Wir hauen die Natur entzwei - Daniil Charms - E-Book

Wir hauen die Natur entzwei E-Book

Daniil Charms

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Beschreibung

Das tragische Werk eines komischen Genies. Beinahe wäre Charms' Werk ins Räderwerk der Geschichte geraten: Bis in die späten 80 er Jahre hinein waren die Texte dieses Genies des Komischen und Absurden in der Sowjetunion verboten. Der Autor selbst verhungerte 1942 in stalinistischer Gefangenschaft, nach Jahren politischer Verfolgung. Nur durch Glück und den Einsatz eines Freundes wurden seine Kurzgeschichten, Gedichte, Theaterstücke und Notizen vor dem stalinistischen Terror-Regime gerettet. Über die letzten Jahrzehnte konnte so sein Nachlass aufgearbeitet werden. Auf dieser Grundlage basiert die erste deutsche Werkausgabe, die in der Übersetzung von Beate Rausch und Alexander Nitzberg Charms nicht nur als Meister des Satirisch-Grotesken und Absurden, sondern auch als großartigen Sprachartisten und urkomischen Nonsens-Künstler neu entdeckt, ein russisches Gegenstück zu Ringelnatz. Charms' Figuren stolpern durch die Idiotie ihres Alltags, fallen oder lösen sich gar auf. Dabei trifft der kafkaeske Nonsens, der in der Diktatur als ein verzerrtes Abbild der Wirklichkeit gelesen wurde, mitten hinein in das allgemein Menschliche. Die vorliegende Werkausgabe ist die bei Weitem umfassendste Sammlung von Charms' Texten in deutscher Sprache und bietet vieles erstmals in deutscher Übersetzung.

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Seitenzahl: 217

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Inhalt

CoverTitelDaniil Charms1. Abteilung: »Keine Sorge, das ist sein Paradestück«, Jelisaweta BamJelisaweta Bam2. Abteilung: »Vom Frikadellenland«, Stücke und Szenen für KinderZirkus Schardam, Ein Spektakel in zwei AufzügenAlternative Fassungen: Wendehals’ VerschwindenFür Zirkus Schardam, Eingefügte SzenenProfessor Röhrchen und die KinderAlternative FassungenIm Zoo3. Abteilung: »Nipirsität«, Szenen in ProsaPjotr Michailowitsch: Also die Blume …Biberfell und seine Gattin: Eine Komödie in drei TeilenJewstignejew lacht: Ein Vaudeville in drei KöpfenEine umfassende UntersuchungKuklow und Bogadelnew sitzen am Tisch …1. Aufzug: Koka Brjanski …Petja betritt das Restaurant …Grigorjew (haut Semjonow in die Fresse) …Leonidew: Ich behaupte …Nina: Sie wissen es …Der Entwaffnete oder Die missglückte Liebe: Ein tragisches Vaudeville in einem AktEin Duett. Derbantowa und Kukuschin-DerguschinFürst: Endlich sehe ich dich, meine Liebe …Kaschtanow: Lisa …Schwelpin: Eine erstaunliche Geschichte …Auerhahn (eintretend und grüßend) …Ein TheaterstückDie JägerDie Liebeserklärung: Ein VaudevilleJelena Iwanowna: Ach ja …Die Freifrau und das Tintenfässchen<Gestrichene Passage der vorigen Szene>Über das DramaEin DialogErster AufzugDer Gatte: Hör bloß auf …Der Größenunterschied zwischen Mann und FrauWelja: Ich heiße Welja …vorüber geht ein hoher Mann …Adam und Eva: Ein Vaudeville in vier TeilenDer Sündenfall oder die Erkenntnis von Gut und Böse: Eine DidaskalieEin Schlossgarten des Freiherrn von Bunder-Hangel-Hingel …<Gestrichene Fortsetzung><Fragmente weiterer Szenen>Der Opa und die Rübe: Ein BallettEine amerikanische Straße …König Lear, Erster Akt: transkribiert für Gesandte und KäferSzene aus dem Alltag: Ein VaudevilleHo-ho-ho …Iss mir ja nicht so viel Pfeffer …Kukurusow (tritt aus dem Rauch hervor) …Ich: Ich bin ja so fit …Lisa: Wissen Sie, was passiert ist …Don Quijote: Sieh mal …Olga Timofejewna(nähert sich seitlich dem Käse) …Mein Zuname ist Kissiljow …Pjotr Petrowitsch (weist ihm die Tür) …Esther, fahren wir heute zu mir …Gleich –, sagte Petja …Wolodja Sajzew kommt …Ballett der Drei Unzertrennlichen4. Abteilung: »Bin das Loch in einer Wand«, Szenen in VersenFakirow<Gestrichene Passagen>Nikolaus II.: Ich schloss die Tür …<Gestrichene Passage>Der ArchitektRjabtschikow (läuft herein) …<Alternative Fassung>1. Alexander Iwanowitsch DudkinDer Tanzballhier etwas Suppe als Geschenk …Wostrjakow: Ich schau durchs Fenster …Wache: Jetzt bin ich aber endgültig verwirrt …Das FensterDie Unverschämten: Ein Singspiel in vier Aufzügenignes ignes …Wir (zwei identische Menschen) …Woronin (stürzt herein) …Schaffner (zum Chor) …Lepestkow: Klopften Sie an meine Pforte …Fragen flogen mir von dannen …Nachtigall (rollt in die Truhe) …Dialog zweier SchusterGnostiker: Jeden Menschen werde ich schlagen …Gerassim (tritt ein und geht sofort wieder hinaus) …Anton Biberfell: Ich will Couplets zum Besten geben …Stück für einen Mann und eine Frau1. Grin: Vergaß, mich aufzuhängen …Er: Da schau …Der Schriftsteller Schwarz und der Schriftsteller Babassow<Zwei gestrichene Szenen>Nachwort »Wir hauen die Natur entzwei«Text- und Bildnachweisweitere InformationenBuchAutorImpressum

