber Liebes, was ist denn nur mit dir los?« Sie hockt sich neben mich auf die Bettkante.

Dieses Zimmer hat mal ihre Freundin Beata bewohnt. Das war vor meiner Zeit, als die erste Etage noch als Wohngemeinschaft für meine Mutter Inea, ihre beste Freundin und die ziemlich verrückten Zwillinge Max und Moritz (kein Witz!) gedient hat. Gerade befinden sich die beiden zusammen auf weltweiter Tournee und kommen nur selten mal zu Besuch.

Wie auch heute wieder ist Beata dagegen häufig bei uns zu Gast, da sie Markus, den besten Freund meines Vaters, geheiratet hat und Benni ist ihr gemeinsamer Sohn. Beata verfügt über keinerlei magische Fähigkeiten, doch im Gegensatz zu mir scheint sie recht gut damit klarzukommen. Ich fühle mich so schrecklich andersartig, dass ich diesen ganzen magischen Kram am liebsten ins Nirwana verbannen würde. Mai kann leider auch erst später kommen, weil sich ihre Mutter den Fuß verstaucht hat und daher die gesamte Hausarbeit an ihr alleine hängenbleibt, solange der Vater auf Geschäftsreise ist – ein weiterer Minuspunkt auf meiner Pechliste.

»Ach, ich weiß nicht. Ich habe einfach keine Lust auf dieses ganze Magie-Zeug«, antworte ich etwas versöhnlicher. »Papa ist doch glatt mit Umhang und Schwert beim Bäcker aufgetaucht. Kannst du dir vorstellen, wie die in der Schule darauf reagiert haben?«

»Oh«, macht Mama sichtlich betroffen.

»Ich will einfach nur ganz normal sein, verstehst du das? Ein stinknormales Leben, eben.«

»Ja, das verstehe ich.« Sie nickt verständnisvoll, doch ich weiß genau, was jetzt folgt und tatsächlich fährt sie fort wie gewohnt: »Aber bei Dingen, die man nicht ändern kann, …«

»… bleibt einem nichts anderes übrig, als sich damit abzufinden«, ergänzen wir synchron den Satz.

»Ja, ja, das weiß ich doch selbst«, brumme ich, während vom Wohnzimmer her ein fröhliches Lachen zu uns herüberdringt – das muss Beata gewesen sein.

»An deinen Eltern kannst du nun mal nichts ändern, aber ich werde versuchen, eine möglichst normale Mutter für dich zu sein.«

»Okay«, seufze ich und komme mir dabei recht undankbar vor, denn im Grunde fehlt es mir an nichts.

»Wenn du also lieber in deinem Zimmer bleiben möchtest …« Sie nickt traurig. »… werde ich eben erklären, dass es dir nicht gutgeht.«

Das komische ist, jetzt, wo aller Widerstand weg ist, zieht es mich plötzlich aus meinem Zimmer hinaus.

»Schon gut, ich komme gleich …«, brumme ich.

Wenig später trete ich ins Esszimmer. Mein Vater Torin hockt zwischen Markus und meiner Mutter Inea auf der einen Seite, Ben sitzt neben Beata auf der anderen. Das freie Gedeck für mich haben sie neben Ben platziert – typisch! Wie es aussieht, hoffen noch immer alle, dass ich meine Meinung ändere und doch wieder mit ihm zusammenkomme, aber da können sie lange warten. Und selbst wenn ich wieder wollte, diese Verkupplungsversuche erregen nur meinen Trotz, deshalb sind sie sogar eher kontraproduktiv.

»Ach, hallo Juli!«, grüßt Markus gut gelaunt. »Sag mal, hast du auch schon mitbekommen, dass Torin beim Bäcker mit Umhang und Schwert gesehen wurde?«

Oje, das hat wohl tatsächlich im ganzen Dorf die Runde gemacht.

»Schweig still!«, brummt Papa und verzieht missmutig das Gesicht. Wenigstens am Esstisch verzichtet er auf Umhang und Waffen, eine andere Kleidungsfarbe als Schwarz konnte ihm Mama aber bisher noch nicht aufschwatzen. In seinen Augen würde das zu einem Schattenlord nicht passen.

