Wir fliegen - Peter Stamm - E-Book

Wir fliegen E-Book

Peter Stamm

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Beschreibung

Heidi zeichnet das junge Mädchen, das sie nie gewesen ist. Vor Jahren wollte sie Künstlerin werden, in Wien studieren an der Akademie, aber die Reise ging nur bis Innsbruck. Jetzt hat sie Mann und Kind, die sie nie gewollt hat. Erst durch Carmen, die hübsche Lehrtochter aus der Bäckerei, fängt sie wieder an zu träumen. – Bruno arbeitet seit dreißig gleichmäßigen Jahren als Portier in einem Hotel. Er war beim Arzt, ein schlimmes Ergebnis könnte ihn erwarten. Noch weiß er nichts endgültiges, es ist seine letzte Nacht vor dem Resultat. Aber es wird nichts sein, bestimmt nicht. Für einen Moment ist er ganz glücklich. Es sind diese Momente, in denen sich etwas verändert im Leben, in denen etwas geschieht, man merkt es kaum. Momente, die der Zeit enthoben scheinen. Eine neue Welt tut sich auf, man erkennt die Sackgasse, in die man vor langer Zeit geraten ist. Und plötzlich herrscht ein anderes Licht. In seinen neuen, wunderbaren Geschichten zeigt sich Peter Stamm als Meister im Erzählen unerwarteter Wendepunkte, des flüchtigen Glücks, mit dem man nicht mehr gerechnet hat. Denn kann man wünschen, was man nicht einmal sich selbst gegenüber zugibt? Und widerspricht der Wunsch, auserwählt zu sein, dem Wunsch nach Liebe?

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Seitenzahl: 215

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Peter Stamm

Wir fliegen

Erzählungen

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Inhalt

Die ErwartungFremdkörperDrei SchwesternDie VerletzungDer BefundWir fliegenVideocityMänner und KnabenDer BriefIm AlterKinder GottesIn die Felder muss man gehen …

Die Erwartung

Es ist seltsam, dass man durch den größten Lärm hindurch ein ganz leises Geräusch hört, wenn man darauf gewartet hat. Die anderen haben es bestimmt nicht gehört. Sie kennen das Geräusch ja nicht, das leise Knarren des Fußbodens der Wohnung über mir. Sie reden weiter, als sei nichts. Sie reden und lachen und trinken meinen Wein und essen, was ich für sie gekocht habe, ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren. Vermutlich glauben sie, sie tun mir einen Gefallen, wenn sie mich besuchen. Die meisten Frauen lernen ihre Partner bei der Arbeit kennen, heißt es. Aber wir haben es bei der Arbeit nur mit Fünf- und Sechsjährigen zu tun. Und mit ihren Eltern, mit Paaren oder alleinerziehenden Müttern. Karin und Pim kennen sich von den Pfadfindern, Janneke und Stefan sind sich in den Ferien begegnet, in Australien. Die Geschichte habe ich schon hundertmal gehört. Dass sich zwei Holländer ausgerechnet in Australien kennenlernen. Das finden sie lustig. Sie sprechen über gute Vorsätze, die sie gefasst haben zum Jahreswechsel. Die Brille runterklappen, nachdem du auf der Toilette warst, sagt Karin zu Pim. Machst du das nicht?, fragt Janneke mit angewidertem Gesicht. Sie sagt, sie habe Stefan beigebracht, im Sitzen zu pinkeln. Karin sagt, Männer hätten einen anderen Hygienebegriff. Und Frauen, die ihre benutzten Tampons in den Papierkorb werfen?, sagt Pim. Sie reden immer so. Den ganzen Abend hat keiner ein vernünftiges Wort gesagt.

