Winter des Lichts - Alex C. Morrison - E-Book

Winter des Lichts E-Book

Alex C. Morrison

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Beschreibung

Die Halblichtelfe Lily und der ehemalige Engel Raphael sind endlich vereint und dürfen ihrer Liebe freien Lauf lassen. Glauben sie! Ihr Glück währt nicht lange, denn Lily und ihr Bruder Lucian erfahren, das ihre Mutter in Watin verstorben ist. Um sich zu verabschieden, macht sich die junge Frau auf den Weg zum König und wird dort mit ihm zusammen von dem mysteriösen Black Ticks entführt. Dieser hat einen Pakt mit der bösen Königin Rilaona geschlossen. Sie will König Calomel tot sehen und die Herrschaft an sich reißen. Werden Lily und ihre Freunde das schreckliche Schicksal abwenden können?

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Seitenzahl: 358

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1 Der Traum
2 Zwischen den Welten
3 Der vierte Engel
4 Ein süßer Gruß
5 Unendliche Weiten
6 Sommer küsst Winter
7 Ruhe vor dem Sturm
8 Judas
9 Die Welt zerbricht’s
10 Winter des Lichts
11 Hoffnung stirbt zuletzt
12 Hölle
13 Himmlisches Feuer
14 Erinnerungen und Leere
15 Liebe ist unsterblich
16 A night to remember
17 One night in Tokio
18 Fehlende Erinnerungen

Impressum neobooks

Winter des Lichts

by Alex C. Morrison

Impressum

Copyright © 2019 by Alex C. Morrison

Alle Rechte vorbehalten.

2. Auflage

Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches – auch auszugsweise – sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin gestattet. Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

E-Mail: [email protected]

Lektorat/Korrektorat: Sabine Wagner, KoLibri Lektorat

Umschlaggestaltung: © Eve Pay unter Verwendung von Motiven von: © Pixabay, ©Shutterstock

Kartengestaltung: © Vitali Wiebe, Münster, unter Verwendung von Motiven von ©Sketchy Cartography Brushes by StarRaven.

Für L.&S.

Träumt, wann immer ihr könnt!

Die Offenbarung aus dem Nephilofar:

Das Licht ist erwacht in der Vollmondnacht. Die stärkste Macht hat es mitgebracht. Die Lilie wuchs in der Sommernacht. Zwei Jahre vor der großen Schlacht. Vereint werden sie sein, wenn die Kraft erwacht. Um wieder zu vereinigen das gespaltene Land.

1 Der Traum

Raphaels Finger fuhren sanft an ihrem nackten Rücken entlang.»Guten Morgen!«, flüsterte er und goldene Locken fielen ihm ins Gesicht, als er Lily anlächelte. Seine Hände waren so warm wie Sonnenstrahlen und so weich wie ein Kissen. Ehe Lily sichs versah, übersäte er ihren Rücken mit Hunderten von Küssen. Ihr wurde über die Maßen heiß. Mittlerweile waren sie schon eine Weile zusammen. Sechs Monate, um genau zu sein, aber sie hatten es bisher nicht vollzogen …

War es ihnen überhaupt erlaubt? Raphael war ein Hybrid gewesen. Eine Mischung aus Engel und Lichtelf. Als Mikhael ihm jedoch in Watin die Flügel abgeschlagen hatte, wurden ihm damit alle Privilegien des Himmels entzogen. Demnach durfte er so gesehen mit Lily eine Verbindung eingehen. Die Stimmung war elektrisierend. War sie denn schon so weit? Lichtelfen verlieben sich nur einmal im Leben und das für immer. Lily war selbst ein Hybrid, halb Lichtelfe und halb Mensch. Er ist doch der Richtige? Oder? Immerhin sind wir beide markiert. Was im Detail genau bedeutete, dass sie zusammengehörten.

Sie drehte sich langsam auf den Rücken und zog die dicke Decke über ihre Brust. Dann suchte sie nach seinen strahlenden Augen.

»Raphael?«

»Hm?«, hörte sie ihn neben sich. Sie blinzelte und da waren hellgrüne Augen. Hellgrün?, dachte Lily. Aber Raphael hatte doch blaugrüne Augen!

Sie blinzelte erneut. Doch es war nicht Raphael, der jetzt neben ihr lag und sie durchdringend anstarrte.

»Hallo, Lily!«, erklang eine tiefe Stimme.

Lily fuhr im Bett hoch und presste ihre Decke enger an sich, bevor sie ungläubig ausrief: »Gabriel!«

Lily war vollständig nassgeschwitzt. Mit weitaufgerissenen Augen starrte sie ins Leere. Polternd kam Lucian in ihr Zimmer gerannt. Atemlos saß sie in ihrem Bett und musterte ihn angstvoll.

»Was ist passiert? Warum hast du so laut geschrien, Schwesterherz?«, fragte er, während er sich zu ihr ans Bett setzte. Lily blieben die Worte im Halse stecken und so kam nur ein leises Stöhnen aus ihrer Kehle.

»Geht es dir gut? Lily?«

Lucian packte sie fest an den Schultern und schüttelte sie. Erst jetzt bemerkte er, dass ihre Augen nass waren. Hatte sie etwa im Schlaf geweint?

»Luc!«, wisperte sie. Ihre Augen sahen ihn traurig und gleichzeitig angstvoll an.

»Hm?«

Ohne zu zögern, nahm er sie in die Arme und dann brach alles aus ihr heraus. Tränen liefen ihr übers Gesicht.

»Dieser Traum …«, schluchzte sie. »… er war so real!«

»Was hast du geträumt?«

»Ich habe Gabriel gesehen!«

»Was?« Lucian löste sich von ihr. »Aber das kann unmöglich sein. Es kann unmöglich heißen, dass …«

Lily zuckte mit den Schultern.

»Vielleicht ist er gar nicht tot!«

Lily wusste genau, dass Gabriel, der gefallene Engel, der sich als ihr bester Freund ausgegeben hatte, womöglich leben musste. Sie war sich sicher, sonst hätte sie nicht von ihm geträumt!

Lucian blickte sie ernst an. »Das wäre eine Katastrophe! Wir müssen Mom und Dad davon erzählen.Und Rufus und Raphael!«

»Nein!«, schrie Lily. Panik und Angst standen ihr ins Gesicht geschrieben. Er hatte sie noch nie so gesehen. Ihre Stirn war durch die zusammengezogenen Augenbrauen gefurcht und ihre Wangen leuchteten lichterloh.

