Winterträume unterm Mistelzweig - Lori Wilde - E-Book

Winterträume unterm Mistelzweig E-Book

Lori Wilde

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Beschreibung

Zwischen Winterzauber und Kleinstadtidylle
Der Wohlfühlroman für alle, die an zweite Chancen und die Macht von Weihnachten glauben

In den stillen Nächten vor Weihnachten legen die Bewohner des verschlafenen Städtchens Twilight ein selbstgebackenes Plätzchen unter ihre Kissen, in der Hoffnung, im Traum ihrem Seelenverwandten zu begegnen. So geht die Legende. Doch für Sarah Collier ist dies nur noch eine Geschichte, an der nichts Wahres zu sein scheint. Denn als sie mit fünfzehn Jahren versuchte, ihren vermeintlichen Seelenverwandten Travis Walker von einer falschen Liebe abzubringen, endete es in einer Enttäuschung. Jahre später führt das Schicksal Sarah zurück in ihre idyllische Heimatstadt, und längst vergrabene Gefühle erwachen zu neuem Leben. Könnte es sein, dass hinter den Märchen von Twilight mehr Wahrheit steckt, als Sarah je geglaubt hat?

Dies ist eine Neuauflage des bereits erschienenen Titels Winterzauber im Herzen.

Erste Leser:innenstimmen
„Eine herzerwärmende Liebesgeschichte voller Romantik und Hoffnung!“
Lori Wilde schafft es, die Magie der Weihnachtszeit perfekt einzufangen.“
„Diese Feel-Good Romance hat mir mal wieder gezeigt, dass manchmal mehr in Legenden steckt, als wir denken, und dass uns die Liebe manchmal auf unerwartete Wege führt.“
„Ich habe gelacht, geweint und mit den Charakteren mitgefiebert. Sarah und Travis sind so authentisch und liebenswert, dass ich mich sofort in ihre Geschichte verliebt habe.“

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Seitenzahl: 509

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Über dieses E-Book

In den stillen Nächten vor Weihnachten legen die Bewohner des verschlafenen Städtchens Twilight ein selbstgebackenes Plätzchen unter ihre Kissen, in der Hoffnung, im Traum ihrem Seelenverwandten zu begegnen. So geht die Legende. Doch für Sarah Collier ist dies nur noch eine Geschichte, an der nichts Wahres zu sein scheint. Denn als sie mit fünfzehn Jahren versuchte, ihren vermeintlichen Seelenverwandten Travis Walker von einer falschen Liebe abzubringen, endete es in einer Enttäuschung. Jahre später führt das Schicksal Sarah zurück in ihre idyllische Heimatstadt, und längst vergrabene Gefühle erwachen zu neuem Leben. Könnte es sein, dass hinter den Märchen von Twilight mehr Wahrheit steckt, als Sarah je geglaubt hat?

Dies ist eine Neuauflage des bereits erschienenen Titels Winterzauber im Herzen.

Impressum

Erstausgabe 2010 Überarbeitete Neuausgabe Dezember 2023

Copyright © 2023 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98778-778-2

Copyright © 2010, Laurie Vanzura Titel des englischen Originals: The First Love Cookie Club

Published by Arrangement with Laurie Vanzura

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Die Rechte an der Nutzung der deutschen Übersetzung von Kristina Lake-Zapp liegen beim Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Copyright © 2022, dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH

Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2022 beim dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH, erschienenen Titels Winterzauber im Herzen (ISBN: 978-3-98637-896-7).

Copyright © 2011, Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2011 bei Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH erschienenen Titels Traumhaft verliebt. (ISBN: 978-3-44247-676-3).

Übersetzt von: Kristina Lake-Zapp Covergestaltung: Dream Design – Cover and Art unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © kaisorn, © Vjom, © one pony, © Dmitry Savin, © Dai Yim stock.adobe.com: © binagel, © Roman Dekan, © Vjom, © den-belitsky Korrektorat: Johannes Eickhorst

E-Book-Version 24.11.2023, 13:07:12.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Winterträume unterm Mistelzweig

Für all die großartigen Väter dort draußen.

Lang möget ihr lieben.

Vorwort zur Neuauflage

Liebe:r Leser:in,

gibt es etwas Schöneres als Plätzchen zur Weihnachtszeit? Genau: selbstgebackene Plätzchen! Wenn noch ein Fünkchen Magie und ganz viel Liebe ins Spiel kommt, dann ist das Weihnachtswunder perfekt. Das wartet auf Dich in diesem Wohlfühlroman, den wir hier neu auflegen. Erschienen ist der Roman bereits unter dem Titel Winterzauber im Herzen. Da wir uns stets bemühen, unseren Leser:innen ansprechende Produkte zu liefern, haben wir diesen Roman auch in ein neues Gewand gepackt, und damit optimiert und zeitgemäß gestaltet. Es freut uns, dass Du dieses Buch gekauft hast. Es gibt nichts Schöneres für die Autor:innen und uns als zu sehen, dass ein beständiges Interesse an ästhetisch wertvollen Produkten besteht.

Wir hoffen Du hast genau so viel Spaß an dieser Neuauflage wie wir und ein zauberhaftes Weihnachtsfest.

Dein dp-Team

Prolog

An jedem Heiligabend, seit sie acht Jahre alt war, hatte Sarah Collier Schicksalsplätzchen gebacken, eine Handvoll davon unter ihr Kopfkissen gelegt, bevor sie schlafen ging, und von ihrer einzig wahren Liebe geträumt.

Sie hatte es gar nicht erwarten können, endlich einzuschlafen, während die funkelnden Lichter auf den Dachvorsprüngen durch die transparenten Spitzenvorhänge vor ihrem Schlafzimmerfenster fielen und der harzige Duft der frisch geschlagenen Douglas-Fichte das Haus erfüllte. Dazu dudelte Bing Crosbys »White Christmas« auf dem Plattenspieler ihrer Großmutter.

An diesem wundervollsten aller Abende, in ihrem gemütlichen kleinen Häuschen am See in Twilight, Texas, holte Gramma Mia Mehl, Zucker, Vanille und sahnige, fette, echte Butter hervor (die Sarahs Mutter sie niemals essen lassen würde) und verknetete die Zutaten auf den glänzend weißen Fliesen der Küchenanrichte. Obwohl sie beide das Rezept auswendig kannten, faltete Gramma das vergilbte Blatt Papier mit der verblassten, in blauer Tinte geschriebenen eigenwilligen Schnörkelschrift auseinander und lehnte es behutsam gegen die Teekanne. Begierig darauf, endlich anzufangen, verknotete Sarah mit aufgeregten Fingern ihre Schürzenbänder und band ihr welliges, karamellfarbenes Haar zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammen.

Seit sieben Jahren hatte sie jetzt immer dasselbe geträumt: weiße Spitze, sanft fließend wie ein Hochzeitsschleier. Ein dunkelhaariger Mann in einem schwarzen Smoking, der wartend am Ende eines mit rosa Rosenblättern bestreuten Ganges stand, den Rücken ihr zugewandt, während Schneeflocken sanft aus einem stahlgrauen Feiertagshimmel rieselten.

Mit klopfendem Herzen schwebte sie näher. Das Blut rauschte ihr in den Ohren. In dem Augenblick drehte sich der Mann um, lächelte und streckte ihr die Hand entgegen.

Jetzt sah sie sein Gesicht.

Der Mann war Travis Walker, der gut aussehende ältere Junge, der im Haus neben Gramma wohnte, doch im Traum war er erwachsen.

Ihr Held.

Sarah schlief voller Glückseligkeit, die Hände unter der Wange, und ahnte nichts von dem Aufruhr, den ihr dieser alljährlich wiederkehrende Traum schon bald bescheren sollte.

Am Morgen des ersten Weihnachtstages, Sarah war jetzt fünfzehn Jahre alt, wachte sie mit der süßen Erinnerung an ihren Schicksalsplätzchentraum auf. Lächelnd fuhr sie sich mit der Zungenspitze über die Lippen.

Travis.

Ihr aufblühender junger Körper schmerzte vor Verlangen, und anstatt wie sonst aus dem Bett zu springen und nachzusehen, was für sie unter dem Weihnachtsbaum lag, kuschelte sich Sarah tiefer in die Kissen, schloss die Augen und ignorierte den Duft nach Schinkenspeck und Waffeln, der durch die Luft zog. Sie versuchte, die Bruchstücke ihres verblassenden Traums einzufangen, doch Grammas sanftes Klopfen an der Tür zerstörte ihre Bemühungen.

»Sarah, Liebes, steh auf und zieh dich an, deine Eltern haben gerade angerufen. Sie werden bald da sein.«

Sarah seufzte und setzte sich auf die Bettkante. Es kam ihr unfair vor, dass ihre Eltern kaum Zeit für sie hatten, aber wenn sie denn mal aufkreuzten, erwarteten sie von ihr, dass sie ihnen ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte. Das Doktorenehepaar Mitchell und Helen Collier schickte Sarah jeden Sommer und auch während der Weihnachtsferien zur Großmutter. Den Rest des Jahres verbrachte sie an der Chatham Academy, einem Internat in Dallas. Die beiden waren äußerst beschäftigte, berühmte Herzchirurgen aus Houston und jetteten als Gastdozenten um die ganze Welt, da konnten sie sich nicht auch noch die Mühe machen, ihre eigene Tochter großzuziehen.

Hör auf, dich selbst zu bemitleiden. Du hast mehr als die meisten anderen Menschen.

Das stimmte, aber es hielt sie nicht davon ab, sich nach einer Familie zu sehnen, in der man sich nahestand. Sie schlang die Arme um ihr Kissen und drückte es an die Brust, wobei sie eine Spur von Plätzchenkrümeln auf dem Flanelllaken hinterließ.

