Winterengel - Corina Bomann - E-Book
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Corina Bomann

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Beschreibung

Gläserne Weihnachtsengel, eine Einladung von der Queen und die Verheißung einer großen Liebe   Die kleinen Glasengel fertigt Anna Härtel nur an, um das Einkommen ihrer Familie aufzubessern. Bis sie unerwarteten Besuch im schwäbischen Spiegelberg bekommt. Ein Gesandter von Queen Victoria bittet sie an den englischen Hof. Die Königin liebt deutsche Weihnachtstraditionen und ist von Annas Engeln begeistert. Gemeinsam mit dem Diener John und einer Kiste ihrer schönsten Glasengel macht Anna sich auf die Reise. Ihr Leben verändert sich für immer.   Schimmernde Träume und zerbrechliches Glück. Ein neuer Winterschmöker von Bestsellerautorin Corina Bomann

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Das Buch

Winter 1895: Als ihr Vater stirbt, steht die neunzehnjährige Anna Härtel vor dem Nichts: Die Glasbläserei der Familie im Schwäbischen Wald wird versteigert. Sie muss sich bei einem Glasbläser im Nachbarort verdingen. Um etwas für ihre Familie hinzuzuverdienen, fertigt sie abends kleine Glasengel an, die sie in Streichholzschachteln verpackt verkauft. Eines Tages erhält sie eine Nachricht der Königin von England: Queen Victoria hat von Annas Kunstfertigkeit erfahren und lädt die junge Deutsche an den Hof ein. Anna tritt die aufregende Reise an, in Begleitung von John, einem Diener der Königin. Doch auf der Überfahrt werden ihr die Engel gestohlen. Als sie schließlich vor die Queen tritt, nimmt ihr Leben eine überraschende, alles verändernde Wendung: Wird sie zu ihrer Familie nach Schwaben zurückkehren können?

Die Autorin

© Hans Scherhaufer

Corina Bomann kommt aus Mecklenburg-Vorpommern und lebt seit vielen Jahren in Berlin. Die erfolgreiche Bestsellerautorin liebt die Adventszeit und beschäftigt sich schon lange mit Weihnachtsbräuchen und traditionellem Handwerk. Diese Leidenschaft verarbeitet sie seit einigen Jahren in ihren Winterromanen.www.corina-bomann-online.de

Corina Bomann

Winterengel

Roman

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ISBN 978-3-8437-1668-0

© 2017 © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Covergestaltung: zero-media.net, München Umschlagmotiv: GettyImages/Vesna Jovanovic/EyeEm, GettyImages/Westend61, FinePic®, München

E-Book: L42 AG, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

1. KAPITEL

1895

»Glas ist wie die Liebe«, hörte ich meinen Vater sagen, als er die Tür zu seiner Werkstatt öffnete. »Es kann Jahrzehnte überdauern, aber von einem Moment zum anderen zerstört werden. Beides, Liebe und Glas, muss gefühlvoll behandelt werden, wenn es nicht zerbrechen soll. Gelingt das, kann es die Menschen ewig erfreuen.«

Es war das erste Mal, dass er mich mitnahm in seine Glashütte. Hitze umfing mich. Das Feuer des Glasschmelzofens leuchtete durch das Fenster der schweren Tür wie das Auge eines Drachens. Die vielen Zangen, Wannen und anderen Werkzeuge kamen mir im ersten Moment beängstigend vor. Doch mit meinen sechs Jahren wusste ich bereits, dass sie die Grundlage für unser Leben waren: das Dach über unseren Köpfen, das Brot, das wir aßen, die Betten, in denen wir schliefen, und die Kleider, die wir trugen.

Von Liebe hatte ich keine Ahnung, deshalb erfasste ich die Bedeutung seiner Worte in diesem Augenblick noch nicht. Mein Vater berührte mich an der Schulter und führte mich dann herum. Schließlich standen wir vor dem großen Spiegel, dem Meisterstück meines Vaters.

Er wirkte wie das Tor in eine andere Welt. Eine Welt, in der es eine weitere Anna gab, die ein rotes Mantelkleid und einen Hut auf dem Kopf trug, und noch einen Vater, der mit seinem dunklen Gehrock und seinem schwarzen Haar wie ein König ohne Krone aussah. Der König der Spiegel.

»Gott wird mir keine Söhne schenken, also wirst du das hier eines Tages erben«, sagte mein Vater und stellte sich hinter mich. »Du wirst eine Spiegelmacherin werden wie all deine Vorfahren. Du wirst lernen, wie man Glas herstellt und daraus Gegenstände formt, die bei den Menschen Begehren hervorrufen. Für Spiegel, auch wenn sie nichts mehr wert sind, wenn sie zerbrechen, wurde gemordet. Vielen Menschen ist nichts wertvoller als das eigene Antlitz.«

Ich starrte meinen Vater über das Spiegelbild mit weit aufgerissenen Augen an.

Meine Ahnen, das waren all die Leute, die von Gemälden in seinem Arbeitszimmer auf mich herabsahen. Ihre Blicke fürchtete ich, denn oftmals waren sie mürrisch oder anklagend.

Seine Augen hatten allerdings nichts mit den Blicken der Toten auf den Bildern gemein. Sie waren lebendig und leuchteten, als würde ein Sonnenstrahl auf blaues Glas fallen.

»Stimmt es, dass man, wenn man zu lange in einen Spiegel schaut, den Teufel sieht?«, fragte ich, ohne den Blick von unserem Spiegelbild abwenden zu können. Diesen Spruch hatte ich nur wenige Tage zuvor von einer alten Frau auf der Straße gehört. Sie bezeichnete Spiegel als Spielzeug der Eitelkeit und als Sünde. Mama hatte gemeint, sie wäre nicht mehr ganz richtig im Kopf.

»Nein, den Teufel sieht man nicht«, beruhigte mich mein Vater. »Aber möglicherweise kann man in sein eigenes Herz schauen, auf Begierden und Sehnsüchte. Oder man erkennt seine eigene Hässlichkeit, egal, wie schön man ist. Ein Spiegel lässt sich nicht betrügen, er zeigt die Welt so, wie er sie sieht. Und wenn ich jetzt hineinschaue, sehe ich keinen Teufel, ich sehe meine Zukunft.«

»He, Anna, träumst du schon wieder?«

Ich schreckte auf. Die Hitze, die ich soeben noch zu spüren meinte, verschwand und wurde zu einem eisigen Hauch auf meinen Wangen.

Wenzel, der Sohn von Meister Philipps, grinste mich frech an. Mit seinem rotblonden Haarschopf und den vielen Sommersprossen glich Wenzel einem Kobold. Ich hatte keine Ahnung, warum, doch immer, wenn er bei mir stand oder mit mir redete, begann mein Herz heftig zu klopfen. Noch schlimmer war es aber, wenn er mich dabei ertappte, wie ich in meine Tagträume versank.

»Nein, ich … ich habe nur nachgedacht.«

»Das tust du oft in letzter Zeit«, entgegnete Wenzel und setzte sich auf den Verkaufstisch.

»Nein, mach das nicht!« Ich riss abwehrend die Hände hoch. Ich wusste nur zu gut, wie instabil der Tisch war. Deshalb beluden wir ihn niemals vollständig. Wenzels zusätzliches Gewicht ließ ihn gefährlich ächzen. Ich versetzte ihm einen kräftigen Schubs.

Er taumelte zurück. »Was ist denn los mit dir?«

»Du sollst dich nicht auf den Tisch setzen!«, fuhr ich ihn an. »Was, wenn er zusammenbricht? Dann war die ganze Arbeit umsonst. Glas verzeiht nicht, wenn es auf dem Pflaster landet, das weißt du doch selbst!«

»Beruhige dich wieder«, entgegnete er beschwichtigend und kam zu mir. Ich erstarrte förmlich, als er mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich. Die Wärme seiner Haut durchdrang die Kälte meiner Wange mühelos und ließ mich erschaudern. »Ich weiß, es ist nicht gerade leicht für dich, aber ich verspreche dir, wir finden eine Lösung.«

Wie auch immer diese aussehen mochte. Der Glashütte von Meister Philipps ging es noch verhältnismäßig gut, dennoch reichte mein Lohn hinten und vorne nicht. Die Glasfiguren waren ein gutes Zubrot – wenn sie verkauft wurden und nicht zerbrachen, weil sich jemand auf den wackligen Tisch setzte.