Lucian stand vom Bett auf und schaute sie an. »Doch! Wir müssen!«

Lily schluckte laut. Sie wickelte sich in ihre Decke und folgte ihrem Bruder, der sich ihr mit dem Rücken zuwandte und durch die Tür hinaus in den Flur lief. Lucian schlich die hellen, holzfarbenen Treppenstufen hinunter, während Lily ihm träge folgte. Zuerst suchte er in der Küche nach etwas und als er es schlussendlich in einer der Küchenschubladen gefunden hatte, ging er damit ins offene Wohnzimmer. Lily blinzelte, denn durch die breiten, bodentiefen Fenster drang helles Licht. Fast wäre Lily davor zurückgewichen, aber dieses Mal genoss sie es. Seltsam, dachte sie. Es fühlt sich anders an, ein Hybrid zu sein. Das war sie nun. Bis vor Kurzem hatte Lily es selbst nicht gewusst. Es stellte sich heraus, dass sie und Luc adoptiert worden und in Wirklichkeit halb Elfen und halb Menschen waren. Lucian war ein Dunkelelf und Lily eine Lichtelfe. Lucs Vater war der Bösewicht Nyro gewesen, der sie aufgesucht und gefunden hatte. Nur um beide zu töten, damit sie nicht den Thron erklimmen konnten. Doch Luc und Lily hatten ihn mithilfe eines Zaubermeisters und echter Engel besiegt. Gabriel aber war ihnen entkommen. So wie die furchteinflößende Königin aus dem Sommertal. Lily sog das Licht förmlich in ihre Adern auf, als wäre es etwas zu trinken. Genüsslich aber leise stöhnte sie auf. Ihre Haut prickelte. Und mit einem Mal fühlte sie sich hellwach und nicht mehr so träge wie noch vor fünf Minuten. Lily legte die Decke auf einem der Ohrensessel ab und folgte Lucian hinaus in den Wintergarten. Es war Mitte Februar und draußen lag überall meterhoher Schnee. Luna und George frühstückten soeben. Während Lily in der Tür zum Wintergarten stehen blieb, und ein wenig die zarten Strahlen der Sonne genoss, setzte sich Lucian an den Tisch und holte sein Smartphone aus der Tasche. Er tippte etwas ein und legte es auf den Tisch. Dann sah er ernst zu Lily rüber und sie setzte sich zügig an den Frühstückstisch. Sein Blick hatte was Durchbohrendes. Lucians Handy blinkte einige Male auf, doch er würdigte es keines Blickes mehr. Seine Aufmerksamkeit galt alleine ihr.

»Guten Morgen, ihr zwei«, sagte Luna und nippte an ihrer Tasse mit Kaffee. Der Duft der frischgekochten Bohnen erfüllte die Luft und Lily würgte.

»Alles gut bei dir?«, fragte George und drehte sich zu ihr um.

Lily hielt sich mit der einen Hand die Nase zu und sagte näselnd:

»Die Hybriden-Sache fängt an, merkwürdig zu werden.«

George schaute zu Luna, die ihm gegenübersaß und zog die Augenbrauen zusammen.

»Inwiefern?«Georges Augen weiteten sich.

»Du bist doch nicht etwa schwanger?« Luna stellte ihre Tasse schwungvoll auf dem Tisch ab.

»Mom!« Lily nahm ihre Hand wieder von der Nase und lief rot an. »Wir haben ja noch gar nicht … wir verhüten, aber haben noch nicht …« Sie konnte den Satz nicht beenden, weil es ihr so peinlich war, mit ihren Eltern jetzt darüber zu reden. Es war viel zu früh am Morgen und Lucian war dabei.

Lily zuckte mit den Schultern. »Luc?«

Sie blickte ihn an, doch er schüttelte langsam seinen Kopf. »Erzähl du ihnen alles!«

»Lily, jetzt bekomme ich Angst. Erzähl schon!«, sagte Luna. Sie nahm einen Schluck vom Kaffe und stellte ihre Tasse hastig zur Seite.

»Na ja. Ich …« Sie schluckte erneut. »… ich habe wieder so einen komischen Traum gehabt.«

Luna und George tauschten Blicke.

»Was für einen Traum?«

Doch Lily vermochte nicht zu antworten, weil Lucian mit voller Wucht seine Faust auf den Tisch donnerte, sodass die Tassen einige Millimeter in die Luft befördert wurden. Lily zuckte zusammen.

»Sie hat von ihm geträumt! Von Gabriel!«, schrie Lucian.

In Lilys Augen sammelten sich Tränen, die wie ein Bach über ihre zart rosafarbenen Wangen flossen. Sie senkte ihren Blick und schaute zu Boden, dabei spielte sie an ihrem Siegelring herum. Auf irgendeine Weise fühlte sie sich schuldig.

»Ich … ich habe Angst, Mom!«, flüsterte sie schluchzend. Luna erhob sich von ihrem Platz und lief zu Lily rüber, um sie in den Arm zu nehmen. George blickte Lucian an. »Sei nicht so grob zu deiner Schwester! Sie kann nichts dafür, von wem oder was sie träumt.«

»Entschuldigt!«, sagte Lucian reumütig. »Ich habe meine Kräfte nicht im Griff. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich verrückt werde. Unter meiner Haut brodelt es und die Wintersonne scheint angenehmer auf der Haut zu sein als die Sommersonne. Aber am liebsten würde ich mich den ganzen Tag lang im Keller verkriechen«, brach es aus ihm heraus und er schaute sanft in Georges Augen.

Es klingelte an der Tür. Ein helles Ding-Dong schallte durch das Erdgeschoss.

»Habt ihr jemanden eingeladen?«, wollte Luna wissen und sah in die Runde, während sie sich von Lily löste. Diese hatte sich wieder beruhigt.

»Ich habe jemanden eingeladen, ja«, erwiderte Lucian und wandte sich Lily zu.

»Tut mir leid, Kleines.« Luc schaute Lily sanft an.

»Schon gut«, sagte sie stockend und rang sich ein Lächeln ab.

In der Zwischenzeit hatte Luna die Tür geöffnet. Kurz darauf kam Raphael in den Wintergarten gehechtet.

»Lily! Alles in Ordnung?«

Seine goldenen Locken glänzten in der Morgensonne. Wie bildschön er doch ist. Obwohl sie sich erst gestern gesehen hatten, hatte sie schon fast vergessen, wie wunderschön er war! Sein ganzes Wesen leuchtete. Wie die Sonne. Jedes Mal, wenn er wieder nach Hause ging, vergaß Lily nahezu, wie betörend er war. Aber wenn sie ihn wiedersah, wirkte er fast noch bezaubernder als am Tag davor.

»Komm, lass uns in mein Zimmer gehen. Hier unten riecht es mir viel zu sehr nach Verrat.« Lily blickte düster in Lucians Richtung. Er saß immer noch auf einem der Stühle und spielte mit dem Eierlöffel.

Es schellte erneut an der Tür und Lily und Raphael verschwanden in Lilys Zimmer.

»Wen hast du noch eingeladen?«, fragte George. Luc zuckte entschuldigend mit den Schultern, lief zur Tür und öffnete sie weit.

»Den Rotschopf!«

»Das habe ich überhört!«, sagte eine bekannte Stimme.

»Rufus! Es ist mir eine Ehre«, erwiderte George und erhob sich aus seinem Stuhl. Luna tat es ihm gleich.