Es war nicht gerade von Vorteil, dass sie schüchtern war und zu überbordenden Fantasien neigte. An der Schule war sie nicht sonderlich beliebt, konnte sich nur schlecht in eine Gruppe einfügen. Englisch war das einzige Fach, in dem sie brillierte. Ihre Eltern waren praktische, hervorragende Wissenschaftler, und sie verstanden ihre Tochter nicht im Geringsten. Manchmal stellte sie sich vor, sie wäre adoptiert worden, aber die Ähnlichkeit mit ihrem Vater – sie hatte sein unbändiges hellbraunes Haar und seine strahlend blauen Augen geerbt – war so groß, dass es unmöglich war, ihre Abstammung zu leugnen.

Seufzend stieg sie aus dem Bett, wechselte die von den butterigen Plätzchen befleckten Laken und ging anschließend unter die Dusche. Sie zog einen roten Schottenrock an, rote Leggings und schwarze Stiefeletten und dazu eine weiße Seidenbluse mit einem grünen Pullunder darüber. Gramma hatte ihn für sie gestrickt und klingelnde Glöckchen darauf genäht. Aus einer Laune heraus setzte sie sich den Haarreif mit dem Rentiergeweih auf den Kopf, den sie beim letzten Dickens-Festival auf dem Stadtplatz gewonnen hatte. Ihre Mutter würde den Haarreif hassen. Grund genug, ihn zu tragen.

Sie schlenderte in die Küche. Gramma bedeutete ihr, sich an den Tisch zu setzen. Sie stellte einen Becher mit heißer Schokolade vor sie hin und dazu einen Teller mit Belgischen Waffeln und einer dicken Scheibe Schinkenspeck.

»Hast du gut geschlafen?«, erkundigte sich ihre Großmutter augenzwinkernd.

»Sehr gut.« Sarah grinste.

»Hast du von deiner wahren Liebe geträumt?«

»Ja, das habe ich.« Sarah durfte Gram nicht verraten, wer ihre wahre Liebe war, das war nicht erlaubt. Tat man es doch, ging die Schicksalsplätzchenprophezeiung nicht in Erfüllung.

»War es derselbe Mann wie im letzten Jahr?«

»Und wie im Vorjahr, im Vorvorjahr und im Jahr davor.«

Gram nickte. »Dann ist es wahr, Liebes. Er ist für dich bestimmt.«

Ein glücklicher Schauder überlief Sarahs Arme, und sie schlang sie fest um sich. Travis Walker. Ihre einzig wahre Liebe. Sie hatte ihn seit ihrer Ankunft bei Gramma noch nicht gesehen, obwohl sie ein paarmal auf die Veranda hinausgetreten war und zu seinem Haus hinübergespäht hatte in der Hoffnung, seinen zerbeulten Ford Pick-up in der Auffahrt zu entdecken. Sie hatte ihre Großmutter nicht nach ihm gefragt, um ihre heimliche Schwärmerei nicht zu verraten.

Das ist keine Schwärmerei, rief sie sich in Erinnerung. Er ist dein Schicksal.

Sarah schluckte einen Mundvoll Waffel, die vor Ahornsirup triefte, und biss in den knusprigen Schinkenspeck. Sie wollte ihr Frühstück gegessen haben, bevor ihre Mutter auftauchte und anfing, über ihr Gewicht zu lamentieren. Gramma behauptete, sie wäre genau richtig, aber Helen Collier würde ihren Taschenrechner zücken, ein paar Zahlen eintippen und ihr mitteilen, dass ihr Body-Mass-Index bei 25,4 liege, was Übergewicht bedeutete. Größe vierundvierzig. Ihre Mutter würde enttäuscht den Kopf über ihre pummelige Tochter schütteln. Sarah biss in ihre Waffel und fragte sich, ob Travis sie für fett halten oder finden würde, dass sie mit ihrer Zahnspange dämlich aussah.

An der Tür ertönte ein Klopfen.

»Herein!«, rief Gramma und stand auf, als sich die Hintertür öffnete.

Dotty Mae Densmore, die im Alter ihrer Großmutter war und ein paar Häuser weiter wohnte, platzte ins Zimmer, einen Korb voller frisch gebackener Blaubeer-Muffins am Arm. »Frohe Weihnachten!«

»Frohe Weihnachten, Mrs. Densmore«, wünschte Sarah.

»Oh, du siehst aber festlich aus«, stellte Dotty Mae fest. »Was für ein prächtiges Rentiergeweih!«

Sarah hob die Hand und tastete nach dem Geweih, das aus braunem Filz mit Baumwollfüllung gefertigt war. »Danke.«

Dotty Mae, die Wangen von der Kälte gerötet, stellte die Muffins auf die Anrichte und wandte sich um zu Gramma Mia. »Ich nehme an, du gehst nicht zu dieser Hochzeit?«

»Hochzeit?« Gramma runzelte die Stirn. »Wann findet sie denn statt?«

»Hast du keine Einladung gekriegt?« Dotty Mae drückte die Finger auf ihre Lippen. »Ähm … tut mir leid, ich bin davon ausgegangen, du hättest eine bekommen.«

Gramma schüttelte den Kopf.

»Ich hab meine auch erst vorgestern gekriegt. Buchstäblich in letzter Minute. Vermutlich war es allerhöchste Eisenbahn …«

Sarah war sich nicht sicher, wovon sie redeten. Was hatte eine Eisenbahn mit einer Hochzeit zu tun? Mit Sicherheit hatte niemand vor, der Braut oder dem Bräutigam eine Bahnreise zur Hochzeit zu schenken …

»Ich war so beschäftigt mit den Weihnachtsvorbereitungen, dass ich gar nicht nach der Post gesehen habe. Ich hoffe doch, eine Einladung im Briefkasten zu finden. Selbst wenn es zu spät ist, daran teilzunehmen, möchte ich wenigstens ein Geschenk schicken. Du gehst nicht hin?«

»Ich kann nicht. Meine Jungs und ihre Familien kommen zu Besuch, um den Weihnachtstag mit mir zu verbringen.«

»Es kommt tatsächlich ungelegen. Helen und Mitchell sind ebenfalls auf dem Weg hierher.«

Dotty Mae zog eine Augenbraue hoch, griff tief in den Muffin-Korb und zog eine Flasche Pfefferminzschnaps hervor. »Möchtest du deiner heißen Schokolade einen kleinen Schuss Festtagsstimmung versetzen, Mia?«

»Ich dachte schon, du fragst nie.« Grinsend ging Gram zum Herd, nahm den Teekessel und füllte heißes Wasser in eine Tasse mit Kakaopulver für Dotty Mae. »Es bedarf stets einer gewissen Grundlage, um mit Helen zurechtzukommen.« Und an Sarah gewandt fügte sie hinzu: »Liebes, würdest du bitte für mich die Straße hinunter zum Briefkasten laufen und die Post holen?«

»Klar.« Sarah schob ihren Stuhl zurück, nahm ihre Jacke vom Garderobenhaken neben der Eingangstür und trat hinaus auf die Veranda. Rasch warf sie einen Blick zu Travis’ Haus hinüber. Sein Pick-up stand nicht in der Auffahrt. Ob er noch hier wohnte? Er war jetzt zwanzig. Vielleicht war er ausgezogen und hatte sich eine eigene Wohnung genommen. Hm. Sie würde einen Weg finden müssen, Gram unauffällig danach zu fragen.

Sarah schlenderte über den Kopfsteinpflasterweg, der zur Uferstraße führte. Der See schimmerte blau und glänzend im klaren, kalten frühmorgendlichen Sonnenschein. Sie dachte daran, wie Travis sie zum Fischen an die Anlegestelle mitgenommen hatte. Wie er ihren Schilfrohrstecken mit kleinen Fischen versehen und so getan hatte, als hätte sie einen riesigen Thunfisch an der Angel, obwohl sie nur einen handtellergroßen Sonnenbarsch eingeholt hatte. Sie war zehn gewesen. Er fünfzehn. Genauso alt, wie sie jetzt war. Er hatte stets Super-Bubble-Kaugummi in der Tasche gehabt, das er mit ihr geteilt hatte. An jedem 4. Juli waren sie zusammen auf Großmutters Dach geklettert und hatten sich das Feuerwerk angeschaut, und einmal hatte er ein paar Rüpel verjagt, die sie in den Gartenweg getrieben und Wegzoll von ihr verlangt hatten.

Diesmal war ihr Traum ein wenig anders gewesen. Er hatte nicht damit geendet, dass Travis ihre Hand genommen hatte. Diesmal hatte er sie in seine Arme gezogen, den Kopf geneigt und sie geküsst. Es war ein glühend heißer, prickelnder Kuss gewesen, der ihren ganzen Körper zum Kribbeln brachte.

Sarah war noch nie geküsst worden. Nicht im wahren Leben. Aber dieser Kuss in ihrem Traum … Wow! Genau so stellte sie sich einen Kuss vor. Fest und feucht und sinnlich.

Bei der Erinnerung daran leckte sie sich die Lippen. Wie lange würde sie sich gedulden müssen, bis sie ihn in echt küssen durfte? Wie sollte sie ihn dazu bringen, die Frau in ihr zu sehen, zu der sie heranreifte, und nicht länger das kleine Mädchen mit den Zöpfen und der Zahnspange, das ihn anbettelte, ihm Gespenstergeschichten zu erzählen? Sie wälzte das Problem in ihren Gedanken hin und her, eifrig darauf bedacht, die Prophezeiung des Schicksalsplätzchens voranzutreiben.

Sollte er sich der Tatsache nicht baldmöglichst bewusst werden, dass er für sie bestimmt war? Vielleicht sollte sie ihm ein paar Schicksalsplätzchen backen und ihm sagen, er solle sie nachts unter sein Kissen legen. Zu dumm, dass Gramma behauptete, der Schicksalsplätzchenzauber würde nur an Heiligabend wirken! Sie würde sich also noch ein ganzes Jahr gedulden müssen. Vor Enttäuschung zog sie die Schultern nach vorn.

Sarah kam am Briefkasten an, der mit schwarzen und weißen Flecken versehen war wie eine Holsteiner Kuh, und öffnete die Klappe. Es lag nur ein einziger Brief darin. Ein dicker, cremefarbener, quadratischer Umschlag. Offenbar war Gramma zu besagter Hochzeit eingeladen worden.