Heute war nicht ein einziger Engel über den Verkaufstisch gegangen.

Vielleicht war es noch zu früh, immerhin waren es noch fünf Wochen bis Weihnachten. Der erste Advent würde erst kommendes Wochenende gefeiert werden.

Die Farbe des Himmels wechselte schon den ganzen Tag über von Dunkelgrau zu Bleigrau und wieder zurück. Kein einziger Sonnenstrahl durchbrach die Wolkendecke. Es würde sicher Schnee geben. Da blieben die Leute lieber zu Hause, und wenn sie doch auf den Markt gingen, beschränkten sie sich auf das Wesentliche.

»Lass uns zusammenpacken«, sagte Wenzel schließlich. »Es bringt ja doch nichts mehr. Eher zerspringt das Glas vom Frost.«

So viel zu seiner versprochenen Lösung. Ich bezweifelte, dass er wirklich eine hatte.

Vorsichtig stapelte ich meine Figürchen in die Schachtel, deren Fächer ich mit Rohwolle ausgekleidet hatte, damit sie nicht zerbrachen: rote und purpurne Engel, goldene Sterne und weiße Eiskristalle, meine neueste Kreation. Schließlich setzte ich den Deckel darauf und hob die Schachtel auf die Arme. Sie hatte ein beträchtliches Gewicht, doch trotz meiner schlanken Gestalt war ich nicht kraftlos.

Als Wenzel den Tisch verstaut hatte, stiegen wir auf seinen Wagen. Nach den Samstagmärkten brachte er mich immer heim, auch wenn ich die Strecke in einer halben Stunde gut zu Fuß bewältigen konnte und dies an normalen Arbeitstagen auch tat. Eigentlich wäre das nicht nötig gewesen, aber ich genoss es, dass er sich um mich kümmerte und dass ich Zeit mit ihm verbringen konnte.

Während die Räder über die vereisten Wege ratterten, dachte ich wieder an den Tagtraum.

Von der einst prachtvollen Werkstatt meines Vaters war nicht viel geblieben. Nach seinem Tod wurde der Schuldenberg offenbar, den er angehäuft hatte.

Die Leute, die gemeint hatten, dass es Wahnsinn sei, die Spiegelproduktion in dieser Gegend noch einmal aufleben zu lassen, schienen recht zu bekommen. Die Zeiten, in denen ein Fürst ein ganzes Schloss mit Spiegeln ausstatten wollte, waren längst vorbei. Aufträge für große Spiegel gab es immer seltener, schließlich fertigte die Manufaktur fast nur noch Gläser und Flaschen für Wirtshäuser. Die holländische Glasproduktion, die schon vor hundert Jahren zur Schließung der großen Spiegelhütte geführt hatte, machte uns weiterhin schwer zu schaffen.

Vermutlich war es der Gram, der das Herz meines Vaters plötzlich stillstehen ließ.

In der ersten Nacht nach seinem Tod träumte ich, dass sein Herz aus Rubinglas wäre und in tausend Stücke zersprungen sei. Viele Wochen konnte ich rotes Glas nicht mehr ansehen.

Wenige Tage nach Vaters Beerdigung erschienen die Leute von der Bank. Sie pfändeten die Werkstatt mit allem, was darin war – ebenso wie unser Wohnhaus. Wir waren gezwungen, in eine kleine Wohnung zu ziehen. Von einem Tag zum anderen verloren wir die Grundlage unseres Lebens.

Es war ein Wunder, dass ich in Spiegelbergs Nachbarort Jux bei einem Glasmacher eine Anstellung fand. Als schlecht bezahlte Hilfskraft zwar, aber ich verdiente wenigstens etwas und konnte mit Glas arbeiten.

»Anna?«, fragte Wenzel sanft. Seine Stimme ließ einen warmen Schauer durch meinen Körper laufen.

»Ja?«

»Ich wollte dich das schon eine ganze Weile fragen«, begann er zögernd.

»Was denn?«

»Na ja … würdest du …« Er atmete tief durch und fuhr dann mit festerer Stimme fort: »Würdest du am Sonntag nach dem Kirchgang ein wenig mit mir spazieren gehen?«

Ich blickte ihn überrascht an. Seine Ohren glühten, als hätte er zu lange vor dem Ofen gestanden.

Was war los mit ihm?

»Warum?«, fragte ich. Wollte er über die Lösung, die er sich ausgedacht hatte, sprechen, oder … Plötzlich wurde mir bewusst, welchen Hintergedanken er haben könnte.

Wir kannten uns bereits seit der Schule. Wenzel war zwei Jahre älter als ich. Ich beneidete ihn damals, als er schon in der Werkstatt seines Vaters anfangen konnte und ich noch immer die Schulbank drücken musste. Er war mir immer ein wenig voraus, und manchmal half er mir, wenn ich mit einigen Dingen nicht nachkam. Ich mochte ihn damals schon und jetzt, wo wir zusammenarbeiteten, noch ein bisschen mehr.

Doch allein mit ihm unterwegs gewesen war ich noch nie.

»Nun ja, ich möchte etwas mit dir besprechen«, antwortete er mit hochrotem Kopf.

Das beunruhigte mich ein wenig. Sicher, die Schwärmerei für ihn war schön. Er sah sehr gut aus und war sehr freundlich. Doch ich hatte noch nicht vor, zu heiraten. Obwohl man mit achtzehn eigentlich schon alt genug war.

»In Ordnung«, sagte ich dennoch.

»Gut«, sagte Wenzel überglücklich, ohne meine Zweifel zu bemerken. »Wo wollen wir uns treffen? Soll ich dich vielleicht von zu Hause abholen?«

»Nein, das muss nicht sein«, platzte ich heraus. »Treffen wir uns doch unter der knorrigen Eiche, in die vor ein paar Jahren der Blitz eingeschlagen hat. Weißt du, wo sie steht?«

»Natürlich.« Wenzel wirkte ein wenig irritiert. Hatte er wirklich gehofft, ich würde ihn zu uns nach Hause einladen? Meine Mutter würde tatsächlich glauben, dass er mir den Hof machte! Manchmal träumte ich heimlich davon, aber irgendwie wollte ich nicht, dass sie auf diesen Gedanken kam.

»Und, was sagst du? Das wäre doch ein guter Ort, nicht?«

»Du weißt aber schon, dass bei dem Blitzeinschlag ein paar Leute schwer verletzt wurden, als sie unter dem Baum Schutz suchten?«

»Das weiß ich, aber deshalb muss es doch kein Unglücksort sein.«

Meine Hände klammerten sich fester an die Schachtel. Schweißfeucht waren sie ohnehin schon, und es schien mit jedem Meter, den wir fuhren, schlimmer zu werden.

Was würde meine Mutter sagen? Sicher, sie wäre froh, wenn ich einen guten Mann finden würde. Doch das bedeutete auch, dass ich mich nicht mehr so viel um sie kümmern konnte. Und Wenzel würde es sicher nicht gern sehen, wenn ich mit meiner gesamten Familie ins Haus einzog.

»Dann treffen wir uns also an der Eiche«, sagte Wenzel und schüttelte lächelnd den Kopf.

»Was ist?«, fragte ich.

»Nichts. Du bist nur manchmal … komisch.«

Ich hätte fragen können, wieso, doch ich ließ es bleiben. War es denn verkehrt, wenn das erste Stelldichein nicht direkt in der Wohnung der Mutter begann? War es nicht viel schöner, wenn man etwas heimlich tun konnte?

Schweigend legten wir den Rest des Weges nach Spiegelberg zurück. An dem Haus, in dessen oberster Etage wir wohnten, machte er halt.

»Also, dann bis morgen«, sagte er, und ehe ich es mich versah, zog er mich kurz an sich und drückte mir einen Kuss auf die Wange.