Der Kimono, den Rufus stets trug, passte wunderbar zu seinen grauen Augen. Sein langer, roter Zopf hing ihm ordentlich gekämmt über die rechte Schulter.

»Sorry, ich habe mich noch gar nicht umgezogen. Ich springe eben unter die Dusche und dann erzähle ich dir alles. Ist das okay?« Lily setzte zum Gehen an. Doch Raphael hielt sie an ihrer rechten Hand fest.

»Aber mir gefällt dein Outfit. Sehr sogar!«

Er schob sie näher zu sich, seine Haare knisterten und ein Grinsen huschte über seine Lippen. Raphael war nun ein reiner Lichtelf und seine Energie zeigte sich jedes Mal als Knistern oder ein warmes, helles Leuchten, das ihn stets umgab, wenn Lily in seiner Nähe war. Sie errötete. Klar, die Hotpants würden womöglich die meisten Jungs spitze finden. Diese waren zwar verwaschen, aber Lily gefiel sie trotzdem. Weil sie sich anfühlten, wie eine zweite Haut. Das grüne T-Shirt, welches sie trug, hatte sie noch aus London. Dort hatte sie mal an einem Lesewettbewerb teilgenommen und tatsächlich auch gewonnen. Als Hauptgewinn gab es das Shirt und ein Buchpaket. Darauf stand in weißen Lettern: Reading is my superpower.

»Soso! Hätte ich ja nie im Leben gedacht, dass du gerne liest.« Ein Lächeln bildete sich auf Raphaels Lippen, als er einen Blick auf ihre großen, weißen Regale warf, die über und über mit Büchern vollgestopft waren. Lily grinste und fast hätte sie den Traum vergessen. Aber der ploppte immer wieder in ihren Gedanken auf wie Werbung im Internet. Sie wurde ernst und blickte Raphael tief in seine unwiderstehlichen blaugrünen Augen.

»Ich habe von Gabriel geträumt!«

»Von Gabriel?«

Raphaels Miene wurde ernst und ein helles Glühen drang aus seinen Händen. Er strich ihr eine Strähne hinters Ohr.

»Autsch!«, rief Lily und ließ ihn los. Ein kleiner Blitz durchfuhr ihren Körper. Lily rieb sich das Ohr und setzte sich auf die Bettkante.

»Was hat das zu bedeuten? Er lebt noch, oder? Hab ich recht?« Lily rutschte auf ihrem Platz hin und her.

Raphael schloss die Augen und versuchte, sich auf die Lichtenergie in seinen Händen zu konzentrieren. Es war gar nicht so leicht. Immer wenn Lily in seiner Nähe war, fiel es ihm besonders schwer, seine Lichtenergie im Zaum zu halten.

»Er wollte mich im Traum verführen!«, sagte Lily und schaute dabei zu Boden. Ihr war es sichtlich peinlich und ihre Wangen glühten rosa. Aber sie hatte ja nichts Unrechtes getan.

Unerwartet explodierte ihr Mülleimer und der Inhalt verteilte sich im ganzen Zimmer.

»Es tut mir leid!«, stammelte Raphael mit geballten Fäusten.

»Wie hast du das angestellt?«

»Ich muss noch lernen, mit dieser Kraft umzugehen. Nur ein bisschen Wut oder Eifersucht und schon … bäm.« Er gestikulierte wild und klatschte dabei in seine Hände.

»Aber du hattest die Kräfte auch vorher schon.«

»Jetzt habe ich das Doppelte davon. Das ist manchmal mehr, als ich ertragen kann. Ich habe das Gefühl, ich entwickle mich zu einer Mimose.«

»So ein Blödsinn«, winkte Lily ab.

»Komm, lass mich das wegräumen. Schließlich bin ich für das Chaos verantwortlich.« Er kniete sich auf den Boden und sammelte den Inhalt des Mülleimers wieder ein.

Nachdem Lilys Zimmer sauber und sie selbst frisch geduscht, geschminkt und umgezogen war, rief Luna nach ihr.

Raphael hatte artig unten bei den anderen im Wintergarten auf sie gewartet. Der Gedanke, dass Lily von Gabriel geträumt hatte, ließ ihn schaudern. Er musste sich konzentrieren. Nicht dass gleich etwas in die Luft flog oder auf einmal ein Platzregen einsetzte. Mitten im Wohnzimmer.

Lily begrüßte Rufus, den Zaubermeister, mit einer ausgiebigen Umarmung. Er hatte ihnen geholfen, Nyro zu vernichten und heil wieder aus Watin nach Hause zu kommen. Rufus gehörte mittlerweile zur Familie und so behandelte Lily ihn auch, wie ein Familienmitglied. Sie war froh, ihn an ihrer Seite zu wissen.

»Lily, ich habe gehört, dass du von Gabriel geträumt hast.«

»Ja. Ich habe mittlerweile das Gefühl, es weiß die ganze Welt Bescheid«, schnaubte sie.

»Das könnte ein Zeichen sein.« Rufus rieb sich die Hände.

»Was denn für ein Zeichen?«, platzte es aus Lucian raus.

»Einige Portale weisen wieder eine erhöhte Nutzung auf. Eines besonders.«

»Welches?« Raphael sprang von seinem Stuhl auf. Schon wieder, dachte er. Genauso wie letztes Mal.

»Das im Garten von Familie Lichtenwald«, erklärte Rufus.

»Sonja?« Lily blickte zu Raphael hoch. Dieser setzte sich wieder.

»Ich erhielt gestern Abend noch einen Brief! Er kam aus Watin. Schlechte Nachrichten«, sagte Rufus und sah traurig in die Runde.

Raphael griff nach Lilys Hand. Sie war augenblicklich warm und nicht mehr heiß. Lily wurde das Gefühl nicht los, dass die anderen die Nachricht schon kannten. Alle bis auf sie und Lucian.

»Raus damit!«, sagte Luc.

»König Calomel hat mir zugetragen, dass … Norma … vorgestern Abend …« Er hielt kurz inne und seine Augen blitzten in einem lilafarbenen Ton auf.

»Sie ist verstorben! Mein Beileid!«, sagte er letztendlich und senkte seinen Blick.

Lily schlug sich eine Hand vor den Mund. »Nein!«

Raphael nahm sie in seine Arme. Nein. Das darf nicht sein. Kann nicht sein! »Unmöglich!«, flüsterte Lily. »Und was ist das mit dem Portal?«

»Wieso ist sie eigentlich dortgeblieben?« Raphael umarmte Lily und drückte sie eng an sich. Sie weinte.

»König Calomel hielt es für zu risikoreich, sie gehen zu lassen.« Rufus rieb sich die Nasenwurzel. Er sah erschöpft aus.

Mit zusammengezogenen Augenbrauen schaute ihn Raphael an.

»Das Passieren eines Portals ist sehr kräftezehrend«, erwiderte der Zaubermeister. »Das hätte Norma nicht überlebt, deswegen ist sie dortgeblieben. Aber ihre Kräfte schwanden immer mehr.«

»Und das ist deine Antwort?« Lily hatte von Raphaels Armen aus wütend herausgeblickt.