Daniil Charms

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1. Abteilung

»Keine Sorge, das ist sein Paradestück« Jelisaweta Bam

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Jelisaweta Bam

Ein Zimmer, nicht sehr groß, nicht sehr tief, einfach.

<1.> Realismus, Melodram.

Jelisaweta Bam:

Ich sehe es schon kommen: Gleich geht die Tür auf, unddietreten ein …Dietreten ein, so viel steht fest! Um mich zu schnappen und auszumerzen!(Leise.)Was habe ich nur getan! Was habe ich nur getan! Ach, wüsste ich es … Fliehen? Doch wohin? Diese Tür führt zur Treppe, doch auf der Treppe treffe ichdie. Durchs Fenster vielleicht?(Schaut durchs Fenster.)U-u-uh! Viel zu hoch … Unmöglich zu schaffen. Allein: Was tun? Da! Schritte! Das sinddie! Ich schließe mich ein und mache nicht auf. Sollen die doch klopfen, so viel sie wollen.

Ein Klopfen an der Tür. Dann eine Stimme hinter der Bühne, wütend:

Jelisaweta Bam, öffnen Sie!(Pause.)Jelisaweta Bam, öffnen Sie!

Stimme von fern:

Und? Was ist? Macht sie nicht auf?

Stimme hinter der Tür:

Sie wird schon. Jelisaweta Bam, öffnen Sie!

Jelisaweta Bam wirft sich aufs Bett und hält sich die Ohren zu.

Während der Probearbeit teilte Charms das Drama in neunzehn »Abschnitte« (»kuski«) ein, deren Charakter oder Genre er handschriftlich im Typoskript vermerkte.

Stimmen hinter der Tür.

Erste Stimme:

Jelisaweta Bam, ich befehle Ihnen, auf der Stelle zu öffnen!

Zweite Stimme(leise):

Sagen Sie ihr, sonst brechen wir die Tür auf. Ich probier’smal.

Erste Stimme(laut):

Wir brechen die Tür auf, wenn Sie nicht auf der Stelle öffnen.

Zweite Stimme(leise):

Vielleicht ist sie gar nicht da?

Erste Stimme(leise):

Und ob sie da ist. Wo sollte sie sein? Sie ist doch die Treppehochgelaufen. Und es gibt hier nur eine Tür. Sie kann nirgends sonst hin.(Laut.)Jelisaweta Bam, zum letzten Mal: Öffnen Sie die Tür.(Pause.)Brich sie auf.

Jelisaweta Bam hebt den Kopf. Mit einem alliterierenden Klang wird versucht, die Tür aufzubrechen. Jelisaweta Bam läuft zur Bühnenmitte und horcht.

Zweite Stimme:

Haben Sie ein Messer?

Ein Stoß. Jelisaweta Bam horcht mit einer nach vorne gereckten Schulter.

Erste Stimme:

Versuchen Sie es mal mit der Schulter.

Zweite Stimme:

Sie gibt nicht nach. Warten Sie mal, ich versuche es mal so.

Die Tür knarrt, bricht aber nicht.

Jelisaweta Bam:

Ich werde die Tür auf keinen Fall öffnen. Sagen Sie erst, wasSie mit mir vorhaben.

Erste Stimme:

Sie wissen doch selbst, was Sie erwartet.