Ich starrte ihn überrascht an, stieg dann aber vom Wagen. Mir war auf einmal ganz schwindelig. Ich winkte kurz und sah ihm hinterher, wie er die Straße hinunterfuhr.

Der Gedanke, ihn zu heiraten, lag schwer auf meiner Brust. Jedes andere Mädchen wäre vielleicht froh gewesen. Doch ich hatte Angst. Angst davor, dass sich in meinem Leben danach nie wieder etwas ändern würde. Ich wusste, dass es kindisch war, von mehr zu träumen.

Aber wenn ich nachts nicht einschlafen konnte, dachte ich manchmal daran, in fremde Länder zu reisen und etwas zu sehen, das ich später in Glas nachbilden konnte. Ich war sicher, dass es das Begehren der Menschen wecken würde, wenn ich ihnen exotische Glastiere und -pflanzen anbieten konnte.

Ich seufzte schwer, dann trug ich meine Schachtel die Treppe hinauf zur Eingangstür.

Das Haus, in das wir uns eingemietet hatten, gehörte Michael Niedermayer, dem Betreiber des Krämerladens. Er kannte meine Mutter von früher und hatte sich rasch bereit erklärt, uns aufzunehmen.

Die Wohnung bestand aus einem einzelnen großen Zimmer, das wir durch einen Paravent in eine Stube und ein Schlafzimmer teilten. Eine eigene Küche hatten wir nicht, dafür durften wir in der Küche der Niedermayers kochen.

Die Miete war nicht besonders hoch, dennoch mussten wir sparsam sein, denn die Arztbesuche und die Arzneien meiner Mutter kosteten einiges. Und wenn ich wie heute keinen einzigen Glasengel verkaufte, mussten wir den Gürtel noch enger schnüren.

Der Geruch von Kohlsuppe strömte mir entgegen, als ich die Treppe hinaufging. Minka, die Katze der Niedermayers, hatte es sich wieder einmal mitten auf der obersten Stufe bequem gemacht. Schon oft wäre ich beinahe über das Tier gestolpert und die Treppe hinuntergefallen.

»Kusch!«, machte ich, worauf mich die Katze nur hochmütig ansah, sich aber keinen Zentimeter weit bewegte.

Also versuchte ich, so gut wie möglich an ihr vorbeizukommen. Eigentlich mochte ich Katzen, doch dieser hier hätte ich zu gern einen Tritt verpasst.

Kaum war ich an ihr vorbei, erhob sie sich, streckte ihre Glieder und verschwand in der offenstehenden Tür der Wäschekammer.

»Das machst du doch mit Absicht«, raunte ich und schüttelte den Kopf. Hoffentlich stürzte Mutter nicht irgendwann über dieses eigensinnige Pelzknäuel.

Als ich zur Tür hereinkam, schlug mir Kühle entgegen. Anscheinend hatte Elisabeth vergessen, Holzscheite nachzulegen. Mutter lag auf dem Sofa, in eine dicke wollene Decke eingewickelt, und schlief. Von meiner Schwester war nirgends etwas zu sehen.

Ich stellte die Schachtel auf den breiten Fenstersims und ging dann zum Kachelofen. Dieser konnte ziemlich heiß werden, wenn man nicht vergaß, zu heizen. Doch jetzt waren die Kacheln nur noch lauwarm.

Glücklicherweise war die Glut noch nicht ganz erloschen. Ich pustete sie ein wenig an, und als die Flamme wieder höher loderte, legte ich die Holzscheite und etwas Kohle hinzu, die wir uns aus dem Keller des Krämers abzweigen durften.

Es würde eine Weile dauern, bis es hier richtig warm wurde, aber ein Anfang war gemacht.

»Elisabeth?«, fragte meine Mutter schlaftrunken. Offenbar rechnete sie noch nicht mit meiner Heimkehr.

»Nein, Mama, ich bin’s, Anna.«

»Du bist schon wieder hier?« Verschlafen blinzelte sie mich an.

»Ja, ich bin wieder hier«, antwortete ich. »Wenzel hat mich auf dem Wagen mitgenommen.«

Mühsam richtete sie sich auf und verzog ihr Gesicht. Das Rheuma schien heute ganz besonders schlimm bei ihr zu wüten. Schon vor Vaters Tod plagte es sie, und es wurde von Jahr zu Jahr schlimmer.

Früher dachte ich immer, dass nur alte Leute so eine Krankheit bekommen würden. Doch Dr. Mettelmann meinte, dass auch jüngere Menschen davon befallen werden konnten. War das der Fall, konnten sie sich innerhalb weniger Jahre nur noch schlecht bewegen. Besonders dann, wenn sie häufig heftige Anfälle erlitten.

Während des Sommers ging es meiner Mutter verhältnismäßig gut. Dann konnte sie sogar Wäsche waschen. Doch im Winter war sie beinahe ständig zur Reglosigkeit verdammt. Besonders schlimm tat ihr Rücken weh. Egal, ob sie stand, saß, ging oder lag, sie hatte ständig Schmerzen. Die Tabletten und Einreibungen halfen nur vorübergehend.

Wenn es dann in der Wohnung kalt wurde, verschlechterte sich ihr Zustand noch.

»Dieser Wenzel ist wirklich ein sehr netter Bursche«, sagte sie, nachdem sie offenbar eine Lage gefunden hatte, in der sie es aushalten konnte.

»Das ist er.« Ich überlegte kurz, ob ich ihr von seiner Frage erzählen sollte. Nein, jetzt nicht, sagte ich mir. Vielleicht heute Abend, wenn es hier wärmer war und wir etwas zu essen im Magen hatten.

»Wo ist eigentlich Elisabeth?«, fragte ich. »Heute ist doch keine Schule mehr.«

»Frau Niedermayer hat sie gebeten, ihr beim Flicken des Bettzeugs zu helfen.«

Das bedeutete, dass Elisabeth unten in der warmen Stube saß, nähte und sich von Frau Niedermayer mit Gebäck füttern ließ. Nicht, dass ich es meiner Schwester missgönnte, doch ich mochte es überhaupt nicht, wenn sie darüber unsere Mutter vergaß.

»Hast du Hunger?«, fragte ich. »Oder brauchst du etwas anderes?«

»Nein, mein Kind, lass nur. Erzähl mir, wie lief es heute auf dem Markt? Konntest du viel verkaufen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, leider nicht.«

Jede andere hätte vielleicht gelogen, um ihre Mutter nicht zu beunruhigen. Doch ich konnte das nicht. Meine Mutter hätte es mir angesehen.

Sie streckte die Hand nach mir aus. »Komm her, mein Mädchen.«

Ich weiß, in diesen Augenblicken sah sie in mir das Mädchen mit den kleinen Zöpfen, das in einem Schürzenkleid durchs Haus lief. Und ich wollte in diesem Augenblick auch nichts anderes sein. Wenigstens einmal wollte ich vergessen, dass meine Mutter krank war, ich keinen Vater mehr hatte und dass meine einzige Chance, uns ein besseres Leben zu verschaffen, die Heirat mit einem gutsituierten Mann war.

Ich hockte mich neben sie und spürte wenig später ihre Hand auf meinem Haar.

»Es wird alles gut werden«, sagte sie. »Noch ist nicht Weihnachten. Die Leute werden deine Engel kaufen, wie sie es immer tun. Und vielleicht geht es mir im kommenden Jahr wieder etwas besser, damit ich eine Stelle annehmen kann.«

»Nein«, platzte es aus mir heraus. »Das musst du nicht. In zwei Jahren kann Elisabeth in die Lehre gehen. So, wie sie näht, wird sie sicher irgendwo angenommen.«

Meine Mutter seufzte. Sie wusste nur zu gut, dass sie nicht wieder gesund werden würde. Dass es eine Illusion war, dass sie mit uns den Lebensunterhalt bestreiten würde. Da kam ich mit meiner Vorstellung der Wirklichkeit näher.

»Ich werde weiter auf den Markt gehen, und Meister Philipps bezahlt mich recht gut«, fügte ich hinzu.