Sie zog den Umschlag heraus, schloss die Briefkastenklappe und blickte auf die Adresse:

An Mrs. Mia Martin und Miss Sarah Collier.

Sie war ebenfalls eingeladen. Eine Hochzeit an Weihnachten. Wie schön. Dann fiel ihr Blick auf den Absender. Mr. und Mrs. Albert Hunt. Crystal Hunt und Travis Walker.

Hm?

Ihr Gehirn wollte nicht begreifen, was das bedeutete, doch ihre Hände, ihre verräterischen Hände, fingen an zu zittern, als sie den hübschen cremefarbenen Umschlag aufrissen und die starre Klappkarte herauszogen. Darin war ein Foto von einem lächelnden Travis, der eine schöne, junge blonde Frau umarmte, die Sarah nicht kannte.

Auf der Karte stand:

Mr. und Mrs. Albert Hunt geben voller Freude die Hochzeit ihrer Tochter Crystal Ann Hunt mit Travis Stephen Walker am Samstag, den 25. Dezember um neun Uhr in der presbyterianischen Kirche von Twilight bekannt.

Sarah entfuhr ein Schrei der Verzweiflung, die Karte fiel flatternd zu Boden. Travis heiratete? Das konnte doch nicht wahr sein. Das war unmöglich. Er war viel zu jung … und … diese Frau … Wer zum Teufel war sie? Travis gehörte zu Sarah. Er war ihre einzig wahre Liebe. Das behaupteten die Schicksalsplätzchen.

Sie blickte auf die Uhr und stellte fest, dass es kurz vor neun war. In wenigen Minuten würde Travis verheiratet sein!

Nein!

Das durfte sie nicht zulassen. Er musste erfahren, dass sie füreinander bestimmt waren. Er durfte diese Crystal Hunt nicht heiraten. Das durfte einfach nicht geschehen!

Blindlings wandte sie sich um und rannte los, nur ein einziger Gedanke hämmerte in ihrem Gehirn: Lauf zu Travis. Erzähl ihm von deinen Träumen. Halt die Hochzeit auf!

Jetzt!

Sarah schoss den Lakeshore Drive entlang in Richtung Stadtzentrum. Sie war nicht gerade in Bestform, und sie geriet schon bald außer Atem. Heftiges Seitenstechen zwang sie, in einen schnellen Laufschritt zu fallen.

Beeil dich, beeil dich! Das ist ein Notfall!

Ihre Gedanken waren ein einziges Durcheinander. Der kalte Wind frischte auf, herabgefallene Blätter wirbelten vor ihr über die Straße. So früh am Morgen des ersten Weihnachtstags waren die Straßen menschenleer. Es war zehn Minuten nach neun, als sie an den Autos vorbeieilte, die sich auf dem Parkplatz vor der presbyterianischen Kirche drängten. Ihr Herz dröhnte in ihrer Brust. Bumm, bumm, bumm. Jeder Schlag erschütterte ihren Körper.

Sie rannte die Stufen hinauf, stieß die schwere Holztür auf und taumelte hinein.

Strahlend weiße Spitze, genau wie in ihrem Traum, war über die Bankreihen drapiert. Der Mittelgang war mit Rosenblättern bestreut. Die Kirche war bis auf den letzten Platz besetzt. Vorne vor dem Altar stand Travis, er sah unglaublich gut aus in seinem schwarzen Smoking. Neben ihm stand die spindeldürre Blondine von dem Foto auf der Hochzeitskarte, gekleidet in ein duftiges weißes Chiffonkleid. Sie sahen aus, als wären sie die Verzierung auf einer Hochzeitstorte.

Sarah drehte sich der Magen um. Nein! Nein!

Ein Geistlicher stand vor Travis und seiner Braut. »… treten Travis Walker und Crystal Hunt nun in den Stand der heiligen Ehe. Sollte irgendjemand Einspruch gegen die Vermählung der beiden erheben, so möge er jetzt sprechen oder auf ewig schweigen.«

Es war noch nicht zu spät! Sie konnte dem Akt der Trauung immer noch Einhalt gebieten!

Der Geistliche hielt inne.

»Warten Sie!«, rief Sarah und sprintete den Gang entlang, die Glöckchen an ihrem Pullunder klingelten fröhlich.

Sämtliche Augen schweiften vom Brautpaar zu ihr. Gedämpftes Gelächter ging durch die Menge. In dem Augenblick wurde Sarah bewusst, dass sie noch immer das Rentiergeweih auf dem Kopf trug, aber das war ihr egal. Ihr Anliegen war zu bedeutend. Wenn sie lächerlich aussehen musste, um diese Zeremonie aufzuhalten, dann war das eben so.

Völlig außer Atem flitzte sie zum Altar.

»Junge Dame.« Der Geistliche blickte sie streng durch seine Brillengläser an. »Haben Sie noch Einwände gegen diese Hochzeit vorzubringen?«

Sarah sah von ihm zu Travis.

Travis schaute völlig verwirrt drein. »Sarah?«

»Wer ist das?«, fragte Crystal.

Sarah ignorierte sie und sah Travis direkt in die grauen Augen. »Heirate sie nicht. Du darfst sie nicht heiraten.«

»Wie meinst du das?«, fragte er verwirrt.

Die Worte flossen wie ein Sturzbach aus ihrem Mund. »Ich bin deine Seelenverwandte. Deine einzig wahre Liebe. Es ist dir bestimmt, mich zu heiraten. Wenn du sie heiratest, ist alles aus. Keiner von uns beiden wird das Glück finden, das ihm beschieden ist.«

Er verzog die Mundwinkel zu einem liebenswerten Lächeln. »Sarah«, sagte er dann, streckte die Hand aus und berührte sie sanft am Arm.

Seine Berührung ging ihr durch Mark und Bein. Sämtliche Luft wich aus ihren Lungen.

»Du bist erst fünfzehn«, sagte er. »Du weißt doch noch gar nichts über die wahre Liebe.«

»Doch, das tue ich! Ich träume jeden Heiligabend von dir, seit ich acht bin. Die Schicksalsplätzchen irren sich nie. Du und ich sind füreinander bestimmt.«

»Ach du meine Güte! Hast du noch alle Tassen im Schrank?«, fuhr Crystal Hunt dazwischen. »Du bist eine eifersüchtige kleine Spinnerin, die zu viele Liebesromane gelesen hat. Es gibt keine Seelenverwandtschaft oder die einzig wahre Liebe! Mach dir doch nichts vor!«

Die Kirchenbesucher brachen in Lachsalven aus, und in diesem entsetzlichen Bruchteil einer Sekunde trat Sarah aus sich selbst heraus und betrachtete die ganze Szene wie in einem abscheulichen Albtraum.

Da stand sie, ein moppeliger Teenager mit einer Zahnspange, einem Rentiergeweih auf dem Kopf und klingelnden Glöckchen am Pullunder, zwischen Braut und Bräutigam, und erklärte einem erwachsenen Mann ihre Liebe, welche dieser ganz sicher nicht erwiderte, während das ganze verdammte Twilight dabei zusah und sich köstlich über diese elende Schmach amüsierte.

Sie verspürte einen heftigen, schmerzhaften Stich im Herzen.

»Sarah«, murmelte Travis, »vielleicht solltest du jetzt besser nach Hause gehen.«

Du Dummkopf! Er will dich nicht. Du bringst ihn in Verlegenheit.

Ihr Gesicht brannte. Ihr Magen rumorte. Ihre Brust schmerzte. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie konnte nichts mehr erkennen. Blindlings drehte sie sich um und stolperte in Richtung Tür, riss sich das Geweih vom Kopf und die Glöckchen vom Pullunder. All ihre Hoffnungen, all ihre Träume waren dahin, und sie rannte so schnell und so weit weg, wie sie nur konnte, von dem dröhnenden Gelächter hinter ihr.

Und sie schwor sich, nie mehr jemandem ihr Herz zu schenken.

Kapitel eins

»Das musst du dir anschauen, Sarah. Es wird dir das Herz zerreißen.«

Ha! Zu spät. Das Herz hatte es ihr schon vor neun Jahren zerrissen, als sie eine naive, alberne Fünfzehnjährige gewesen war. Nicht dass sie noch allzu oft an Travis Walker dachte. Und als wäre diese Peinlichkeit nicht genug gewesen, um sie zu einer waschechten Zynikerin zu machen, hatte ihr der Unfall während ihrer College-Zeit den Rest gegeben. Abwesend fuhr sich Sarah mit der Hand über den Bauch und rieb die Narbe, die immer noch von Zeit zu Zeit schmerzte.

Sie blickte über ihren Computerbildschirm hinweg auf ihren Literaturagenten Benny Gent. »Ich werde Weihnachten keine weitere Lesereise antreten, Benny. Das letzte und das vorletzte Jahr waren …«

»Anstrengend, ich weiß. Ich war dabei.« Er stand auf der Schwelle zum Wohnzimmer, das sie in ihr Büro umgewandelt hatte, eine Schulter gegen den Türrahmen gelehnt, und hatte sein ach-so-charmantes Grinsen aufgesetzt.

Benny hatte nach einem Geschäftsessen mit ihrem Verleger Hal Howard bei ihr vorbeigeschaut. Sie waren bei Movers und Shakers gewesen, einem angesagten neuen Restaurant uptown. Benny hielt ein Blatt Papier in der Hand. Sarah konnte sein Aftershave riechen, teuer und exotisch, Sternanis und Kardamom. Er trug einen Designer-Anzug, ein frisches cremefarbenes Button-down-Hemd und einen Seidenschlips mit Paisley-Muster. Sein aschblondes Haar hatte er einem Vielbeschäftigte-Nachwuchsführungskraft-Kurzhaarschnitt unterzogen, und er war knackig braun, was er dem Spray-Tanning-Salon unten in seinem Haus zu verdanken hatte. Benny hatte die Energie eines Kernkraftwerks, und manchmal zermürbte sie seine Anwesenheit schlicht und einfach. Trotzdem war er ihr engster Freund und Vertrauter.