Kriegen wir Kaffee?, fragt Stefan, als sei ich die Serviererin. Nein, sage ich. Erst haben sie es gar nicht gehört. Ich muss es noch einmal laut und deutlich sagen. Ich bin müde. Ich wäre froh, wenn ihr jetzt geht. Sie lachen nur und sagen, dann trinken wir den Kaffee halt anderswo. Beim Hinausgehen fragt Janneke noch, ob es mir gutgeht. Sie macht ein mitleidiges Gesicht, wie wenn eines der Kinder stürzt und sich das Knie aufschürft. Man könnte meinen, sie fange selbst gleich an zu weinen, aber sie hört gar nicht hin, als ich sage, alles in Ordnung, ich will einfach allein sein. Ich glaube nicht, dass sie noch in ein Restaurant gehen. Ich glaube nicht, dass sie über mich reden werden. Es gibt nichts zu reden über mich, und das ist gut so.

Ich gehe ganz leise zurück ins Wohnzimmer und lausche. Erst ist es lange still, dann ist wieder das Knarren zu hören. Es klingt, als gebe sich jemand Mühe, keinen Lärm zu machen, als schleiche jemand in der Wohnung über mir herum. Ich folge den Schritten von der Tür bis zum Fenster und zurück in die Mitte des Raums. Ein Stuhl oder sonst ein leichtes Möbelstück wird verschoben, und dann ist da noch ein anderes Geräusch, von dem ich nicht weiß, woher es stammt. Es klingt, als sei etwas heruntergefallen, etwas Schweres, Weiches.

Ich habe Frau de Groot nie getroffen, weiß nur vom Klingelschild, wie sie heißt. Trotzdem ist es mir, als kenne ich sie besser als irgendjemanden sonst. Ich habe ihr Radio gehört und den Staubsauger und das Klappern von Geschirr, so laut, als spüle jemand in meiner Küche ab. Ich habe sie aufstehen gehört in der Nacht und herumschlurfen, habe gehört, wenn sie das Wasser laufen ließ im Bad oder die Toilettenspülung zog oder das Fenster öffnete. Manchmal tropfte Wasser auf meinen Balkon, wenn sie oben die Blumen goss, aber wenn ich mich hinauslehnte und nach oben schaute, sah ich niemanden. Ich glaube, sie hat die Wohnung überhaupt nie verlassen. Ich mochte die Geräusche. Es war mir, als lebte ich mit einem Geist zusammen, einem unsichtbaren freundlichen Wesen, das über mir wacht. Vor ungefähr zwei Wochen wurde es plötzlich still. Seither habe ich nichts mehr gehört. Und jetzt dieses Knarren.

Erst habe ich gedacht, es ist ein Einbrecher. Während ich mich ausziehe und ins Bad gehe, überlege ich, ob ich die Polizei anrufen soll oder den Hausmeister. Ich bin schon im Nachthemd, als ich mich entschließe, selbst nachzuschauen. Ich bin erstaunt, dass ich keine Angst habe. Aber Angst habe ich eigentlich nie, vor nichts. Das muss man lernen als alleinstehende Frau. Ich ziehe den Morgenrock über und schlüpfe in meine Schuhe. Ich schaue auf die Uhr. Es ist elf.

Ich muss zweimal klingeln, dann sehe ich durch den Spion das Licht angehen, und ein junger Mann, viel jünger als ich, öffnet die Tür und sagt sehr freundlich Guten Abend. Da denke ich schon, es war ein Fehler heraufzukommen, und warum ich mich immer in fremde Angelegenheiten mischen muss, statt mich um meine eigenen zu kümmern. Aber wenn man dann hört, dass Menschen sterben und wochenlang in ihren Wohnungen liegen, ohne dass jemand es merkt. Der Junge trägt schwarze Jeans und ein schwarzes T-Shirt, auf dem »Iron Maiden« steht, der Name einer Rockgruppe, glaube ich. Er hat keine Schuhe an, in seinen Socken sind Löcher.