»Das tut er«, stimmte mir meine Mutter zu. »Aber ein Gehalt reicht nicht für uns drei. Und für deine Engel musst du lange Abende in der Werkstatt verbringen.«

Das stimmte. Dafür, dass ich in der Werkstatt aufräumte, gestattete es mir Meister Philipps, dass ich spätabends aus Glasresten meine Engel goss. Er wusste, dass ich die Engel verkaufte, verlangte aber nichts dafür. Wahrscheinlich, weil er glaubte, das meinem Vater, den er gut gekannt hatte, schuldig zu sein.

»Es reicht«, entgegnete ich. »Elisabeth und ich brauchen nicht viel. Und der Verkauf der Glasfiguren war ja ohnehin nur ein Zubrot.«

Die Hand meiner Mutter fuhr durch mein Haar, dann begann sie zu singen. Ich kannte die Melodie sehr gut, denn sie hatte sie immer gesummt, wenn sie an meinem Bett wachte, als ich krank war. Die Erinnerung daran ließ mir die Tränen in die Augen schießen. Kein Mensch konnte ewig Kind bleiben, aber manchmal wünschte ich mir die früheren Tage zurück. Die Tage, in denen ich voller Hoffnung in die Zukunft geschaut hatte.

Die Tür ging, und der Gesang meiner Mutter brach ab. Sofort erhob ich mich. Elisabeth sollte nicht sehen, wie ich neben unserer Mutter hockte und mit den Tränen kämpfte. Sie sollte nicht mitbekommen, dass ich schwach geworden war.

Als sie hinter den Paravent trat, glühte ihr Gesicht rosig von der Wärme und den Keksen unten.

»Anna!«, sagte sie erschrocken.

Ich stemmte die Arme in die Hüften. »Warum hast du den Ofen nicht am Laufen gehalten? Du weißt doch, dass die Kälte Mama in die Knochen kriecht und sie noch kranker macht.«

Mein peitschender Tonfall ließ sie zusammenzucken. Ihre Augen weiteten sich und die Röte wich aus ihrem Gesicht.

»Ich … ich wollte doch nur kurz …«

Ich atmete tief durch. Ich wollte nicht schroff zu ihr sein, aber was konnte ich tun? Manchmal hatte ich das Gefühl, dass das Gewicht auf meinen Schultern zu schwer wurde. Ich wusste, dass Elisabeth nicht viel helfen konnte – aber manchmal konnte ich mich gegen die Wut, die in mir aufstieg, einfach nicht wehren.

»Hier«, sagte Elisabeth beschämt und reichte mir eine Münze. Frau Niedermayer hatte ihr eine Mark für ihre Arbeit bezahlt. »Ich dachte mir, dass wir das Geld gebrauchen können.«

Ich ging zu ihr und zog sie in meine Arme. Jetzt war mir noch elender zumute.

Meine Schwester litt genauso unter unserer Armut wie meine Mutter oder ich. Von dem Geld, das sie verdiente, sollte sie sich eigentlich etwas Schönes kaufen. Aber solche Träume konnten wir uns nicht erlauben.

»Danke«, sagte ich und versuchte meine Tränen runterzuschlucken. Sie mochte den Ofen vergessen haben, doch sie trug keine Schuld daran, dass ich heute nichts verkauft hatte. Das war allein mein Problem.

»Was meinst du, ob wir uns heute auch eine Suppe machen sollten? Ein paar gelbe Rüben haben wir noch.«

Elisabeth nickte. »Ich kann dir helfen!«

»Nein, du bleibst hier und leistest Mutter Gesellschaft. Und passt auf, dass das Feuer weiterbrennt, ja?«

Sie nickte, und ich streichelte ihr übers Haar.

Ich verließ die Wohnung und ging zur Treppe. Die Katze blieb verschwunden.

Eigentlich war ich viel zu durchgefroren und müde, um gleich wieder etwas zu tun, aber in der Küche war es warm, und sobald die Kälte aus meinem Körper fort war, würde sich auch der Zorn wieder in seine Ecke verkriechen.

2. KAPITEL

In der Nacht wurde ich durch lautes Hufgetrappel geweckt. Es hallte durch die ganze Straße. Den Reitern schien es egal zu sein, ob sie die gesamte Nachbarschaft weckten.

Waren es vielleicht Betrunkene aus dem Gasthaus? Hin und wieder kehrten dort auch Soldaten ein, die am Wochenende Freigang hatten.

Neugierig schlich ich zum Fenster. Der Mond beleuchtete die weißen Wolkenschlieren am Himmel beinahe schon gespenstisch. Ein Schleier aus zarten Eiskristallen bedeckte die Dächer und das Straßenpflaster. Auch auf den Mänteln der beiden Reiter lagen sie. Sie trugen dicke Fellmützen, um sich vor der Kälte zu schützen. Solch eine Mütze könnte Elisabeth gut für den Schulweg gebrauchen, ging es mir durch den Kopf.

Die Reiter machten vor unserem Haus halt. Einen Moment lang sahen sie sich um, dann stieg einer aus dem Sattel und erklomm die Treppe. Wollte er zu Herrn Niedermayer?

Im nächsten Augenblick tönte das Hämmern an der Tür durchs ganze Haus. Besorgt blickte ich zu meiner Mutter und meiner Schwester. Elisabeth regte sich, während meine Mutter ruhig weiterschlief. Die Medikamente betäubten sie ein wenig, und ich hoffte, dass sie ihr auch schöne Träume verschafften.

Das erneute Klopfen dröhnte allerdings noch lauter durch das Haus. Elisabeth erwachte.

»Was ist los?«, fragte sie.

»Nichts. Da sind nur ein paar Reiter. Vermutlich haben sie sich in der Tür geirrt. Schlaf weiter.«

Ich wusste, dass Elisabeth das nicht tun würde. Hier passierte so selten etwas, dass jede noch so kleine Begebenheit die Neugierde meiner Schwester ebenso weckte, wie es bei mir der Fall war.

Unten ging die Tür. Ich reckte meinen Hals. Tatsächlich trat Herr Niedermayer nach draußen. Er hatte einen dunklen Morgenmantel über sein Nachthemd geworfen und gestikulierte wild den Reitern.

Der Mann, von dem ich nur die Pelzmütze sah, hob beschwichtigend die Arme, dann griff er unter seinen Mantel und zog einen kleinen Umschlag hervor. Er sagte etwas zu Herrn Niedermayer, das ich nicht verstehen konnte. Unser Hauswirt starrte ihn verwundert an, drehte den Umschlag herum und nickte. Dann zog er sich wieder ins Haus zurück.

Ich hatte also recht gehabt, die Männer waren Boten. Was für eine Nachricht mochten sie Herrn Niedermayer gebracht haben? Ich wusste nicht, ob er auswärtige Verwandte hatte, doch wenn, war sicher etwas Schlimmes passiert. Warum sonst sollte man in der Nacht eine Nachricht überbringen?

Bevor der Bote wieder auf sein Pferd stieg, blickte er nach oben. Er war vielleicht zehn Jahre älter als ich. Selbst in dem bleichen Schneelicht konnte ich erkennen, dass seine Augen grau wie Schneewolken waren. Als er mich erblickte, verzog er das Gesicht zu einem seltsamen Lächeln.

Rasch zog ich mich vom Fenster zurück. Keine Ahnung, warum mein Herz plötzlich zu rasen begann. Eigentlich war doch nichts dabei, wenn ich aus dem Fenster schaute. Bei dem Lärm, den die Männer gemacht hatten, war ich sicher nicht die Einzige. Und doch war es mir auf einmal peinlich, dass er mich in meinem schäbigen Nachthemd gesehen hatte. Ein dummer Gedanke, denn eigentlich hatte er doch nicht viel davon erkennen können.

Während die Männer davonritten, kehrte ich zu meinem Bett zurück. Kaum war ich unter der Decke verschwunden, hörte ich, wie Schritte die Treppe hinaufkamen.

Kurz darauf klopfte es an unsere Tür.

Elisabeth richtete sich auf. »Wer kann da zu uns wollen?«

Ich antwortete nicht und ging zur Tür.

Als ich sie öffnete, sah ich Herrn Niedermayer. In einer Hand trug er eine Lampe, in der anderen den Umschlag, den ihm der Reiter ausgehändigt hatte.