Wer ihm diesen Titel verpasst hat, muss zu viele uralte Schinken gelesen haben.

»Mein Freund, du wirst doch nicht allmählich senil auf deine alten Tage?«, zieht ihn Markus auf, was Torin mit düsteren Blicken beantwortet.

»Jetzt lass doch gut sein.« Beata legt ihre Hand auf Markus’ Ärmel. Dann richtet sie sich an mich: »Schön, dass du doch noch zu uns kommst. Na, dann setz dich doch! Möchtest du ein Stück Erdbeertorte?«

Seufzend lasse ich mich neben Ben auf den Stuhl sinken. Seine Lider schicken mir ein wohlwollendes Zwinkern.

»Ja, aber nur ein kleines.«

Beata reicht mir ein Stück ihrer selbstgebackenen Torte – darin hat sie in den letzten Jahren ihre Leidenschaft entdeckt. Neuerdings beliefert sie mit ihren süßen Kreationen sogar auch die Bäckerei. Wahrscheinlich wissen Markus und seine Frau daher von Torins Auftritt, denn ich bezweifle, dass meine Mutter ihn damit in dieser Runde bloßgestellt hat.

»Die Kerzen im Kandelaber brennen ja noch gar nicht.« Ben deutet auf die jungfräulichen Dochte.

»Ich habe schon darauf gewartet, dass du das sagen wirst«, erwidert Inea grinsend. Obwohl Ben nun schon weit aus dem Alter raus sein müsste, sich über das Anzünden von Kerzen zu freuen, hat sich dieses Kaffeetisch-Ritual hartnäckig bis jetzt gehalten.

Zugegeben, als Feuermagierin macht meine Mutter auch immer ein besonderes Schauspiel aus dieser im Grunde profanen Aktion: Wie aus dem Nichts sprudelt bereits ein kleines buntes Feuerwerk aus der Decke hervor. Die Funken tanzen einen Reigen durch die Luft, verwirbeln zu dichteren Formen, die manchmal Tiere, heute aber den leuchtenden Schriftzug »Happy Birthday Ben«, in die Luft schreiben.

Ben hat heute Geburtstag?!?! Oh, Mist!

Mein Schädel glüht plötzlich heiß auf.

Wie konnte ich nur seinen Geburtstag vergessen?

Selbst wenn wir kein Paar mehr sind, hätte ich Ben doch gerne ein kleines Geschenk überreicht. Gratuliert habe ich ihm auch nicht. Fieberhaft krame ich in meinem Hirn, womit ich ihm eine Freude machen könnte. Da die Glasgravur zu meinen großen Hobbies zählt, müsste ich noch ein paar schöne Stücke vorrätig haben. Wie versteinert hocke ich auf meinem Platz, während die Flammen einen feuerspuckenden Drachen formen, der die Dochte jetzt in Brand setzt.

Alle Anwesenden außer Torin und mir klatschen begeistert. Papa geht es wohl nicht besonders gut. Ich schiele zu ihm hinüber, aber er blickt nur ausdruckslos zu den Flammen.

Und da trifft es mich wie ein Blitzschlag: Die ganze Zeit über habe ich mich selbst bedauert, was sein Aufzug für eine Auswirkung auf mich hat, aber nicht eine Sekunde habe ich mir Gedanken darüber gemacht, wie es ihm selbst damit geht.

Was ist überhaupt mit meinem Vater los? Ob er tatsächlich allmählich dement wird?

Eine plötzliche Übelkeit überkommt mich und ich stochere nur noch unwillig in den Resten meiner Torte herum. Bislang war die Vorstellung, dass mein Vater, der mächtige Schattenlord, nicht mehr Herr seiner geistigen Fähigkeiten sein könnte, vollkommen abwegig und undenkbar gewesen, aber wie sonst hätte ihm so etwas passieren können?