Jelisaweta Bam:

Nein, ich weiß es nicht. Wollen Sie mich umbringen?

Erste und zweite Stimme gemeinsam:

Es erwartet Sie eine harte Strafe.Sie werden uns sowieso nicht entkommen.

Jelisaweta Bam:

Vielleicht verraten Sie mir, was ich verbrochen habe?

Erste Stimme:

Das wissen Sie selbst.

Jelisaweta Bam:

Nein, weiß ich nicht.(Stampft mit dem Fuß auf.)

Erste Stimme:

Gestatten Sie mir, dies anzuzweifeln.

Zweite Stimme:

Sie sind eine üble Missetäterin.

Jelisaweta Bam:

Ha-ha-ha-ha. Sie glauben, wenn Sie mich umbringen, ist IhrGewissen dann wieder rein?

Erste Stimme:

Wir tun es im Einvernehmen mit unserem Gewissen.

Jelisaweta Bam:

Tut mir leid, dann haben Sie gar kein Gewissen.(Läuft zueinem anderen Platz.)

<2.> Realismus, Komödie.

Zweite Stimme:

Wie: kein Gewissen? Pjotr Nikolajewitsch, sie sagt, wir hättengar kein Gewissen.

Jelisaweta Bam:

Was Sie anbetrifft, Pjotr Nikolajewitsch, so haben Sie nicht diegeringste Spur eines Gewissens. Sie sind schlicht und ergreifend ein Gauner.

Zweite Stimme:

Wer ist ein Gauner? Ich etwa? Ich? Wer, ich? Ich bin einGauner?

Erste Stimme:

Jetzt warten Sie mal, Iwan Iwanowitsch. Jelisaweta Bam, ichbefehle Ihnen…

Zweite Stimme:

Nein, Pjotr Nikolajewitsch. Ich bin ein Gauner?

Erste Stimme:

Jetzt spielen Sie bloß nicht den Beleidigten, Mann! JelisawetaBam, ich befeh…

Zweite Stimme:

Nein, warten Sie, Pjotr Nikolajewitsch. Sagen Sie mir: Bin ichein Gauner?

Erste Stimme:

Ach, hören Sie auf.

Zweite Stimme:

Dann bin ich, Ihrer Meinung nach, also ein Gauner?

Erste Stimme:

Jawohl, ein Gauner!!!

Zweite Stimme:

Ach so! Dann bin ich, Ihrer Meinung nach, also ein Gauner?Das haben Sie doch gemeint?

Jelisaweta Bam läuft auf der Bühne hin und her.

Erste Stimme:

Und jetzt ziehen Sie Leine! Sie blöder Trottel!! Und so jemandübernimmt eine verantwortungsvolle Aufgabe! Man sagt ihmein Wort, und schon geht er die Wand hoch! Wer tut denn sowas! Nur ein Idiot!

Zweite Stimme:

Und Sie sind ein Aufschneider.

Erste Stimme:

Und jetzt ziehen Sie Leine!

Jelisaweta Bam:

Iwan Iwanowitsch ist ein Gauner!

Zweite Stimme:

Das wird Ihnen noch leidtun!

Erste Stimme:

Ich schmeiß Sie gleich die Treppe hinunter!

Iwan Iwanowitsch:

Versuch gefällig?

Pjotr Nikolajewitsch:

Ich tu’s, ich tu’s, ich tu’s, ich tu’s!

Jelisaweta Bam öffnet die Tür. Iwan Iwanowitsch steht auf Krükken, und Pjotr Nikolajewitsch sitzt auf einem Stuhl mit einer verbundenen Wange.

Jelisaweta Bam:

War wohl nichts, wie?

Pjotr Nikolajewitsch:

Meinen Sie mich?

Iwan Iwanowitsch:

Wen denn sonst, wen denn sonst. Sie meinten doch ihn?(Zeigtauf Pjotr Nikolajewitsch.)

Jelisaweta Bam:

Wen denn sonst!

Pjotr Nikolajewitsch:

Jelisaweta Bam, hüten Sie Ihre Zunge!

Jelisaweta Bam:

Und warum?

Pjotr Nikolajewitsch:

Weil Sie keinerlei Stimmrecht besitzen. Sie haben ein hässliches Verbrechen begangen. Folglich brauche ich mir von Ihnen auch keine Frechheiten anzuhören! Sie sind eine üble Missetäterin!

Jelisaweta Bam:

Warum?

Pjotr Nikolajewitsch:

Wie warum?

Jelisaweta Bam:

Warum bin ich eine üble Missetäterin?

Pjotr Nikolajewitsch:

Weil Sie keinerlei Stimmrecht besitzen.