Rufus nickte und schaute zu Boden.

Irgendwann erwachte Lily und blinzelte in blaugrüne Augen. Sie musste eingeschlafen sein.

»Wie spät ist es?«

»Sechs Uhr abends«, flüsterte Raphael.

Der Lichtelf war die ganze Nacht und den ganzen Tag über hier bei ihr geblieben. Er war einfach nur da. Seine Anwesenheit alleine erfreute sie.

Er lag neben ihr. Während sie geschlafen hatte, hatte er sie beobachtet. Raphael hatte sich auf die Seite gedreht und jedes Mal, wenn ihre Augen unter den geschlossenen Lidern wild hin und her gezuckt waren, hatte er schneller geatmet und praktisch mit ihr mitgefiebert. Obwohl er gar nicht wusste, was sie träumte. Als sie dann seinen Namen stöhnte, bescherte es ihm ein warmes Lächeln.

»Du solltest vielleicht zu deinem Bruder gehen. Sprich mit ihm und ich warte hier solange.«

Lily rieb sich die Augen. Sie löste sich von Raphael und schauderte. Seine Wärme tat so unglaublich gut. Träge kam sie hoch und schob ihre Füße aus dem Bett. Sie schlich hinaus aus ihrem Zimmer. Vorsichtig klopfte Lily an Lucians Tür.

»Herein!«

Mit dem Rücken gegen die hohe Bettkante des Bettes gelehnt, saß Luc in seinem Bett und war in ein Buch vertieft. Die Rollläden hatte er runtergelassen. Auf dem Schreibtisch leuchtete eine kleine Lampe. Diese surrte sanft vor sich hin. Lily kam einige Schritte auf ihn zu.

Er las J.R.R. Tolkiens Das Silmarillion.

»Hey, wie geht es dir?«

Er zuckte mit den Schultern. »Wie soll es mir schon gehen? Ein beschissener Tag neigt sich dem Ende.«

Lily setzte sich zu ihm ins Bett und schmiegte ihren Kopf an seine Schulter. »Kaum haben wir sie kennengelernt und schon haben wir sie verloren! Alle beide!« Lily löste sich von Luc.

Sie schluchzte und er drehte sich ihr zu. Luc nahm sie in seine Arme. »Wir haben noch uns und das wird immer so bleiben! Gott Gnade dem, der versucht, unsere Familie zu zerstören.«

»Ich liebe dich, Lucian! Du bist ein großartiger großer Bruder!«

»Schwesterherz!«, flüsterte er und küsste sie auf die Stirn.

Ihr Magen verkrampfte sich. Auch wenn sie sich manchmal stritten, dachte Lily, war es besser, als gar keinen Bruder zu haben. Sie liebte ihn mit all seinen Ecken und Kanten. Wie war es ihm ergangen, fragte sie sich, als er plötzlich keinen besten Freund mehr hatte? Was hatte Herr Philips gesagt, dass Gabriel beim Fechten fehlte? Und wo waren überhaupt seine Eltern? Tränen stiegen ihr in die Augen. So viele Fragen. Doch Lily versuchte, die Tränen sowie auch die Gedanken beiseitezuschieben. Sie mit aller Macht fernzuhalten. Es gelang ihr so gut wie.

»Wie geht es den beiden?«, wollte Rufus wissen.

»Es geht ihnen den Umständen entsprechend. Raphael hat die Nacht bei Lily geschlafen. Lucian hat sich in sein Zimmer zurückgezogen.«

»Gut! Dann werde ich jetzt gehen. Wenn ihr etwas über Gabriel erfahrt oder wenn ich etwas höre, komme ich

wieder.«

George nickte. Die beiden verabschiedeten Rufus und brachten ihn zur Tür.

Luna half George beim Einräumen der Spülmaschine.

»Wie bringen wir den beiden bei, dass Norma schon verbrannt wurde und wir nicht zu ihrer Beerdigung kommen können?«, fragte Luna und setzte sich auf einen der mit weißem Leder überzogenen Stühle.

»Ich weiß es nicht, Liebling! Vielleicht könnten wir …«

»Nein!«, schrie Luna.

»Nein«, wiederholte sie, leiser jetzt.

»Wir könnten sie hierherbringen und hier beerdigen.«

»Das geht nicht, George. Ehepaare, egal welcher Abstammung, müssen immer in einem Land beerdigt werden! Hast du das etwa schon vergessen? «

»Aber es ist ihre leibliche Mutter! Lily hat erst vor sechs Monaten herausgefunden, wer sie wirklich ist und nun folgte ein Schicksalsschlag nach dem anderen. Wie überlebt sie das alles? Sie ist erst sechzehn, Luna!«

Sie nahm ihren Kopf in beide Hände und stützte sich mit den Ellbogen auf dem Tisch ab. »Ich werde mir etwas einfallen lassen.«

2 Zwischen den Welten

Zerbrochen und doch ganz, dachte Lily, als sie auf ihren Siegelring starrte. So fühlte sie sich. Obwohl Sonja ihre beste Freundin war, konnte Lily ihr nicht erzählen, wo sie letzten Sommer in Wirklichkeit gewesen war. Sie hätte sie für verrückt erklärt. Deshalb hatte sie erzählt, dass ihre Großmutter in London schwer krank geworden war und sie ebendarum mit der ganzen Familie dorthin geflogen waren. Als Sonja Lily später in der Schule auf Gabriel ansprach, hatte sie nur mit den Schultern gezuckt und war in Tränen ausgebrochen. Sein Verschwinden hatte Luna später mit den Worten, »Seine Familie ist wieder nach London gezogen«, beteuert. Schon einige Monate sprachen die Mädchen nicht miteinander. Jedes Mal, wenn Sonjas Nummer auf Lilys Smartphone aufblinkte, hatte sie sie weggedrückt. Sie hätte ja doch nicht verstanden, was los war!

Lilys Siegelring lag in ihrer Schreibtischschublade. Letzte Nacht hatte sie ihn wütend dort reingeschleudert und nahm ihn jetzt gerade leise wieder raus. Sie zog ihn sich über den Mittelfinger ihrer linken Hand. Diese fing sofort an, zu prickeln, und fühlte sich gleichzeitig wärmer an als vorher. Lily starrte den Ring eine Weile an und schaute rüber zu ihrem Sofa. Raphael lag dort eingewickelt in eine Wolldecke und schlief tief und fest. Er sah so friedvoll aus. Immer wieder kam ihr der Gedanke in den Kopf, dass sie ein Hybrid war, und sie empfand jedes Mal Unwohlsein dabei. Lily fühlte sich gefangen zwischen den Welten. Gefangen zwischen der Elfen- und der Menschenwelt. Wer war sie wirklich? Was waren die Elfen für ein Volk? Sie wusste es nicht so genau. Lily kannte viele Sagen, Legenden und Geschichten und nicht in allen wurden sie positiv beschrieben. Gab es in Wahrheit Wechselbalge? Sie musste es herausfinden. Gegebenenfalls würde sie sich danach selbst besser akzeptieren und verstehen können. Sie strich mit dem Zeigefinger ihrer rechten Hand über den Siegelring. Auf ihm war eine Sonne von vier Wolken umgeben. Sole. Die Sonne. Das Volk der Leuchtenden. Zu diesem gehörte sie jetzt. Und da kam ihr ein abstrakter Gedanke. Sollte sie es wirklich wagen?