Für einen Moment hielt ich den Atem an. Mein Herz hämmerte jetzt noch schneller gegen meine Brust.

»Das wurde eben für dich abgegeben, Anna«, sagte er. »Hier.«

Ich zog verwundert die Augenbrauen hoch und zögerte, das Schreiben anzunehmen. Was mochte es enthalten?

»Wer sollte mir schreiben?«, fragte ich. »Und wer waren diese Männer?«

»Das haben sie mir nicht gesagt.«

Ich nahm den versiegelten Umschlag an mich, betrachtete das Wappen, das in das Wachs eingeprägt war, einen Moment lang und strich andächtig über das Papier. Wie glatt es war und wie schwer es sich anfühlte. Mit pochendem Herzen brach ich das Siegel und riss den Umschlag auf.

Das Blatt Papier, das ich hervorzog, war mit einem Wappen und einer Krone geschmückt. Die Schrift darunter war sehr fein und deutlich, dennoch konnte ich kein Wort verstehen.

Verwirrt schüttelte ich den Kopf, dann zeigte ich Herrn Niedermayer das Blatt.

»Werden Sie daraus schlau?«

Niedermayer überflog die Zeilen und schüttelte den Kopf. »Nein. Das sind keine deutschen Worte.«

»Haben die Männer denn nicht gesagt, wer sie sind? Woher sie kommen?«

Ich sah, wie Herr Niedermayer unter meinen Fragen zusammenzuckte, als würden dicke Regentropfen auf seine Glatze platschen.

»Sie haben nichts gesagt, leider kann ich dir nicht helfen.«

Ich senkte den Kopf. Unruhe tobte in mir. Wer sollte mir eine Nachricht in einer fremden Sprache schicken? Vielleicht war das auch nur ein Irrtum …

»Am besten, du gehst damit gleich morgen zu dem alten Professor am Ortsrand«, sagte Herr Niedermayer. »Ich wüsste sonst keinen, der sich auf fremde Sprachen versteht.«

Ich nickte. Den alten Professor kannte ich vom Sehen. Er war einmal in unserer Glashütte gewesen, um einen Satz Weingläser zu ordern, die er verschenken wollte. Wir hatten uns nicht weiter unterhalten, doch schon damals war er mir etwas merkwürdig erschienen.

»Ist gut, das mache ich. Gute Nacht, Herr Niedermayer. Und danke für den Brief.«

»Keine Ursache.« Er wandte sich um und verließ die Wohnung. Ich kehrte mit dem Umschlag in der Hand zum Bett zurück. Mittlerweile war auch meine Mutter wach.

»Was ist denn passiert?«, fragte sie schlaftrunken.

»Ich weiß nicht«, antwortete ich und strich mit dem Daumen über das Wappensiegel auf dem Umschlag. »Reiter haben eine Nachricht für mich abgegeben, doch ich kann sie nicht lesen. Herr Niedermayer meint, dass ich zum alten Professor gehen soll.«

»Zum Professor?« Die Medikamente vernebelten ihr noch immer den Verstand.

»Ich erzähle es dir morgen, Mama«, sagte ich. »Schlaf ruhig weiter, es ist alles in Ordnung.«

Sie schien meiner Aufforderung nachzukommen, denn wenig später wurde ihr Atem wieder gleichförmig.

Für Elisabeth galt das nicht. Sie erhob sich aus ihrem Bett und kroch unter meine Decke. »Zeig mal!«, verlangte sie und griff nach dem Brief.

»Kennst du dich mit fremden Sprachen aus?«, fragte ich, doch Elisabeth war vollkommen versunken in die Betrachtung des Wappens mit der Krone.

»Das sieht aus wie das Wappen eines Königs«, stellte sie fest. »Vielleicht bist du ja zu einem Ball eingeladen worden?«

»Wir sind hier nicht im Märchen«, entgegnete ich, wenngleich mir die Vorstellung gefiel. In einem herrlichen Kleid bis Mitternacht mit einem wunderschönen Prinzen tanzen, dann einen Schuh verlieren, sodass der Prinz nach mir suchen musste … Geschichten wie dieser habe ich in meiner Kindheit mit Vorliebe gelauscht. Meine Mutter hatte sie mir beim Zubettgehen erzählt und mein Vater, wenn wir unterwegs waren. Zu den Dingen, die bei der Versteigerung unseres Besitzes angeboten worden waren, hatte auch ein wunderschönes gläsernes Prinzenpaar gehört: eine Prinzessin im blauen Kleid und ein Prinz mit dunklen Locken. An keines der Stücke, die mein Vater gefertigt hat, konnte ich mich so gut erinnern wie an dieses.

Doch nach seinem Tod hatte ich lernen müssen, dass es keine guten Feen gab, die schöne Kleider und Kutschen zauberten und dafür sorgten, dass ein Prinz vor der Tür auftauchte, um das arme Mädchen zu retten.

»Glaubst du das?«, hörte ich meine Schwester fragen. »Der Schulmeister hat uns erzählt, dass die Gebrüder Grimm ihre Märchen von den einfachen Leuten hatten. Sie haben sie ihnen erzählt und die Brüder haben sie aufgeschrieben. Vielleicht ist ja doch etwas Wahres daran.«

»An einer Prinzessin, die hundert Jahre schläft? Oder an einem armen Mädchen, das von einer Taube auf einem Baum ein goldenes Kleid bekommt?«

»Vielleicht solltest du mal wieder zu Vaters Grab gehen und mit ihm reden. Vielleicht hilft er dir.«

Diese Bemerkung ließ mich verstummen. Seit der Beerdigung war ich nur selten am Grab unseres Vaters gewesen. Die Vorstellung, dass er unter der Erde einsam in seiner Kiste lag, zerriss mir das Herz. Ich konnte nicht auf seinen Grabhügel blicken, ohne ihn wie in dem Augenblick zu sehen, als der Tischler den Sargdeckel über ihm verschlossen hatte.

»Es tut mir leid«, sagte Elisabeth schließlich, als sie merkte, dass ich traurig wurde. »Ich gehe besser wieder in mein eigenes Bett.«

»Nein, bleib ruhig«, sagte ich und legte meinen Arm um sie. Als wir noch kleiner waren, hatte sich Elisabeth oft in mein Bett geschlichen. Wir erzählten uns Geschichten, in denen sehr oft Spiegel vorkamen. Meist waren Spiegel darin die Tore zu anderen Welten, in denen eine mutige Prinzessin Abenteuer bestehen musste.

Jetzt fragte ich mich, ob es hinter den Spiegeln irgendwo noch eine andere Anna gab, deren Leben so verlief, wie es ihr Vater eigentlich geplant hatte. Eine glückliche Anna, die unbeschwert auf ihr Leben blicken konnte.

3. KAPITEL

Das sonntägliche Läuten der Kirchenglocken hallte über die Hausdächer von Spiegelberg hinweg. In der Nacht war noch mehr Schnee gefallen, sodass wir aufpassen mussten, nicht hinzufallen, als wir das Haus verließen.

Trotz ihres schlechten Gesundheitszustandes hatte meine Mutter darauf gedrängt, dass wir gemeinsam zur Kirche gehen sollen. Sie wollte Gott bitten, ihr ein wenig mehr Gesundheit zu schenken.

Es tat mir in der Seele weh, sie dabei zu beobachten, wie sie sich den Weg entlangmühte. Am liebsten hätte ich sie in einen Handwagen gesetzt. Doch das wäre erst recht entwürdigend gewesen, also stützten Elisabeth und ich sie, so gut wir konnten.

Die Häuser, an denen wir entlangkamen, waren dick verschneit, teilweise sahen sie so aus, als trügen sie Mützen aus Schafwolle. Im Garten des Schusters erhob sich eine hohe Tanne wie ein uralter Wächter aus Eis. Man hatte einen Teil der Wege geräumt, doch besonders in schmalen Durchgängen begann sich der Schnee zu häufen. Der Pfad an der Kirchmauer jedoch war frei. Vor dem Tor standen zahlreiche Leute, die uns mit teils fragenden und teils mitleidigen Blicken bedachten. Das Schicksal von Martin Härtel, meinem Vater, hatte viele Bewohner von Spiegelberg berührt, war es doch ein Sinnbild für die Lage des Ortes.