Iwan Iwanowitsch:

Keinerlei Stimmrecht besitzen.

Jelisaweta Bam:

Durchaus nicht. Sie können es an der Uhr ablesen.

<3.> Absurde Komik, naiv.

Die Rückwand der Bühne schiebt sich nach hinten und lässt Iwan Iwanowitsch und Pjotr Nikolajewitsch durch die Tür.

Pjotr Nikolajewitsch:

So weit wird es nicht kommen. Ich habe vor der Tür Wachenpostiert. Und bei dem geringsten Stoß wird Iwan Iwanowitschzur Seite hicksen.

Jelisaweta Bam:

Das möchte ich sehen! Das möchte ich sehen!

Pjotr Nikolajewitsch:

Aber gern! Bitte einmal, sich abzuwenden! Eng, döh, trua!

(Stößt gegen ein Beistellschränkchen.)

Pjotr Nikolajewitsch begibt sich zur Vorderbühne, gefolgt von Iwan Iwanowitsch.

Iwan Iwanowitsch hickst laut, dreht das Schränkchen um.

Jelisaweta Bam:

Wie machen Sie das nur?

Es wird wiederholt. Pjotr Nikolajewitsch stößt wieder das Schränkchen an, und Iwan Iwanowitsch hickst wieder.

Pjotr Nikolajewitsch:

Nichts leichter als das! Iwan Iwanowitsch, einmal vormachen!

Iwan Iwanowitsch:

Awek pläsier!

Er stellt sich auf alle viere und tritt aus mit dem Bein.

Jelisaweta Bam:

Ach, ist das goldig!(Ruft.)Mama! Komm schnell! Die Gaukler sind da! Gleich kommt meine Mama. Darf ich vorstellen: Pjotr Nikolajewitsch, Iwan Iwanowitsch! Zeigen Sie uns noch etwas? Bitte!

Iwan Iwanowitsch:

Awek pläsier!

Pjotr Nikolajewitsch:

Alleeeh hopp!

Iwan Iwanowitsch versucht, sich auf den Kopf zu stellen, fällt aber um.

Jelisaweta Bam:

Jetzt gleich! Jetzt gleich!

Iwan Iwanowitsch:

Hier ist kein Halt.(Sitzt auf dem Boden.)

Jelisaweta Bam:

Ein Handtuch vielleicht?(Beginnt zu flirten.)

Auf die Bühne kommen Papa und Mama, nehmen Platz und schauen zu.

Iwan Iwanowitsch:

Wofür?

Jelisaweta Bam:

Nur so. Hi-hi-hi-hi…

Iwan Iwanowitsch:

Sie haben ein sehr attraktives Äußeres.

Jelisaweta Bam:

Ach, wieso das?

Iwan Iwanowitsch:

Hi-i-i-i-i, weil … Sie sind ein Vergissmeinnicht.(Hickst laut.)

Jelisaweta Bam:

Ich ein Vergissmeinnicht?(Durch die Nase.)Wrämon? Und Siesind üne Tülp!

Iwan Iwanowitsch:

Wie?

Jelisaweta Bam(durch die Nase):

Üne Tülp.

Iwan Iwanowitsch(konfus):

Sehr angenehm.

Jelisaweta Bam(durch die Nase):

Ische Sie eute pflückenn, näß pah?

Vater(mit einer Bassstimme):

Jelisaweta, lass den Unfug.

Jelisaweta Bam(zum Vater):

Keine Sorge, Papa, gleich höre ich auf.(Zu Iwan Iwanowitsch,durch die Nase, sich setzend, die Hände auf die Wurzel gestützt.)Auff alleeeh fiereh!

»Durch die Nase«: Die »nasale« Aussprache im Russischen verleiht dem Text einen französischen (d. h. salonhaften und koketten) Unterton, was in der vorliegenden Übersetzung durch das Spiel mit französischem Akzent wiedergegeben wird.

Iwan Iwanowitsch:

Wenn Sie erlauben. Jelisaweta Kakerlakowna, gehe ich lieber nach Hause. Zu Hause wartet meine Frau auf mich. Sie hat viele Kinder, Jelisaweta Kakerlakowna. Es tut mir leid, dass ich Ihnen so lästig geworden bin. Denken Sie an mich beizeiten. So bin ich halt. Jede gibt mir den Korb. Warum denn nur, frage ich. Bin ich ein Dieb? Nein, bin kein Dieb! Jelisaweta Eduardowna. Bin ein ehrlicher Mann. Habe eine Frau zu Hause. Sie hat viele Kinder, meine Frau. Es sind gute Kinder. Jedes hält mit den Zähnen eine Streichholzschachtel. Tragen Sie es mir nicht nach, Jelisaweta Michailowna. Aber ich gehe lieber nach Hause.