Raphael erwachte von einem warmen Kribbeln auf seinem Gesicht. Er stöhnte leise auf und blinzelte. Es musste die Sonne sein. Jeden einzelnen Sonnenstrahl sog er in sich auf wie ein Verdurstender das Wasser. Dann öffnete er seine Augen und blickte sich um. Er schaute rüber zu Lilys Bett. Doch es war leer. Raphael sah auf sein Smartphone. 7:45 Uhr. Womöglich war Lily schon unten und frühstückte mit ihren Eltern. Er rappelte sich auf und schwebte sonnentrunken die Stufen hinab.

»Guten Morgen, Raphael!«, begrüßte ihn George. Er stand an der Kaffeemaschine und goss sich etwas von dem Getränk in eine Tasse. »Auch einen?«

Raphael schüttelte den Kopf. »Guten Morgen. Ich nehme lieber einen Tee.«

»Wie hast du geschlafen?«, fragte George.

»Gut, danke.«

»Wo ist Lily?«

»Wie bitte?«, fragte Raphael und erstarrte in seiner Bewegung.

»Ich habe sie heute Morgen noch nicht gesehen.«

»Ich dachte, sie wäre hier unten.«

Georges Augen weiteten sich. »Oh nein!«, flüsterte er.

»Was heißt hier›Oh nein‹?«

Raphael drehte sich hastig um und rannte nach oben zum Badezimmer.

»Lily?«, rief er. »Lily! Bist du da drin?«, wollte er erneut wissen und klopfte an die Badezimmertür.

Die Tür öffnete sich langsam und Lucian kam heraus. Sein Oberkörper war frei. Er stand in schwarzen Boxershorts in der Tür und schaute Raphael verschlafen durch seine verwuschelten Haare hindurch an.

»Ist Lily da drin?«, fragte Raphael und zeigte zur Tür.

»Wohl kaum«, erwiderte Lucian. »Wieso?«

Raphael starrte Luc verzweifelt an. Sein Herz schlug schneller. Wie ein galoppierendes Pferd. Ihm wurde heiß.

»Sie ist weg!«

Nicht schon wieder! Wo kann sie nur sein? Nicht das sie erneut eine Dummheit begeht.

»Wenn ich es dir doch sage!«, rief Gabriel und lief um die hohesteinerne Säule im königlichen Garten. Auf deren Spitze befand sich eine goldene Sonne. Sie wurde im Sommertal, die Sonnensäule genannt. Rundherum führten drei Stufen zu ihr hinauf. Rilaona stand unweit vor dem gefallenen Engel. Die Sonne schien auf ihre hellen Haare, die golden glänzten. Sie wirkten fast schon wie flüssiges Gold.

»Du hast einen grünen Blitz gesehen? Am Horizont?« Rilaona sah ihn amüsiert an und lachte kurz darauf auf.

»Jemand muss durch ein Portal gefallen sein!«, sagte er.

»Ja, klar«, erwiderte die Königin und lachte.

Er pflückte sein Hemd vom Boden und ging die Stufen hinauf zur Säule. Gabriel angelte nach Rilaonas Hand und zog sie zu sich, als er ihr ins Ohr flüsterte: »Ich glaube, du hattest einfach zu viel von dem Wein, dass du mir nicht mehr glaubst.«

»Nein, dasdenke ich nicht«, erwiderte sie und drückte ihm einen leidenschaftlichen Kuss auf die Lippen. Ihre Augen strahlten regenbogenfarben und leuchteten, als sie ihn anblickten.

Der Himmel war in Purpur und helles Rot getaucht. Die Gischt wärmte ihre nassen Füße. Der regenbogenfarbene Sand wirkte surreal, fühlte sich aber weich und warm unter ihren Füßen an. Das Meer rauschte vor ihren Augen, als die Sonne langsam darin zu ertrinken drohte, was sie aber nicht wirklich tat. Kleeblütenblätter befanden sich überall. Lily war am Kleeblütenmeer gelandet. Komisch, dachte sie. Doch dann erinnerte sie sich wieder. Der Novus Axus war heutzutage nicht mehr existent und das Kleeblütenmeer lag südöstlich. Obwohl sie erneut, und zur Sicherheit, Raphaels Portal benutzt hatte, war sie ganz woanders gelandet.

»Mist!«, fluchte sie leise.

Der Novus Axus hatte im Nordwesten gelegen, direkt am Goldenen Meer. Von dort sind es knapp zehn bis fünfzehn Meilen bis zu Calomels Schloss, dachte Lily und seufzte. Ob die Beerdigung schon stattgefunden hatte? Wenn ja, wüsste Lily allzu gerne, wie so eine hier in Watin ablaufen würde. Lily drehte sich um und lief den Strand Richtung Osten entlang. Sie hatte sich vorbereitet und holte eine kleine Taschenlampe aus ihrer Jackentasche. Kleeblüten hafteten an ihren Füßen. Für Mitte Februar war es warm in Watin. Lily lief, solange sie ihre Füße trugen. Als dann das Kleeblütenmeer in das Kirschblütenmeer überging, machte sie eine Pause und setzte sich auf einen der Findlinge, die am Strand in einem kleinen Kreis lagen. Eine Weile hörte sie dem Rauschen der Wellen zu. Rosafarbene Kirschblütenblätter spielten um ihre Füße. Mittlerweile waren ihre Füße eiskalt. Lily ließ sie an der Luft trocknen. Dann schlüpfte sie in ihre schwarzen Sneakers. Sie legte die Taschenlampe zur Seite, um den Reißverschluss ihrer Jacke zu schließen, als sie aus der Ferne ein fast schon, unmerkliches Geräusch, vernahm. Wie ein leises Knistern. Kurz darauf folgten ein Donnern und ein blauer Blitz aus der Ferne. Ein blauer Blitz? Lily vergaß immer, dass es mehr gab, als man sich je erträumen konnte. Der Mond stand silbergolden am Himmel. Die beiden Monde hatten sich wieder mal vereint. Es war bizarr, gleichzeitig die Sonne und den Mond sehen zu können.

Sie schnappte nach der Taschenlampe, aber diese war mit einem Mal verschwunden. Mist, wo ist sie nur, dachte Lily. Vielleicht war sie ja weggerollt. Sie sprang auf und durchsuchte den nassen Sand und ihre Jackentaschen. Nichts! Die Taschenlampe blieb verschwunden. Wieder ein Geräusch. Dieses Mal hörte es sich an wie das Schlagen von Flügeln.