Oder steckt etwas völlig anderes dahinter und Markus hat sich tatsächlich nur einen albernen Scherz erlaubt?

»Schmeckts dir nicht, Schatzale?«, erkundigt sich Ben mit Blick auf meinen zerhackten Tortenmatsch.

»Mir geht’s nicht so gut«, brumme ich so leise wie möglich, um nicht die ganze Gesellschaft in meine Befindlichkeiten einzuweihen.

»Kann ich helfen?«, flüstert er zurück.

Ich schüttele stumm den Kopf, dann fällt mir wieder sein Geburtstag ein.

»Ähm, ich bin gleich wieder da …« Bevor noch Widerspruch erfolgen kann, springe ich auf und eile in mein Zimmer. In einer Vitrine meines Schrankes bewahre ich die schönsten Stücke meiner Glasgravuren auf. Auch ein unbearbeitetes gläsernes Herz befindet sich darunter, das seinen Besitzer aber noch nicht gefunden hat. Schon damals, als ich noch mit Ben zusammen war, hat sich alles in mir dagegen gesträubt, es für ihn zu bearbeiten, weil so eine dämliche innere Stimme mich ständig damit nervte, dass der Mann meines Herzens erst noch in mein Leben treten wird.

Ja, und wer soll das jetzt sein? Am Ende meint die dumme Stimme noch meinen Klassenkameraden Lukas.

In vielen dieser komischen Liebesromane ist es ja oft der Ekeltyp, in den sie sich dann trotzdem verliebt, aber das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, nach dem doofen Mobbing heute.

Mein Blick bleibt auf der gläsernen Vase hängen. Zwischen die Kringel-Muster habe ich lustige Gesichter eingearbeitet – eines streckt die Zunge heraus, ein anderes schielt nach rechts und links gleichzeitig.

Das könnte doch zu Ben passen …

Gerade, als ich die Vase in Geschenkpapier einrolle, klopft jemand und Ben lugt durch den Türspalt.

Mist, ich hab die Tür doch nicht etwa offengelassen?

»Halt! Nicht reinkommen!«, rufe ich, doch es ist bereits zu spät.

»Oh, sorry, ich habs leider schon gesehen«, entschuldigt sich Benni und tritt ein. »Ist das etwa für mich?« Vor lauter Schreck habe ich so fest gewickelt, dass das Papier gerissen ist und die Vase verräterisch hervorlugt. Entnervt ziehe ich sie nun ganz hervor.

»Wie kommst du denn darauf? Das ist natürlich ein Geschenk für den Weihnachtsmann. Schließlich denkt ja kein Mensch daran, dem armen Kerl auch mal was zu schenken.«

»Haha, guter Witz«, lacht Benni. »Zufällig habe ich mich bereit erklärt, dieses Jahr im Kindergarten als Weihnachtsmann vorbeizukommen.« Grinsend streckt er seine Hand nach der Vase aus.

»Das zählt nicht.« Wenn er schon ungebeten hereinplatzt, will ich es ihm wenigstens nicht ganz so leicht machen und verstecke mein Geschenk hinter dem Rücken. »Das bekommt nur der echte Weihnachtsmann.«

»Und ich dachte, du wärst längst raus aus dem Alter, an so was zu glauben …« Grinsend schüttelt er den Kopf. Dabei tritt er auf mich zu, bis uns etwa zwei Handlängen trennen – eine Nähe, die mich ein bisschen aus dem Konzept bringt, weil ich mich sorge, Ben könnte, von seinen Sympathiegefühlen überwältigt, einen vorsichtigen Annäherungsversuch wagen.

Aber da schaut er plötzlich wieder ernst drein und tritt einen Schritt zurück.

»Schade, ich hätte mich sehr über ein Geschenk gefreut.« Er klingt traurig, doch ich ahne, dass es ihm dabei eher um mich als um die Vase geht.