Pjotr Nikolajewitsch nähert sich Papa und Mama. Mama ist mit irgendwas unzufrieden und begibt sich auf die Vorderbühne. Iwan Iwanowitsch zieht einen Pelzmantel an und geht. Jelisaweta Bam bindet ein Seilchen um Mamas Bein und befestigt das andere Ende am Stuhl. Allgemeines Schweigen.

Mama(singt zur Musik):

Schon leuchtet der Morgen,die Fluten erröten,schon gleitet die Möwe hoch über dem See … etc.

Mama hört auf zu singen und geht auf ihren Platz zurück, wobei sie den Stuhl hinter sich herschleppt.

»Schon leuchtet der Morgen …«: Der Beginn der populären Romanze von Jelena Bulanina (1876–1944) »Unter dem Eindruck von Tschechows Möwe« (Musik: J. Schurakowski).

Pjotr Nikolajewitsch:

Da wären wir!

Papa:

Na, Gott sei Dank.(Er geht.)

<4.> Realismus, Alltagskomödie.

Jelisaweta Bam:

Und du, Mama, gehst du etwa nicht spazieren?

Mama:

Willst du das, Kind?

Jelisaweta Bam:

Schrecklich gern!

Mama:

Nein, ich gehe nicht.

Jelisaweta Bam:

Och ko-o-omm doch.

Mama:

Na gut, ich komme.(Sie gehen.)

Die Bühne ist leer.

<5.> Radix, rhythmisch.

Iwan Iwanowitsch und Pjotr Nikolajewitsch(hereinlaufend):

Wo, wo, wo.Ist Jelisaweta Bam,ist Jelisaweta Bam,ist Jelisaweta Bam.

Pjotr Nikolajewitsch:

Sie ging, ging, ging.

Iwan Iwanowitsch:

Sie kam, kam, kam.

Pjotr Nikolajewitsch:

Ach, Iwan Iwanowitsch, wo wir zwei nur stecken?

Iwan Iwanowitsch:

Pjotr Nikolajewitsch, wir stecken fest, wir zwei.

Pjotr Nikolajewitsch:

Aber das gehört sich nicht, jetzt hör auf, mich zu necken.

Iwan Iwanowitsch:

Hier ein Pfund und basta – es ist fünf vor drei.

Pjotr Nikolajewitsch(kantabel):

Jelisaweta Bam!

»Radix« ist der Name einer studentischen Theatergruppe, die 1926 u. a. von Charms-Freund Igor Bachterew gegründet wurde und die (mittlerweile verschollene) szenische Kollage von Charms und Alexander Wwedenski »Meine Mutter ganz in Uhren« aufführen sollte. »Radix« experimentierte insbesondere mit dem sogenannten »Akzentvers«. Die Genre-Bezeichnung »Radix, rhythmisch« meint also ein besonders scharf artikuliertes Aussprechen der jeweiligen Zeilen. Wie auch an anderen Stellen, folgt die vorliegende Übertragung hier dem Metrum des Originals.

Iwan Iwanowitsch(kantabel):

Sie suchen diese Madame?

Pjotr Nikolajewitsch:

Ich – murks – sie – ab!

Iwan Iwanowitsch:

Hmm. Jelisaweta Bamsitzt da drüben ganz zahm.

Pjotr Nikolajewitsch:

Dann schleunigst zu ihr, tapp-tapp!

Sie laufen beide auf der Stelle. Auf die Vorderbühne wird ein Holzscheit gebracht. Während Pjotr Nikolajewitsch und Iwan Iwanowitsch laufen, wird das Holzscheit zersägt.

hopp hopp die Beine    (Ein Schlag!) im Ab end Scheine Wolken rosig schienen puff puff Zug auf Schienen huck huck dem Käuzchen zer sägt das Hölzchen!

<6.> Radix, alltäglich.

Der Vorhang wird weggeschoben, dahinter sitzt Jelisaweta Bam.

Jelisaweta Bam:

Sie suchen mich?(Steht auf und geht.)

Pjotr Nikolajewitsch:

Genau Sie. He Iwan, sie ist hier!

Iwan Iwanowitsch:

Wo, wo? Wo!

Pjotr Nikolajewitsch:

Hier, unter dem Farlüschen.

Auftritt der Bettler.

Iwan Iwanowitsch:

Dann zieh sie doch raus.

Pjotr Nikolajewitsch:

Geht nicht. Sie klemmt.

Bettler(zu Jelisaweta Bam):

Freund, helfen Sie mir.

Iwan Iwanowitsch(hicksend):

Nächstes Mal bin ich schlauer. Hab mir alles gemerkt.