»Warum treibst du dich hier alleine rum? Mitten in der Nacht?«, sagte eine männliche Stimme. Sie klang melodisch.

Lily erstarrte. Sie musste verrückt sein, nochmal hierhergekommen zu sein. Alleine! Aber zu Hause hatte sie es einfach nicht mehr ausgehalten. Möglicherweise hatte sie zu voreilig gehandelt?

»Kann nicht sein!«, sagte Luc und schlüpfte in seine schwarze, enganliegende Jeans.

»Wo bitte soll sie dann sein? Sie kann sich schlecht in Luft aufgelöst haben!«, zischte Raphael.

»Fühlst du sie?«

Raphael schaute Lucian fest an und schüttelte den Kopf.

»Seitdem ich ein Lichtelf bin und kein Hybrid mehr, fühle ich sie nicht so stark wie zuvor. Ich dachte, das würde anders werden.«

»Und dein Auge?«

»Es kribbelt nicht mehr.« Raphael hielt kurz inne, als er weiter fortfuhr: »Vielleicht war es ein Fehler, mir die Flügel abschlagen zu lassen!«

Lucian schwieg eine Weile, bis er dann sagte: »Ich hätte letzten Sommer nie gedacht, dass mein Leben sich so schnell ändern könnte. Und nun würde ich mich die ganze Zeit am liebsten im Keller verstecken und mich prügeln. Ich habe so eine Aggressivität in mir. Das kenne ich gar nicht.«

»Du bist ein Hybrid und zur Hälfte ein Dunkelelf. Du bist der geborene Krieger, Lucian.«

»Ich hätte wahnsinnige Lust, jemanden meinen Degen in den Hintern zu rammen.«

»Vielleicht könnte ich euch helfen!«, sagte eine Stimme an der Tür.

Die Jungs drehten sich um.

»Rufus! Was bringt dich hierher?«, fragte Raphael. »Gibt es was Neues?«

»Es geht um Lily!«

»Wo ist sie?«

»Ich glaube, sie ist in Watin!«

»Bitte was?«, riefen Raphael und Lucian im Chor.

»Was will sie denn dort schon wieder und wie kommt sie da hin?«

»Ich weiß es nicht, Lucian, aber ich denke, sie hat ihren Ring, ist aber durch Raphaels Portal gegangen«, erwiderte Rufus.

Raphael wühlte in seinen Hosentaschen.

»Mein Hausschlüssel ist weg!«

»Rilaona, irgendetwas stimmt hier nicht. Hast du den blauen Blitz etwa nicht gesehen?«

Sie zuckte mit den Schultern.

Gabriel umfasste Rilaonas Taille und riss ihr langsam das Korsett vom Körper. Ihr wohlgeformter Busen wurde frei und er umschloss ihn mit beiden Händen. Er drückte sie in das feuchte Gras und küsste sie innig.

»Rilaona!«, wiederholte Gabriel.

Sie öffnete ihre regenbogenfarbenen Augen und grinste ihn an.

»Nein!«

»Aber…«

»Kein aber. Ich will dich jetzt! Nur dich! Jetzt! Also halt die Klappe und lass uns weitermachen.«

Aufdringlich küsste sie ihn. Doch Gabriel schob sie von sich weg.

Rilaona erstarrte. »Was soll das jetzt werden?« Die Lichtelfenkönigin zog ihn wieder an sich und mit einem Mal saß sie auf ihm.

»Es ist seltsam, findest du nicht?«, fragte er sie und unternahm den hilflosen Versuch, sich aufzusetzen. Die Königin drückte ihn wieder in das Gras zurück und schüttelte den Kopf.

»Im Moment ist mir alles egal. Ich will nur dich und mir keine Gedanken über irgendwelche Blitze machen.« Während sie auf ihm saß und sich mit einer Hand am Boden abstützte, wanderte die andere rüber zu seiner Hose. Seine Hand fuhr über ihren Busen und dann tiefer bis unter ihren feuerroten Rock. Rilaona stöhnte laut auf.

3 Der vierte Engel

»Wer bist du?«, fragte Lily und lief einige Schritte in Richtung Wasser. Sie hatte am ganzen Körper Gänsehaut.

»Mein Name ist Uriel!«, sagte der Fremde.

Er war barfuß, trug eine Blue Jeans und ein helles T-Shirt. Seine Haare hingen ihm in goldenen Locken um die Ohren. Die Augen waren etwas größer als die von Menschen und trotzdem war er überirdisch schön. Nur die Augenfarbe konnte Lily nicht genau erkennen. Vermutlich Blau?

Sie überlegte. Was wusste sie über Engel? Hm, nicht so viel. Verdammt! Immerhin konnte sie sich entsinnen, dass Uriel zu den Erzengeln zählte.

»Wer schickt dich?«

»Mikhael!«

»Was?«, flüsterte Lily mehr zu sich selbst.

»Hier!«, sagte Uriel und hielt Lily etwas Leuchtendes entgegen.

Lily kam einen Schritt auf ihn zu und erkannte, dass es ihre Taschenlampe war.

»Keine Angst!«, sagte er mit einer melodischen Stimme. »Mikhael schickt mich. Er hat gesehen, wie du durch das Portal gegangen bist. Lily, es ist hierim Momentsehr gefährlich für dich.«

»Warum?«

»Warum?«, wiederholte er sanft.

»Warum ist es gefährlich?«

»Die Ordnung ist noch nicht ganz hergestellt. Die Hybriden kommen erst nach und nach aus ihrer Verbannung, aber die beiden Länder Sommertal und das Winterblütenland sind immer noch verfeindet.«

»Bist du ein Erzengel?«

»Ja, bin ich.«

Seine Stimme war so klar wie ein Bach. Jedes Mal, wenn er sprach, hörte sie sich weich und melodisch an. Jedes einzelne Wort hatte seinen eigenen Klang und wirkte weise und ehrlich gewählt. Lily fühlte eine wohlige Wärme in ihrem Inneren.

»Kannst du mir helfen?«

»Wobei?«

»Ich muss zu König Calomel.«

»In der Nacht ist es hier nicht sicher. Vor allem nicht, wenn wir durch die Wüste müssen. Obwohl sie bei Nacht leuchtet.Halt dich einfach an mir fest.«

Lily machte zögerlich zwei Schritte auf Uriel zu.

»Nicht erschrecken«, flüsterte er und zog sein T-Shirt aus. Zwei große goldene Schwingen prangten mit einem Mal auf seinem Rücken.

Lily glaubte ihren Augen kaum. »Was bedeutet dein Name?«

»Gott ist mein Licht!«

Sie wägte ab, ob sie ihm vertrauen sollte und entschloss sich dafür, es zu tun. Alleine wäre sie hier ohne jeden Zweifel aufgeschmissen gewesen. Uriel war ein Erzengel. Wieso war sie nur alleine losgezogen?