Ich sage, ich wohne einen Stock tiefer und habe Schritte gehört. Und weil Frau de Groot ja offenbar ausgezogen ist, habe ich gedacht, es ist vielleicht ein Einbrecher. Der Junge lacht und sagt, ich sei mutig, einfach raufzukommen. An meiner Stelle hätte er die Polizei gerufen. Woher ich wisse, dass eine Frau hier wohne? Er hat recht. Auf dem Klingelschild steht nur »P. de Groot«. Aber ich war mir vom ersten Moment an sicher, dass es eine Frau sein muss, eine alte Frau. Ich sage, ich habe nie jemanden gesehen, nur gehört. Er fragt, ob Frauen anders klingen als Männer. Erst glaube ich, er macht sich über mich lustig, aber er scheint die Frage ernst zu meinen. Ich weiß nicht, sage ich. Er mustert mich mit einem Kinderblick, einer Mischung aus Neugier und Scheu. Ich entschuldige mich und sage, ich sei schon im Bett gewesen. Ich habe keine Ahnung, warum ich lüge. Er hat mich vom ersten Moment an dazu gebracht, Dinge zu sagen, die ich nicht sagen will. Wir schauen uns schweigend an, und ich denke, ich sollte jetzt gehen. Da fragt er, ob ich einen Kaffee mit ihm trinke. Ich sage sofort ja, obwohl ich um diese Zeit nie Kaffee trinke und obwohl ich im Morgenrock bin. Ich folge ihm in die Wohnung. Als er die Tür hinter mir abschließt, denke ich noch einmal kurz, er könnte ein Einbrecher sein und mich in die Wohnung locken, um mich zum Schweigen zu bringen. Er ist schmal und ziemlich bleich, aber er ist einen Kopf größer als ich, und seine Arme sind muskulös. Ich stelle mir vor, wie er sich auf mich wirft, mich packt und auf den Boden schleudert, wie er auf meinem Bauch sitzt und meine Arme festhält, dass es wehtut, und mir etwas in den Mund stopft, damit ich nicht schreien kann. Aber er geht in die Küche und füllt einen Topf mit Wasser und stellt den Herd an. Dann öffnet er scheinbar wahllos die Schränke. Kanne, Kaffeepulver, Filter, murmelt er vor sich hin, als habe er es auswendig gelernt, Zucker, Süßstoff, Milch. Als er den Kaffee nicht findet, biete ich ihm an, unten welchen zu holen. Nein, sagt er so bestimmt, dass ich zusammenzucke. Er denkt einen Moment lang nach.

– Wir können ja Tee trinken.

Die Wohnung sieht ganz so aus, wie ich sie mir vorgestellt habe, wie die Wohnung einer alten Frau. Auf dem Beistelltisch im Wohnzimmer liegt eine Fernsehzeitschrift, auf dem Sofa Strickzeug, überall bestickte Kissen und gehäkelte Decken und Krimskrams, Bastelarbeiten und kleine Wechselrahmen mit Fotos von hässlichen Menschen in altmodischen Kleidern. Wir setzen uns, ich auf das Sofa, er auf einen riesigen Sessel. Auf der Armlehne liegt ein kleines Kästchen mit ein paar Knöpfen. Er drückt auf einen der Knöpfe, und aus dem Sockel des Sessels hebt sich langsam eine Fußstütze. Mit einem Schalter lässt er die Lehne nach hinten kippen und wieder nach vorn. Eine Weile lang drückt er auf den Knöpfen herum wie ein Kind, das ein neues Spielzeug bekommen hat und es voller Stolz herumzeigt. Wir haben uns gar nicht vorgestellt, sagt er plötzlich und springt auf und reicht mir die Hand. Daphne, sage ich, und er lacht wieder und sagt, ach so, Patrick. Seltsam, dass wir uns nie begegnet sind. Die ganze Zeit hält er meine Hand fest. Er fragt, ob ich allein wohne. Er siezt mich, was mich irritiert, obwohl ich ziemlich viel älter bin als er. Er fragt mich nach meinem Leben, meiner Arbeit, meiner Familie. Er stellt so viele Fragen, dass ich gar nicht dazu komme, ihn etwas zu fragen. Ich bin es nicht gewohnt, dass jemand sich für mich interessiert. Vermutlich rede ich viel zu viel. Ich erzähle ihm von meiner Kindheit, von meinem kleinen Bruder, der vor vier Jahren bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen ist, von meinen Eltern und meiner Arbeit als Kindergärtnerin. Das ist ja beileibe nicht spannend, aber er hört aufmerksam zu. Seine Augen leuchten wie die der Kinder, wenn ich ihnen eine Geschichte erzähle.  