»Na ja, vielleicht kann ich dem Weihnachtsmann ja etwas anderes schenken«, lenke ich schließlich ein und präsentiere Ben feierlich mein Werk. »Ich wünsche dir alles Gute zum achtzehnten Geburtstag.«

»Wow! Echt cool!« Er nimmt die Vase entgegen und begutachtet sie von allen Seiten. »Und die hast du selbst gemacht?«

»Nur die Gravuren natürlich.«

»Mit sowas könntest du dich selbständig machen. Ich kann mich noch gut an deine ersten unglücklichen Versuche erinnern, aber inzwischen bist du ja richtig gut geworden. Das sieht echt professionell aus.«

Das Lob steigt mir vor allem in die Ohren, die vor Hitze glühen.

»Ich verdiene tatsächlich schon Geld damit. Auf meiner Internetseite kannst du meine neuesten Werke begutachten …«

In diesem Zusammenhang fällt mir ein, dass ich die Vase jetzt dringend wieder aus der Internetseite herausnehmen muss.

»Wahnsinn! Respekt!« Ben strahlt mich an, wobei er ein bisschen schwankt. Es sieht so aus, als wollte er mich in die Arme schließen und sich gleichzeitig selbst davon abhalten.

Irgendwie drängt es mich, ihn jetzt auch mal kräftig zu drücken, wobei ich gleichzeitig fürchte, er könnte das missverstehen.

Oh Mann, warum muss das so kompliziert sein?

Glücklicherweise schweift Bens Blick nun zu meiner CD-Sammlung. »Hey, sag bloß, du hast schon das neue Album von Witterwelten.«

»Ja, magst du die Band?«

»Ich finde sie absolut genial, aber sind CDs nicht längst überholt?«

»Nö, finde ich nicht. Ich habe lieber was Festes in der Hand als nur heruntergeladene Daten«, antworte ich erleichtert darüber, dass das Gespräch eine entspannte Wendung nimmt.

»Darf ich mal reinhören?«, erkundigt er sich, wobei er sie schon herauszieht und das Cover begutachtet, auf dem ein Wirbelsturm durch die Straßen fegt.

»Klar, warum nicht …« Ich nehme ihm die CD aus der Hand und starte meine Musikanlage. Ben macht es sich in meinem Sitzkissen unterm Fenster gemütlich. Da hockte er früher auch immer gerne, als wir noch zusammen waren, um mich bei meinen Hausaufgaben zu beobachten.

Naturklänge fügen sich harmonisch in den Sound ein, der mein Zimmer erfüllt. Benni lehnt sich entspannt zurück und schließt die Lider, während ich ein wenig unschlüssig im Raum stehen bleibe.

»Ich hole uns was zu trinken«, kündige ich an.

»Mhm«, brummt Ben, dann bin ich auch schon auf dem Flur.

»Und was willst du unternehmen?«, vernehme ich vom Esszimmer die Stimme meiner Mutter. Der ungewöhnlich besorgte Tonfall lässt mich aufhorchen. Auf Zehenspitzen schleiche ich mich näher heran, um dem Gespräch zu lauschen.

»Ich werde den Rat einberufen, um die weitere Vorgehensweise zu definieren«, erklärt mein Vater entschlossen.

»Also, mir wäre das nur recht«, antwortet Markus. »Es sieht ganz danach aus, als ob sich da etwas zusammenbraut, das wir weder einschätzen noch kontrollieren können. In solch einer Situation benötigen wir deine Erfahrung und Entschlossenheit, dennoch müssen wir davon ausgehen, dass die anderen Ratsmitglieder deinem Engagement skeptisch gegenüberstehen werden. Schließlich hast du dich jahrelang herausgehalten und eure Entscheidung, dass du Inea nun dort vertreten willst, wird von einigen mit Misstrauen beäugt. Außerdem sind mit mir und Simeo bereits zwei männliche Umbro vertreten, mit dir wäre das dann einer zu viel.«

»Es war die einzige Möglichkeit, Torin dort hineinzubringen«, erklärt Inea. »Hätten wir bis zur nächsten Wahl gewartet, wäre es vielleicht zu spät und Torin ist nun mal der Erfahrenste, um mit derartigen Phänomenen fertigzuwerden.«

»Mir ist das vollkommen klar. Aber Torin, mein Freund, wenn du als berüchtigter Schattenlord nun anfängst, Sitzungen einzuberufen, wird es so aussehen, als ob du alle Macht an dich zu reißen versuchst.«

»Nun gut, so berufe du den Rat ein, Markus. Doch aufgrund der besonderen Umstände ist rasches Handeln unabdingbar.«

»Meint ihr wirklich, dass es so ernst ist?« Beata klingt besorgt.