Lily kam auf ihn zu und er nahm sie in seine Arme. Der Erzengel war warm und roch nach Blumen und Wolken, falls Wolken so rochen. Er stieß sich mit den nackten Füßen vom sandigen Boden ab und die beiden wirbelten hinauf in die Lüfte. Die Luft war klar und frisch. Lily blieb kurzzeitig der Atem weg. Sie hatte das Gefühl, dass ihr Verstand noch unten geblieben war und sie sich aber schon hier oben in den Lüften befand. Über ihnen waren dunkle Wolken aufgezogen. Es sah aus, als gäbe es gleich ein Gewitter. Regnete es hier überhaupt?

Uriel und Lily flogen über einen Wald. Der Wald lag still und schwarz vor ihnen, obwohl die Sonne schien. Etwas funkelte unterhalb. Es müssen Glühwürmchen sein, dachte Lily und lächelte. Letztes Mal, als sie hier war, hatte sie auch welche gesehen. Sanft wie eine Feder landete Uriel auf dem moosbedeckten Waldboden. Er ließ sie vorsichtig runter.

Und in der Tat, das, was vorhin so geleuchtet hatte, waren tatsächlich Glühwürmchen gewesen. Einige von ihnen zeigten ihnen den Weg, indem sie in einem kleinen Schwarm vorflogen und sie zu führen schienen. Lily sank mit ihren Sneakers leicht in dem moosbedeckten Boden ein. Sie hatte das Gefühl, auf Wolken zu laufen. Blau leuchtende Bäume mit umgedrehter Baumkrone glitzerten in naher Ferne. Rote Federn funkelten an ihnen. Sie wehten fröhlich im sachten Wind. Irgendetwas lag in der Luft. Ein lieblicher Gesang erklang. Es war ein Vogel.

»Ich dachte, hier in Watin gibt es keine Vögel.« Lily zupfte an ihren Haaren rum. Der Wind hatte sie zerzaust, als sie droben zwischen den Wolken geschwebt hatten.

»Es gibt einen Feuervogel hier.«

»Die gibt es wirklich? Ich dachte, das wäre nur ein weiterer Mythos. So wie alles andere eigentlich auch!« Lily sah Uriel mit offenem Mund an.

»Ja. Schau mal dort.« Er zeigte auf einen weißen Baum.

Lilys Blick folgte seinem Finger. Und wirklich, in dem kahlen Baum, der aussah, als hätte jemand Asche über ihn gekippt, und sie wäre einfach an ihm kleben geblieben, saß ein Vogel. Er hatte die Größe eines Pfaus und sein Federkleid war rot wie Feuer. Der Feuervogel leuchtete.

»Unglaublich! Wieso habe ich ihn nicht schon vorher bemerkt, als ich letztes Mal hier war?«

Uriel zuckte mit den Schultern. »Du warst mit anderen Dingen beschäftigt.«

»Das war ich allerdings! Gibt es nur einen hier?«

»Nein, mindestens zwei. Sie sind aber sehr scheu und singen nur am Morgen.«

»Dann ist es schon Morgen?«

Uriel nickte.

Lily blickte sich um. Hätte sie es nicht besser gewusst, hätte sie gedacht, es wäre finstere Nacht. Aber klar, sie befanden sich im Winterblütenland. Hier ist es immer dunkel!

»Was möchtest du eigentlich hier?«, fragte Uriel und schaute hinauf auf das Schloss mit einem Turm, welches sich pompös vor ihnen erstreckte. Das Winterschloss. Es sah aus wie das Schloss Saint-Michel in Frankreich. Uriels Flügel wurden unsichtbar und auf seinem Rücken erschien ein umgedrehtes V. Dann zog er sich sein T-Shirt wieder über.

»Ich wollte hier unbedingt hin, weil…weil meine Mutter gestorben ist. Ich wollte zur Beerdigung.«

Uriel schaute sie mit seinen großen Augen an.

»Es tut mir leid!«

Er streckte ihr eine Hand entgegen. Sie griff nach ihr.

»Darfst du Menschen überhaupt anfassen?«

»Du bist ein Hybrid. Und außerdem habe ich dich hierhergeflogen. In meinen Armen. Und du bist sowieso markiert. Nicht zu vergessen: Ich bin ein Erzengel! Ein Reinrassiger.«

Lily zog ihre Hand zurück.

»Tut mir leid. So meinte ich das nicht.« Uriel sah sie entschuldigend an.

»Schon gut.Wieso schickt Mikhael dich? Wieso kommt er nicht selbst?«

»Er darf nicht. Mikhael muss im Himmel bleiben, dazu hat er sich verpflichtet. Nur in größter Not wird er kommen!«

»Deswegen schickt er dich. Bist dujetzt sowas wie mein Schutzengel?«, flüsterte Lily.

»Ja.«

Sie sah ihn noch eine Weile an, während sie einige Schritte liefen. Von ihm aus schien ein Leuchten zu kommen. So eins, welches sie bei Raphael gesehen hatte, als er noch ein Hybrid gewesen war. Oh, Raphael! Warum hast du den Engel in dir aufgegeben? Lily seufzte.

Die beiden standen nun vor König Calomels großem Eisentor. Uriel streckte seine Hand aus und legte sie darauf. Einen Moment später sprang das Tor auf. Vor ihnen erstreckte sich ein schmaler Weg, der über eine helle Brücke, durch einen Rosengarten, bis hin zum Eingangstor des Schlosses führte. Es war immer noch dunkel. Aber die weißen Rosen leuchteten wie kleine Lämpchen. Lily setzte zum Klopfen an, doch das Holztor öffnete sich von alleine.

»Lily!«, rief jemand.

Das Tor wurde weiter aufgezogen und König Calomel schob sich vor sie.

»Was machst du denn wieder hier?«

Doch anstatt zu antworten, stiegen Tränen in Lilys Augen. Sie vermochte nicht ein zu Wort sagen. Ihr Herz schmerzte und fühlte sich schwer an, so als ob es nicht mehr länger ihr gehörte.

Uriel kam einige Schritte vor.

»Ich würde vorschlagen, dass wir nicht durch das Portal gehen. Es könnte uns jemand sehen«, sagte Rufus.

»Wer soll uns sehen?«, wollte Raphael wissen.

»Gabriel zum Beispiel«, entgegnete Lucian.

»Wir wissen ja noch nicht mal, ob er noch lebt.« Raphael rieb sich über die Nasenwurzel.

»Das ist ja das Gefährliche.«

»Okay, Jungs. Kommt, wir gehen wieder durch meinen Garten. Ich brauche nur noch etwas mehr von der negativen Energie der Kakteen. Man kann nie genug davon haben! Und wer weiß, wie lange wir dieses Mal dort bleiben.«

Die Jungs wechselten einen Blick und nickten anschließend synchron mit ihren Köpfen.

Rufus’ Kakteensammlung hatte sich verdoppelt. Die Kakteen türmten sich zuhauf in seiner kleinen Küche und an der Bar.