Seit die große Spiegelhütte vor über hundert Jahren geschlossen wurde und auch die Suche nach Kohle und Silber erfolglos geblieben war, mussten viele Menschen in die umliegenden Städte ziehen. Einige gingen nach Sulzbach an der Murr, doch die meisten zog es nach Heilbronn.

Nach dem Tod meines Vaters hatte man uns das ebenfalls ans Herz gelegt, aber das war unmöglich. Meine Mutter war krank, ich gerade mal sechzehn Jahre alt und Elisabeth zehn. Meine Schwester konnte damals noch nicht mit Nadel und Faden umgehen, und ich hatte nur gelernt, Glas herzustellen. Verwandte, an die wir uns hätten wenden können, hatten wir nicht mehr. Also waren wir hiergeblieben.

Ich führte Mama zu unserer Bank und half ihr beim Hinsetzen. Sie versuchte, tapfer zu sein, doch in ihren Augen sah ich den Schmerz.

Ich blickte nach vorn zum Altar. Er war prachtvoll geschmückt, aber noch prachtvoller würde er am kommenden Sonntag aussehen, wenn der erste Advent gefeiert wurde. Als sämtliche Kirchgänger eingetroffen waren, wurden die Türen geschlossen. Ich schaute mich um.

Von den knapp vierhundert Menschen, die hier noch wohnten, waren etwa zwei Drittel gekommen, um den Worten des Pastors zu lauschen. Würde es jemals wieder besser werden und die Not sich endlich von uns abkehren?

Als der Pastor zu sprechen begann, schob ich die Hand in meine Manteltasche. Es war gewiss Einbildung, aber der Brief schien zu brennen. Ein klein wenig hatte ich gehofft, den Professor in der Kirche zu treffen. Doch ich entdeckte ihn nirgends.

Entweder hatte er sich irgendwo hingesetzt, wo man ihn nicht sah, oder er war wie so oft daheim geblieben. Ich ging von Letzterem aus. Also würde ich, bevor ich mich mit Wenzel traf, sein Haus aufsuchen müssen.

Ich wusste nicht, welcher Gedanke mir mehr Bauchkneifen bereitete.

Mit dem Professor hatte ich noch nie gesprochen. Es war möglich, dass er mir gar nicht helfen würde. Immerhin war er ein guter Vorwand, um Mama nicht mitteilen zu müssen, dass ich mit Wenzel verabredet war. Doch was würde der von mir wollen? Glaubte er, dass ich seine Braut werden wollte? Würde er etwas Unschickliches versuchen? Und was, wenn ich ihm einen Korb gab? Konnte ich dann meine Anstellung bei Meister Philipps vergessen?

Als der Gottesdienst vorbei war, half ich meiner Mutter auf und führte sie nach draußen. Dabei bemerkte ich Elisabeths drängenden Blick. Seit gestern Nacht hatten wir nicht mehr über den Brief gesprochen. Auch unsere Mutter hatte nicht nachgefragt, was gestern Abend gewesen sei. Wahrscheinlich hielt sie das, was sie gesehen und gehört hatte, für einen Traum.

Wäre nicht das Papier in meiner Tasche, würde ich nicht das Wappen sehen, hätte ich die Ankunft der Reiter nicht mitbekommen, würde auch ich glauben, dass ich mir das alles nur eingebildet hatte.

»Mama, hättest du etwas dagegen, wenn ich nach dem Mittagessen noch einmal in den Ort gehe?«, fragte ich, als wir uns ein Stück von der Kirche entfernt hatten und uns wieder dem Schusterhaus näherten. Das Wetter war ein wenig milder geworden, aber es reichte noch nicht, um die Eiszapfen an den Dächern zu tauen.

»Willst du dich mit einem Burschen treffen, Anna?«, fragte sie zurück. Ich starrte sie einen Moment lang ertappt an. Elisabeth zog die Augenbrauen hoch. Sie wusste nichts von Wenzels Einladung, aber irgendwas schien sie auf meinem Gesicht zu sehen.

»Nein, ich … Da ist doch gestern dieser Brief angekommen. Ich kann ihn nicht lesen, also wollte ich den Professor fragen, ob er ihn mir übersetzen kann. Herr Niedermayer meinte jedenfalls, ich solle es dort versuchen.«

Meine Mutter sah mich fragend an, dann nickte sie. »Geh nur. Elisabeth wird mir Gesellschaft leisten.«

»Danke«, sagte ich und zog den Arm meiner Mutter noch etwas fester an mich.

Nach dem Essen, das aus dem Rest der gestrigen Rübensuppe bestanden hatte, schlüpfte ich in meinen Mantel und legte mir noch ein Tuch über die Schultern. Erwartung wühlte in meinem Innern. Was mochte in dem Brief stehen? War er vielleicht doch nur falsch adressiert?

Unten an der Treppe traf ich auf Frau Niedermayer, die wir auch schon in der Kirche gesehen hatten.

»Na, Anna, wo geht es denn noch hin?«, fragte sie.

Ich mochte Frau Niedermayer eigentlich, denn sie war freundlich und hatte viel für Elisabeth übrig. Dass ihr Mann und sie uns für einen günstigen Preis in der oberen Etage wohnen ließen, rechnete ich ihr hoch an. Allerdings störte mich ihre Neugierde manchmal schon.

»Ich möchte zum Professor«, antwortete ich. »Ich weiß nicht, ob Sie es mitbekommen haben, aber gestern Nacht hielten zwei Reiter hier an.«

»Ja, mein Mann hat mir davon erzählt. Das ist ja aufregend! Ein Brief aus einem fremden Land.«

Ich war beinahe froh, dass er die Nachricht genauso wenig hatte lesen können wie ich.

»Vielleicht ist das alles ja auch nur ein Irrtum«, wiegelte ich ab und versuchte zu verbergen, dass es mich vor Ungeduld fast zerriss. »Möglicherweise haben sie sich im Haus geirrt. Oder im Ort. Ich werde es herausfinden, wenn der Professor so freundlich ist, mir den Brief zu übersetzen.«

»Dann wünsche ich dir viel Glück!«, sagte Frau Niedermayer. »Und vielleicht erzählst du mir ja mal, was in dem Brief gestanden hat.«

»Wenn er wirklich für mich gedacht ist, gern«, entgegnete ich und verabschiedete mich dann. In Wirklichkeit würde ich es ihr so oder so nicht sagen, denn es ging sie nichts an. Sie berichtete mir doch auch nichts über ihre Post. Aber sie war nun mal unsere Hauswirtin, und ich wollte sie nicht verärgern.

Der Wind wehte mir kleine Eiskristalle ins Gesicht, als ich über den Marktplatz lief. Das Pflaster war unter dem Schnee beinahe verschwunden, Pferde und Schuhe hatten Tausende Eindrücke darin hinterlassen. Hundegebell folgte mir. Nur noch wenige Leute waren auf der Straße. Die meisten saßen jetzt wohl bei Tisch, anderen war es sicher schlichtweg zu kalt, sich noch draußen herumzutreiben.

Ich lief die Hauptstraße entlang, bog in mehrere kleine Gässchen und kam schließlich an dem Gebäude vorbei, in dem sich die alte Spiegelmanufaktur befunden hatte. Es wurde mittlerweile als Nährmittelfabrik genutzt. Das Herz schnürte sich mir zusammen. Mein Vater hatte oftmals von der alten Spiegelmanufaktur gesprochen. Er selbst hatte den Betrieb dort auch nicht mehr miterlebt, dafür aber sein Großvater, der wohl nicht müde geworden war, ihm davon zu berichten.

Ein heftiger Windstoß von der Seite schickte mich weiter.

Etwa eine Viertelstunde später erreichte ich das Haus des Professors. Es war recht klein und machte den Eindruck, als ducke es sich zwischen seine beiden wesentlich höheren Nachbarn.