Der Tee ist alle, und Patrick steht auf und öffnet das Buffet. Er findet eine verstaubte Flasche Grand Marnier, die noch fast voll ist. Er stellt zwei kleine Gläser auf den Tisch, füllt sie und hebt eines in die Höhe.

– Auf den unverhofften Besuch.

Ich trinke mein Glas leer, obwohl ich Likör eigentlich nicht mag. Auch er macht beim Trinken ein Gesicht, als sei er starke Getränke nicht gewohnt. Ich hatte Besuch, sage ich, zwei Arbeitskolleginnen und ihre Männer. Wir treffen uns immer am ersten Freitag des Monats. Ich weiß nicht, weshalb ich ihm das erzähle. Es gibt nichts weiter dazu zu sagen. Er sagt, der Januar sei sein liebster Monat. Er hat Geburtstag im Januar, in zwei Wochen. Und er mag die Kälte.

– Was ist Ihr Lieblingsmonat?

– Darüber habe ich nie nachgedacht. November hasse ich.

Er hat einen Lieblingsmonat, eine Lieblingsjahreszeit, eine Lieblingsblume, ein Lieblingstier, ein Lieblingsbuch und so weiter. Sonst erzählt er nichts von sich. Ich glaube, er hat einfach nichts zu erzählen. Wie meine Kinder. Wenn ich sie frage, was habt ihr in den Ferien gemacht, sagen sie, gespielt. Er ist wirklich wie ein Kind. Er ist fröhlich und hilflos und manchmal scheu. Er wirkt immer etwas erstaunt. Und er lacht viel. Er fragt, ob ich Kinder mag. Natürlich, sage ich, das ist mein Beruf.

– Das muss nichts heißen. Man kann Schlachter sein und trotzdem Tiere mögen.

– Ich mag sie aber. Deshalb bin ich Kindergärtnerin geworden.

Er entschuldigt sich mit erschrockenem Gesicht, als habe er etwas Schreckliches gesagt. Er schenkt nach. Mir nicht mehr, sage ich und trinke dann doch.

– Ich sollte nicht so neugierig sein.

– Nein, das solltest du wirklich nicht.

Ich muss klingen wie eine Kindergartentante. Dabei bin ich jetzt schon süchtig nach seiner Neugier, nach seinem fragenden Blick, der den banalsten Sachen eine Bedeutung gibt. Manchmal sagt er lange nichts und schaut mich nur an und lächelt. Als er fragt, ob ich einen Freund habe, werde ich ärgerlich. Die Frage habe ich zu oft gehört. Und außerdem geht ihn das nichts an. Nur weil ich nicht mit einem Mann zusammenlebe, heißt das noch nicht … Er schaut mich mit großen Augen an. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, und meine Unsicherheit ärgert mich noch mehr.

– Jetzt sind Sie mir böse.

– Nein, ich bin nicht böse.

So geht das weiter. Wir trinken und reden über Gott und die Welt, über mich, nur nicht über ihn. Er fordert mich heraus, aber ich glaube, er tut es nicht mit Absicht. Er starrt auf meine Beine, bis ich merke, dass sich mein Morgenrock etwas geöffnet hat und meine Oberschenkel zu sehen sind. Die Beine müsste ich dringend enthaaren. Aber wen interessiert das schon. Ich raffe den Rock zusammen, und Patrick schaut mich an, als hätte ich ihn bei etwas Verbotenem erwischt. Ich bin ziemlich betrunken. Jetzt könnte er alles mit mir machen, denke ich und schäme mich sofort für den Gedanken. Er ist so jung, ich könnte seine Mutter sein. Ich möchte ihm mit der Hand durchs Haar fahren, ihn an mich drücken, vor irgendetwas beschützen. Ich möchte, dass er mich umarmt wie meine Kinder, dass er seinen Kopf in meinen Schoß legt, in meinen Armen einschläft. Als er gähnt, schaue ich auf die Uhr. Es ist drei.

– Ich muss jetzt wirklich gehen.

– Morgen ist Samstag.

– Trotzdem.

Da steht er auf und setzt sich neben mich aufs Sofa. Er fragt, ob er mir einen Gutenachtkuss geben darf, und bevor ich antworten kann, hat er meine Hand genommen und sie geküsst. Ich bin so erschrocken, dass ich die Hand brüsk zurückziehe. Er springt auf und läuft zum Fenster, als habe er Angst, dass ich ihn bestrafe.

– Es tut mir leid.

– Es muss dir nicht leidtun.

Er sagt etwas Seltsames. Ich respektiere Sie. Wir schweigen lange. Schließlich sagt er, es regnet. Jetzt wird der ganze schöne Schnee schmelzen. Ich sage, ich mag keinen Schnee, und bin mir plötzlich nicht sicher, ob das stimmt. Ich mag keinen Schnee, weil dann die Kinder so dick angezogen sind, dass man ihnen eine halbe Stunde lang beim Ausziehen helfen muss, und weil sie mit ihren Stiefeln Schmutz hereinbringen. Als ich ein Kind war, habe ich Schnee gemocht. Damals habe ich viele Sachen gemocht. Es scheint mir, als hätte ich mich den ganzen Abend lang nur beklagt über alles Mögliche. Er hat gesagt, was er mag, und ich, was ich nicht mag. Er muss denken, ich bin ein negativer Mensch, eine verbitterte alte Jungfer. Vielleicht stimmt es ja auch. In der Stadt, sage ich. In der Stadt mag ich keinen Schnee, weil die Straßen immer gleich gesalzen werden und dann alles … Ich stelle mir vor, wie ich mit Patrick Schlitten fahre. Er sitzt hinter mir und presst seine Oberschenkel gegen meine, und ich spüre ihre Wärme. Er hat seine Arme um mich geschlungen und hält mich fest, ganz fest. Sein Gesicht hat er in meinem Haar verborgen, und ich kann seinen Atem spüren am Hals. Er flüstert mir etwas ins Ohr. Ganz unvermittelt sagt er, ich sei eine wunderbare Frau. Er sei so froh, dass er mich kennengelernt habe. Damit habe ich wirklich nicht gerechnet.

– Sehen wir uns morgen?

– Am Samstag besuche ich immer meine Eltern.

Ich sage, er könne am Sonntag zum Abendessen kommen, wenn er wolle. Es macht keinen Unterschied, ob ich für mich allein oder für zwei koche. Ich koche gern, füge ich noch hinzu. Wenigstens etwas mache ich gern. Als wir uns verabschieden, küsst er noch einmal meine Hand.

Ich kann nicht einschlafen. Ich höre ihn oben herumlaufen und abwaschen und zur Toilette gehen. Er ist nett und aufmerksam und sehr höflich, aber auch ein bisschen unheimlich, wenn er so lächelt. Es ist traurig, dass man immer nur den guten Menschen misstraut.

Am Morgen wache ich früh auf mit furchtbaren Kopfschmerzen und einem bitteren Geschmack im Mund. Noch beim Frühstück fange ich an, in meinen Kochbüchern zu blättern. Ich habe gesagt, ich werde etwas ganz Einfaches kochen, aber jetzt habe ich Lust, ihn zu beeindrucken. In den Geschäften findet man nicht viel anständiges Gemüse in dieser Jahreszeit. Das meiste kommt von weither und schmeckt nach nichts. Bohnen aus Kenia, das ist doch Unsinn. Da kaufe ich lieber gefrorenes Gemüse. Am Abend streite ich mich mit meinem Vater wegen einer Kleinigkeit.

Den ganzen Sonntagnachmittag bin ich in der Küche und bereite das Essen vor. Von oben ist nichts zu hören. Vielleicht ist Patrick ausgegangen. Aber pünktlich um sechs klingelt es an der Tür. Er hat mir einen riesigen Blumenstrauß mitgebracht und küsst wieder meine Hand. Ich hoffe, das ist keine Masche. Ich habe keine Vase, die groß genug ist, und stelle die Blumen erst mal in einen Plastikeimer im Bad. Ich bekomme selten Blumen, eigentlich nie, und selber kaufe ich mir auch keine. Viele kommen aus der Dritten Welt, und die Männer, die sie pflücken, werden steril von den Spritzmitteln. Jetzt bin ich schon wieder so negativ, statt ihm zu danken für die Blumen.

Während des Essens betont er immer wieder, wie gut es ihm schmeckt, bis es mir peinlich wird. Obwohl, das Essen ist gelungen. Kochen kann ich. Kochen können Sie auch, sagt er. Und ich sei perfekt. Ich muss fast lachen. Ich kann seine Komplimente nie ganz ernst nehmen. Es klingt immer, als rede er etwas nach, was er von den Erwachsenen gehört hat. Ich scheine ihn wirklich zu beeindrucken, ich kann mir gar nicht vorstellen, weshalb. Immer wenn ich rede, hört er auf zu essen und schaut mich an mit großen Augen. Und er erinnert sich an alles, was ich ihm erzählt habe. Er weiß schon so viel von mir, und ich weiß nichts von ihm.

Als wir später auf dem Sofa sitzen, macht er eine ungeschickte Bewegung und verschüttet seinen Wein. Ich hätte ihm beinahe einen Klaps gegeben, wie ich das bei den Kindern manchmal tue, wenn sie ungezogen sind. Zum Glück kann ich mich im letzten Moment zurückhalten. Ich gehe in die Küche, um Salz und Mineralwasser zu holen. Dabei stelle ich mir vor, wie ich Patrick übers Knie lege, wie ich ihm die Hose runterziehe und ihm den Hintern versohle.

Der Fleck geht natürlich nicht raus. Der geht nie mehr raus. Es war idiotisch, ein weißes Sofa zu kaufen. Aber es hat mir gefallen, ich mag mein weißes Sofa. Ich habe es gekauft, nachdem mein Bruder gestorben ist, und irgendwie hat es etwas mit ihm zu tun. Patrick steht hilflos daneben und schaut zu, wie ich versuche, den Fleck wegzumachen. Er entschuldigt sich tausendmal und sagt, er will mir einen neuen Überzug kaufen. Aber ich bin trotzdem ärgerlich und sage ziemlich bald, ich muss jetzt ins Bett, morgen ist wieder ein Arbeitstag. Er steht auf. An der Tür schaut er mich an mit einem todtraurigen Blick und entschuldigt sich ein letztes Mal. Es ist schon gut, sage ich, passiert ist passiert. Wir verabreden uns nicht. Er sagt nichts, und ich bin immer noch ein bisschen verstimmt.

Ich frage mich, ob er mich auch so gut hört wie ich ihn. Wenn ich dusche, komme ich mir plötzlich nackt vor. Wenn ich aufs Klo gehe, schließe ich die Tür ab und spüle manchmal nicht runter, damit er es nicht hört. Ich muss viel trinken wegen meiner Nieren und gehe entsprechend oft aufs Klo. Überhaupt wird mir jetzt erst bewusst, wie laut ich bin. Dass ich mit den Schuhen in der Wohnung herumgehe, beim Staubsaugen das Radio aufdrehe, manchmal mit mir schimpfe oder mir Kinderlieder vorsinge. Damit muss ich sofort aufhören. Und ich kaufe mir Hausschuhe mit weichen Sohlen. Als mir ein Glas herunterfällt und zerbricht, lausche ich minutenlang, ob von oben etwas zu hören ist. Aber es ist still.

Ich ertrage es nicht, dass er so nah ist und wer weiß was macht und hört, was ich mache. Ich habe angefangen, oft auszugehen. Ich setze mich dann in ein Café oder gehe spazieren, obwohl es wieder kalt geworden ist und ich aufpassen muss, dass ich mich nicht erkälte. Letztes Jahr hatte ich eine Blasenentzündung, die nicht besser werden wollte. Ich musste Antibiotika nehmen und konnte tagelang nicht arbeiten. Und danach haben Janneke und Karin dumme Bemerkungen gemacht. Eine Blasenentzündung. Dazu fällt ihnen nur eines ein.

Drei Tage später klingelt Patrick an meiner Tür, gleich nachdem ich nach Hause gekommen bin. Er muss auf mich gewartet haben. Er hat einen neuen Sofaüberzug dabei und ein Paket in Geschenkpapier. Er hilft mir, das Sofa zu überziehen. Unsere Hände berühren sich. Im Paket ist eine Fischpfanne. Nur weil ich bei jenem Abendessen gesagt habe, ich hätte gern eine Fischpfanne, kauft er mir eine. Die sind nicht billig.

– Du bist verrückt. Das war wirklich nicht nötig.

– Wegen dem Ärger, den ich Ihnen gemacht habe.

Er lächelt. Dann küssen wir uns zum ersten Mal. Es passiert einfach so, ich kann nicht sagen, wer angefangen hat. Seine Küsse haben etwas Gieriges, er stülpt seine Lippen über meine und schließt sie und öffnet und schließt sie, als wolle er mich verschlingen. Die ganze Zeit hält er mich an beiden Armen fest, und ich spüre seine Kraft. Ich kann mich gar nicht bewegen. Als ich sage, er soll nicht so drücken, lässt er mich sofort los und entschuldigt sich. Überhaupt entschuldigt er sich dauernd für alles Mögliche. Es scheint ihm peinlich zu sein, dass wir uns geküsst haben. Ich glaube nicht, dass er das schon oft gemacht hat. Ich stelle mir vor, wie er mich auszieht, wie er mit mir schläft auf dem neu überzogenen Sofa. Spermaflecken bringt man nie mehr raus. Warum denke ich so einen Unsinn. Er schaut mich nur an.

Jetzt ist er wieder oben. Aber ich muss immer an ihn denken. Ich weiß nichts von ihm, nicht, ob die Sachen in der Wohnung ihm gehören, ob er im Haus bleiben wird oder ob er nur vorübergehend da ist. Ich weiß nicht, wie er mit Nachnamen heißt oder wie alt er ist oder was er arbeitet. Geld scheint er jedenfalls genug zu haben, um mir großzügige Geschenke zu machen. Ich stelle mir vor, was Janneke und Karin sagen würden, wenn sie uns miteinander sähen: Jetzt ist sie total übergeschnappt. Oder: Die ist sowieso jenseits von Gut und Böse. Oder: Sie gibt ihm Geld, er nutzt sie aus. Dabei habe ich immer das Gefühl, dass ich ihn ausnutze.

Von jetzt an sehen wir uns jeden zweiten oder dritten Tag. Manchmal kommt er runter, manchmal gehe ich rauf. Wir wissen ja immer, ob der andere da ist. Es kommt auch vor, dass wir stundenlang telefonieren. Dann bin ich plötzlich nicht mehr sicher, ob ich seine Stimme durchs Telefon höre oder durch die Decke.