»Vor Kurzem haben wir hier noch mit Gabriel gesessen«, sagte Raphael düster und setzte sich an die Bar auf einen der Hocker.

»So ein elender Verräter. Er hatte das alles von vornherein geplant«, stieß Raphael verachtend hervor, schnappte sich ein leeres Whiskyglas vom Tresen, suchte nach einer Whiskyflasche und wurde fündig. Dann goss er sich etwas davon ins Glas und schnupperte daran.

»Das Zeug riecht ja grauenhaft. Verstehe nicht, warum die Sterblichen so in den Alkohol vernarrt sind.«

»Koste doch erst mal«, sagte Lucian und musste sich ein Grinsen verkneifen.

Rufus war immer noch mit den Kakteen an der Fensterbank zugange, als er abrupt alles stehen ließ und zu Raphael herübereilte. »Nicht!«, stieß er aus. Der ehemalige Erzengel hatte das Glas soeben an seine Lippen gesetzt, als Rufus es ihm aus den Händen riss.

»He!«, rief Raphael. »Was soll denn das? Ich wollte es kosten. Schließlich war ich ein Engel und weiß weder, wie Alkohol schmeckt noch, wie er wirkt.«

»Glaube mir, das willst du gar nicht wissen!«, rief Rufus und riss ihm auch die Flasche aus den Händen. Er kippte den Inhalt des Glases und den der Whiskyflasche in die dunkle Keramikspüle neben Raphael.

»Wir sollten uns besser auf Lily konzentrieren. Ich wäre dann soweit.« Rufus zupfte sich seinen Kragen am Kimono zurecht.

»Kommt ihr?«, rief er den beiden Jungs zu. Lucian setzte sich in Bewegung, während Raphael kurz an der Bar verharrte.

»Was würde passieren, wenn er Alkohol trinken würde?«, flüsterte Lucian in Rufus’ Richtung.

»Es benebelt die Sinne und er würde manipulierbar

werden.« Er blieb stehen und blickte Lucian finster an.

»Wir müssen auf ihn aufpassen. Reine Lichtelfen können so gefühlsduselig werden, dass man es nicht lange mit ihnen aushalten kann. Er ist im Moment sehr sensibel und anfällig für Dummheiten. Vor allem, wo jetzt auch noch Lily weg ist. Schon wieder.«

»Ist es bei mir ähnlich? Nur dass es andersrum ist.« Luc kam einen Schritt näher auf Rufus zu. »Ich fühle mich nämlich so … so … explosiv. Als wenn ich jeden Moment in die Luft gehen könnte.«

»Ja. Dunkelelfen sind Krieger und sie haben in ihrer Pubertät einen hohen Drang, jemanden zu verprügeln. Sind aggressiv und schnell gereizt.«

»Heißt das, dass ich sowas wie eine zweite Pubertät durchlebe?«

»Genauso ist es. Nur ohne die lästigen Sachen wie Pickel und so«, erwiderte Rufus und klopfte Lucian auf die Schulter. Mit geöffnetem Mund blieb er stehen. Rufus schaute kurz hinter sich.

»Kommt ihr?«

Raphael löste sich von der Bar und schubste Lucian sachte. »Komm!«

»Fass mich nicht an!«, zischte Luc und heftete sich an Rufus.

Die drei marschierten hinaus durch einen langen, schmalen Flur, bis sie eine Glastür erreichten. Rufus öffnete sie und dann standen sie im Freien auf einer großen Holzterrasse. Im Vordergrund befand sich ein meterhohes Maisfeld. Die Maishalme wehten im kalten Februarwind. Es muss Zaubermais sein, dachte Raphael. Wer sonst hat Mais im Februar auf dem Feld? Rufus nahm einige Stufen, die direkt hinunter zum Feld führten. Lucian und Raphael flankierten ihn. Rufus streckte seine Arme aus und hielt die Hände zum Himmel gedreht. Er schloss seine Augen und summte eine ihnen unbekannte Melodie. Aus den Handinnenflächen wirbelten lilafarbene Funken in die Luft hinauf.

»Bereit oder nicht. Es geht los!«

Mit den Augen versuchte König Calomel, Lily etwas mitzuteilen. Er stand immer noch in der Tür und schüttelte den Kopf.

»Wollt ihr reinkommen?« Sein Blick richtete sich auf Uriel und er schüttelte erneut sachte den Kopf. Seine Augen waren geweitet. »Oder zieht ihr weiter?« Er nickte.

König Calomels Verhalten war äußerst merkwürdig.

»Wohin sollen wir schon ziehen, Eure Majestät?«, fragte Lily und machte einen Schritt auf ihn zu. Doch der König zog die Tür wieder zu, sodass nur ein kleiner, feiner Spalt zu sehen war.

»Ist irgendetwas nicht in Ordnung?«, fragte Uriel nach einer Weile. Er stand jetzt neben Lily und seine Hand wanderte zum geschwungenen, silbernen Türgriff.

Lily vernahm ein kratzendes Geräusch.

»Kann ich zu Norma? Bitte!«, sagte sie und wischte sich ihre Tränen von den Wangen, die sie nicht länger hatte zurückhalten können.

Das Kratzen wurde lauter. Es hörte sich so an, als würde etwas Spitzes, wie eine Metallklinge, über den steinernen Fußboden schaben.

Uriel ließ den Türgriff los und packte Lily an der Hand, als er ihr zuflüsterte: »Irgendetwas stimmt hier nicht.«

Lily schniefte.

Mit einem Mal flog die Tür auf, als wäre von irgendwoher ein kräftiger Wind aufgekommen. König Calomel lag am Boden und Uriel eilte zu ihm. Lily wollte gerade zu den beiden rübergehen, doch sie wurde von einer fremden Stimme davon abgehalten. Diese erschütterte sie bis ins Mark. Angst kroch ihr den Rücken hinauf.

»Lily Sterling-Summerdale, endlich habe ich dich gefunden!« Eine tiefe Stimme dröhnte in Lilys Ohren.

Sie blickte vom Boden auf und erschrak erneut. Ein großer, schlanker Mann stand einige Meter vor ihr. Er war ausnahmslos in Schwarz gekleidet. Seine Augen und Haare waren ebenso schwarz. Schwarz wie Pech. Der Bart war zu einem Zopf geflochten. So wie seine langen Haare. Auf seinen Fingernägeln war schwarzer Nagellack aufgetragen und an jedem Finger steckten silberne Siegelringe. Sind das etwa die Ringe von Hybriden?, dachte Lily und schauderte.

Lily schluckte laut und merkte dabei, wie trocken ihre Kehle war.

Der Mann kam ein paar Schritte auf sie zu.

»Nein!«, rief König Calomel und sprang vom Boden auf. Uriel stand an seiner Seite und versuchte, ihn zu schützen. Mit einem Mal erschien der König Lily in hohem Maße geschwächt.

»Wer ist das?«, wollte Lily wissen.

»Ich weiß es nicht genau. Aber er ist sehr böse!«, sagte Uriel.