Wovon zum Kuckuck reden die da alle überhaupt? Was bitteschön soll ernst sein? Hat es vielleicht etwas mit den schwarzen Blättern zu tun?

Da mich bisher niemand in irgendwelche Probleme eingeweiht hat, gehe ich nicht davon aus, dass sich daran zeitnah etwas ändern wird – ganz bestimmt geschieht das alles nur, um mich nicht unnötig zu beängstigen. Die einzige Chance besteht in einem Überraschungsangriff, daher marschiere ich nun geradewegs ins Esszimmer und fixiere meinen Vater: »Was gibt es für Probleme, dass der Rat so dringend einberufen werden muss?«

»Amalia! Es ist dir nicht erlaubt, unsere Gespräche zu belauschen«, weist er mich sogleich zurecht. Da gibt es nun gleich zwei Dinge, über die ich mich aufrege: Statt zu antworten, macht er mich runter, obendrein nennt er mich mal wieder Amalia, obwohl er genau weiß, dass ich diesen Namen nicht ausstehen kann. Meine zornigen Blitze verlieren sich in seinem tiefdunklen Augenpaar.

Typisch Schattenlord!

»Mir bleibt ja nichts anderes übrig, wenn mir niemand etwas erzählt. Wenn es eine Gefahr gibt, muss ich doch auch darüber Bescheid wissen.«

»Es betrifft lediglich Atlatica, hier bist du sicher, Liebes«, erklärt meine Mutter besänftigend.

Atlatica! Auf dieser Insel im Atlantik, die man nur über magische Portale erreichen kann, leben die Menschen fast noch wie im Mittelalter. Schon immer war es ein Rückzugsort für Magier und nicht selten trugen sie dort offen ihre Machtkämpfe aus. Als ich jünger war, haben mich meine Eltern häufiger auf Reisen quer durchs Land mitgenommen, inzwischen will ich mit der Magie und dieser Welt nichts mehr zu tun haben, wie gesagt, will ich ein ganz normales Leben führen.

Da die Blätter hier schwarz wurden, kann das unbekannte Problem jedenfalls nichts damit zu tun haben.

»Aha, und was ist mit Atlatica?«

»Es wurden Spuren …«, setzt Markus bereitwillig zur Erklärung an, wird jedoch von meinem Vater unterbrochen: »Bis wir Näheres wissen, unterliegen diese Informationen der strengen Geheimhaltung.«

»Ach, ja klar! Aber Beata ist eingeweiht, obwohl sie auch keine Magierin ist«, platze ich patzig hervor.

»Beata wurde unfreiwillige Zeugin des Vorfalls«, erklärt Torin. »Und jetzt Ende der Diskussion!« Sein düsterer Ausdruck verdeutlicht mir, dass weitere Fragen zwecklos wären.

Immerhin habe ich damit eine Erklärung für Papas Geistesabwesenheit gefunden. Womöglich war er so mit dem Atlatica-Problem beschäftigt, dass er darüber völlig seine Tarnung vergessen hat.

»Wo hast du eigentlich Ben gelassen?«, erkundigt sich Mama.

»Der schlägt gerade Purzelbäume in meinem Zimmer«, lüge ich, während ich mich schon auf den Weg in die Küche begebe. Ursprünglich wollte ich ja was zu Trinken holen. Vielleicht weiß Ben ja mehr über dieses mysteriöse Atlatica-Problem.

Beladen mit zwei Gläsern selbstgepresster Orangenlimonade stoße ich die Tür meines Zimmers auf. Da liegt Ben doch tatsächlich schnarchend in meinem Sitzkissen. Trotz angespannter Laune bringt mich dieser Anblick zum Lachen.