Wenn wir zusammen zu Abend essen, trinken wir sehr viel für meine Begriffe, ohne dass er betrunken zu werden scheint. Wir reden wie alte Freunde. Erst beim Abschied küssen wir uns. Es ist schon fast zu einer Gewohnheit geworden. Ich habe mit Zungenküssen angefangen. Ich habe angefangen, ihn zu streicheln. Dann tut er es auch, aber nur mit den Spitzen der Finger meine Hüften und mein Kreuz, wo ich manchmal Schmerzen habe. Als ich einmal eine seiner Hände auf meine Brust lege, lässt er sie einen Moment lang reglos liegen und zieht sie dann zurück. Er braucht Zeit, denke ich. Aber ich habe keine Zeit. Das sage ich natürlich nicht. Ich bin vorsichtig geworden mit dem, was ich sage. Ich beobachte ihn. Ich lausche.

Manchmal kommt er die ganze Nacht nicht heim. Ich kann dann nicht schlafen und horche, und am Morgen bin ich todmüde. Ich hasse mich dafür, aber ich kann nicht anders. Wenn wir uns das nächste Mal sehen, sagt er mir ungefragt, wo er gewesen ist, bei seinen Eltern oder bei irgendwelchen Freunden, von denen er noch nie vorher erzählt hat. Er muss gemerkt haben, dass ich misstrauisch bin.

Bei der Arbeit fragt Janneke, was mit mir los sei, ob ich wieder krank sei. Ich sähe müde aus. Ich schlafe schlecht, mehr sage ich nicht. Ich habe abgenommen. Was soll ich machen, wenn ich keinen Appetit habe? Sie will sich von Stefan trennen, sagt Janneke, einer ihrer Vorsätze fürs neue Jahr, von dem sie ihm noch nicht erzählt hat. Wir reden über ihre Probleme. Alle weinen sich bei mir aus, aber wenn ich ihnen einen guten Rat gebe, hören sie nicht auf mich und sagen nur, so einfach ist das nicht. Karin ist schlecht gelaunt, sie kann nicht sagen, weshalb. Sie ist einfach unerträglich, auch mit den Kindern. Bis eins anfängt zu weinen. Da weint sie auch.

Patrick sagt, er möge mich wirklich sehr. Ich sei viel zu gut für ihn. Dann küsst er mich wieder, aber er hält mich dabei auf Distanz. Ich habe mich schon gefragt, ob vielleicht organisch etwas nicht stimmt bei ihm. Er sieht fit aus, aber das kann täuschen. Es gibt immer mehr Männer, die nicht können oder keine Lust haben. Die Qualität des Spermas wird auch immer schlechter. Das hat mit weiblichen Hormonen zu tun, die in irgendwelchen Kunststoffen sind und von da ins Trinkwasser gelangen.

Ich habe mir einen Termin gesetzt. Wenn er sich bis Ende des Monats nicht entschieden hat, breche ich das Ganze ab. Aber was heißt entschieden? Ich weiß gar nicht genau, was ich von ihm erwarte. Dass er mir die Kleider vom Leib reißt und mich aufs Sofa wirft? Ganz bestimmt nicht. Dass er sich öffnet. Sich mir anvertraut. Ein paar Worte würden genügen.

Als ich am nächsten Tag nach Hause komme, höre ich aus dem oberen Stock ganz laut Hello von Lionel Richie, viel lauter als die Musik, die sonst manchmal zu hören ist. Die CD habe ich Patrick mal vorgespielt. Er muss sie sich gekauft haben. Er hat auf mich gewartet, und das ist seine Art, mich zu begrüßen. Ich erwarte, dass er jetzt anruft oder zu mir kommt. Ich höre, wie er die Wohnung verlässt, die Tür abschließt und die Treppe herunterkommt. Aber er geht vorbei, und kurz darauf fällt die Haustür ins Schloss. Er kommt erst nach Mitternacht zurück. Ich höre seine Schritte, langsame Schritte, das Knarren des Fußbodens. Für einen Moment glaube ich, es seien die Schritte von zwei Personen, aber das kann nicht sein. Dann ist es still. Die Stille ist am schlimmsten. Ich kann nicht einschlafen. Seit Tagen habe ich kaum geschlafen. Ich habe die abstrusesten Ideen, schreckliche Phantasien, für die ich mich schäme.