Winteraustreiben - Jasper Nicolaisen - E-Book

Winteraustreiben E-Book

Jasper Nicolaisen

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Beschreibung

Je näher Weihnachten rückt, desto mehr geht in Mikas Leben schief: Ihre Eltern zicken sich an, in der Schule wird sie gedisst, und jetzt spioniert ihr auch noch ein unsichtbares Krokodil hinterher. Dann steht plötzlich Santa Claus, der Weihnachtsmann persönlich, vor der Tür, mit einer unheimlichen Plastikmaske vor dem Gesicht und einer Zigarre zwischen den Zähnen, und fällt sein Urteil: Gar nicht brav war sie! Fortan soll Mika zusammen mit Hunderten anderen Kindern in Santas Spielzeugfabrik schuften. Schon bald schmiedet sie Fluchtpläne – aber wie soll man aus einem versteckten Dschungeltal am Nordpol entkommen, das nur auf dem Luftweg per Rentierschlitten erreichbar ist? Und will sie überhaupt fliehen? Denn eigentlich könnte sie diesen ganzen schlecht organisierten Weihnachtsladen in die Tasche stecken, wenn es ihr nur gelänge, die Stelle von Santas grausamem Handlanger Knecht Ruprecht einzunehmen. Dummerweise funkt ihr dabei dauernd der blöde Nerd Sam aus ihrer Klasse dazwischen, der ebenfalls zu Weihnachten geholt worden ist …

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Winteraustreiben

Roman von Jasper Nicolaisen

© 2023 Amrûn Verlag Jürgen Eglseer, Traunstein

Umschlaggestaltung im Verlag

Alle Rechte vorbehalten

ISBN TB – 978-3-95869-508-5Print in the EU

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar

v1/23

Sagt an, was ich herinnen find? Sind’s gute Kind? Sind’s böse Kind?

Theodor Storm, Knecht Ruprecht

Ich möchte dort kämpfen, wo das Leben ist.

Clara Zetkin

Prolog

Aus dem schwarzen Himmel fiel Schnee, der nach Blut roch.

Der verbrannte Junge schob sich zwei Finger in den Mund und stieß einen leisen Pfiff aus.

Unter der Plane, die die Ladefläche bedeckte, entstand Bewegung. Eine kleine Beule hob den Stoff, verharrte und schnüffelte vernehmlich.

»Alter! Wie blöd kann man sein«, stöhnte der Junge. »Hierher!«

Er pfiff ein zweites Mal, lauter, und hielt dann erschrocken inne. Hoffentlich hatte das im Haus keiner gehört. »Hier rüber«, zischte er und winkte ungeduldig mit der Hand. »No-bonlass nixes«, fügte er auf Lingo hinzu: »Vergiss die Geschenke nicht!«

Die Beule glitt zielstrebig auf den Rand der Plane zu und verschwand. Ein knirschender Aufprall war zu hören. Der Junge zuckte zusammen. Das dauerte alles viel zu lange. Im Schatten des Schlittens entstand eine Bewegung. Etwas Kleines, Flinkes hüpfte geduckt auf ihn zu und hinterließ Vogelspuren im Schnee, zwischen denen sich eine schmale Linie schlängelte. Der Junge stemmte die Hände in die Hüften, als das Wesen ihm mit einer Klaue salutierte und sich mit der anderen den Sack über die Schulter warf. Auf dem Krokodilköpfchen des Kleinen saß eine alberne rote Weihnachtsmannmütze mit Glöckchen. Der Junge schnappte sie sich und zog sie dem Wicht über die Schnauze. Kieksend griff sich der Kleine ins Gesicht, und der Sack plumpste in den Schnee.

Der verbrannte Junge warf die die Mütze weg, packte den Sack und stieß ihn seinem Begleiter vor die Brust. Ohne sich noch einmal umzudrehen, kletterte er in den Kamin. Kein Ruß, wunderte er sich. Die haben den noch nie benutzt. Macht ihnen wahrscheinlich zu viel Dreck. Genau wie das Mädchen. Ihm fiel sein eigenes Zuhause wieder ein. Auch da war alles immer sauber gewesen. Mama, Papa, neues Baby. Nur er hatte gestört. Die ahnen ja nicht, dass sie mir einen Gefallen getan haben, als sie mich angezeigt haben, dachte er grimmig. Karriere hab ich gemacht, jawohl.

Als er aus der Kaminöffnung spähte, verging ihm die Freude allerdings sofort wieder. Fliesen. O Mann, hier ist alles voller Fliesen. Nicht nur der Boden glänzte weiß im Schneelicht der großen, klaren Fenster, auch die Wände waren meterhoch gekachelt. Vorsichtig setzte der Junge einen Fuß ins Zimmer. Immerhin besser als Teppich. So hinterlasse ich wenigstens keine Brandspuren. Was sollte er überhaupt machen, falls in der nächsten Wohnung Teppich lag? Er konzentrierte sich darauf, die Hitze in seinem Körper herunterzufahren. Sofort wurde es dunkel. Ah, meine Augen leuchten auch nicht mehr. Hat wohl geklappt.

Hinter ihm plumpste das Krokodilwesen in den Kamin. Wütend ließ der Junge das Feuer in seinen Augen aufblitzen und richtete die Strahlen auf den Geschuppten, der sich schützend die Klauen vors Gesicht riss. Der Verbrannte ballte die Fäuste zu der Geste Ich könnte dich erwürgen!

Der Kleine rappelte sich auf und hüpfte zu ihm herüber. Die Klauenfüße klickten auf den Fliesen, und der Schwanz schlurfte über den Boden. Wenn ich bloß noch die bescheuerte Mütze hätte, dann könnte ich ihm jetzt gleich noch mal eine damit ziehen, dachte der Junge. Stattdessen packte er die Echse an der Schnauze.

»Halt ... deinen ... Schwanz ... fest!Grapp-lo«, raunte er und ließ die Augen aufflackern.

Der Kleine duckte sich und wickelte sich den kahlen Schwanz um den Arm.

»Na, muy wow.« Der verbrannte Junge drehte die Augen noch etwas weiter auf und sah sich um. Fenster vom Boden bis zur Decke, weiße Fliesen, Metall, wenige Möbel. Eine Wohnküche. Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, wer hier wohnen möchte. Tote vielleicht, dachte Ruprecht. Nein, sogar Tote wollen einen gemütlichen Sarg mit Samtfutter. Schätze, wir tun dem Mädchen was Gutes. Er dachte an seine Heimat und schüttelte sich.

Mitten im Raum stand eine Wendeltreppe ohne Geländer. Das Kinderzimmer lag vermutlich im ersten Stock. Na super. Ganz toll.

Seufzend schnappte er sich seinen Begleiter samt Sack und warf ihn sich über die Schulter, bevor er noch protestieren konnte. Keine blöden Pannen mehr. Wird Zeit, dass wir diesen Job über die Bühne bringen. Oben angekommen, tauchte im Lichtkegel seiner Augen vor einer der Zimmertüren ein weißer Mädchenstiefel auf. Da haben wir’s ja. Mama hat schon alles für unsere Ankunft vorbereitet, was? Brave Eltern. Vorsichtig setzte er den Kleinen ab und winkte ihm, den Stiefel zu füllen.

Der Kleine zog den zusammengerollten Wunschzettel aus dem Schaft, warf einen kurzen Blick darauf und reichte ihn dann achselzuckend an den verbrannten Jungen weiter. Streaming-was?

Ruprecht runzelte die Stirn, traute sich aber nicht, die Augen heller zu stellen. Streamingguthaben? Was zur Hölle soll das denn?

Der Kleine zirpte, als der Stiefel voll war. Der Junge knüllte den Wunschzettel zusammen und schob ihn sich in die Tasche. Streaming! Von wegen. Du kriegst ganz was anderes, wenn wir mit dir fertig sind.

Er strich sich ein paar Mal mit der Handkante über die Kehle. Das Echsenwesen begriff ausnahmsweise sofort und warf die Chamäleonaura an. Ein schwacher Schimmer vor der weiß gekachelten Wand war alles, was von ihm blieb. Der Verbrannte griff in die Tasche und zog den Blutstein hervor.

Noch schimmerte der faustgroße Quader gelblich im Licht seiner Lampenaugen, aber wenn alles nach Plan lief, würde er seinem Namen bald alle Ehre machen. Mit jeder Missetat ein bisschen dunkler. Für jedes ungezogene Wort ein bisschen dreckiger. Mit jedem bösen Gedanken ein bisschen fauliger. Er dimmte die Augen zu einem schwachen Glühen und hielt sich den Blutstein wie eine Kamera davor. Knips, knips. Dem bösen Mädchen auf der Spur. Er hielt den Blutstein dorthin, wo er das kleine Wesen vermutete. Ungeduldig fuhr er mit der freien Hand durch die Dunkelheit vor seinem Knie, um den getarnten Winzling zu ertasten. »Nimm schon!«, zischte er. »Grapp-lo tá.«

Hinter der Tür hörte er es knarren. Irgendjemand gähnte laut. Bleib liegen, Mutti, du musst jetzt nicht pullern!, flehte er innerlich. Beim Anblick eines verbrannten Kindes mit glühenden Augen würden sie sich die Sache vielleicht noch mal anders überlegen. Und das würde dem Boss garantiert nicht gefallen.