Am Briefkasten stand der Name »Alois Bezelius«. Im Ort nannte ihn niemand so. Er war nur der »Professor«, der mit einem altmodischen Gehrock durch die Straßen ging, einen Zylinder auf dem weißen Haarschopf und einen gestreiften Schal um den Hals.

Er redete mit niemandem, und wenn man ihn sah, wirkte er immer ein wenig abwesend.

Vielleicht irrte sich Herr Niedermayer. Vielleicht konnte der Professor gar keine fremden Sprachen. Doch er war meine einzige Hoffnung.

Ich stieß das Tor zu seinem Garten auf und trat ein.

Die Schneedecke auf dem steinernen Weg war noch unberührt. Offenbar hatte er heute noch nicht das Haus verlassen. Der Garten wirkte karg, aber das war auch im Sommer der Fall. Eine Trauerweide ließ gramvoll die Äste hängen und die Hecken wirkten unsymmetrisch. Aus den Beeten vor dem Haus reckten sich ein paar trockene Halme durch den Schnee. Ich konnte mich nicht entsinnen, dass dort jemals Blumen gestanden hatten.

An der Haustür gab es keine Klingel, dafür aber einen Türklopfer, dessen Ring im Maul eines Löwen steckte. Ich betätigte ihn und lauschte dem Echo des Geräusches.

Dann wurde es wieder still. Schlief der Professor? War er taub oder wollte er nicht hören?

Ich klopfte noch einmal.

Wieder hallte das Dröhnen durchs Haus. Ich versuchte, mir vorzustellen, wie es darin aussah. Sicher besaß er hohe Regale voller verstaubter Bücher. Gab es vielleicht auch wunderschöne Sofas, in deren Polstern man versank? Gemälde? Oder waren die Räume kahl?

Mein Herz begann noch heftiger zu klopfen. Was, wenn er verreist war? Es gab zwar keinen Grund, bei diesem Wetter rauszugehen, und in der Kirche hatte ich den Professor auch nicht gesehen, doch hätte er nicht wenigstens einmal vor die Tür geschaut, wenn er zu Hause war?

Wenig später hörte ich Schritte. Sie näherten sich der Tür. Erleichterung machte sich in mir breit. Er war immerhin da! Das hieß noch nicht, dass er mich hereinlassen und meinen Brief ansehen würde. Und es bedeutete auch nicht, dass er die Sprache des Briefs beherrschte. Aber versuchen wollte ich es wenigstens.

Kurz darauf wurde der Riegel zurückgeschoben.

Der Professor trug jetzt keinen Gehrock, dafür ein blaues Hemd und eine Hose mit Hosenträgern. Um den Hals hatte er sich aber den Schal gebunden.

»Guten Tag, was führt dich zu mir?«, fragte er. Seine Stimme war sehr dunkel und klang sanfter, als ich es erwartet hätte.

»Entschuldigen Sie bitte, Herr Professor, ich wollte Sie fragen, ob Sie mir vielleicht einen Brief übersetzen könnten …«

»In welche Sprache denn?« Der Mann zog die buschigen Augenbrauen hoch.

»Ins Deutsche.«

»Bist du denn des Schreibens nicht mächtig?«, fragte er weiter.

»Doch, schon, aber ich beherrsche die Sprache nicht, in der der Brief verfasst wurde.«

Der Professor starrte mich einen Moment lang an, dann sagte er: »Nun gut, komm rein. Wir sehen uns die Sache einmal an.«

Er trat beiseite. Zögerlich setzte ich meinen Fuß über die Schwelle. Im Haus war es warm, doch ein muffiger Geruch hing in der Luft. Ich blickte mich um. Tatsächlich wirkte das Foyer ziemlich kahl. Durch eine der offenstehenden Türen fiel warmes Licht. Dorthin führte mich der Professor.

Wie sich wenig später herausstellte, befand sich hinter der Tür das Arbeitszimmer des Professors. Hier gab es tatsächlich die Bücherregale voller staubiger Bände. Auch um ein hohes Pult waren zahlreiche Buchstapel verteilt. Er arbeitete sicher gerade an etwas, einem Buch vielleicht oder einer Übersetzung.

»Gib mir deinen Brief und nimm Platz«, sagte er und streckte die Hand aus, die ganz fleckig war von schwarzer Tinte.

Ich reichte ihm das Schreiben und ließ mich dann auf einem mit blau-grau gestreiftem Stoff bezogenen Stuhl nieder. Dieser gab ein missmutiges Ächzen von sich. Ich wagte nicht, mich darauf zu bewegen.

Ich beobachtete, wie der Professor meinen Brief öffnete, ihn studierte und dann zu seinem Pult trug. Wieder flogen seine Augen über die Schrift, dann zog er die Augenbrauen hoch. Er wirkte, als könne er nicht glauben, was er da sah.

»Können Sie es lesen?«, fragte ich. »Ich habe wirklich keine Ahnung, was das für eine Sprache ist.«

Der Professor antwortete nicht. Eine ganze Weile befasste er sich noch mit dem Brief, dann blickte er auf.

Ich ahnte nichts Gutes. Kannte er die Sprache vielleicht nicht?

»Du bist die Tochter des Glasmachers, nicht wahr?«, fragte er mich, während er mein Gesicht studierte. »Martin Härtel, der vor zwei Jahren gestorben ist.«

»Ja, die bin ich. Anna ist mein Name.« Natürlich hatten wir uns im Ort schon oft gesehen, doch ich hätte nicht erwartet, dass er mich als die Tochter des Glasmachers wiedererkennen würde.

»Ein schöner Name. Und dein Vater war ein guter Mann. Nie hat er mich vertrieben, wenn ich mir seine Glassachen anschauen wollte. Du musst wissen, dass ich Glas liebe. Es ist so einfach zu verstehen.«

Der Professor verstand Glas? Offenbar war er wirklich verrückt, wie manche Leute im Ort behaupteten.

»Wie meinen Sie das?«, fragte ich.

»Nun, im Gegensatz zum menschlichen Verstand ist Glas leicht zu durchschauen. Es ist fest und nützlich und man weiß, dass man es vorsichtig behandeln muss. Das sollte man mit Menschen natürlich auch tun, doch in ihren Verstand kann niemand schauen, und manchmal sind sie alles andere als nützlich.«

Damit richtete er den Blick wieder auf das Papier.

Seine Worte klangen ein bisschen wie das, was mein Vater über Glas und die Liebe gesagt hatte. Gespannt beobachtete ich ihn. Meine Frage, ob er es lesen konnte, hatte er mir leider nicht beantwortet.

Nach einer Weile holte er einen neuen Schreibbogen hervor und griff nach seinem Füllfederhalter. Die Spitze gab ein unangenehmes Kratzen von sich, als er ein paar Worte zu Papier brachte. Dabei wirkte er so abwesend, wie ich ihn schon früher erlebt hatte. Hatte er mich schon wieder vergessen?

»Hier«, sagte er nach einer Weile und reichte mir das Blatt. Verwirrt sah ich ihn an.

»Was ist das?«, fragte ich, während ich mich erhob. Der Sessel knarzte erleichtert.

»Deine Übersetzung. Es war Englisch, das fällt mir nicht schwer. Hättest du mir einen chinesischen Dialekt vorgelegt, hätte ich sicher eine Weile gebraucht, aber so war es ein Kinderspiel.«

»Sie können Chinesisch?«, fragte ich verwundert. Ich hatte noch nie einen Chinesen gesehen, geschweige denn ein chinesisches Wort gelesen oder gehört.

»Unter anderem. Wenn man wie ich den Kontakt zu Menschen meidet, hat man viel Zeit, etwas zu lernen.« Er sah mich an. »Wird euch in der Schule nicht Englisch beigebracht?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, nicht dass ich wüsste. Vielleicht in einem Gymnasium. Aber ich gehe schon lange nicht mehr zur Schule.«

»Wirklich? Du siehst noch so jung aus!«, entgegnete der Professor. »Na, dann lies doch mal, was in dem Brief steht.«

Ich betrachtete das Blatt. Kein Wunder, dass die Feder so gekratzt hatte. Die Schrift wirkte, als wären mit Tinte gefärbte Spinnenbeine über das Papier gelaufen. Doch nach einer Weile konnte ich sie entziffern.