Ach, wem machte sie eigentlich etwas vor? Er war ihr einziger Freund, auch wenn sie jede Menge Bekannte hatte. Sich emotional auf Menschen einzulassen war ihr immer schon schwergefallen, aber noch mehr, seit Gram nicht mehr da war.

Traurigkeit überkam sie, wie immer, wenn sie an ihre Großmutter dachte. Sie war vor acht Jahren gestorben, und Sarah vermisste sie schmerzlich.

»Ich wollte sagen, dass die beiden letzten Jahre ein Albtraum waren«, erklärte Sarah. »Ich werde klaustrophobisch unter all den Fremden.«

»Du lebst in New York.«

»Das ist etwas anderes. In Manhattan ignorieren einen die Menschen. Ich werde gerne ignoriert.«

»Aha, dann ist es also deine Prominenz, die dir zu schaffen macht, nicht die Menge.«

»Nein, es sind die Menschen, die mir zu schaffen machen. Die Sache ist die: Du blühst auf, wenn du deine Geschäfte machst, auf Partys und auf Reisen gehst. Ich dagegen bin ein griesgrämiger Eremit, der mit Weihnachten nichts anfangen kann. Wie Ebenezer Scrooge aus Dickens’ Weihnachtsgeschichte. Du kannst mich Scroogetta nennen.«

»Und dennoch hast du ein Weihnachtsbuch geschrieben. Für Kinder, wohlgemerkt.«

»Ja, nun, jeder hat mal schwache Momente.«

»Es hat dich reich gemacht.«

»Du bist selbst nicht schlecht dabei weggekommen.«

»Du bist ja ziemlich gereizt.«

»Ich habe dir gesagt, dass ich Weihnachten hasse.«

Benny blickte sie nachsichtig an. Er kannte sie gut genug, um ihre dramatischen Erklärungen nicht überzubewerten. »Es war eine großartige Entscheidung, dieses Buch zu schreiben, ob dir das nun bewusst ist oder nicht. Es ist ein Dauerbrenner, und selbst wenn du jetzt schon bis ins hohe Alter von den Tantiemen leben kannst, schießen die Verkaufszahlen jedes Jahr zu den Weihnachtsfeiertagen in die Höhe. Folgerichtig ist das die perfekte Zeit für eine Lesereise.«

Er klang immer so vernünftig, dass er sie ungewollt dazu brachte, sich neurotisch zu fühlen.

»Ich ziehe Manhattan im Dezember vor«, sagte sie.

Jetzt war es Oktober, und die Blätter an den Bäumen im Central Park, die Sarah von diesem Winkel ihres rotbraunen Sandsteinhauses in der Upper West Side aus sehen konnte, loderten in herbstlichen Farben.

»Du bist bloß querköpfig«, stellte Benny fest.

»Ja, ja, das bin ich. Ist das nicht mein Privileg als temperamentvolle Künstlerin?«

»Und ist es nicht mein Job, dir zu sagen, was für deine Karriere als temperamentvolle Künstlerin das Beste ist?«

Sarah seufzte, lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und streckte die Hand aus. Den Brief zu lesen hätte einen Vorteil: Es würde ihre Gedanken von der Tatsache ablenken, dass sie mit dem Manuskript, an dem sie gerade arbeitete, absolut nicht weiterkam. Wenn sie es denn überhaupt ein Manuskript nennen konnte.

In den vergangenen sechs Wochen hatte sie die Eingangsszene genau siebenundachtzigmal von Grund auf umgeschrieben. Nicht dass sie mitzählte. »Lass mal sehen.«

Bennys Grinsen wurde breiter. Besserwisser. Er wusste, dass er sie an der Angel hatte. Er schlenderte über den Hartholzfußboden auf sie zu, drückte ihr den Brief in ihre ausgestreckte Hand, dann zog er ein makelloses Taschentuch aus seiner Brusttasche. »Glaub mir, du wirst es brauchen.«

»Offenbar denkst du, du würdest mich so leicht rumkriegen.«

Benny zwinkerte. »Du machst mir nichts vor, Sadie Cool. Tief im Herzen bist du weich wie ein Marshmallow.«

Sadie Cool war ihr Pseudonym. Sie hatte es vor drei Jahren auf Bennys Rat hin angenommen, nachdem er sie angerufen und ihr mitgeteilt hatte, sie sei eine brillante Geschichtenerzählerin, die er vom Fleck weg unter Vertrag nehmen wolle. Zum Entsetzen ihrer Eltern hatte sie auf dem College Englisch im Hauptfach belegt und im Rahmen ihrer Abschlussarbeit die Geschichte Das magische Weihnachtsplätzchen geschrieben. Ihr Professor im Fach Kreatives Schreiben an der Southern Methodist University hatte das Manuskript ohne ihr Wissen an Benny weitergeleitet, so begeistert war er davon gewesen, und Bennys überschwänglicher Anruf war für sie aus heiterem Himmel gekommen.

Sarah hatte nie vorgehabt, Kinderbuchautorin zu werden. Nach ihrem demütigenden Erlebnis an jenem Weihnachtstag in der presbyterianischen Kirche von Twilight hatte sie angefangen zu schreiben, um einen Weg zu finden, mit ihrer Enttäuschung zurechtzukommen und ihr eigenes beschämendes Benehmen zu verstehen. Sie war ein junges, in ein Märchen verliebtes Mädchen gewesen, und selbst wenn sie am eigenen Leib hatte erfahren müssen, dass es keine Märchen gab, war sie doch nicht bereit gewesen, ihren Traum aufzugeben. Obwohl es für sie im echten Leben kein »Und sie lebten glücklich miteinander bis ans Ende ihrer Tage« gegeben hatte, hatte sie diesen Zauber zwischen die Seiten ihres Buches legen können.

Benny hatte die Geschichte gegen einen bescheidenen Vorschuss an einen großen Verleger verkauft, der sich nicht viel von dem Büchlein erwartete und keine große Mühe hineininvestierte. Zu jener Zeit war sie nicht mehr als eine Newcomerin gewesen, die ungeduldig auf die Veröffentlichung ihres ersten Buches wartete. Dann war es Benny irgendwie gelungen, einem Hollywood-Produzenten ein Leseexemplar zukommen zu lassen, und das Nächste, das sie erfuhr, war, dass er die Filmrechte verkauft hatte. Der Wirbel um die verkauften Filmrechte führte dazu, dass das Buch mit großem Tamtam erschien, mit Kritiken überhäuft wurde und verschiedene Preise gewann. Schon bald hatte es Kultstatus wie der computeranimierte Kinderfilm Der Polarexpress erreicht, der auf der Geschichte des Kinderbuchautors Chris Van Allsburg basierte. Im ganzen Land veranstalteten die Buchhandlungen Event-Lesungen, und Sadie Cool wurde im zarten Alter von zweiundzwanzig Jahren über Nacht zum Star.

Jetzt, ein Jahr und zehn Monate nach dem Erscheinen von Das magische Weihnachtsplätzchen verlangte der Verleger ein zweites Buch, doch Sarah steckte mitten in einer Schreibblockade. Der Druck, ihren eigenen Erfolg zu übertreffen, war erschlagend, und zu allem Überfluss fragten ihre Eltern immer noch, wann sie endlich ein »richtiges« Buch schreiben würde. Das musste man Helen und Mitchell lassen: Egal, was ihre Tochter auch im Leben erreicht hatte, es war ihnen nie gut genug. Bei diesem Gedanken schüttelte Sarah den Kopf und las den Brief, der mit königsblauem Buntstift geschrieben war.

Liebe Miss Cool,

ich heiße Jasmine, aber alle nennen mich Jazzy. Ich bin acht Jahre alt. Ich bin ein bisschen klein für mein Alter, weil ich schon lange krank bin. Ich liebe Ihr Buch. Mein Daddy liest es mir jeden Abend vor. Ich tue so, als sei ich Isabella und würde mit dem Weihnachtsmann am Nordpol leben. Natürlich hab ich meinen Daddy mitgenommen, denn er ist der beste Vater auf der ganzen Welt. Ich wünschte, ich könnte Sie eines Tages kennenlernen, bevor ich sterbe. Bitte schreiben Sie noch ein Buch.

Ganz viele liebe Grüße,

Ihr größter Fan Jazzy

Eine Träne lief über Sarahs Wange, und sie griff nach Bennys Taschentuch.

»Ich hab’s dir gesagt.«

»Halt die Klappe«, sagte Sarah. »Ich weine, weil mich ein achtjähriges Kind unter Druck setzt, ein weiteres Buch zu schreiben, und ich von einer Schreibblockade gelähmt bin.«

»Lügnerin.«

»Musst du nicht woandershin?«

»Nö.«

»Ist dir klar, dass du der Fluch bist, der auf meinem Leben lastet?«

»Und genau das gefällt dir an mir. Ich bin dein Kontakt zur Außenwelt, Scroogetta.«

»Mach dir doch nichts vor.«

Benny grinste und hob seine Aktentasche vom Fußboden auf. Er stellte sie auf Sarahs Schreibtisch, öffnete sie und zog einen braunen DIN-A4-Umschlag heraus. »Jazzys Brief ist in diesem Päckchen gewesen. Der Bürgermeister der Stadt, in der sie wohnt, hat es geschickt. Er lädt dich ein, ihnen einen Besuch abzustatten. Sie wollen dich zur Ehrenbürgerin ernennen und dich für eine Woche zur ehrenamtlichen Bürgermeisterin machen. Offensichtlich veranstaltet die Stadt ein alljährliches Dickens-Weihnachtsfestival, und du bist der Ehrengast. Außerdem gibt es dort einen Plätzchenclub, und die Damen haben dich zu ihrem vorweihnachtlichen Plätzchentausch eingeladen. Und dann bittet dich noch der Buchladen zu einer Signierstunde; sie schmeißen eine Pyjamaparty für die Kinder, und du sollst aus dem Magischen Weihnachtsplätzchen vorlesen. Sie bieten dir an, Fahrtkosten und die neuntägige Unterbringung im Bed&Breakfast vor Ort zu übernehmen, außerdem bezahlen sie dir ein vierstelliges Honorar. Kein schlechtes Geschäft. Und du kommst mal aus diesem Apartment heraus – vielleicht ist es genau das, was du brauchst, um deine Muse wachzurütteln.«

Sarah verspürte ein merkwürdiges Prickeln in ihrer Magengrube, das sich wie ein Buschfeuer über ihre gesamten Nervenenden ausbreitete, bevor es auf ihr Gehirn übergriff. In Twilight, der Stadt, in der einst ihre Großmutter gelebt hatte, fand jedes Jahr ein Dickens-Weihnachtsfestival statt. Außerdem gab es dort einen Plätzchenclub und einen anheimelnden kleinen Buchladen, der sehr gerne Veranstaltungen für Kinder organisierte.