Er fuhrwerkte wilder mit der freien Hand herum und kippte dabei den mit Süßigkeiten vollgestopften Stiefel um. Schokoladenkügelchen und Marzipantiere kullerten über die Fliesen. Mist. Er legte den Blutstein ab – klack! –, klaubte hastig alles wieder zusammen und schaufelte es in den Stiefel. Erst als er spürte, wie klebrig seine Hände waren, fiel ihm ein, dass die Hitze seines Körpers die Schokolade schmelzen musste. Maaaaaann. Als er genervt die Augen flackern ließ, sah er, dass seine Hand auf dem weißen Mädchenstiefel einen fetten Brandabdruck hinterlassen hatte. Dämlich, dämlich, dämlich. Auch im Kinderzimmer knarrte jetzt ein Bett. Wo war der blöde Winzling?

»Zou! Ying zou, kurva!«, fluchte er.

Ein Luftzug strich durch den Flur, und eine Tür am anderen Ende des Gangs klapperte leise. Zwei Metallbuchstaben klebten daran: WC. Das Badezimmer? Dieser kleine ...

Eine geschuppte Klaue blitzen in Bodennähe auf. Einen Moment lang schwebte der Blutstein noch in der Luft, bevor er dank der Chamäleonaura des Kobolds mit der Farbe der Umgebung verschmolz.

»Ha toletta?Nu!?«, wisperte der Junge ungläubig. Die grinsende Schnauze tauchte neben seinem Knie in der Luft auf, bevor sich der Winzling wieder ganz in seiner Tarnung zurückzog. Idiot.Wenn er sich beim Beschatten auch so blöd anstellt ... Aber um jemand anderen für den Auftrag auszusuchen, blieb jetzt keine Zeit mehr.

Du weißt, was du zu tun hast«, flüsterte der Junge und wandte sich zur Treppe. »Vermassel’s nicht, sonst dreht dir der Boss den Hals um. Gaim ovah-na!« Das Letzte, was er sah, bevor er die Stufen hinabschlich, war die in der Luft hängende Grinseschnauze und daneben einen einzelnen schuppigen Daumen des Bonsaikrokos.

Als er den Kopf aus dem Schornstein steckte, fuhr ihm eisiger Wind in die Haare. Er blinzelte ins Schneegestöber und wünschte sich seine Mütze zurück. Mist. Jetzt wird auch noch das Wetter schlechter. Eilig griff er nach Zügeln und Peitsche und schnalzte mit der Zunge.

Hey, eigentlich hab ich das ganz gut hingekriegt. Ich hab den Boss nicht enttäuscht, dachte er, als sie in der Luft waren. Zum ersten Mal seit dem Abflug genoss er die Reise und ließ den Blick über die Spielzeuglandschaft unter ihnen wandern.

»Müssen wir eigentlich noch in all diesen Häusern Geschenke und Süßigkeiten verteilen?«

»Sei nicht albern. Das Geben überlassen wir den Eltern.« Die schattenhafte Gestalt auf dem Kutschbock beugte sich zu dem verbrannten Jungen hinunter. »Unser Job ist es, Sachen wieder mitzunehmen.«

Kapitel 1

Als Mikas Handywecker loslegte, war es draußen noch dunkel. Das perlende Intro von Muses »New Born« schreckte sie auf, und wie jeden Morgen wusste sie einen Moment lang nicht, wo sie war. Kaum war der Klingelton am Ende der Schleife angekommen, fing er wieder von vorne an. Ich bleibe einfach noch hier im Warmen liegen, bis das Handy von selber aufhört.

Es klopfte. Ohne auf Antwort zu warten, öffnete Mikas Mutter die Tür, einen Spalt breit nur, das hielt sie wohl für diskret. »Mika, Schatz, bist du wach? Dein Wecker klingelt ja schon ewig.« Mein Wecker klingelt seit genau dreißig Sekunden, so lange dauert nämlich die Schleife. Bestimmt hatte ihre Mutter schon vor der Tür gewartet, bevor das Handy überhaupt angesprungen war. »Ist okay, Mam.« Mika richtete sich auf und drückte den Weckton aus. Sie warf die Decke beiseite, schwang die Beine aus dem Bett und war auch schon am Kleiderschrank. Wenn ihre Mutter sah, dass sie fröhlich in den Tag startete, ließ sie sie am ehesten in Ruhe.

»Na, ich will mal nicht zu viel verraten, aber ich sehe hier draußen schon Einiges.« Als sie die Tür zuzog, wehte auch schon ein Hauch vom Nikolausfrühstück ins Zimmer: Butter, Zimt, Kerzen, Kaffee und der Tannennadelduft, der sich bereits seit Ende November im ganzen Haus eingenistet hatte. Zwanzig Minuten. Wir sitzen zwanzig Minuten zusammen, und sie macht so einen Aufstand. Dass ihre Mutter die Welt auf Teufel komm raus schön finden wollte, auch wenn es gar nichts Schönes gab, machte sie rasend.

Mika öffnete den Kleiderschrank und tippte sich nachdenklich auf die Unterlippe. Ihr Outfit musste drei Bedingungen erfüllen: Flauschig-festlich, damit sich keiner beschweren konnte, dass sie das besondere Frühstück absichtlich kaputt machen wollte. Das große Young-Miss-Special für die schönste Zeit im Jahr: Jetzt wird’s kuschlig! Rollkragenpullover, türkis, Silberfäden, das passte doch. Zweite Bedingung für das Outfit: Es musste gerade so verboten aussehen, dass ihre Mutter sich ärgerte, aber nicht wirklich etwas einwenden konnte. Der Rock? Mika schlüpfte hinein und musterte sich kritisch. Ich bin ein japanisches Schulmädchen, bitte sabbern Sie mich an. Das war ein Tick zu viel. Also Cordhose, Salz-und-Pfeffer-Optik, seriös, aber machte ein paar Jahre älter. Diese schreckliche Cordhose! Findest du die nicht zu eng? Ja, Mam, ich finde die auch zu eng, aber dass du »arschbetont« nicht über die Lippen bringst, ist die Sache wert. Fehlte nur noch Bedingung Nummer drei: Es durfte in der Schule nicht peinlich aussehen. Mika seufzte. Das mussten dann wohl Jacke, Stiefel und Schminke richten. Sie checkte noch mal extra, ob sie sich mit der Unterwäsche in der Umkleide blicken lassen konnte, heute war Handball-AG. Nichts mit Pferdchen, nichts mit Spitze.

Sie überlegte, ob sie vor dem Frühstück nicht noch etwas Zeit schinden konnte. Den Rucksack mit den Schulsachen hatte sie gestern Abend schon gepackt, genau wie die Sporttasche. Mika wog das Buch für die Busfahrt unschlüssig in den Händen. Stephen King. Coole Geschichten. Und sie konnte es in der Pause vor Deutsch noch mal rausholen, damit Herr Funke es sah und sich ärgerte, dass eine so gute Schülerin so einen Mist las. Und die anderen würden mitkriegen, dass es ihr gar nichts ausmachte, mit so einem Buch von einem Lehrer gesehen zu werden. Sie schob das Buch in den Rucksack. Jetzt blieb ihr kein anderer Ausweg mehr und sie bereitete sich innerlich auf den Nikolauswahn vor. Oooh, was ist denn das? Ein Stiefel voller klebriger Süßigkeiten und ein angesagtes Geschenk, das ich meiner alten Mutter überhaupt nicht zugetraut hätte. Ich bin ganz platt vor Weihnachtsstimmung.

Sie hielt die Luft an und öffnete die Zimmertür weit. Hätte sie nicht eben auf Vorrat geatmet, hätte sie jetzt die volle Zimt-und-Tannennadel-Keule erwischt.

Auf dem Fliesenboden stand ihr Stiefel, voll mit Süßigkeiten. Bärks. Daneben ein quadratisches Geschenk. Das Papier ist bestimmt von so Ökotussis handgebatikt. Mit spitzen Fingern griff sie danach. Eine CD. Oooh, ist das etwa ein Buch? Haha. War ich eigentlich so blöd, einen von den Stiefeln vor die Tür zu stellen, die ich heute anziehen wollte? Weiß, Pelz, geschnürt, halbhoher Absatz, schick-sind-sie-ja-aber-bist-du-für-so-was-nicht-noch-ein-bisschen-jung. Offenbar war sie wirklich so blöd gewesen. Fröhlichen Nikolaustag auch, Mika. Als sie sich daran machte, den Stiefel auszuräumen, stutzte sie. Die oberste Schicht Süßigkeiten war eine einzige verklebte Masse aus Stanniolpapier, Schokolade und Marzipanbrocken. Obenauf steckten die beiden Äuglein eines im Schokobrei abgesoffenen Marzipanschweinchens und guckten sie traurig an. Schlampig. Das sah ihrer Mutter gar nicht ähnlich. Dann bemerkte Mika noch etwas, und jetzt hätte sie beinahe laut geflucht. Auf dem hart erbettelten weißen Stiefel prangte seitlich ein fetter bräunlich-schwarzer Handabdruck. Mit zusammengepressten Lippen rubbelte Mika auf dem Fleck herum. Keine Chance. Sieht aus wie ... eingebrannt! Ob ihre Mutter das mit Absicht gemacht hatte? Nein, die würde sich hüten, Spuren zu hinterlassen, die darauf hindeuteten, dass sie selbst die Geschenke brachte.