»Farlüschen«: Laut einer Auskunft des Oberiuten Nikolai Sabolotzki (1903–1958), bezeichnete die oberiutische Wortschöpfung »farluška« Gegenstände mit »ungeklärter Funktion«.

Jelisaweta Bam(zum Bettler):

Ich bin blank.

Bettler:

Nur einen Groschen.

Jelisaweta Bam:

Frag mal den Onkel dort.(Zeigt auf Pjotr Nikolajewitsch.)

Pjotr Nikolajewitsch(zu Iwan Iwanowitsch, hicksend):

Sieh doch mal, was du machst.

Ein Tisch fährt auf die Bühne heraus. Jelisaweta Bam schiebteinen Stuhl daran und setzt sich.

Iwan Iwanowitsch:

Ich grabe die Wurzeln aus.

Bettler:

Helft mir, Freunde.

Pjotr Nikolajewitsch(zum Bettler):

Los, steig darein.

Iwan Iwanowitsch:

Halt dich an den Steinen fest.

Pjotr Nikolajewitsch:

Keine Sorge, das ist sein Paradestück.

Der Bettler kriecht unter den Vorhang.

Jelisaweta Bam:

Nehmen Sie doch Platz. Was gibt’s denn zu schauen?

Pause.

Iwan Iwanowitsch:

Vielen Dank.

Pjotr Nikolajewitsch:

Nehmen wir Platz.(Nimmt Platz.)

Alle schweigen. Essen Suppe.

Jelisaweta Bam:

Wo mein Mann wieder bleibt? Hat sich wohl verlaufen.

Pjotr Nikolajewitsch:

Er taucht schon auf.(Fährt hoch und rennt über die Bühne.)Hasch mich!

Iwan Iwanowitsch:

Ha-ha-ha.(Läuft Pjotr Nikolajewitsch hinterher.)Und wo istdas Heim?

Jelisaweta Bam:

Hier, hinter dieser Linie.

Pjotr Nikolajewitsch(klatscht Iwan Iwanowitsch ab):

Hab dich!

Auftritt Papa mit einer Feder in der Hand.

Jelisaweta Bam:

Iwan Iwanowitsch, kommen Sie schnell!

Iwan Iwanowitsch:

Ha-ha-ha-ha, ich hab keine Beine!

Pjotr Nikolajewitsch:

Dann eben auf allen vieren!

Papa(ins Publikum):

Von der es geschrieben steht.

Jelisaweta Bam:

Wer ist dran?

Iwan Iwanowitsch:

Ich, ha-ha-ha, trag eine Hose!

Pjotr Nikolajewitsch und Jelisaweta Bam:

Ha-ha-ha-ha!

Papa:

Kopernikus war einer der größten Gelehrten.

Iwan Iwanowitsch(lässt sich zu Boden fallen):

Auf meinem Kopf, da wachsen Haare.

Pjotr Nikolajewitsch und Jelisaweta Bam:

Ha-ha-ha-ha-ha-ha-ha!

Iwan Iwanowitsch:

Ich liege komplett auf dem Boden!

Pjotr Nikolajewitsch und Jelisaweta Bam:

Ha-ha-ha-ha!

Auftritt Mama.

Jelisaweta Bam:

Huh, huh, kann nicht mehr.

Papa:

Kaufst du ein Huhn, sieh nach, ob es Zähne hat. Hat es Zähne,so ist es kein Huhn.(Er geht.)

<7.> Festliches Melodram, Radix-betont.

Pjotr Nikolajewitsch(hebt die Hand):

Ich bitte darum, meinen Worten aufmerksam zu lauschen. Ich möchte Ihnen auseinandersetzen, dass jedes Unglück unerwartet geschieht. Als ich noch ein junger Mann war, bewohnte ich ein kleines Haus mit einer knarrenden Türe. Dieses Häuschen bewohnte ich ganz allein. Außer mir gab es nur Mäuse und Kakerlaken. Kakerlaken findet man überall. Beim Eintritt der Nacht verschloss ich die Türe und löschte das Licht. Ich schlief und fürchtete einfach nichts.

Stimme hinter der Bühne:

Einfach nichts.

Mama:

Einfach nichts!

Flöte hinter der Bühne:

/ – /

Iwan Iwanowitsch:

Einfach nichts!

Klavier:

/ – /

Pjotr Nikolajewitsch:

Einfach nichts.(Pause.)Ich hatte einfach nichts zu befürchten. Und tatsächlich: Die Einbrecher hätten kommen und das ganze Haus auf den Kopf stellen können. Was hätten sie denn gefunden? Einfach nichts.