Verehrte Miss Haertel,

diese Nachricht erhalten Sie auf Geheiß Ihrer Majestät, Queen Victoria von England. Durch einen Besuch von Lord Sandhurst erfuhr Ihre Majestät von Ihren vorzüglichen Glasarbeiten und beabsichtigt nun, eine Kollektion Ihrer Werke zu erwerben. Wir laden Sie daher ein, mit einer Auswahl Ihrer Arbeiten vorstellig zu werden.

Sollten Sie gewillt sein, die Reise, deren Kosten natürlich vom Königshaus übernommen wird, anzutreten, geben Sie dem Boten bitte Bescheid. Er wird Ihnen mitteilen, welche Vorkehrungen zu treffen sind, und begleitet Sie selbstverständlich nach England.

Wir hoffen sehr auf Ihr Kommen und verbleiben mit gewogenen Grüßen

Andrew Stafford, Haushofmeister

Ich starrte den Professor an. »Das ist nicht möglich.«

»Warum denn nicht?«, antwortete er. »Da steht es geschrieben! In all der Zeit, die ich mich schon mit Schriften befasse, habe ich vieles gelesen, was nicht den Tatsachen entspricht. Doch hier sind die Worte klar. Es ist eine Einladung an den englischen Königshof, Mädchen, ob du es glauben willst oder nicht.«

Er streckte mir den Brief entgegen, aber ich zögerte, ihn anzunehmen. Woher sollte ein englischer Adeliger – Lord klang jedenfalls nach einem Adelstitel – von mir erfahren haben? Was hatte er überhaupt in unserem kleinen Ort zu suchen gehabt?

Mein Verstand durchforstete fieberhaft die Gesichter der Kunden der vergangenen Wochenenden. Mir war niemand aufgefallen, der adelig ausgesehen hätte …

Möglicherweise erlaubte sich nur jemand einen bösen Scherz mit mir.

Schließlich nahm ich den Brief wieder an mich und faltete ihn sorgsam zusammen.

»Ich würde dir raten, geh zu der Königin. Es ist nie gut, wenn man jemanden mit einer Krone auf dem Kopf warten lässt.«

»Aber ich … ich kann doch meine Familie nicht im Stich lassen.«

»Ist es so, dass du sie im Stich lässt? Oder würdest du sie nicht vielmehr im Stich lassen, wenn du diese Möglichkeit nicht ergreifst?«

Ich starrte ihn an. »Ich … ich weiß nicht. Meine Mutter braucht Hilfe, aber …«

»Möglicherweise kannst du ihr mit etwas mehr Geld besser helfen – und dir selbst mit neuen Bildern im Kopf. Das wäre dann ein wirklicher Reichtum.«

Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Und noch weniger wusste ich, was ich tun sollte.

»Schulde ich Ihnen etwas?«, fragte ich.

»Nur eine Geschichte, wenn du wieder da bist. Und wenn ich ehrlich bin, wäre eines dieser Glasengelchen für meinen Weihnachtsstrauß auch nicht schlecht. Immerhin gefallen sie einer Königin, da muss ich auch eines besitzen!«

Er zwinkerte mir zu und richtete dann seinen Blick wieder auf das Pult.

»Vielen Dank«, sagte ich und wandte mich der Tür zu. »Auf Wiedersehen.«

»Auf Wiedersehen, Fräulein Härtel«, entgegnete er, ohne von seinem Pult aufzublicken.

4. KAPITEL

Wenzel saß auf einem schneebedeckten Stein und rieb sich die Hände. Unter dem wuchtigen Eichenbaum, der von dem Blitzschlag in zwei Hälften geteilt worden war, aber dennoch im Sommer grünes Laub trug, schien ihm irgendwie nicht wohl zu sein.

Mittlerweile war die Luft eisiger geworden, und der Wind trieb wieder Schneeflocken vor sich her. Von hier aus wirkte unser Ort wie in einer Schneekugel. Hügel erhoben sich sanft ringsherum, der Schnee war auf ihren Gipfeln noch dichter als in den Tälern. Die Baumteppiche ließen hier und da etwas dunkles Grün sehen, wo Tannen standen. Die Laubbäume reckten ihre kahlen Äste sehnsuchtsvoll in den bleigrauen Himmel.

»Bitte entschuldige, dass ich erst jetzt komme«, sagte ich atemlos, denn ich war den ganzen Weg hierher gerannt. »Ich hatte noch etwas zu erledigen.«

Wenzel blickte auf. Seine Nase war ganz rot, seine Augen tränten von der Kälte, aber er wirkte erleichtert. »Anna, da bist du ja! Ich habe mir schon Sorgen gemacht.« Er erhob sich. »Geht es deiner Mutter gut?«

»Ja, es geht ihr gut. Aber … ich habe gestern einen Brief erhalten.«

»Einen Brief?«

Ich zog ihn mitsamt der Übersetzung des Professors aus meiner Manteltasche.

Wenzel nahm ihn an sich und las. Zunächst zeigte er keine Reaktion, dann schüttelte er den Kopf. »Was soll denn das? Der Haushofmeister der Königin lädt dich wegen der Engel an den englischen Hof ein?«

»Ich bin genauso erstaunt wie du«, entgegnete ich und ließ mich neben ihn auf den Stein sinken.

»Wann ist das gekommen?«

»Gestern Nacht. Ich wurde wach, als Männer in dunklen Mänteln durch die Straße ritten.« Ich berichtete ihm, wie es gestern abgelaufen war.

Wenzel starrte mich mit großen Augen an. »Du meinst, diese Leute sind nur deinetwegen hier gewesen?«

»Sieht fast so aus«, antwortete ich. »Und offenbar hätte ich dem Boten gleich Bescheid geben sollen. Es steht keine Adresse dort, bei der ich mich melden soll.«

»Dann wird er sicher noch einmal wiederkommen.« Wenzels Miene wurde finster. »Willst du gehen?«, fragte er und reichte mir das Schreiben zurück.

»Ich … ich weiß nicht«, antwortete ich, denn ich wusste es wirklich nicht. »Ich meine, es ist eine große Ehre, aber …«

»Möglicherweise ist es auch alles ein großer Betrug. Wer weiß, vielleicht wollen sie dir etwas antun.«

»Aber woher sollten sie wissen, wer ich bin?«, gab ich zurück. »Und welches Interesse hätten sie an einer Glasmacherin, die als Aushilfe in einer kleinen Werkstatt in Jux arbeitet?«

»Vielleicht wollen sie dich abwerben.«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Wie sollte ich denn von mir reden gemacht haben?«

Ich stutzte. Ein Bild kam mir in den Sinn. Ein Mann in einem pelzverzierten Mantel, der einen meiner Engel gegen das Licht hielt. Er hatte nicht gesprochen, nur geschaut. Sein Begleiter war es, der schließlich einiges gekauft hatte, darunter zehn Engel: zwei weiße, zwei blaue, drei rote und drei purpurne.

Ich griff nach Wenzels Arm.

»Was ist?«, fragte dieser besorgt. »Ist dir nicht gut?«

»Doch, mir ist nur eingefallen, wer dieser Lord gewesen sein könnte.«

»Und?«

»Erinnerst du dich an den Winterabend vor einem Jahr? Als es so schlimm zu schneien begonnen hatte?«

Wenzel zog ein unverständiges Gesicht. Und so jemand wollte mir den Hof machen! Er konnte sich nicht einmal merken, wenn etwas seltsam erschienen war!

»Wir wollten doch gerade einpacken, da kamen zwei Männer an den Stand. Der eine trug einen teuren Samtmantel mit Pelzkragen und so einen merkwürdigen Stock in der Hand. Er hatte einen gezwirbelten Bart und sah aus, als wären seine Locken mit der Brennschere gemacht worden. Der andere war dagegen recht schlicht gekleidet. Der Schlichtere hat mir zehn Engel abgekauft, nachdem der andere sie begutachtet hatte. Ich nehme an, er war der Diener und der Mann im Samtmantel der Lord.«

»Bist du sicher?« Wenzel schüttelte den Kopf. »Ich kann mich wirklich nicht mehr daran erinnern.«

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