Ihr fiel ein, dass sie die Stiefel gestern Morgen noch eingesprüht hatte. Wahrscheinlich hatte ihre Mutter in der Nacht den Hefezopf für das Frühstück gebacken, dann irgendwie am heißen Backofen die Schokolade schmelzen lassen und später im dunklen Flur nicht gemerkt, das alles ruiniert war. Und der Handabdruck? Vor Mikas geistigem Augen tauchten irgendwelche neuen Weltraum-Kunststoff-Ofenhandschuhe auf, die sich beim Backen mit Hitze vollgesogen und dann das Stiefelleder versengt hatten. Klingt idiotisch. Ist auch idiotisch. Sieht ihr wirklich gar nicht ähnlich. Mika war wütend, und wenn sie wütend war, wurde alles in ihr ganz kalt. Ihre Gedanken verlangsamten sich und wurden zu einem Strom sanfter, aber bestimmter Anweisungen, wie bei der Sicherheitsbelehrung im Flugzeug. Sammel alles wieder ein. Sieh dir jetzt die CD an, du musst dich gleich dafür bedanken, auch wenn heute keine Sau mehr CDs verschenkt. Hopp, wir haben nicht mehr viel Zeit. Die Treppe runter, ein bisschen freudig hüpfen, dann kann sie sich auch gleich beschweren, das freut sie und wiegt sie in Sicherheit.

»Na, Mika, musst du denn so die Treppe runterpoltern?« Ihre Mutter trug Kaffee von der Küchenzeile zum Tisch hinüber.

»Wenn die Treppe unter dir zusammenbricht, fahr ich dich nicht ins Krankenhaus«, sagte ihr Vater.

Glaub ich dir sofort.

»Guten Morgen, Herr Vater. Sie haben ja gute Laune.« Sie deutete einen Knicks an und drückte ihm einen Kuss auf.

»Sehr witzig«, sagte ihr Vater und wischte sich über die glatt rasierte Wange, während er die Zeitung aufschlug. »Ich hab nicht gut geschlafen. Ist einer von euch heute Nacht andauernd aufs Klo? Ich hab heute Meeting, da kann ich so was echt nicht gebrauchen.«

Mikas Mutter hielt ihrem Vater den Brötchenkorb hin. Goldgelb, selbst gebacken.

»Nur weil du schlecht geschlafen hast, müssen wir ja nicht alle schlechte Laune haben«, sagte sie.

Ihr Vater sah von der Zeitung auf. »Nein, natürlich nicht. Entschuldigung.« Er raschelte mit den Zeitungsseiten. »Du hast ja auch viel zu tun mit deinen Duftgestecken und so. Das vergesse ich immer.«

Heißt übersetzt: Ohne mein Geld würdet ihr alle auf der Straße sitzen. Aber so was sagen wir ja nicht, wie?

»Ja, du hast recht, Papa. Mam hat das echt alles toll hergerichtet.«

Mikas Mutter setzte die Kaffeekanne so hart auf den Tisch, dass das Geschirr klirrte. Die einsame Kerze im Adventskranz flackerte, und das Räuchermännchen schien sich an seinem Qualm zu verschlucken.

»Wenigstens eine, die das bemerkt.«

Mikas Vater faltete die Zeitung zusammen und legte sie sorgfältig vor sich auf den Tisch. »Musst du nicht heute ein Referat halten?«, fragte er, während er langsam ein Messer ins Brötchen stieß. »Gemeinschaftskunde, oder? Ich hoffe, du hast dich gut vorbereitet.«

»Na klar.« Mika setzte ihr strahlendstes Lächeln auf. »Ich mach was mit dieser Interaktionsmethode, über die du mir den Artikel gegeben hast. Guter Tipp übrigens.«

Ihr Vater hob den Blick und lächelte ihr kurz zu, was gar nicht so leicht war, bei all dem Tannengrün und den Strohtierchen, die um den gusseisernen Kerzenleuchter über dem Esstisch drapiert waren. Freche Teenagertochter angetäuscht und jetzt nachstoßen. Obwohl sie wegen dem ruinierten Stiefel immer noch sauer war, fing die Sache beinahe an, ihr Spaß zu machen. Ihr beide seid aber auch so leicht zu spielen. Große rote Knöpfe, die man bloß zu drücken braucht.

»Mam, ich glaube, du hast heute Nacht irgendwie so einen Abdruck an meinen neuen Stiefel gemacht, als du die Süßigkeiten reingetan hast. Danke für die CD übrigens, hast du echt super ausgesucht.«

Jetzt nicht hochgucken. Der Kinderchor aus der Stereoanlage säuselte in den höchsten Tönen. Mika drückte das stumpfe Frühstücksmesser durchs Brötchen und riss die beiden dampfenden Hälften schließlich auseinander.

Schnief. Schnief-Schnief. Dann ein leises Schluchzen. Das war überraschend schnell gegangen.

»Ach Mika«, sagte ihr Vater und schob den Stuhl zurück. »Du weißt doch, wie empfindlich deine Mutter da ist.«

Mika spürte, wie sie die Zähne zusammenbiss. In ihrem Bauch ballte sich eine eisige Kugel, so als wäre die Kälte des Schnees durch die riesigen Fenster direkt in sie hineingekrochen.

»Ihr seid so gemein«, schluchzte ihre Mutter.

O Gott, wie in einer schlechten Fernsehserie. Mika senkte den Blick schnell wieder auf die beiden Brötchenhälften, die jetzt schwächer in den verschneiten Morgen dampften.

»Was hab ich denn jetzt damit zu tun?«, fragte ihr Vater. Eben noch hatte er seiner Frau die Hand auf den Rücken legen wollen. Jetzt verharrte er mitten in der Bewegung.

»Könnt ihr mir nicht mal zu Weihnachten ...« Mikas Mutter verschluckte sich wie ein Kleinkind beim Weinen und rang nach Luft. »Ich gebe mir solche Mühe, dass wir es als Familie schön haben. Es ist schon schwer genug. Und wenigstens Weihnachten soll alles gut sein. Wünschen kann man sich alles! Und wenn man es wirklich will und brav war ...« Sie keuchte wieder und schluchzte heftiger. Mika konnte hören, wie ihr Vater der Mutter über den Rücken strich. »Es geht schon«, sagte sie zitternd. »Also, Mika, es tut mir leid, wenn der Nikolaus deinen Stiefel beschädigt hat. Ich bin mir sicher, er hat viel zu tun, da kann das schon mal vorkommen. Eltern helfen ihm ja manchmal ein bisschen, also werd ich mal sehen, ob ich den Stiefel wieder hinkriege, wenn du in der Schule bist. Was sagst du dazu?«

Mika umklammerte das Frühstücksmesser. Sie spiegelte sich in der abgerundeten Schneide. Nicht mal anständige Messer gibt es hier, dachte sie. Wie im Gefängnis. Damit man sich nichts antut. Sie hätte das Besteck am liebsten von sich geschleudert. Ich seh so scheiße aus. Blond, schlaksig, brav, Handballmädchen.

»Komm, Mika, das ist doch fair.« Ihr Vater sprach ganz leise und ruhig. So, wie er immer sprach, wenn er gleich laut werden würde. »Deine Mutter biegt das wieder hin, was der Weihnachtsmann kaputt gemacht hat, und du ...«

Mika schob den Stuhl zurück. Sie wusste, was jetzt passieren würde, aber sie konnte nichts daran ändern. Es war, als würde sie von einer tosenden, eiskalten Flut mitgerissen werden und müsste sich dabei von außen zusehen.

»Sagt mal, habt ihr sie nicht mehr alle? Ich weiß echt nicht, wie du das gemacht hast, Mam, aber an meinem neuen weißen Stiefel ist jetzt ein fetter Brandabdruck, und das war bestimmt nicht der Nikolaus oder der Osterhase oder ein Alien, sondern das warst du. Ich finde das total scheiße, weil die nämlich teuer waren, und so viel Taschengeld gebt ihr mir ja auch nicht.«

Alles lief ganz falsch, und mit jedem Wort wurde es nur noch schlimmer, aber Mika redete wie auf Autopilot. Ein Teil von ihr beobachtete sie immer noch und schüttelte den Kopf. Mika, du Dumpfbacke. Wenn man wütend ist, darf man das auf keinen Fall zeigen. Dann stolpert man Hals über Kopf aus der Deckung. Und wer zuerst die Deckung fallen lässt, hat auf jeden Fall verloren. Während die coole, überlegene Mika noch Kommentare abgab, redete die verschwitzte Mika mit dem roten Kopf schon weiter. Kreischen wäre zutreffender, bemerkte die coole Mika in ihrem Kopf unbarmherzig. Du kreischt wie ein Kleinkind.

»Und überhaupt ist das ja wohl voll krank mit deinem Adventstick. Bloß weil du hier auf heile Welt machen willst, müssen wir alle mitspielen. Ich bin doch keine drei mehr! Du weißt doch, dass es den Nikolaus und den Weihnachtsmann den ganzen Mist nicht gibt, warum müssen wir da alle um den heißen Brei rumquatschen. Ey, Papa, du kannst auch immer nur mit den Türen knallen und in deinem Arbeitszimmer rumbrüten und uns bestrafen, indem du gar nichts mehr sagst, wenn dir was nicht passt, aber ich will dich nur einmal sehen, wie du ... wie du ...«

Erschöpft hielt Mika inne. Der Anfall war vorbei, und jetzt wusste sie nicht mehr, was sie sagen sollte.

»Mann, die Stiefel wollte ich heute anziehen«, endete sie lahm. Aber die eisige Zorneswelle trug sie nicht mehr. In ihr waren nur noch Leere und die spöttische Stimme der coolen Mika. Jetzt musst du natürlich auch noch das Schlimmste sagen. Los, komm, wolltest du doch eh die ganze Zeit. Deshalb bist du doch bloß so sauer. Nicht wegen dem blöden Stiefel. Oder wegen dem Tick von Mam.