Konnte die Einladung tatsächlich aus Twilight stammen? Wie standen die Chancen? Sie schrieb unter einem Pseudonym, Himmelherrgott noch mal! Dennoch war es ein Leichtes, sie zu googeln und herauszufinden, dass Sadie Cool in Wirklichkeit Sarah Collier war, die Enkelin von Mia Martin, ehemalige Bürgerin von Twilight.

Sarah stöhnte und schloss die Augen. »Bitte sag nicht, dass es sich um Twilight, Texas, handelt.«

»Doch.« Benny klang überrascht. »Woher weißt du das?«

Sie öffnete die Augen wieder und legte den Kopf schräg. Sie hatte Benny nie von Twilight erzählt oder davon, wie sie sich an Weihnachten vor neun Jahren zur Obernärrin gemacht hatte. Das alles hatte sie aus ihrer Erinnerung radieren wollen. Sie war nicht länger die moppelige, zahnspangentragende Fünfzehnjährige mit Rentiergeweih auf dem Kopf, die an Schicksalsplätzchen glaubte, und sie verspürte absolut kein Verlangen, an den Ort ihrer Schmach zurückzukehren. »Meine Großmutter hat dort gelebt.«

»Tatsächlich? Nun, kein Wunder, dass sie den roten Teppich für dich ausrollen. Eine Tochter der Stadt, die ihren großen Durchbruch hat.«

»Ich war nie eine Tochter der Stadt.«

Aber du hast sämtliche Sommerferien und sogar die Weihnachtsfeiertage dort verbracht, als du zwischen acht und fünfzehn warst.

»He, deine Heldin Isabella kommt aus einer solchen Stadt. Mal ehrlich, hat dich Twilight zu dieser Geschichte inspiriert? Wir könnten das für weitere Publicity ausschlachten!«

»Du immer mit deiner Publicity!«

»Vielen Dank, Sarah.« Benny wirkte ausgesprochen erfreut.

»Schluss jetzt.« Sarah hielt abwehrend eine Hand in die Höhe. »Ich werde es nicht machen. Ich muss ein Buch schreiben. Ein Buch, wenn ich dich erinnern darf, das laut Vertrag bis zum 3. Januar fertig sein muss. Und das, nachdem man mir bereits zwei Verlängerungen zugestanden hat. Ich bewege mich auf dünnem Eis.«

»Es ist Mitte Oktober. Das Weihnachtsfestival in Twilight findet am ersten Dezemberwochenende statt, damit bleiben dir noch sieben Wochen, um fünfundzwanzigtausend Wörter zu schreiben. Komm schon, du schaffst das.«

»Wenn du das sagst, klingt alles so einfach. Als müsste ich nur mit dem Finger schnippen, und die Worte würden wie durch Zauberei auf der Seite erscheinen.«

»Du suchst doch nur nach einer Ausrede«, schimpfte Benny.

»Ich habe eine ernst zu nehmende Schreibblockade!«

»Stephen King sagt, es gibt keine Schreibblockaden. Das sei ein Märchen und alles nur Angst.«

»Tatsächlich? Ach, was weiß Stephen King schon!«

»Ich denke wirklich, du solltest das machen, Sarah. Es wäre großartige PR für dich. Hal ist ebenfalls meiner Meinung.«

Sarah stöhnte. »Du hast Hal davon erzählt?«

»Die Sache mit dem kranken Kind hat ihm gefallen, und wenn er erst erfährt, dass Twilight deine Heimatstadt ist …«

»Twilight ist nicht meine Heimatstadt.«

»Es würde die Dinge sehr vereinfachen, falls du um eine weitere Verlängerung bitten müsstest.« Er schien ihre Einwände schlicht und einfach zu ignorieren. Agenten.

Sarah schob ihren Stuhl vom Schreibtisch zurück und stand auf. »Du hast mich in die Falle gelockt, Benny.«

Er zwinkerte und versuchte, unschuldig dreinzublicken. »Habe ich nicht.«

»Du hättest nicht mit Hal sprechen sollen, ohne mich vorher zu fragen.«

»Ich verstehe nicht, was du hast. Es ist keine große Sache. Eine Stadt. Eine Woche. Du gehst schließlich nicht auf eine viermonatige Lesereise durch fünfzehn Städte.«

Sie nahm an, dass ihre Weigerung aus seiner Sicht unverständlich war. Sie könnte schwindeln und behaupten, sie habe familiäre Verpflichtungen wie die meisten Leute während der Feiertage, aber sie war keine Lügnerin, und Benny wusste, dass es mit ihrer Beziehung zu ihren Eltern nicht zum Besten stand. In der ganzen Zeit, die er sie nun kannte, hatte sie nicht ein einziges Mal die Feiertage mit ihnen verbracht. Warum sollte sie auch? Während ihrer Kindheit hatten die beiden die Weihnachtstage fast immer mit Kollegen und/oder kranken Menschen verbracht.

»Hör mal, ich möchte nicht ins Detail gehen, aber als ich fünfzehn war, hatte ich ein unschönes Erlebnis in Twilight, und ich verspüre nicht den Wunsch, an den Ort des Geschehens zurückzukehren.«

»Was für ein Geschehen? Ein Verbrechen?« Benny, der eine gute Story witterte, spitzte die Ohren. »Was hast du getan? Hast du Lippenstift im Wal-Mart geklaut?«

Das wäre zu schön gewesen. »Nur eine Redewendung.«

»Denk an die arme kleine Jazzy.« Er machte ein trauriges Gesicht. »Alles, was sie möchte, ist, einmal ihrer Lieblingsschriftstellerin zu begegnen, bevor sie stirbt.«

»Mistkerl.«

Er kicherte. »Komm schon, Sarah, es gibt nichts, wofür du dich schämen müsstest. Du bist Sadie Cool. Das ist deine Chance, mit hoch erhobenem Kopf nach Twilight zurückzukehren und diesen Leuten zu zeigen, dass du es geschafft hast. Ich wette, von denen erinnert sich keiner mehr an das, was dir zu schaffen macht.«

»Oh, glaub mir, das ist nichts, was eine kleine Stadt wie Twilight so schnell vergisst.« Allein der Gedanke daran ließ sie erschaudern.

»Ich bin fasziniert. Du musst mir unbedingt erzählen, was du angestellt hast.«

»Es war schlimm.«

»Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass du etwas so Schreckliches getan haben könntest.«

»Nun, wenn du es unbedingt wissen willst, dann setz dich.«

Er ließ sich auf ihrer Schreibtischkante nieder, und Sarah nahm wieder auf ihrem Stuhl Platz. Dann holte sie zitternd Luft und erzählte ihm so rasch wie möglich die erbärmliche Geschichte.

»Warte, warte.« Benny wedelte mit der Hand. »Du hast ein Rentiergeweih getragen?«

Sie seufzte. »Leider.«

»Autsch. Das muss wirklich hart gewesen sein. Aber sag mal, wie hast du es denn geschafft, mit deinem gebrochenen Herzen zu überleben?«

»Ob du es glaubst oder nicht, auf ihre eigene abgeklärte, gefühlskalte, unangebrachte Art und Weise hat mir meine Mutter tatsächlich einmal geholfen.« Sarah rieb sich das Kinn und dachte daran, wie sie ihrer Mutter über den Weg gelaufen war, als sie schluchzend und am Boden zerstört zurück zu Grammas Haus gerannt kam.

»Wie das?«

»Sobald wir wieder in Houston waren, scheuchte mich meine Mutter zum Labor der medizinischen Fakultät, holte einen Leichnam und zeigte mir ein menschliches Herz.«

»Mein Gott!«, rief Benny aus. »Das hat das Ganze sicher nur schlimmer gemacht!«

»Es klingt verrückt, aber es hat funktioniert. Obwohl Gramma Mia ausgeflippt ist, als sie davon erfahren hat. Meine Mutter erklärte mir, dass Emotionen nichts mit dem Herzen zu tun haben, dass alles nur im Kopf stattfinde und Gefühle nicht mehr als vorübergehende Reaktionen auf aktuelle Situationen seien, mit denen man auf rationale Art und Weise fertig werden könne. Es gebe keinen Grund, seine Persönlichkeit von Gefühlen bestimmen zu lassen.«

»Und ich habe gedacht, meine Mutter wäre durchgeknallt«, murmelte Benny und verdrehte die Augen.

»Nun, wenn man es recht bedenkt, hat sie gesunden Menschenverstand bewiesen. Sie sagte, ich müsse endlich aufhören, an Grams alberne Vorstellungen von vorherbestimmter Liebe zu glauben, wenn ich jemals eine offene, ehrliche Beziehung eingehen wolle, die auf gemeinsamen Interessen und Wertvorstellungen basiere wie die von ihr und meinem Vater.« Natürlich hatte Sarah das mit Aidan versucht, und man konnte sehen, wie gut das funktioniert hatte. Automatisch fuhr ihre Hand zu ihrem Bauch.

Benny betrachtete sie eindringlich. »Das erklärt vieles.«

»Was meinst du damit?«

»Es erklärt, warum du, seit ich dich kenne, nie eine Beziehung hattest. Scheint so, als hättest du als Heranwachsende so viele widersprüchliche Aussagen über die Liebe gehört, dass du nicht weißt, welche Richtung du einschlagen sollst.«

Hinzu kam noch das Problem ihrer Befangenheit wegen der Narbe, doch sie hatte Benny nie davon erzählt. Manche Dinge waren einfach zu schmerzhaft, um noch einmal ans Tageslicht geholt zu werden. »Nun verstehst du also, warum ich nicht scharf darauf bin, an den Ort des Geschehens zurückzukehren.«

Benny stand auf. »Aber das ist doch erst recht ein Grund, warum du dorthin fahren musst. Du musst dich deiner Angst stellen. Das ist die einzige Möglichkeit, damit abzuschließen. Außerdem, wer weiß, vielleicht löst es deine Schreibblockade.«

Sarah seufzte. »Das bezweifle ich.«

»Sei doch nicht so negativ! Ein Versuch kann doch nicht schaden!«

»Das ist leicht gesagt. Du bist schließlich nicht derjenige, der ein Rentiergeweih auf dem Kopf hatte.«

»He, es besteht durchaus die Möglichkeit, dass der Typ gar nicht mehr dort lebt.«

»Oh, er lebt noch dort.«

»Woher weißt du das?«

»Seine Familie zählt zu den Stadtgründern. Der Kerl ist dort fest verwurzelt.«

»Na und? Wenn du ihn siehst, lächelst du höflich, sagst Hallo und gehst weiter.«

»So einfach ist das nicht.«

»Nun stell dich doch nicht so an! Jeder wird dich für Sadie Cool halten. Du kannst stolz auf dich sein. Sieh doch nur, was du alles erreicht hast! Eine New York Times-Bestsellerautorin, deren Buch verfilmt werden soll, dabei bist du erst vierundzwanzig. Komm schon«, drängte er sie, legte ihr die Finger unters Kinn und hob ihr Gesicht zu seinem. »Denk daran, wie gut du dich fühlen wirst, wenn du darüber hinweggekommen bist. Keine Ängste mehr, hinter denen du dich versteckst. Du bist Sadie Cool. Du schaffst das.«

Sie stand auf, trat einen Schritt zurück und fuhr sich mit der Handfläche übers Gesicht. Was, wenn er recht hatte? Was, wenn ihre Schreibblockade tatsächlich auf irgendeine Art und Weise mit Twilight zusammenhing? Sie hatte Das magische Weihnachtsplätzchen als eine Art Katharsis geschrieben, eine Reinigung der Seele von ihren aufgewühlten Emotionen und inneren Konflikten. Wenn sie zurückkehrte und in die Vergangenheit eintauchte, könnte sie diese Emotionen, diese Angst – so schmerzhaft es auch sein mochte – womöglich bewältigen und in ebendie kreative Tatkraft umwandeln, die sie angespornt hatte, ihr erstes Buch zu schreiben.

Ihr Blick fiel auf das Blatt mit den Buntstiftbuchstaben neben ihrem Computer. Ich bin ein bisschen klein für mein Alter, weil ich schon lange krank bin. Sie konnte die Einsamkeit des Kindes förmlich spüren, und ihr Herz machte einen schmerzhaften Satz. Für sie waren es neun lausige Tage, doch diesem Kind würde ihr Besuch in Twilight alles bedeuten.

Sarah blickte sich im Zimmer um, das vollgestellt war mit überquellenden Bücherregalen, und dachte daran, wie ihr Buch Jazzys Herz berührt hatte. Sie und das kleine Mädchen waren verwandte Seelen, verbunden durch das geschriebene Wort. Bücher boten einen Ausweg, ein Abenteuer, ein Fenster zu einer anderen Welt. Bücher richteten oder missbilligten nicht. In einem Buch fühlte sich Sarah sicher. Sie machte keine Fehler, stellte nichts Dummes an. Bücher waren ihre Zuflucht, ihr Prüfstein. Bücher waren ihre besten Freunde gewesen, als sie keine echten Freunde hatte. Bücher hatten ihr sogar die mangelnde Zuneigung ihrer Eltern ersetzt. Außerhalb ihrer Bücher war sie, nun, unbeholfen, einzelgängerisch, kontaktscheu, fast schon sozial inkompatibel.

Sie wusste nicht, wie sie aus sich herausgehen konnte, ohne ein emotionales Risiko einzugehen. Also schluckte sie ihre Gefühle herunter und blieb für sich. Anderen Menschen einen Blick auf ihr wahres Ich zu gestatten, war einfach viel zu riskant. Da war es doch besser, die Nase in ein Buch zu stecken und ihr Herz hinter einer unnahbaren Fassade zu verschanzen, denn das war die einzige ihr bekannte Möglichkeit zu überleben.

Doch jetzt, da sie ein Buch geschrieben hatte, wurde von ihr verlangt, dass sie aus sich herauskam und einem kranken kleinen Mädchen, das womöglich nicht mehr lange zu leben hatte, eine Freude bereitete.

»Hol dich der Teufel«, sagte sie zu Benny.

Er grinste. »Du machst es?«

»Als hättest du mir eine Wahl gelassen!«

»Sie kommt nach Twilight! Sie kommt nach Twilight!«, rief Raylene Pringle, als sie durch die Hintertür der Bäckerei von Twilight gestürmt kam und mit der E-Mail-Bestätigung wedelte, die sie soeben ausgedruckt hatte.

Die sechs anderen Frauen saßen an dem langen, dickbeinigen Eichentisch zusammen, der beladen war mit Backbüchern, Zeitschriften und Rezeptordnern. Jedes Mal, wenn sie den Tisch sah, dachte Raylene an eine Zeile aus einem Led-Zeppelin-Song, den fast täglich jemand auf der Musikbox in der Horny-Toad-Kneipe spielte. Es ging darin um eine dickbeinige Frau, die keine Seele hatte. Gott sei Dank waren ihre eigenen schlanken Beine immer noch die eines Pin-up-Girls, selbst wenn sie nur noch eine Haaresbreite von der Sechzig trennte.

Heute hatte sich die Gruppe versammelt, um die bevorstehenden Feiertagsveranstaltungen zu planen, einschließlich des alljährlichen Wunschbaumschmückens und der sogenannten Plätzchenbörse, die der First Love Cookie Club stets am zweiten Freitag im Dezember veranstaltete. Jedes Jahr bereitete sich die Gruppe auf diesen Plätzchentausch vor, indem sie auf der Suche nach einzigartigen, schmackhaften Leckereien Rezepte durchkämmte. Seit über hundert Jahren bescherte diese Tradition der vorweihnachtlichen Veranstaltung nicht nur selbst gebackene Köstlichkeiten, sondern sorgte auch dafür, dass Geschichten von Menschen, die füreinander bestimmt waren, von Seelenverwandten und der großen wahren Liebe, immer weiter überliefert wurden.

Die Einzige unter den hier Versammelten, die nicht ihre erste Liebe geheiratet hatte – hauptsächlich, weil es für sie nie eine erste Liebe gegeben hatte –, war die Besitzerin der Bäckerei, die schüchterne Christine Noble. (Na gut, da war auch noch Patsy Calloway Cross, die nicht mit ihrer Highschool-Liebe Hondo Crouch vor dem Altar gelandet war, aber sie leugnete, dass er ihre erste Liebe gewesen sei, und wer mochte schon behaupten, dass sie log?) Die Damen des First Love Cookie Clubs hatten Christine die Ehrenmitgliedschaft angetragen, wenn sie ihnen ihre Bäckerei als Kommandozentrale für sämtliche anstehende Feiertagsfestivitäten zur Verfügung stellte, an denen die Gruppe beteiligt war.

Die Regeln des Plätzchenclubs waren eindeutig festgelegt. Regel Nummer eins: Nur Frauen durften Mitglieder werden. Keine Männer, keine Kinder. Die These lautete, dass jede von ihnen mal eine Pause vom Stress der Vorbereitungen brauchte. Ein bisschen Wein trinken, einfach mal Quatsch reden und interessante Plätzchenrezepte vor der großen Veranstaltung im Dezember ausprobieren. Die Treffen versetzten die Damen auf eine entspannte, gemeinschaftliche Weise in Festtagsstimmung.

Regel Nummer zwei: Alle Plätzchen mussten selbst gemacht sein. Sie mussten gebacken sein und als Hauptzutat Mehl enthalten. Plätzchen aus dem Supermarkt waren nicht erlaubt. Schluss. Aus. Punkt. Wenn man seinen Plätzchen-verpflichtungen aus irgendeinem Grund nicht nachkommen konnte – die einzig akzeptable Entschuldigung war eine ernsthafte Erkrankung oder ein Todesfall in der Familie –, durfte man eine seiner First-Love-Schwestern bitten, die Plätzchen für einen zu backen.

Regel Nummer drei: Egal, was im Plätzchenclub gesagt wurde, es blieb im Plätzchenclub. Die Damen der Gruppe neigten zu Klatsch. Nichts Boshaftes, natürlich nicht, einfach aus Neugier und mütterlicher Sorge um die betroffenen Personen. Doch um Probleme zu vermeiden, waren sie übereingekommen, dass alles, was ihnen in der Runde ihrer Schwestern mit von Wein und Keksen gelockerter Zunge über die Lippen kam, unter Verschluss blieb.

Regel Nummer vier: Schokosplitterkekse waren nicht erlaubt. Schokosplitterkekse zählten nicht zu den Weihnachtsplätzchen, egal, wie lecker sie waren. Sie sollten für den Rest des Jahres aufgehoben werden.

Regel Nummer fünf: Bei den Treffen sollte festliche Kleidung getragen werden. Zu ihrem Treffen im Oktober waren Halloween-Kostüme erlaubt, im November Erntedank-Trachten.

»Wer kommt?«, fragte Dotty Mae Densmore, das älteste Mitglied der Gruppe. Dotty Mae war Mitte achtzig, aber sie hatte den Schwung und Elan einer fünfzehn Jahre jüngeren Frau. Die Stricknadeln klapperten in ihren Fingern, während sie in das Backbuch mit dem Titel Zen und die Kunst des Plätzchenbackens schaute, das aufgeschlagen vor ihr lag. Sie trug ein Sweatshirt, auf das vorne ein grinsendes Kürbisgesicht appliziert war.

»Um Himmels willen, Raylene, mach die Tür zu. Es zieht, wenn der Nordwind hereinbläst«, schimpfte Patsy Cross, die einen spitzen schwarzen Hexenhut trug und ein strenges Gesicht aufgesetzt hatte. Sie war Mitglied des Stadtrats und führte ein Geschäft in unmittelbarer Nähe des Stadtplatzes, den Teal Peacock.

Der Hexenhut passt zu ihr, dachte Raylene und schloss die Tür hinter sich. Sie und Patsy waren schon seit fünfzig Jahren »Freindinnen«, lange bevor Sex and the City diesen Ausdruck populär gemacht hatte. An Dotty Mae gewandt sagte sie: »Sadie Cool.«

Dotty Mae runzelte die Stirn. Ihr Kurzzeitgedächtnis war auch nicht mehr das, was es einmal gewesen war. »Wer ist das?«

»Die Autorin von Das magische Weihnachtsplätzchen – Jazzys Lieblingsbuch –«, setzte Marva Bullock an und schob den Vorhang aus Flechtzöpfchen zur Seite, der ihr über die kakaofarbene Wange gefallen war. Als Zugeständnis an die gewünschte passende Festtagskleidung trug sie kürbisfarbene Bänder im Haar, die mit schwarzen Katzenspangen befestigt waren. Marva war die Direktorin der hiesigen Highschool und die Diplomatischste der ganzen Gruppe.

»Wir haben herausgefunden, dass Sadie Cool in Wirklichkeit Sarah Collier ist«, unterbrach die vorlaute, mollige Belinda Murphey, der die hiesige Partnervermittlungsagentur gehörte, und die Mutter von fünf Rabauken war, alle unter zehn Jahre alt.

»Mias Enkelin?«, fragte Dotty Mae.

»Richtig«, antwortete Terri Longoria. Terri trug schwarze Leggings, einen kurzen schwarzen Rock und einen weißen Strickpullover mit Herbstblättern. Sie besaß das Hot-Legs-Fitnessstudio und war mit dem Chef des Krankenhauses von Twilight verheiratet.

Ihr Ehrenmitglied, Christine Noble, sagte nichts. Die Bäckerin saß mit ihrer Schürze, welche mit grinsenden Skeletten, Grabsteinen, grünen Frankenstein-Ungeheuern und auf Besen reitenden Hexen bedruckt war, am Ende des Tisches.

»Mias Enkelin hat unter einem anderen Namen ein Buch veröffentlicht?« Dotty Mae blickte verwirrt drein.

»Ja, das hat sie«, bestätigte Terri, »und als wir das herausgefunden haben, haben wir sie nach Twilight eingeladen, damit sie Jazzy kennenlernt. Du weißt doch, dass sie nicht mehr hier gewesen ist, seit sie in Travis’ Hochzeit mit Crystal Hunt geplatzt ist.«

»Oh, das ist eine wundervolle Idee.« Dotty Mae lächelte. »Ich bin froh, dass wir sie eingeladen haben.« Sie sah Raylene an. »Und Sarah hat wirklich zugesagt?«

Raylene nickte. »Ja.«

»Also«, sagte Patsy. »Sarahs Zusage wirft die Frage auf, ob wir Travis verraten, wer Sadie Cool wirklich ist.«

»Nein«, sagten alle wie aus einem Munde.

»Warum nicht?«

»Patsy Cross«, sagte Belinda, »du bist die schlechteste Partnervermittlerin auf der ganzen Welt.«

»Wir versuchen, Travis mit Sarah zu verkuppeln?« Jetzt war es an Patsy, verwirrt die Stirn zu runzeln.

Dotty Mae schnalzte mit der Zunge. »Erinnerst du dich nicht, dass Mia uns erzählt hat, Travis wäre derjenige gewesen, den Sarah an Heiligabend in ihren Schicksalsplätzchenträumen gesehen hat? Sie sind füreinander bestimmt.«

Patsy blickte skeptisch drein. »Wir wissen doch nicht mal, ob Sarah Single ist. Sie könnte verheiratet sein oder in einer ernsthaften Beziehung stecken.«

»Weder noch«, versicherte ihr Raylene. »Ich habe ihren Agenten gefragt, als ich ihm eine E-Mail geschickt habe.«

»Das kommt mir ein wenig hinterhältig vor.«

»Nun, du weißt doch, wie Travis ist. Er hat sich geschworen, nie wieder zu heiraten; er braucht einfach einen Schubs in die richtige Richtung. Wenn wir uns verraten, wird das nie etwas mit Sarah, aber wenn er sie sieht und gar nicht erst die Möglichkeit hat, sich gegen unseren Plan zu wehren, wird der Zauber der ersten Liebe Wirkung zeigen«, sagte Belinda.

»Und dann wäre da noch das hier.« Raylene zog einen Engelsschmuck aus ihrer Tasche.

Jedes Jahr kümmerte sich der First Love Cookie Club um den Weihnachtswunschbaum für die hiesigen Kinder, die auf irgendeine Art und Weise benachteiligt waren. Die Kinder wurden gebeten, eine Weihnachtswunschliste zu schreiben, und diese Liste wurde an einem Engelsanhänger befestigt und an den Liebesbaum im Sweetheart Park gehängt, der im Dezember zum Wunschbaum wurde. Großzügige Spender nahmen einen solchen Schmuck vom Baum und erfüllten dem entsprechenden Kind seine Wünsche.

Als sie sahen, was Raylene da in der Hand hielt, ging ein schwermütiger Seufzer durch die Gruppe. Alle wussten, was auf dem Zettel geschrieben stand: die Liste mit Jazzy Walkers Weihnachtswünschen. Sie wünschte sich, was sich die meisten Mädchen wünschten. Eine Barbie. Neue Klamotten. Einen iPod. Und dann waren da noch ihre ganz persönlichen Wünsche. Zuallererst wünschte sie sich, ihre Lieblingsautorin Sadie Cool kennenzulernen, und dort, ganz unten auf der Liste, stand in kindlicher Schrift:

Ich wünsche mir eine Mommy, damit mein Daddy nicht allein sein muss, wenn ich sterbe.

»Das arme Kind.« Dotty Mae schnäuzte in ihr Taschentuch.

Marva legte die Hand auf die linke Seite ihrer Brust.

Terri wischte sich die Augen.

Belinda verzog die Lippen zu einem gezwungenen Lächeln.

Christine blieb mit ernstem Gesichtsausdruck sitzen.

Raylene begegnete Patsys Blick. »Travis und Sarah sind füreinander bestimmt. Das wissen wir alle. Die Schicksalsplätzchen irren sich nie. Ich habe von Earl geträumt, Marva von G. C., Terri von Ted und Belinda von Harvey. Mia hat von Anthony geträumt und Dotty Mae von Stuart. Und ob du es zugibst oder nicht, ich war in dem Jahr dabei, als wir Schicksalsplätzchen gebacken und bei dir übernachtet haben, Patsy, und ich weiß, dass du von Hondo geträumt hast.«

Patsy erwiderte nichts, aber ihr Gesichtsausdruck legte nahe, dass Raylene die Wahrheit sagte. Sie war in Hondo Crouch verliebt, war es immer schon gewesen, selbst wenn für sie das »Und sie lebten glücklich miteinander bis ans Ende ihrer Tage« nicht in Erfüllung gegangen war. »Außerdem ist Sadie Cool Jazzys Lieblingsschriftstellerin, und mal ehrlich, wie stehen ihre Chancen? So wie sich ihr Gesundheitszustand verschlechtert …« Raylene schluckte und wedelte mit dem Engelsschmuck. »Vielleicht ist das die letzte Gelegenheit, ihren Weihnachtswunsch zu erfüllen.«

Kapitel zwei

Travis Walker blickte in die aufgeweckten jungen Gesichter von Mrs. Tilsons vierter Grundschulklasse an der Jon Grant Elementary und grinste. Er liebte den Berufsinformationstag. Nein, er liebte Kinder. Sie waren so offen und ehrlich und mitteilsam, Eigenschaften, die er aufrichtig bewunderte.

»Jagdaufseher bewachen unsere Wälder, Seen, Küsten und Wildreservate«, erklärte er. »Wir schnappen Wilddiebe und sorgen dafür, dass die Jagd- und Fischereiverordnungen eingehalten werden, und wir verhaften Leute, die das Gesetz brechen.«

»Genau wie die Polizei?« Ein Junge aus der vorderen Reihe musterte die Dienstwaffe, die in ihrem Holster an Travis’ Hüfte steckte.

»Ja, genau wie die Polizei.«

»Ist das eine echte Waffe?«

»Ja.«

Die Augen des Jungen weiteten sich. »Wahnsinn. Haben Sie schon mal auf jemanden geschossen?«

Travis dachte daran, wie er auf ein illegales Marihuanafeld gestoßen war, als er einem verwundeten Rotwild durch die Niederungen am Brazos River gefolgt war. Plötzlich hatte er in die Mündung einer Flinte Kaliber 12 geblickt. Aber diese Geschichte war nicht geeignet für seine Zuhörer.

»Ich habe noch nie jemanden umgebracht«, antwortete er wahrheitsgemäß, wobei er der Frage geschickt auswich. Doch er hatte auf jemanden geschossen.

Ein anderer Junge hob die Hand.

Travis deutete auf ihn. »Ja?«

»Weshalb haben Sie letzte Woche meinen Onkel ins Gefängnis geworfen?«, fragte er und kniff herausfordernd die Augen zusammen. »Er hat nichts weiter getan, als auf seinem eigenen Boot ein Bierchen zu trinken.«

Travis kannte diesen Blick. Das Kind war aufgewühlt und zornig. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er sich selbst genauso trotzig gegenüber Autoritätspersonen verhalten. Als seine Mutter gestorben war und sein Vater sich in sich selbst zurückgezogen hatte, hatte Travis den Halt verloren. Wütend auf das Leben, hatte er Krawall geschlagen, nur um zu sehen, wer darauf reagierte.

»Jimmy«, sagte die Lehrerin, »diese Frage ist nicht angebracht.«

»Das ist schon in Ordnung, Mrs. Tilson, es macht mir nichts aus, sie zu beantworten.« Travis schritt durchs Klassenzimmer auf Jimmy zu, der auf seinem Stuhl immer kleiner wurde. »Ich habe deinen Onkel verhaftet, weil er gegen das Gesetz verstoßen hat. Meine Aufgabe ist es, die Flüsse und Seen für all diejenigen sicher zu machen, die sich daran erfreuen wollen. Betrunken Boot zu fahren ist dasselbe, wie betrunken Auto zu fahren.«

»Er hat niemandem Schaden zugefügt«, murmelte Jimmy.

»Das hätte aber passieren können, hätte ich ihn nicht verhaftet«, sagte Travis ruhig, und dann erzählte er der Klasse als warnendes Beispiel mit sachlicher Stimme die Geschichte von dem betrunkenen Bootsfahrer, der im letzten Sommer auf dem Lake Twilight eine Wasserskifahrerin überfahren und ihr ein Bein abgetrennt hatte. Travis war als Erster an der Unfallstelle eingetroffen, und die Erinnerung daran hatte sich in sein Gehirn eingebrannt.

»Wow«, sagte der Junge, der ihn gefragt hatte, ob er schon mal auf jemanden geschossen habe. »Cooler Job. Wenn ich erwachsen bin, möchte ich auch Jagdaufseher werden.«

»Dann musst du gut aufpassen, vor allem in Naturwissenschaften und Mathematik.« Travis sah sich im Klassenzimmer um. »Gibt es sonst noch Fragen?«

»Können Mädchen auch Jagdaufseher werden?«, erkundigte sich ein nachdenklich dreinblickendes Mädchen mit ernsten blauen Augen und karamellfarbenem Haar.

Sie erinnerte ihn an ein anderes ernstes Mädchen mit blauen Augen und karamellfarbenem Haar, das er einst gekannt hatte – die kleine Sarah Collier. Er fragte sich, wo sie jetzt wohl sein mochte, was aus ihr geworden war. Er hatte sie immer gemocht, und er hatte den Kontakt zu ihr verloren, nachdem ihre Großmutter gestorben war.

»Selbstverständlich können Mädchen Jagdaufseher werden«, sagte er. »Aber denk dran: Jagdaufseher arbeiten draußen, und zwar bei Wind und Wetter. Wir werden nass und frieren, und manchmal brüten wir auch in der Sonne. Wir kämpfen uns durch Sumpfgebiete und stoßen nicht selten auf Spinnen, Schlangen, Käfer und Frösche.«

Das Mädchen reckte das Kinn in die Höhe, was ihn noch mehr an Sarah erinnerte. »Ich mag Spinnen und Schlangen.«

»Das ist gut.«

Genau in diesem Augenblick öffnete sich die Tür zum Klassenzimmer, und eine Hilfskraft steckte den Kopf herein. »Officer Walker?« Ihre Stimme klang angespannt, nervös.

»Ja?«

»Könnten Sie bitte mit mir kommen, Sir?«

Travis wurde unruhig, aber er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. »Aber sicher. Ich komme gleich.«

»Sie müssen bitte sofort mit mir kommen.«

Jetzt bekam er wirklich Angst. »Auf Wiedersehen, Kinder, und lernt fleißig.« Er hob die Hand und folgte der Hilfskraft aus dem Klassenzimmer. »Was ist los?«, fragte er, als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte.

»Es geht um Jazzy«, sagte die Frau.

Genau das hatte Travis befürchtet. Er ballte die Hände zu Fäusten und spürte, wie Adrenalin durch seine Adern schoss. Rasch drehte er sich um und eilte zum Klassenzimmer seiner Tochter, die Hilfskraft auf den Fersen.

»Was ist passiert?«, bellte er über die Schulter.

»Sie ist gelaufen …«

Er blieb abrupt stehen und wirbelte zu ihr herum. »Jazzy ist gelaufen?«

»Sie hat es hinter unserem Rücken getan, wir waren …«

»Es ist Ihre Aufgabe, auf sie aufzupassen«, knurrte er zornig. »Sie kennen ihren Gesundheitszustand.«

Besorgt verzog die Frau das Gesicht. »Das stimmt, aber Jazzy ist eigensinnig und macht gern, was sie möchte …«

Er hatte keine Zeit, die Frau zur Verantwortung zu ziehen oder wütend zu sein. Seine Tochter brauchte ihn. Jazzy war für ihn das Wichtigste. Er ließ die Hilfskraft stehen und lief weiter.

»Ähm … Mr. Walker … sie ist im Büro der Schulkrankenschwester. Ich bringe Sie hin.«

Er wusste, wo sich das Büro der Schulkrankenschwester befand. Er war öfter dort gewesen, als er zählen konnte. Jetzt stürmte er seinem Ziel entgegen und stieß ohne anzuklopfen die Tür auf. Zur Hölle mit der Höflichkeit! »Jazzy!«

»Daddy.« Ihre Stimme klang schwach, keuchend.

Er schob den weißen Vorhang beiseite, der an einer Schiene an der Decke befestigt war. Jazzy lag auf der Liege, die Lippen in der gewohnten dunklen Farbe, die blauen Augen vor Angst geweitet. In ihrer kleinen Nase steckte ein dünner grüner Sauerstoffschlauch. Eine Schwester in einem rosa Kittel mit braunen Teddybären stand neben Jazzy und maß ihren Puls. Travis’ Herz zog sich zusammen.

Seine Tochter streckte ihm die zerbrechlichen Ärmchen entgegen, und er machte einen letzten großen Schritt und schloss sie in die Arme. »Rufen Sie Dr. Adams an. Wir kommen zu ihm ins Krankenhaus«, blaffte er.

»Ich …«, sagte die Schwester.

»Tun Sie’s einfach«, fiel er ihr ins Wort.

Die Schwester nickte und eilte zu dem Telefon auf ihrem Schreibtisch, während Travis vorsichtig den Schlauch aus Jazzys Nase zog und sie zur Tür trug. Ihr Atem ging schnell, jedes Mal, wenn sie zitternd ausatmete, ertönte ein lang gezogenes Pfeifen. Ein vertrautes Geräusch, das er nur allzu gut kannte. Sie klang wie jemand, der seit dreißig Jahren drei Schachteln Zigaretten am Tag rauchte.

Er drückte sie an sich und konnte ihre zarten Armknochen durch ihre weiche Haut hindurch spüren. Gott, sie war so verletzlich, sein zäher kleiner Engel. Travis verließ steifbeinig die Schule und ging auf den braunen Pick-up mit der großen Fahrerkabine zu, den ihm der Staat Texas für seine Tätigkeit als Jagdaufseher zur Verfügung gestellt hatte.

»Alles wird gut, Süße«, murmelte er, den Mund dicht an ihrem Ohr. »Daddy ist da.«

Sie klammerte sich an ihn und vergrub ihr Gesichtchen an seinem Hals. Er konnte ihren Kleinmädchenduft riechen, so süß und unschuldig. Sie mochte zwar schon acht Jahre alt sein, aber sie wog kaum zwanzig Kilo. Er schnallte sie in ihrem Autositz an, dann lief er um den Wagen herum zur Fahrerseite. Travis drückte aufs Gas; einerseits wollte er sie so schnell wie möglich in die Notaufnahme bringen, andererseits wollte er sie nicht beunruhigen.

Jazzy war äußerst feinfühlig und nahm sehr schnell die Gefühle ihrer Mitmenschen wahr. Sie hatten das jetzt so viele Male durchgemacht, dass es fast zur Routine geworden war. Dennoch durfte er ihre Krankheit nicht als Alltag betrachten. Jeder mühsame Atemzug, den seine Tochter machte, konnte ihr letzter sein.

Eine Erinnerung kam in ihm hoch, scharf und schmerzlich, wie so oft, wenn seine Tochter in akute Atemnot geriet. Er dachte an seine Mutter, Penelope Walker, die fast seine gesamte Kindheit über an schwerem Asthma gelitten hatte. Es war ein ganz normaler Bestandteil seines Lebens gewesen, nichts Besonderes, dass ihre zahlreichen Allergien sie davon abgehalten hatten, mit ihm in den Park zu gehen wie andere Mütter oder sich seine Spiele bei der Little League anzuschauen.

Doch trotz ihres Zustands war seine Mutter ein Goldstück gewesen. So hatte sein Vater sie stets genannt: sein Goldstück. Strahlend und treu, etwas, auf das man zählen konnte. Sie lächelte jeden Tag und war eine vielfältige Künstlerin: Sie zeichnete mit Kohle auf weißes Wachspapier und fing Travis’ Silhouette ein, während er vom Baby zum Kleinkind, dann zu einem Jungen mit Zahnlücken und später zum schlaksigen Vorpubertierenden wurde. Sie verzierte seine Schlafzimmerwände mit selbst gemalten Lastwagen, Flugzeugen und Rennautos. Sie strickte mit Merinowolle, Mohair, Angora und Alpaka, machte Schals und Fausthandschuhe, Umschlagtücher und Pullover, Socken und Mützen in allen Regenbogenfarben. Die einheimischen Frauen, denen es an Talent oder Zeit fehlte, ihre eigenen Sachen herzustellen, kamen jede Woche zu ihnen, um die Dinge zu kaufen, die seine Mutter gefertigt hatte.

Penelope verbrachte die meisten Tage im Bett oder auf dem Sofa, zeichnete und malte und strickte, wenn ihr das Asthma nicht gerade den Atem raubte. Wenn er als kleiner Junge zum Schmusen in ihr Bett gekrabbelt kam, hatte er aufpassen müssen, sich nicht eine Stricknadel ins Knie zu stechen, ihre Kohle zu zerbrechen oder gar ihr Sauerstoffgerät zu beschädigen. Obwohl seine Mutter durch die Krankheit eingeschränkt gewesen war, hatte sie sich nicht davon beherrschen lassen. Ihre Haut hatte stets geglänzt, und ihr Gesicht war rund und glatt gewesen wie ein weißer Erntemond. Erst später, nachdem Jazzy krank geworden war, hatte Travis realisiert, dass ihr Aussehen von der jahrelangen Höchstdosis an Steroiden hergerührt hatte.