Ich stelle die Gläser auf dem Schreibtisch ab, da hämmert jemand in der Wohnung darüber gegen den Fußboden.. Wahrscheinlich stört sich mal wieder jemand an meiner Musik – dieser Jemand heißt neuerdings Gertrude Steinberg, die Mutter des Anwalts Leon Friedrich, der über uns wohnt und im Erdgeschoss seine Kanzlei betreibt. Seit einiger Zeit wohnt diese zänkische alte Dame bei ihrem Sohn. Sie hat es sich zur Mission gemacht, ihn mit einer Partnerin zusammenzubringen, die ihren Vorstellungen entspricht.

Obwohl das Gepolter an Lautstärke zunimmt, schlummert Benni selig weiter. Um des lieben Friedens willen schalte ich die Musik aus.

»Essen fertig!«, rufe ich, wohl wissend, dass der liebe Benni sich keine leckere Mahlzeit entgehen lässt. Das muss alles in den Muskeln verpuffen, denn körperlich wirkt sich der gesegnete Appetit nicht auf den Speckansatz aus.

Tatsächlich schlägt er die Augen auf und schaut orientierungslos umher, bevor er mich mit den Getränken fixiert.

»Oh Mann, ich muss eingeschlafen sein«, erkennt er und reckt sich ausgiebig. »Was habe ich verpasst?«

»Nichts Weltbewegendes.« Ich reiche ihm den Saft und hocke mich vor mein Glas auf den Schreibtischstuhl. »Nur dass ich zufällig reingeplatzt bin, als unsere Eltern irgendwelche geheimen Dinge besprochen haben, die angeblich auf Atlatica passieren. Weißt du was darüber?«

»Sorry, aber das ist streng geheim!« Ben setzt eine dermaßen übertrieben wichtigtuerische Miene auf, dass ich ihn mit Sicherheit in die Brust geboxt hätte, wäre er in Reichweite gewesen.

»Das bedeutet, du weißt genau, was vor sich geht, nur ich bin mal wieder außen vor?« Zum Satzende hin nimmt meine Stimme eine unangenehm schrille Note an.

Als Nichtmagierin habe ich mal wieder nicht mitzureden, setze ich noch in Gedanken hinzu, aber diese geballte Ladung Selbstmitleid will ich Ben dann doch nicht um die Ohren hauen.

»Nimm’s nicht persönlich, Schatzilein, es war reiner Zufall, dass ich mitbekommen habe, worum es geht.«

»Untersteh dich, mich Schatzilein zu nennen«, knurre ich missmutig.

»Okay, Juli, mal im Ernst, Atlatica war schon oft Zielscheibe magischer Angriffe, während der Rest der Welt in keiner Weise etwas davon mitbekommen hat und so ist es auch jetzt wieder. Also mach dir keine Sorgen.«

»Es geht also um einen magischen Angriff?«, hake ich neugierig nach.

»So kann man es auch wieder nicht bezeichnen, aber jetzt lass gut sein. Mehr wirst du nicht aus mir herausbekommen. Außerdem, wer erklärt mir denn tagtäglich, dass er ein ganz normales Leben ohne dieses blöde Magie-Zeug haben will? Hm?«

»Ja, das stimmt schon, aber wenn eine Gefahr droht, muss ich doch auch informiert sein, oder nicht.«

»Sollte dir tatsächlich eine Gefahr drohen, bin ich der Erste, der dich informiert, versprochen.«

Die Türklingel lässt uns aufhorchen.

»Das wird Mai sein«, vermute ich.

»Und ich habe schon gehofft, ich hätte dich heute mal ganz für mich alleine …«, bemerkt Ben augenzwinkernd.

»So? Daraus wird leider nichts, Schatzilein«, entgegne ich und begebe mich zum Flur. Um ihn ein bisschen zu necken, überbetone ich das Schatzilein dermaßen, dass es ironisch klingt.