/ – /: An Stellen wie dieser benutzt Charms die von ihm auch sonst verwendeten Rhythmuszeichen, wobei »/« für betonte und »–« für unbetonte Silben steht.

Flöte hinter der Bühne:

/ – /

Pause.

Pjotr Nikolajewitsch:

Wer sollte sich denn sonst noch mitten in der Nacht bei mirverirren? Doch wohl keiner. Oder?

Stimme hinter der Bühne:

Keiner doch wohl.

Pjotr Nikolajewitsch:

Oder? Aber einmal, da wache ich auf…

Iwan Iwanowitsch:

Und sehe: Die Türe steht offen, und in der Türe steht irgendeine Frau. Ich starre sie unverwandt an. Sie steht. Es war hellgenug. Vermutlich war es in der Vormorgenstunde. Auf jedenFall konnte ich ihr Gesicht gut erkennen. Es war die da.(Zeigtauf Jelisaweta Bam.)Damals ähnelte sie…

Verdecken einander.

Alle:

Mir!

Iwan Iwanowitsch:

Ich rede, um zu sein.

Jelisaweta Bam:

Was reden Sie?

Iwan Iwanowitsch:

Ich rede, um zu sein. Dann denke ich, es ist schon spät. Und sie hört mir zu. Und ich fragte sie: Warum haben Sie das getan. Und sie sagt mir, sie hätte mit ihm gefochten. Der Zweikampf sei überaus fair verlaufen, doch sei sie nicht schuld daran, ihn getötet zu haben. Denk nach, warum erstachst du Pjotr Nikolajewitsch?

Alle außer Jelisaweta Bam und Iwan Iwanowitsch gehen.

Jelisaweta Bam:

Hurra, ich habe niemanden umgebracht.

Iwan Iwanowitsch:

Einfach so einen Menschen zu erstechen. Mein Gott, ist dasheimtückisch! Hurra, du hast es getan, bloß warum?

<8.> Verschiebung der Höhen.

Jelisaweta Bam(geht zur Seite):

Uuuuuuuuuuuu-uuu-uuuu-u.

Iwan Iwanowitsch:

Wölfin.

Jelisaweta Bam:

Uuuuuuuuuuuu-uuuu-u-u.

Iwan Iwanowitsch:

Wö-ö-ö-ö-ö-lfin.

Jelisaweta Bam(zittert):

U-u-u-u-u-u-u-Trockenpflaumen.

Iwan Iwanowitsch:

Gr-r-r-roßmutter.

Jelisaweta Bam:

Jubeltöne.

Iwan Iwanowitsch:

Auf ewig vernichtet!

Jelisaweta Bam:

Ein schwarzes Ross und darauf ein Soldat!

Iwan Iwanowitsch(zündet ein Streichholz an):

Ach, herzallerliebste Jelisaweta!(Iwan Iwanowitschs Händezittern.)

Jelisaweta Bam:

Meine Schultern sind wie zwei Sonnen im Aufgang.(Stellt sichauf einen Stuhl.)

Iwan Iwanowitsch(geht in die Hocke):

Meine Beine sind wie zwei Gurken.

Jelisaweta Bam(klettert noch höher):

Hurra! Ich habe gar nichts gesagt!

Iwan Iwanowitsch(legt sich auf den Boden):

Nein, nein, gar nichts, gar nichts.

Jelisaweta Bam(hebt die Hand):

Ku-ni-ma-ga-pi-li-wa-pi-bauu.

Iwan Iwanowitsch(am Boden liegend, niederträchtig):

mieze mieze Kat zehat Milch be rauntauf dem Kissen tapp te sieauf dem Ofen tapp te siehüpf hüpftapp tapp

Jelisaweta Bam(schreit):

Gartentüren! Und Kordel! Und Bluse!

Iwan Iwanowitsch(hebt sich ein wenig):

Kommen zwei Zimmerleute gelaufen, fragen: Was ist dennlos?

Jelisaweta Bam:

Frikadellen! Warwara Semjonowna!

Iwan Iwanowitsch(schreit mit zusammengebissenen Zähnen):

Tänzerin auf einem Sei-ei-ei-ei…!

Jelisaweta Bam(springt auf den Stuhl):

Ich bin von Kopf bis Fuß glitzernd!

Iwan Iwanowitsch(läuft ins Innere des Zimmers):

Das Kubische dieses Raumes ist von uns noch nicht zur Genüge erkundet.

Das Bühnenbild verschiebt sich vom Zimmer zur Landschaft. Der Vorhang präsentiert Papa und Mama.

Jelisaweta Bam(läuft zum anderen Ende der Bühne):

Ich werde mich schon erkenntlich zeigen!