Mika stand ihrem Vater gegenüber, während ihre Mutter ihr immer noch den Rücken zukehrte und lautlos in sich hineinweinte. Ihr Vater war inzwischen auch rot im Gesicht. Seine Augen waren starr und glasig, und an seinem Hals pulsierte eine dicke, violette Ader. Mika konnte seinen Atem aus dem leicht geöffneten Mund hören.

»Und wenn ihr nicht so ... so fertig wärt und euch andauernd was vorlügen würdet, dann wäre das mit Ran nie passiert.«

Die Kerze am Adventskranz ging aus. Ein dünner Rauchfaden stieg auf. Mika wischte sich eine Träne ab. Jetzt heul ich auch noch. Am liebsten wäre sie weggerannt, aber das hätte alles nur noch schlimmer gemacht.

Ihr Vater kam nicht näher. Aber das musste er auch nicht. Seine Wut reichte bis zu Mika hinüber. Er schluckte laut, und sein großer Adamsapfel fuhr auf und nieder. Die coole Mika in ihrem Kopf kommentierte das anerkennend. Wirklich elegant gemacht. Da sieht man sofort, wie groß die Wut ist, die er runterschlucken muss, aber auch, dass er’s kann. Im Gegensatz zu dir, Mika. Da kannst du noch was lernen.

»Du entschuldigst dich jetzt sofort bei deiner Mutter. Und den Namen deiner Schwester will ich in diesem Haus nie wieder hören. Wenn du dich noch einmal, ein einziges Mal so aufführst, kannst du auch sehen, wie du allein klarkommst. Ohne dein Zimmer, das Essen auf diesem Tisch, ohne Stiefel für hundert Euro, ohne deine Mutter und mich und ohne Weihnachten. Ich kann mein Geld auch für was anderes ausgeben, wenn du so undankbar bist, das kannst du mir glauben.« Wie um seine Worte zu unterstreichen, wirbelte der Wind die Flocken heftiger gegen die Fenster.

Einen Augenblick lang wollte Mika wirklich weglaufen. Tu’s. Hau ab. Vertrauenslehrer. Jugendhilfe. Zu Ran nach Berlin. Irgendwas.

Aber was sollte sie einem Sozialarbeiter schon sagen? Sie wurde nicht geschlagen, sie bekam alles, was sie brauchte, die Lehrer würden sagen, dass sie gut in der Schule, sportlich und beliebt bei den Mitschülern war. Ihre Eltern waren zu allen freundlich, kamen zum Elternabend und hatten Freunde im Gemeindechor und im Fitnessstudio. Und da war noch etwas. Mika hatte Angst. Und sie hasste sich dafür. Während sie langsam auf ihre Eltern zuging, biss sie sich auf die Lippe. Ihre Arme und Beine fühlten sich merkwürdig schwer an, aber ihr Kopf war ganz leicht, und die Gedanken trieben darin herum wie draußen der Schnee. Ihr fiel wieder ein, wie sie sich im alten Haus abends die Decke über den Kopf gezogen hatte, wenn Ran und die Eltern sich angeschrien hatten, und stumm ins Kopfkissen gesagt hatte: Hört auf, hört auf, hört auf. »Kannst du nicht einfach still sein?«, hatte sie Ran dann später zugeflüstert.

Und die große Schwester hatte im Dunkeln die Hand nach ihr ausgestreckt, die nach verbotenen Zigaretten gerochen hatte. »Nein«, hatte sie leise gesagt. »Ich hab doch recht.«

»Tut mir leid, Mam«, sagte sie. Das blumige Parfum ihrer Mutter hüllte sie ein, als sie sie umarmte, und Mika hielt den Atem an. »Tut mir leid, was ich gesagt habe.«

Ihre Mutter schniefte. »Gut, in Ordnung«, sagte sie und schob Mika weg. Diesen Triumph würde sie so lange wie möglich auskosten und noch lange die Beleidigte spielen. »Ich kümmer mich dann mal um deine Pausenbrote, ja? Du musst ja essen. Und dann schau ich mir mal an, was der Nikolaus da mit deinem Stiefel angerichtet hat.«

»Super, danke, Mam.«

»Na, dann ist ja alles klar. Bin ich froh, dass meine Mädels sich wieder vertragen.« Mikas Vater griff sich die Zeitung vom Tisch, rollte sie zusammen und tappte Mika damit auf den Kopf. »Reißen Sie sich zusammen, Fräulein Tochter, okay?«

»Okay, Herr Vater.« Lachen. Fröhliches Ponymädchen-Lachen Stufe zwei, »Unbeschwertes Spielen im Sonnenschein«.

Ihr Vater lachte auch und verschwand in Richtung Badezimmer. Sein Gesicht hatte wieder seine ganz normale Farbe angenommen, und von der geschwollenen Ader war nichts mehr zu sehen. Mika lief nach oben, putzte sich rasch die Zähne und holte den Rucksack aus ihrem Zimmer. Sie hörte, wie ihre Eltern sich unten mit einem lauten Kuss verabschiedeten. Dann fiel die Haustür zu. Kurz darauf wurde im Carport der Wagen gestartet.

Mika atmete aus und lehnte die Stirn an die Wand. Die Hand, mit der sie den Rucksack hielt, zitterte. Sie schloss die Augen.

»Deine Brote sind fertig!«, rief ihre Mutter von unten. »Stellst du mir den Stiefel noch hin? Beeil dich, du verpasst sonst den Bus.«

»Ist gut!«, rief Mika.

Einmal, als es schon lange dunkel gewesen war, hatte sie noch wach gelegen. Sie hatte Ran atmen gehört. Es gab so vieles, was sie sie hatte fragen wollen, aber sie hatte sich wie immer nicht getraut: Warum streitest du immer mit Mam und Papa? Ist Rauchen nicht total eklig? Der Typ an der Bushaltestelle heute, ist das dein Freund? Wie fühlt sich das an mit dem Küssen?

Stattdessen hatte plötzlich Ran etwas gesagt.

»Sie mögen uns nicht. Nicht wirklich.«

»Wer mag uns nicht?«, hatte Mika geflüstert.

Ran hatte sich auf den Ellbogen gestützt und zu ihr herübergesehen.

Mika wusste noch genau, wie unheimlich ihr Gesicht im Licht der Straßenlaterne vor dem Fenster ausgesehen hatte. »Mam und Papa. Sie sagen, dass sie uns mögen, und vielleicht glauben sie das sogar selber. Aber das stimmt nicht. Es ist wichtig, dass du das weißt, falls ich mal nicht mehr da bin.«

»Wieso, willst du weg? Du gehst doch nicht weg, oder? Und warum sagst du so was, das sind doch unsere Eltern!«

»Schon, Schneckchen. Aber guck mal, die glauben, dass wir ihnen was weggenommen haben. Und deshalb sind sie sauer. Natürlich wissen sie auch, dass man als Eltern seine Kinder liebhaben muss. Aber die Wut ist stärker als sie. Irgendwann kommt sie raus. Ich weiß das, ich hab das von denen, dass ich immer so wütend bin. Ich fresse das bloß nicht so in mich rein.«

»Aber was sollen wir Mam und Papa denn weggenommen haben? Wir sind doch bloß Kinder.«

»Ach, Schneckchen. Denk doch mal nach. Mama war bloß ein paar Jahre älter als ich jetzt, als sie mich gekriegt hat. Vorher wollte sie mal was mit Mode machen, und damit war dann Schluss. Und Papa? Ich glaub nicht, dass der Psychologe werden wollte, um den Autotypen zu verklickern, wie man Fließbänder so baut, dass die Arbeiter länger ohne Pause durchhalten. Der mit armen Gestörten über ihre Kindheit quatscht. Aber irgendwo musste das Geld ja schließlich herkommen. Oder das reden die sich jedenfalls ein. Vielleicht war ihnen auch alles ganz recht so, wer weiß. Jedenfalls wären die ohne uns vielleicht gar nicht mehr zusammen, und deshalb sind sie wahrscheinlich am meisten sauer auf uns.«

»Meinst du, Mam und Papa wollen sich scheiden lassen?« Sie wollte sich nicht entscheiden, bei wem sie wohnen wollte, und das musste man, wenn die Eltern geschieden waren.

Ran hatte einmal laut durch die Nase geschnauft und sich wieder ins Bett fallen lassen. »Ha! Ganz sicher nicht. Das wäre ja zu einfach. Aber du, Schneckchen, ich bin immer für dich da, ja? Ganz egal, ob ich mich mit den Eltern streite oder vielleicht weggehe. Auf mich kannst du dich verlassen.«

Und das war die faustdicke Lüge gewesen. Ran war weggegangen, nach Berlin, und Mika war mit Mam und Papa in das neue Haus gezogen, wo es für Ran kein Zimmer mehr gab. Rans Sachen waren auf dem Müll gelandet. Alle Familienfotos, auf denen Ran zu sehen war, verschwanden über Nacht aus den Alben. Es wurde nie wieder über sie gesprochen, und wenn da nicht die WhatsApps und die Fotos gewesen wären, die sie Mika aus Berlin schickte, hätte man meinen können, sie hätte nie existiert. Manchmal zweifelte Mika trotz der Kurznachrichten daran, dass sie wirklich eine Schwester hatte. Die Nachrichten mit den Bildanhängen hätten genauso gut von einem Gespenst aus dem Jenseits kommen können.

Und als hätte Mika durch den bloßen Gedanken an Ran ihren ruhelosen Geist beschworen, vibrierte in diesem Augenblick dreimal das Handy in ihrer Hosentasche. Eine Nachricht. Von Ran, ganz sicher.

»Mäuschen, beeil dich, du kommst zu spät!«

Mika öffnete die Augen, schnappte sich den Rucksack und rannte aus dem Zimmer. Am Treppenabsatz machte sie noch einmal kehrt. Sie griff sich den Stiefel mit den Süßigkeiten vom Tisch, warf sich den Rucksack über die Schulter, riss unten die Jacke vom Haken und schlüpfte in die Sneaker.

»Tschüss, Mam, ich muss«, rief sie schrill, während ihre Mutter am Küchentresen noch damit beschäftigt war, einen Berg von Pausenbroten in Stanniolpapier einzuschlagen.

»Mäuschen, du hast deine Pausenbrote vergessen. Ich hab dir noch Spekulatius dazu gepackt.«

»Keine Zeit, Mam!« Mika presste den Stiefel an sich, zog die Schulter hoch, damit der Rucksack nicht runterrutschte, und warf mit Schmackes die Tür zu. Wieder der elastische Rückprall, als steckte ein Schaumgummiball in der Türritze.

Mikas Mutter tauchte im Flur auf und wedelte mit dem Stanniolpäckchen. Wenn sie mir echt noch die Brote in die Hand drückt, schreie ich. Ein schwarzer Schatten huschte aus der Tür, und mit einem leisen Knirschen landete etwas neben den Treppenstufen im Schnee zwischen den immergrünen Büschen. Mika zog die Tür zu und drehte sich stirnrunzelnd um. Sie hastete die Treppen hinunter und tat so, als höre sie die Rufe ihrer Mutter nicht, während sie einen raschen Seitenblick auf den Schnee warf, wo der Schatten verschwunden war. Komisch. Was war das? Eine Katze? Ist da eine Maus aus der Küche gehuscht? Aber es waren keine Spuren zu erkennen.

Eilig rannte sie weiter, um die Hausecke zu erreichen und aus dem Blickfeld ihrer Mutter zu entkommen, bevor die den Stiefel entdeckte, den sie immer noch an die Brust presste. Ganz egal, was das für ein Tier war, so krass wie ich die Tür zugemacht hab, hätte ich es auf jeden Fall zerquetscht. Trotzdem war etwas an ihr vorbeigelaufen, da war sie ganz sicher. Egal. Ängste, denen man sich nicht stellt, treten bekanntlich ungefragt als Bilder ins Bewusstsein, meine Liebe, und bei dir ging’s ja heute Morgen angstmäßig ziemlich übel ab. Mika schüttelte sich. Bei solchen Gedanken hatte sie immer das Gefühl, als würde ihr Vater ihr mit spitzen Fingern im Kopf herumrühren. Konnte man nicht irgendwie schlau sein, ohne etwas von seinen Eltern zu lernen?

Sorgsam drapierte sie den Stiefel auf dem Haushaltsmüll im Container, die unausgepackte CD ganz obenauf. Sie ließ den Deckel zufallen und lief zur Bushaltestelle. Der kalte Wind und das Schneetreiben machten ihr nichts aus, im Gegenteil: Nach der stickigen Nikolauswärme und der drückenden Kerzenluft drinnen fühlte sie sich hier draußen frisch und klar. Natürlich würde ihre Mutter den Stiefel früher oder später entdecken. Natürlich hatte Mika genau das beabsichtigt. Und natürlich hätte sie eine absolut aufrichtig klingende Ausrede parat. Oh, sorry Mam, ich war echt im Stress heute Morgen wegen unserem Streit ... Nein, falsch, zu aggressiv ... wegen dem Referat heute, und da wollte ich nur schnell auf dem Weg den Müll wegbringen ... Sollte sie noch hinzufügen: weil ich dir ein bisschen Arbeit abnehmen wollte, oder wäre das zu dick aufgetragen? Das würde sie spontan entscheiden, wenn es so weit war. Und da hab ich wohl in der Aufregung den Stiefel gleich hinterhergeworfen. Die schöne CD, die hatte ich doch extra noch nicht ausgepackt, wollte mir die Überraschung noch aufheben. Mika grinste und streckte die Zunge heraus, um ein paar Schneeflocken aufzufangen. Jetzt ging es ihr fast schon wieder gut. Natürlich würde ihr Mutter antworten, nein, sie sei gar nicht sauer, und wie nett es von Mika gewesen sei, bei dem Stress mit dem Referat noch an den Müll zu denken. Und natürlich würde sie insgeheim kapieren, dass Mika den Stiefel mit Absicht weggeworfen hätte, aber den Triumph, sich darüber aufzuregen, würde sie ihrer Tochter nie und nimmer gönnen. Mika spürte, wie das glatte, kompakte Smartphone in ihrer Tasche hin- und herrutschte. Was Ran ihr wohl geschrieben hatte? Der Ärger des Morgens war so gut wie verflogen. Sie würde die Nachricht lesen, die Fotos ansehen, die mit Sicherheit angehängt waren, und dann die Stephen-King-Storys rausholen. Eine kurze konnte sie auf dem Weg zur Schule noch schaffen.

Im Schneegestöber leuchteten die Scheinwerfer des Busses auf, der in diesem Moment in Mikas Straße einbog. Mika lief los. Immer schneller kamen die Atemwölkchen aus ihrem Mund, und sie freute sich am Ziehen in den Oberschenkeln, dem Brennen in der Lunge und daran, dass ihr das Laufen keine Mühe machte. Cool. Ich bin cool. Stark. Ich renne ihnen weg, ich trickse sie aus. Mika macht den entscheidenden Punkt. Fast tat es ihr leid, als sie die Bushaltestelle erreichte und stehen bleiben musste. Der Bus kam Sekunden nach ihr an. Zischend öffneten sich die Türen.

Kurz bevor sie sich wieder schlossen, huschte ein Schatten hinein. Weder Mika noch sonst jemand sah ihn, aber er war da. Der Kleine hatte die ganze Nacht mit dem Blutstein in der Hand vor ihrem Zimmer Wache gehalten. Einmal hatte er verstohlen nach einer Schokoladenkugel aus dem Stiefel gegriffen und sie sich nach kurzen, misstrauischem Schnüffeln mitsamt dem Stanniolpapier in die Schnauze geschoben. Mit großen Augen hatte er aus seiner Chamäleon-Tarnung heraus verfolgt, wie Mika sich durch ihre Outfits gearbeitet hatte. Kawaiii! Swiet-na! hatte er bei sich gedacht, bis ihm eingefallen war, dass er nicht zum Gaffen hier war, sondern einen Auftrag zu erfüllen hatte. Aufgebracht hatte er sich zwei Ohrfeigen versetzt und angefangen, mit dem Blutstein Beweise zu sammeln, was ihn allerdings nicht daran gehindert hatte, neben einem Marzipanschweinchen aus dem Stiefel auch noch die Kappe eines Teddybären mit der Aufschrift REGIE mitgehen zu lassen.

Die hatte er sich mit dem Schirm nach hinten auf den Kopf gesetzt, während er den ganzen Streit am Frühstückstisch mit dem Blutstein eingefangen hatte. Mit der Haustür hatte ihn Mika ein paar Mal derbe erwischt. Seine prächtige Schnauze und der hübsch geschuppte Bauch hatten ziemliche Blessuren davongetragen, bevor es ihm gelungen war, sich in den Schnee plumpsen zu lassen. Um den Stiefel voller Köstlichkeiten hatte es ihm leidgetan, und nur zu gern wäre er Mika in den Arm gefallen oder wenigstens in den Container geklettert, nachdem sie fort war, um die süßen Schätze zu bergen, die dann ihm ganz allein gehört hätten. Aber stattdessen hatte er pflichtbewusst den Blutstein ans Auge gehalten und mitgeschnitten, wie Mika das Geschenk ihrer Mutter wegwarf. Jetzt, nachdem er es gerade noch geschafft hatte, hinter dem rasenden Mädchen in den Bus zu hüpfen, hockte er für Menschenaugen unsichtbar am Boden zwischen Schultaschen, schneefleckigen Stiefeln und durchnässten Mantelsäumen und ging die Aufnahmen durch, die er im Laufe des Morgens in die Tiefen des Blutsteins gebannt hatte. Er bleckte die gelben Zähne und biss sich dann schnell in die Schwanzspitze, um sich das Lachen zu verkneifen. Der Stein, der gestern Nacht noch fast durchsichtig gewesen war, zeigte jetzt eine blassrosa Färbung, wie das Wasser, das man nach einer Zahnarztbehandlung in das Emaillebecken spuckt.

Kapitel 2

Mika hangelte sich im anfahrenden Bus von Haltestange zu Haltestange, vorbei an anderen Schülern und schlecht gelaunten Erwachsenen auf dem Weg zur Arbeit. Eine ältere Frau mit verkniffenem Mund und Federn am Hut hatte den Sitz neben sich mit einer Ledertasche blockiert, aus der ein schmutzig weißes Hündchen in die Welt starrte. Dem panischen Hecheln und den blutunterlaufenen Augen nach zu urteilen, hatte es entweder große Angst vor dem Gedränge im Bus oder vor seinem Frauchen, das auf Mikas Frage, ob sie vielleicht die Tasche beiseitenehmen könnte, die angemalten Augenbrauen verzog und ein Gesicht machte, als habe sie gerade in eine Zitrone gebissen. Wortlos nahm sie Tasche und Hündchen vom Sitz, offenbar hatte sich im ganzen voll besetzten Bus bisher nur noch niemand getraut, sie darum zu bitten. Der Herzschlag hämmerte Mika immer noch in den Ohren, aber sie fühlte sich nach dem Lauf durch die kalte Luft wach und voller Energie. Draußen vor den Scheiben glomm ein trüber Morgen durch das Schneegestöber. Im Bus roch es nach nassen Klamotten, Plastik, Schweiß und den Mandarinen, die irgendwo jemand aß. Musik knisterte aus Kopfhörerdämmungen, Husten und Schniefen waren zu hören, leise Unterhaltungen, Reifen auf dem nassen Asphalt draußen und Handyklingeln. Mika fiel die SMS wieder ein, die sie vorhin in ihrem Zimmer bekommen hatte. Sie streckte sich auf dem unbequemen Sitz und fischte in der Hosentasche nach dem Handy, wobei sie der Frau mit dem Federhut absichtlich dicht auf die Pelle rückte und ihr ein paar Mal den Ellbogen in die Seite bohrte, um sich mehr Platz zu erkämpfen. Rutsch rüber, Alte. Es ging ihr maßlos auf die Nerven, wenn man sie unhöflich behandelte, nur weil sie jung war. Endlich bekam sie das Handy zu fassen. Mika holte tief Luft und tippte zweimal auf das Fensterchen.

HI SCHNECKCHEN-BESTES ZUM STIEFELFEST: OH, MAM DREHT AM RAD? HIER: VOLLE DRÖHNUNG STATT SCHOKOFÜLLUNG ^^

SCHWESTERNRAT: NIE AM BIER SPAREN, RÄCHT SICH IMMER. ABER SVEN HAPPY WG. AUSSTELLUNG, KÜNSTLERBLAHBLUBB, WICHTIGWICHTIG. DENK AN DICH WG. WEIHNACHTEN. DU, FALL NICHT AUF ELTERNTRICKS REIN. BLEIB STARK. JETZT EISZEIT. SCHICKE WARME KNUDDLZ. ANTWORTE MAL. BESSER: KOMM. XXO.

Unter der Nachricht prangte ein Büroklammersymbol. Mika biss sich auf die Unterlippe und öffnete das angehängte Foto. Rans Gesicht in Großaufnahme. Sie hielt eine Bierflasche in die Kamera. Zwei junge Männern küssten sie auf die Wangen und schielten dabei in Richtung des Fotografen, die Gesichter fahl vom Blitzlicht. Der rechte der beiden küssenden Männer war vermutlich Sven, jedenfalls erschien er in letzter Zeit regelmäßig auf den Bildern zusammen mit ihrer Schwester. Mika hatte sich inzwischen zusammengereimt, dass er wohl Rans aktueller Freund war, nachdem eine Zeit lang immer von einem Christian bzw. »Chris« die Rede gewesen war, der an irgendeiner Uni etwas mit dem »Stura« machte, und noch früher auch mal von einem oder einer »Kim«, von der Mika nur erfahren hatte, dass er oder sie »SÜSS/ANSTRENGEND« war, und von der oder dem auch auf den Fotos nie ganz klar gewesen war, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Mika hob das Smartphone dichter vor die Augen. Die beiden Männer trugen Vollbärte, obwohl sie in Rans Alter waren. Dafür hatten sie kaum Haare auf dem Kopf. Der linke trug eine Brille, die aussah, als hätte er sie aus einer Doku über die deutsche Wiedervereinigung geklaut. Mika fand das uncool, aber wahrscheinlich war es cool, genauso wie das Piercing in der Unterlippe. Auf Rans Berlinfotos hatte alle Männer Bärte, dicke Brillen, wenig Haare und mindestens ein Piercing oder ein Tattoo. Sie sahen alle sportlich aus, auch wenn sie dick waren. Immer hatte mindestens eine Person eine Bierflasche in der Hand, und irgendjemand rauchte garantiert. Immer knutschten sie entweder mit Ran oder miteinander. Ran jammerte zwar in jeder zweiten SMS, dass sie pleite war, aber dafür, fand Mika, sahen auf den Fotos alle ziemlich sorglos aus.

Mika schreckte auf, als sie dicht neben sich ein lautes »Ts, ts« hörte – die Zitrone mit dem Federhut hatte das Foto ebenfalls gesehen. Kopfschüttelnd starrte sie jetzt aus dem Fenster und schmatzte immer noch entrüstet mit den Lippen. Aus der Tasche am Boden schielte das Hündchen zu Mika hoch, als wollte es sagen: Ich kann nichts dafür!

Mika stach mit dem Zeigefinger ins Foto, sodass es zusammenschnurrte. Ärgerlich schubste sie die Nachricht in den Ordner, in dem sie alle Nachrichten von Ran ablegte. Sie antwortete nicht. Sie antwortete nie. Seit Ran angefangen hatte, ihr zu schreiben, hatte sie jede Nachricht gelesen und wieder gelesen, sich die Fotos angeschaut und dann gespeichert. Wenn ihr Handy sie warnte, dass der Speicher voll war, löschte sie ihre Sammlung und füllte sie in den kommenden Tagen und Wochen wieder mit den neu eintreffenden Nachrichten. Die Sachen zu Hause auf ihren Rechner zu ziehen, kam nicht in Frage. Mika wusste, dass ihre Mutter regelmäßig in ihren Dateien herumstöberte.

Sie ließ das Handy in den Schoß sinken und überlegte. Warum schrieb sie Ran nie zurück? Im Kopf begann sie, eine Nachricht zu formulieren: HI SCHWESTERCHEN. Zu kindisch? Irgendwie wollte sie mit der erwachsenen Party-Ran, die sie von den Fotos kannte, nicht mehr so reden. HALLO RAN. Mit ein paar schnellen Wisch- und Tippbewegungen schloss sie alle Apps und versetzte das Handy in Stand-by. Bei den ersten Nachrichten war sie zu verdutzt gewesen. Sie hatte sich gerade daran gewöhnt, dass Ran in der Familie zu einem Geist geworden war. Mit Mühe hatte sie sich an das neue Haus gewöhnt, die neue Schule, die Mitschüler. Und an das Leben mit den Eltern, die sie nie wieder mit den gleichen Augen sehen würde. Sie mögen uns nicht. Nicht wirklich. Und dann war es ihr peinlich gewesen, nach so vielen unbeantworteten Nachrichten nun doch noch zurückzuschreiben. Oder, meine Liebe? Eine Stimme in ihrem Kopf, die verdächtig nach ihrem Vater klang, gab Widerworte. Du bist doch sauer. Auf Ran. Weil sie dich allein gelassen hat. Weil eigentlich alles noch wie früher sein könnte, wenn sie nicht so stur gewesen wäre. Weil sie dir Mam und Papa weggenommen hat, weil sie die beiden zwingen musste, ihr wahres Gesicht zu zeigen.

Mika schreckte auf, als das Hündchen in seiner Tasche kläffte. Der Bus hielt an einer weiteren Haltestelle, und neue Fahrgäste strömten herein, diesmal hauptsächlich Schüler. Sofort wurde es laut im Bus. Ein paar Jungs schubsten sich im Gedränge um die hintere Bustür herum und rempelten dabei die Mitfahrenden an. Sie stopften sich Schneebälle in die Jackenkrägen und knufften sich zur Rache. »Hey, hey«, sagte ein Mann mit Aktentasche, und die Frauen mit Kinderwagen schüttelten die Köpfe und sagte etwas auf Türkisch. Einer der Jungen pöbelte in der gleichen Sprache zurück, die Frauen wandten sich ab und tuschelten entrüstet miteinander. Lachend und sich in die Rippen stoßend, drängten sich die Jungs den Mittelgang hinauf auf Mika zu. Kurz bevor der Bus sich wieder in Bewegung setzte, sprang noch ein weiterer Junge in Mikas Alter herein und wäre beinahe von den zuklappenden Türen eingeklemmt worden. Mika erhaschte nur einen kurzen Blick auf sein Gesicht: Straßenköterhaar, ein rausgewachsener Kurzhaarschnitt, rote Backen von der Kälte und beschlagene Brillengläser. Schlecht angezogen, das erkannte Mika mit geübtem Blick sofort, bevor er im Gedränge verschwand. Nachlässig, Hose und Jacke etwas zu groß, klotzige Halbschuhe, wie von Mami aus dem Katalog bestellt, aber dazu grelle Aufnäher auf dem No-Name-Rucksack, Metalzeugs. Hätte ein Rollenspielertyp sein können, wenn er lange Haare gehabt hätte. Kenn ich den nicht? Mika überlegte. Eine Neuer? Parallelklasse? Ein Jahrgang drunter oder drüber? Jedenfalls ging er auf ihre Schule, da war sie sicher. Wer war das bloß noch gleich?

Die Jungs, die eben für Tumult gesorgt hatten, kannte sie hingegen ganz gut. Eine Klasse über ihr, Wortführer, Schulhofbrüller, Typen, die in die Cafeteria mit Essen warfen und sich dabei wahnsinnig witzig vorkamen. Jens hieß der eine, das wusste sie noch, Hakan der andere, die Namen der anderen kannte sie nicht. Die Clique war immer noch aufgekratzt, rief sich über die Köpfe der anderen Fahrgäste irgendetwas zu und nutzte die älteren Pendler als Deckung, um sich schnelle, harte Schläge zu versetzen. Noch vier Haltestellen. Mika verrenkte sich erneut auf dem Sitz, um das Handy wieder in die Hosentasche zu schieben und das Buch mit den Stephen-King-Geschichten aus dem Rucksack zu fummeln.

»Hey, was liest du denn da?« Sie sah auf. Nicht weggucken, Schultern gerade, das Buch ruhig zuklappen, Finger zwischen die Seiten. Bestimmt, aber nicht provozieren. Jens war es, strohblond, knochiges Gesicht, rote Hände, rote Daunenjacke, groß, breit, trainiert.

»Komm, zeig doch mal, was du da liest. Komm, ey, was ist denn das? Sieht voll interessant aus. Nicht nur hübsch, sondern auch noch klug. Cool, find ich cool.«

Ein paar von den anderen drängten sich von hinten an Jens und guckten grinsend zu.

»Ich habe keine Lust, mich mit dir zu unterhalten«, sagte Mika. »Lass mich in Ruhe und spiel weiter mit deinen Freunden.«

Sie konnte Jens ansehen, dass er sie jetzt am liebsten verunsichert wollte, indem er sie anfasste, ihr übers Haar strich oder ihr an den Arm griff. Aber sie hatte ihren Panzer: ruhiger Blick, klare Stimme, aufrechte Haltung, regelmäßiger Atem. Der Junge fuhr mit der Hand an der Griffstange auf und ab und sah sich kurz nach seinen Kumpels um, die auf seine Reaktion warteten.

»Kein Lust, hm. Keine Lust höre ich selten, weil, hm, bei mir hat jede Lust, ne?«

Kommentarlos drehte sich Mika zum Zitronengesicht mit dem Hündchen.

»Entschuldigen Sie? Können wir vielleicht die Plätze tauschen? Dieser Junge da belästigt mich.«

Zitronengesicht fuhr auf, dass die Hutfedern wippten. Sie riss die Tasche mit dem Hündchen auf den Schoß, das prompt wieder zu kläffen anfing. Aller Ärger, der eben noch dem unhöflichen Mädchen neben ihr gegolten hatte, richtete sich jetzt auf Jens.

»Ich finde das eine Unverschämtheit«, keifte sie. »Ja? Eine Unverschämtheit. Schämen Sie sich!« Sie wedelte mit einer behandschuhten Faust in Jens’ Richtung.

»Hey, jetzt beruhigen Sie sich mal.« Jens war von dem unvermuteten Angriff sichtlich irritiert. »Wie hässlich ist die denn, Alter«, sagte er schnell zu seinen Freunden.

»Frechheit!« Zitronengesicht kläffte genauso schrill wie ihr Schoßhund.

»Passen Sie mal lieber auf ihre Kampftöle da auf«, warf einer der Jungs aus der zweiten Reihe dazwischen.

So ging das noch bis zur nächsten Haltestelle hin und her, wo eine Menge Leute ausstiegen, sodass die Jungs die Gelegenheit nutzten, um sich von Mika und dem keifenden Zitronengesicht in Richtung Türen zurückzuziehen.

»Lesbe«, sagte einer im Weggehen, und es war nicht ganz klar, ob er Mika, das Zitronengesicht oder beide meinte. Immerhin hatte Mika jetzt ihre Ruhe, und Zitronengesicht lächelte ihr mit einem Mal so gütig zu, als wollte sie ihr gleich ein paar selbstgestrickte Socken schenken.

Fürs Lesen blieb Mika jetzt natürlich keine Zeit mehr, auf den verbliebenen zwei Haltestellen würde sie nicht mal mehr den Rest der angefangenen Horrorgeschichte schaffen. Ihr fiel das Gemeinschaftskunde-Referat wieder ein. Toll, ein bisschen Ruhe im Bus hätte sie wirklich gut gebrauchen können. Plötzlich meldete sich ihr Handy mit einem Piepston. Mika fischte es wieder aus der Tasche, was diesmal viel leichter ging, da Zitronengesicht ihr jetzt bereitwillig Platz machte. Das war doch keine WhatsApp?

YOU HAVE AN iMATCH! stand auf dem Display. Was war denn das noch gleich? Mika tippte auf die Anzeige.

90% MATCH. SEND MOBILE / SOCIAL NETWORK LINK?

Jetzt fiel es Mika wieder ein. IMATCH; das war so eine App, die sie sich mal aus Langeweile gezogen hatte, als das Handy noch neu gewesen war. Man konnte Hobbys, Interessen und Flirtstatus eingeben, und das Handy scannte dann in regelmäßigen Abständen die Umgebung nach anderen Leuten, die ebenfalls iMATCH installiert hatten. Wenn die Angaben übereinstimmten, wurde man benachrichtigt. Und genau das war gerade passiert.

Mika ließ den Blick durch den Bus wandern. Irgendjemand hier passte zu 90% zu ihr. Aber wer? Bitte, lass es nicht den bescheuerten Jens sein, dann bring ich mich um. Sie schielte zu Zitronengesicht hinüber. Nein, wenn die ein Handy hatte, war es bestimmt so groß wie ein Schuhkarton und lag sicher zu Hause auf dem Küchentisch. Irgendjemand aus Jens’ Clique? Sie schaute wieder aufs Display. Ob sie ihre Handynummer an den gefunden Partner senden wollte, fragte die App immer noch geduldig, oder den Link zu ihrem Insta-Profil. Bei der Vorstellung, dass Jens ihre Handynummer in die Finger bekam, wurde ihr ganz anders. Sie versuchte, möglichst unauffällig die anderen Jungs im Bus durchzugehen. Einer gefiel ihr ganz gut, ein bisschen stiller, dunkelhaarig, schlank, unterhielt sich mit einem Freund, konnte also ganze Sätze bilden. Als der Bus an der Ampel ruckend anfuhr, hob er den Blick und sah zu Mika hinüber. Er lächelte. Sie merke, dass ihr Gesicht sofort glühte, und guckte schnell wieder aufs Handy. Du dummes Stück, was soll denn das jetzt. Mam, Papa und Sven battelst du der Reihe nach weg, und bei so nem Mädchenzeug ist Schluss? Kurz entschlossen tippte sie auf SOCIAL NETWORK LINK. Sollte der geheimnisvolle Unbekannte doch ruhig den Link zu ihrem Insta bekommen, dann musste er sich ja zu erkennen geben, wenn er alles auf ihrer Seite sehen wollte. Und dann konnte sie die Freundschaftsanfrage immer noch ablehnen, wenn ihr der Typ irgendwie schräg vorkam. Was hatte sie eigentlich noch mal in der App über sich gespeichert? Sie suchte die Anwendung und sah nach.

I AM fLOOKING FOR m WITH (undefined) LOOKS TO was sich so ergibt. I AM INTERESTED IN: Stephen King (Writer), Muse (Band), Kings of Leon (Band), Editors (Band), Berlin (City), Mode (Hobby), Psychologie (Hobby/Occupation), Handball (Sport/Hobby), Vampire (Lifestyle), Neue Technologien (Business/Lifestyle) LIKE: Allein sein (undefined), gewinnen (undefined), meine Schwester (Family) DISLIKE: Süßigkeiten (Food), Meine Eltern (undefined), Streit (Occupation), Unhöflichkeit (Personality), Listen ausfüllen (undefined).

In all den Monaten, seit sie die App installiert und dann vergessen hatte, hatte sie für diese Liste noch nie eine Übereinstimmung angezeigt bekommen. Und jetzt gleich 90%! Was wohl die 10% sind, in denen wir uns unterscheiden? Mode schied bei einem Jungen ziemlich aus. Vampire waren auch eher eine Mädchensache. Wenn wir beide »allein sein« eingetragen haben, dann gute Nacht.

Der Bus hielt vor der Schule, und die Schüler drängten gegen die Türen, noch bevor sie richtig geöffnet waren. Mika warf Zitronengesicht und ihrem Hund zum Abschied ein flüchtiges Lächeln zu, raffte ihre Sachen zusammen und schob sich zusammen mit den anderen hinaus in die Winterkälte.

Sie war eine der letzten, die den Bus verließen. Während sie noch mit Rucksack, Handy und Buch kämpfte, hörte sie schon lauten Streit, der sogar das Geräusch des anfahrenden Busses und das Schwatzen und Johlen der Schüler übertönte, die aus allen Richtungen auf das Schultor zuströmten. Jens und Hakan standen zusammen mit ihren Kumpels im Halbkreis um das Bushäuschen. Der Junge mit den schlampigen Klamotten und den Metalaufnähern, der Mika vorhin im Bus aufgefallen war, stand allein darin.

»Los, mach mal auf. Mach mal deinen Rucksack auf. Mach den mal auf«, forderte Jens.

»Verpisst euch«, sagte der Junge. Seine Stimme klang dünn, und Mika konnte sogar auf die Entfernung sehen, wie er die Schultern hängen ließ, den Kopf einzog, sich klein machte und nervös von einem Bein aufs andere trat. Nicht gut. Provozieren ist ganz falsch. Und man muss einen Körperpanzer haben. Nie die Deckung runternehmen.

Die Uhr am Türmchen über dem Schulgebäude zeigte zehn vor acht. Sollte sie sich jetzt wirklich einmischen? Das Referat war zwar erst in der dritten Stunde, aber der Morgen war auch so schon anstrengend genug gewesen. Eigentlich wollte sie am liebsten nur mal in Ruhe durchatmen. Ihre Freundin Franzi die Mathehausaufgaben abschreiben lassen und doch noch mal kurz das King-Buch rausholen, damit der Rest der Klasse den Umschlag sah. Wenn sie schon nicht dazu gekommen war, die Story zu Ende zu lesen, musste der Band ja wenigstens noch für irgendwas gut sein.

Jens’ Clique brüllte plötzlich lauter, ein paar Jungs kreischten sogar ziemlich unmännlich. Mika musste an eine Tierdoku denken. Die Sonne brennt auf die Savanne. Während das Alphamännchen auf dem Felsen thront, buhlen die halbwüchsigen Schimpansen um die Aufmerksamkeit der geschlechtsreifen Weibchen.

Jens und Hakan hatten dem in die Enge getriebenen Jungen den Rucksack weggenommen und warfen ihn hin und her. Mika sah sich um; die letzten Schüler, die jetzt im Laufschritt auf die Schule zustrebten, sahen zwar neugierig zu der Szene am Bushäuschen herüber, schienen sich aber nicht einmischen zu wollen. Eine Gruppe von Mädchen aus der Jahrgangsstufe unter Mika stupste sich im Vorbeigehen an und kicherte.

Die geschlechtsreifen Weibchen spielen betont gelangweilt mit Früchten und kleinen Steinen, beobachten die Balzrituale der Jungaffen aber ganz genau.

Mika verdrehte innerlich die Augen. Vielleicht hatte ihr Vater ja doch recht, und alles, was zwischen Männern und Frauen passierte, stammte noch aus der Zeit, als die Menschheit in Höhlen gelebt hatte.

»Gib mir den wieder«, schrie der Junge. Seine Stimme überschlug sich, als er zwischen Jens und Hakan hin- und hertrottete. Offenbar wollte er sich nicht die Blöße geben, wie ein Viertklässler mit gereckten Armen von einem zum anderen zu stolpern. Aber wie er so schafsköpfig dem Rucksack hinterherlief, sah er trotzdem genauso ausgeliefert aus, wie er war.

»Ja, hol’s dir doch, hol’s dir doch«, spottete Jens. Mika wusste nicht, was sie mehr abnervte, Jens’ Macke, alles sinnlos zu wiederholen, oder dass der Junge wirklich alles falsch machte. Jetzt blieb er auch noch stehen und zuckte die Schultern. Das sieht nicht cool und gelassen aus, du Trottel, sondern hilflos. Und hilflose Tiere werden abseits der Herde totgebissen. Die Uhr zeigte inzwischen acht Minuten vor acht. Mika hatte wirklich keine Lust, sich jetzt doch noch Stress mit Jens und seinen Freunden zu machen, aber der haarsträubende Auftritt des Jungen weckte ihren professionellen Ehrgeiz. Es war, als wäre sie eine Sopranistin, die dem Sänger einer Schülerband zuhören musste. Am liebsten wäre sie zum Bushäuschen rübergegangen und hätte gesagt: Alter, setz dich da hin und lass mich das machen. Hakan hatte den Rucksack ausgekippt und kickte den Inhalt über den Boden. Schnee fiel auf Hefte und Bücher und die Federtasche knackte unter Hakans Tritten so laut, dass es bis zu Mika hinüberdrang.

»Guck mal nach, ob da Schwulenhefte dabei sind. Guck mal nach«, brüllte Jens.

Hakan spähte mit gespielter Neugier in den leeren Rucksack.

»Oder, oder, oder in der Seitentasche, beim Sportzeug, da sind bestimmt, seine Ballettschuhe sind da bestimmt drin.« Jens hatte vor Aufregung einen ganz roten Kopf.

Stottert der echt, oder kommt das vom vielen Testosteron? Plötzlich fiel Mika wieder ein, woher sie den Jungen kannte. Franzi hatte ihn ihr in der Cafeteria gezeigt. »Guck mal, der Neue. Sam heißt der. Lina sagt, der ist schwul.« Mika hatte nur flüchtig von ihrem Essen hochgeguckt. Bei den Jungs war andauernd jemand schwul, weil das das schlimmste Schimpfwort war. »Nee, echt. Hat er selbst gesagt. Lina hat ihn gefragt, weil die Mädchen in der B-Klasse gewettet haben, und er hat gesagt, es stimmt.«

Das war neu, weil sich jeder Junge gegen die Beschimpfung gewehrt hätte, und also hatte Mika doch hochgeguckt.

»Nie im Leben ist der schwul.«

»Woher willst du denn das wissen? Wenn er es doch selber gesagt hat?« Franzi hatte die Stimme zu einem Flüstern gesenkt. Alles, was mit Sex zu tun hatte, fand sie wahnsinnig aufregend, und wenn sie davon redete, benahm sie sich wie ein totales Kind.

Mika hatte laut geseufzt. »Guck doch mal, was der für Klamotten anhat. Das sind keine Schwulenklamotten, dafür sieht der viel zu scheiße aus. Der hat auch eine total peinliche Frisur.«

»Ja, okay. Na gut.« Franzi hatte ziemlich enttäuscht ausgesehen. »Aber warum sagt der das dann, wenn er gar nicht schwul ist? Das sagt man doch nicht einfach so.«

»Was weiß ich. Hat er bestimmt gar nicht gesagt. Lina ist doch eh voll die Angeberin, die will sich nur wichtigmachen.«

»Vielleicht ist der so ein lustiger Schwuler, so’n Comedytyp«, hatte Franzi noch hoffnungsvoll gesagt. »Eine Tunte.«

»Tunten haben Mädchenklamotten an. Der hat aber keiner Mädchenklamotten an, der hat nur Aldi-Klamotten, und besonders witzig sieht er auch nicht aus.« Mika hatte gedacht, das Franzi schon manchmal nerven konnte. Und dann hatte sie schnell von irgendwas anderem geredet. Aber jetzt war sie sich ganz sicher: Der Junge im Bushäuschen war dieser Sam von damals.

»Au! Du Sau!«

Mika schreckte hoch. Hakan krümmte sich. Der Rucksack fiel in den Schnee. Mika riss die Augen auf. Das hat er nicht echt gemacht! So ein Idiot! Aber der Junge, Sam, stand wirklich heftig atmend und mit geballten Fäusten da. Offenbar hatte er Hakan in den Bauch gehauen. Klar, was als Nächstes passieren würde. Jetzt gibt’s Prügel. Selber schuld! Wie spät war es jetzt? Fünf vor acht. Schwach drang der Gong zur ersten Stunde nach draußen. Shit, nur wegen diesem idiotischen Sam komm ich jetzt total abgestresst zu Mathe, und Franziska ist sauer, weil sie nicht abschreiben kann. Sie stapfte auf die Schule zu. Sam konnte sie jetzt sowieso nicht mehr helfen, so behindert, wie er sich angestellt hatte, und sie wollte wenigstens nicht auch noch zu spät kommen.

»Na warte, du schwule Sau!« Das war Hakan. Mika hörte lautes Johlen und anfeuernde Rufe.

»Na und, bin ich eben eine schwule Sau!«, schrie Sam. Mika blieb stehen und schloss die Augen. Ich fass es echt nicht. Da kann er sich ja gleich selber verprügeln. Sie öffnete die Augen einen Spalt weit. Vier Minuten vor acht. Okay, was soll’s. Sie machte auf dem Absatz kehrt und schlidderte so schnell sie konnte auf den Halbkreis um das Bushäuschen zu. Sie hatte keinen Plan, was sie sagen sollte, aber mit Jens und seinen Schimpansen wurde sie auf jeden Fall fertig. Und dann würde sie diesem Sam mal erklären, wie man sich gefälligst nicht zu verhalten hatte, wenn man Wert darauf legte, keinen Stress zu kriegen. Schimpansenhorde bändigen und Einführungskurs Psychologie in dreieinhalb Minuten. Superwoman hat heute Morgen ja wieder alle Hände voll zu tun.

Aber als sie bei den grölenden Jungs angekommen war, sah sie, dass es schon zu spät war. Hakan und Jens klatschten sich ab, und Sam lag gekrümmt zwischen den verstreuten Schulsachen am Boden. Er blutete aus der Nase, sodass überall im Schnee rote Flecken waren. Außerdem presste er sich die Hände zwischen die Beine, also hatten sie ihm wohl in die Eier getreten. Selber schuld. Angreifen ist einfach eine schlechte Idee. Die müssen die Lust verlieren, dich anzugreifen, und dabei noch glauben, dass es ihre eigene Idee war. Das ist der Trick.

»Los, Leute, wir gehen, wir wollen doch wegen dem nicht zu spät kommen«, rief Jens.

Die anderen schulterten ihre Rucksäcke und zockelten ihm nach. Als aus der Schule der zweite Gong ertönte, fingen sie an zu laufen. Mika schenkten sie keine Beachtung.

Ihre Sneaker knirschten im Schnee, als sie sich neben Sam stellte, der immer noch keuchend am Boden lag und sich die Hände in den Schoß drückte. Jetzt komm ich wirklich zu spät. Na prima, dachte Mika. Typisch, wenn einer sich nicht wehren kann und dann noch die Klappe aufreißt, leiden am Ende alle drunter. Aber wie Sam da so zitternd und blutend im Schnee lag, tat er ihr doch irgendwie leid.

»Weißt du, du bist selber schuld«, sagte sie.

Sam stöhnte und öffnete ein Auge.

»Wieso, die haben mich doch verprügelt.«

»Hätten sie aber nicht, wenn du dich nicht so bescheuert angestellt hättest.«

»Was hätte ich denn machen sollen?«

»Körpersprache einsetzen. Stimme und Augen. Dich abgrenzen mit klaren Gesten. Und vor allem darfst du dich nicht abdrängen lassen. Am besten suchst du dir ein paar Freunde und gehst mit denen zusammen zur Schule. Und nie provozieren.«

Sam wischte sich mit der Hand über die Nase und verschmierte sich das Blut im Gesicht.

»Kann ich ja nicht wissen, dass Schule so gefährlich ist.«

»Dann bist du echt noch blöder, als ich dachte.«

Sie fing an, Sams verstreute Sachen einzusammeln. Der Junge richtete sich halb auf und ließ sich dann stöhnend wieder in den Schnee fallen.