<9.> Landschaftsbild.

Iwan Iwanowitsch(springt auf den Stuhl):

Das Wohlergehen eines Hirtenpaars aus Pensilva-a-a!

Jelisaweta Bam(springt auf den Stuhl):

Iwan Iwa-a-a-!

Papa(zeigt eine Schatulle):

Eine hölzerne Schatu-u-u!

Papa:

Dann musst du sie ne-e-eh!

Mama:

Lu-u-u-u-u!

Jelisaweta Bam:

Ich fand einen Fliegenpi-i-ie!

Iwan Iwanowitsch:

Gehen wir zum See!

Papa:

Hallo-o-o-o-o!

Jelisaweta Bam:

Hallo-o-o-o-o!

Iwan Iwanowitsch:

Habe gestern Nikolaj getroffen.

Mama:

Was Sie nicht sa-a-agen!

Iwan Iwanowitsch:

Ja. Habe ich. Da schaue ich also. Da läuft Nikolaj und hatÄpfel mit. Sind die, frage ich, gekauft? Ja, sagt er, die sind gekauft. Sagt er und läuft einfach weiter.

Papa:

Ist das zu gla-a-auben!

Iwan Iwanowitsch:

Tja. Da frage ich ihn: Sind die Äpfel gekauft oder geklaut?Sagt er: Wieso denn auf einmal geklaut? Hab sie gekauft. Undläuft einfach weiter.

Mama:

Wohin denn so eilig?

Iwan Iwanowitsch:

Das weiß ich nicht. Er sagt bloß: Die Äpfel, sagt er, die hab ichgekauft und nicht geklaut. Und läuft einfach weiter.

<10.> Monolog zur Seite, zwei Schichten.

Papa:

Mit diesem nicht allzu freundlichen Gruß führt ihn die Schwester an eine etwas offener gelegene Stelle, wo im Haufen goldene Tische und Sessel übereinandergestapelt sind und so an die fünfzehn Stück hübscher Bräute höchst vergnügt miteinander quasseln und dabei auf weiß Gott was sitzen. Alle diese Bräute bedürfen ganz dringend eines glühenden Bügeleisens und zeichnen sich dadurch aus, dass sie ständig die Augen rollen, wobei sie keine Sekunde lang mit ihrem Gequassel aufhören.

Auftritt Hausmagd, trägt ein Tischtuch und ein Picknickkörbchen herein.

<11.> Ansprache.

Iwan Iwanowitsch:

Freunde, wir haben uns hier versammelt. Hurra!

Jelisaweta Bam:

Hurra!

Mama und Papa:

Hurra!

Iwan Iwanowitsch(zittert und zündet ein Streichholz an):

Ich möchte euch Folgendes anvertrauen: Seit ich geboren worden bin, vergingen achtunddreißig Jahre.

Papa und Mama:

Hurra!

Iwan Iwanowitsch:

Freunde. Ich habe ein Haus. In dem Haus sitzt meine Frau.Sie hat viele Kinder. Die habe ich mal gezählt: zehn Stück.

Mama(auf der Stelle tretend):

Dascha, Mascha, Fjodor, Pelogeja, Nina, Alexander und nochdie vier anderen.

Papa:

Alles nur Jungs?

<12.> Tschinari.

Jelisaweta Bam(läuft um die Bühne herum):

Losgerissen überall!Losgerissen, losgelaufen!Losgeriss und losgerannt!

Mama(läuft Jelisaweta Bam nach):

Isst du Brot?

Jelisaweta Bam:

Isst du Suppe?

Papa:

Isst du Fleisch?

Mama:

Isst du Mehl?

– Pause-Gebrause –

Iwan Iwanowitsch:

Isst du Rüben?(Läuft.)

Jelisaweta Bam:

Isst du Lamm?

»Tschinari«: So bezeichnete sich in den 1920er-Jahren eine kleine inoffizielle Gruppe von Dichtern, Künstlern und Intellektuellen um Daniil Charms und Alexander Wwedenski die sprachliche und gedankliche Experimente betrieb. Im vorliegenden Abschnitt wird ein zirzensisches, »unsinniges« Spiel nach der Art der Tschinari verlangt.

Nach der Auskunft von Igor Bachterew wurde der Abschnitt durch das Heraustragen eines kleinen Plakats mit der Aufschrift »Pause-Gebrause« (»antrakt-katarakt«) unterbrochen.

Papa:

Isst du Frikadellen?

Mama:

Puh, die Füße machen schlapp.

Iwan Iwanowitsch:

Puh, die Hände machen schlapp.

Jelisaweta Bam:

Puh, die Schere macht schlapp.

Papa: