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Das tragische Werk eines komischen Genies. Die Werkausgabe des grandiosen Sprachartisten, neu übersetzt und angereichert mit viel bislang nicht auf Deutsch veröffentlichtem Material. Beinahe wäre Charms' Werk ins Räderwerk der Geschichte geraten: Bis in die späten 80 er Jahre hinein waren die Texte dieses Genies des Komischen und Absurden in der Sowjetunion verboten. Der Autor selbst verhungerte 1942 in stalinistischer Gefangenschaft, nach Jahren politischer Verfolgung. Nur durch Glück und den Einsatz eines Freundes wurden seine Kurzgeschichten, Gedichte, Theaterstücke und Notizen vor dem stalinistischen Terror-Regime gerettet. Über die letzten Jahrzehnte konnte so sein Nachlass aufgearbeitet werden. Auf dieser Grundlage basiert die erste deutsche Werkausgabe, die in der Übersetzung von Beate Rausch und Alexander Nitzberg Charms nicht nur als Meister des Satirisch-Grotesken und Absurden, sondern auch als großartigen Sprachartisten und urkomischen Nonsens-Künstler neu entdeckt, ein russisches Gegenstück zu Ringelnatz. Charms' Figuren stolpern durch die Idiotie ihres Alltags, fallen oder lösen sich gar auf. Dabei trifft der kafkaeske Nonsens, der in der Diktatur als ein verzerrtes Abbild der Wirklichkeit gelesen wurde, mitten hinein in das allgemein Menschliche. Die vorliegende Werkausgabe ist die bei Weitem umfassendste Sammlung von Charms' Texten in deutscher Sprache und bietet vieles erstmals in deutscher Übersetzung.
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Seitenzahl: 130
Veröffentlichungsjahr: 2010
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Selbstportrait von Daniil Charms 1930er Jahre
Willkommen
Ihr Freunde, seid willkommen hier!
Vertreibt mit uns die Langeweile.
Ihr Freunde, auf,
im schnellen Lauf!
Ihr Freunde, seid willkommen hier!
Ihr Freunde, eilt zu uns, denn wir
vertreiben eure Langeweile!
Ihr Freunde, lauft zu uns in Eile
und, Freunde, seid willkommen hier!
Daniil Charms
Inhalt
1. Zaubertricks. Frühe Gedichte 9
2. Sieben Zehntel eines Kopfs. Gemischte Gedichte 27
3. Freundeskreis der Kammermusik. An oder über Freunde 53
4. Eine Million. Kindergedichte 67
5. Leningrader Massen. Reklamegedichte 91
6. Unser schönes neues Land. Agitprop-Gedichte 99
7. Märschen. Kurz- und Kürzestgedichte 113
8. Den Mond bewohnen. Naturgedichte 129
9. Einen Teepott fraß mein Schatz. Verliebte Gedichte 149
10. Der wollüstige Holzfäller. Erotische Gedichte 175
11. Ein schrecklicher Tod. Balladen und Moritaten 191
12. Ein θysiker, der sich das Bein verrenkte. Philosophische Gedichte 221
13. Gott das bin ich. Gebete und Meditationen 243
14. Krepier. Von Greisen und Weltuntergängen 263
15. Der erbärmlichste Mensch auf Erden. Verzweifelte Gedichte 273
Nachwort des Herausgebers 286
Text- und Bildnachweis, Dank 303
Verzeichnis aller Gedichte dieses Bandes mit russischen Originaltiteln 304
[Menü]
1. Zaubertricks. Frühe Gedichte
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An einem Sommertag im Juli
bei einer Hitze zum Ersticken
laufen zwei Brüder durch die Schwüle
und eine dicke Sau erblicken.
»Siehst du die Sau dort auf der Wiese
spazierengehen?«, bemerkt der eine.
»Von ihrer Dicke her ist diese
ganz unser Vater, wie ich meine.«
Der andre sagt: »Was soll das Theater?
Du kommst auf seltsame Ideen!
So eine Sau wie unsern Vater
hab ich zeit meines Lebens noch nicht
gesehen.«
<1922>
Traditionell gilt dieses Gedicht als das erste handschriftlich überlieferte Werk des jungen Charms. Erst seit Kurzem steht jedoch fest, dass es in Wirklichkeit aus der Feder des humoristischen Dichters Alexej Iwanow-Klassik (1841–1894) stammt und vom siebzehnjährigen Charms fehlerhaft abgeschrieben ist (offenbar aus dem Gedächtnis). Dadurch kommen einige rhythmische Holprigkeiten zustande, insbesondere die missratene letzte Zeile. Oder bedient sich Charms bereits hier der für ihn später so typischen Persiflage-Technik?
schicken den Tataren Pluderhose schwenkende
und Knicks und Polka Walzer Pauk
sind schon bald die Gockel Kickapoo verschenkende
und ricki-ticki-ricki-ticki Finger in den Bauch
<Anfang 1923>
Dieses sehr frühe, möglicherweise sogar tatsächlich erste Charms-Gedicht ist von seiner Klassenkameradin Natalia Segschda mündlich überliefert.
[Menü]
Kupferlied …
Pfote, schlag den Topf voll Kupfer,
von der Wand zwei Tropfen tupfen,
hupfen hupfen
und entschlupfen.
Horden roter Kakerlaken
laufen fort und schlagen Haken –
fort von hier,
vom Glas Bier.
Und du blinzelst in die Ferne,
lächelst an die weiten Sterne,
eckelst an der nächsten Ecke,
streifst mit schiefem Blick die Decke.
Aufgenäht entzündet sich die Backe,
und das bleiche Licht verglüht …
Feuerfarbne Kakerlake
rotes Kupferlied.
Daniel
<1924>
Das erste handschriftlich überlieferte Originalgedicht von Charms. Es arbeitet mit futuristisch anmutenden Rhythmen und Neologismen. Daniel: In lateinischen Lettern schreibt Charms seinen Vornamen immer nur als »Daniel«.
[Menü]
Epigramm an den Vater
meine Gedichte Papa mussten
dir vorgekommen sein wie Husten
deine Gedichte sind ganz sicher
gehobener doch icher kicher
<1925>
Auch im Russischen endet das Gedicht mit der ulkig wirkenden zaum’-Floskel »šišel vyšel«.
Von Dannil Charms erfundene Elemente des Alphabets . 1920er Jahre
[Menü]
Klitschgew. (Esther)
also spricht klein Michael
sein Mundwerk ist lose
– hichila kichila
ich trag eine Hose –
undu machs ihm
finz fanz funz
b m paxim
funz fanz finz
I-a I-a Y-a
N N N
ich putzte hia
N N N
dripp schripp bobu
dschin dschen baba
pitsch patsch – wunderbar –
gips schon Mama!
hia hastu hichila!
finz fanz funz
stex ein kichila!
funz fanz finz
SCHLUSS
<1925>
Wie im vorigen Gedicht finden sich hier mehrere zaum’-Elemente (»šišilja kišilja« etc.) und auch erotisch konnotierte Versatzstücke aus der Kindersprache. Die Widmung ist auch im Original auf Deutsch. Esther Russakowa (1909?–1943?) ist die erste Ehefrau von Charms. Die Formel »Schluss« am Ende des Gedichts wird vom Autor oft verwendet und kann als sein »Markenzeichen« gelten.
[Menü]
Ein Vorfall an der Eisenbahn
einmal winkte kurz die Oma
da servierte gleich die Lok
für die Kinderchen und sprach
trinkt den Brei und diese Truhe
morgens gingen Kinder weg
setzten sich auf einen Zaun
und sie sprachen da der Rappe
arbeite ich werde nicht
auch die Mascha ist ganz anders
wie Sie wollen kann es sein
lecken wir das feine Santkorn
das der Himmel auszudrücken
und ihr steigt am Bahnhov aus
sei gegrüßt Georgien
doch wie sollen wir nun fort
und vorbei an diesem Großen
nicht dem Gitter ach ihr Kinder
wuchs die Paleandra hoch
und die Wagen überfliegend
hat den Falschen abgeputzt
der die Quappe voller Schrecken
eingezäumt von sieben Büffeln
nahm das Geld aus seiner Tasche
Geld das gräulich im Gesicht
also ist es weiter schmorten
alle Suppen sprach die Tante
alles Zeisig sprach der Leichnam
selbst der Leib sich niedersenkte
zwitscherte so liebenswürdig
doch dafür ein wenig öde
so als ob es rückwärtsgeht
Kinder waren in der Messe
auf die Schultern überziehend
lief das Mäuschen in die Schürze
und zerriss der Schultern zwei
an der Schwelle wiederholte
die Georgjerin gestreckt
unterm Berge wühlten Finger
des Georgiers im Dreck
<1926>
Veröffentlicht im »Almanach des Allrussischen Dichterverbands«, 1926. Einer der beiden zu Lebzeiten publizierten »Erwachsenentexte« von Charms. Das Nonsens-Gedicht verwendet stellenweise eigenwillige Orthografie (siehe Nachwort).
Kerze mach das Dunkel hell
Weihrauch ums Gesicht gestemmt
alle Bläschen werden grell
auf des Flüchtlings Leinenhemd
<1926>
als Honigkuchen rennt das Pferd
während der Weg den Wald nicht quert
drum kann es nicht als Knospe kreisen
das unheilvolle Fass zerreißen
<1926–27?>
leise fiel die Fichte um
in die grenzenlose Wiese
überm Berge schrie ein Fass
ohne Schmerzen und Bewegung
rannte Peter auf den Schienen
der wie ein Schakal erschienen
<1927>
das Gesicht des Rachitikers ist nicht
fremd mir
hinter den Ohren seltsam scheut’s
des verdatterten Mundes Scherbe
niederkniend vor einem Kreuz
der Augapfel allmählich schwellend
ab wendet sich das Gesicht
wird langsam gezeugt
<1927>
die Lippen brannten Stunde täglich
das Oiter streunte auf der Brust
er wich zur Seite blies beständig
und auf dem salzgen Ufer dort
schon ist er weg als taube Fische
im Netz erwachten erst der Kopf
dann Zunge Schulter Hand und
<unleserlich>
<1927>
[Menü]
Zaubertricks
bei uns hier ist auf hölzerner Stange
im Frack ein Kuckuck aufgestellt
welcher ein Tuch mit roter Wange
in seiner Schuppenhand hält
uns packt der Oma leise Wehmut
wir schaun nach vorn mit offnem Mund
auf diesen goldgewirkten Schemel
und kriegen alle Angst zur Stund
von Angst getrieben tut Herr Lehnert
die Taschenuhr woanders hin
es sitzt ganz in verkürzten Sehnen
die Tattergreisin Frau Gmelin
Maria durch das θenster blickend
freut sich bewegt das Raubtierbein
badet im kalten Schweiß und wickelt
sich selber in Chinchillapelzchen ein
die Stirn wie ein Gebet erhaben
kommt aus dem Schrank ein Kürassierer
er war ein Gärtner schon als Knabe
sein Freund ist der Rasierer
er hat vergessen seine Zahl
er hat ein Huhn ins Maul geklemmt
Herr Lehnert sinkt immer mehr zu Tal
die Leber jagt von Hemd zu Hemd
doch Frau Gmelin ist streng fürwahr
will jedem ihren Nacken zeigen
aus dem sogleich ein Hörnerpaar
und hundertvierzehn Flaschen steigen
Maria sitzt und pfeift gewandt
im Schlips als Vogel durch die Hand
verschämt in Felle eingehüllt
und mit der Brust den Liebsten stillt
der Kuckuck neigt sich auf der Stange
und grinst wie eine kleine Schlange
und stellt sich auf die Beine munter
Maria hält das für ein Wunder
Verwunderung durchzuckt Marien
und wie ein Teller muss sie fliehen
<1927>
[Menü]
2. Sieben Zehntel eines Kopfs. Gemischte Gedichte
[Menü]
bin das Genie vom Flammenwort
der Herr über Gedankenfreiheit
der Fürst der Schönheit ohne Sinn
der Gott der Höh die längst dahin
der Herr über Gedankenfreiheit
der hellen Freuden Wunderhort
und rede ich zum Volke dort
erstarrt das Volk gleich einem Vogel
und wie um einen Pfahl herum
so steht das Volk um mich ganz stumm
das Volk erstarrt gleich einem Vogel
ich fege es wie Staub hinfort
<1935>
woher komm ich?warum steh ich hier?was seh ich?wo bin ich denn?
gut dann will ich mit zehn Fingern alle Gegenstände zähln
(zählt mit den Fingern)
Hocker Beistelltischchen Tonne
Kachelofen Kuckuck Wanne
Ball Besen Kleidertruhe
Hemd Eisenschmiede Flöhe
Tür am Scharnier
Quasten am Tuch insgesamt vier
Holzstock am Besen drangemacht
Knöpfe am Dach insgesamt acht
<1929>
In der letzten Strophe arbeitet Charms mit dissonanten Reimen, wie »bocˇka« / »pecˇka« (in der Übersetzung »Tonne« / »Wanne«, »Truhe« / »Flöhe«).
grüß dich Tisch
seit wie vielen Jahren stützest du meine
Lampe und Bücher
auch manch eine farbige Frikadelle
ich ging unter dir hindurch mit stolz
erhobenem Haupt
aufsammelnd die Pelzchen gedanklicher
Käfer
was hat dich oh Rasender angestoßen
all das zu Boden zu schleudern
was ein Mensch deinem Sachverstand
anvertraute
bleib stehn du hölzerner Schuft
<1931>
Autograf von Daniil Charms >>Notensehe<< 1930er Jahre
Noten sehe
sehe Nacht
sehe Lilie gelacht
Herz & Co Kuss
oder nicht
Hokus Pokus
oder doch
<1933>
Die Übertragung dieses Nonsens-Gedichts bemüht sich nicht nur um eine ungefähre Wiedergabe der Bedeutungen, sondern auch um größtmögliche klangliche Nähe zum Original. »sehe Lilie gelacht«: im Russischen: »vižu liliju durak« (wörtlich: »<ich> sehe <die> Lilie Dummkopf«). Der artistisch gefärbte Kontext legt jedoch nahe, das Wort »durak« (»Dummkopf«) mehr im Sinne von »Narr« oder »Clown« aufzufassen, was hier mit »gelacht« angedeutet wird. »Herz & Co Kuss«: auf Russisch: »serd[c]e kokus« (wörtlich: »das Herz ist ein caucus«, vom Englischen »caucus«, Gemeinschaft).
Krüger, fällt dem Poeten ins Wort:
Genug! Mich plagt Ihr stumm Geschwätze.
Und auch das Volk, Ihr Publikum,
vernimmt die sinnentleerten Sätze,
lebt aber doch verkehrt herum.
Ist dies zu loben? Nein, zu schmähen!
Denn es gereicht uns nicht zum Heil.
Dem Volk die Köpfe zu verdrehen!
Welch Schande! … Lies den zweiten Teil.
Der Poet, zerschmettert die Taschenuhr am Boden:
Zeitgerät, zur Hölle fahr!
Du, Minutenlauf halt ein!
Was ich noch vor Kurzem war,
will ich weiter werden sein.
War ein Handschuh nach Belieben,
war ein Ochse, war ein Ball,
wurde hin und her getrieben
durch die Luft, zum Platzen prall.
Zeitgerät, zur Hölle fahr!
Du, Minutenlauf halt ein!
Was ich noch vor Kurzem war,
will ich weiter werden sein.
War ein Handschuh nach Belieben,
war ein Ochse, war ein Ball,
wurde hin und her getrieben
durch die Luft, zum Platzen prall.
<1937–1938>
Charms greift die Puschkin’sche Klassik auf (hier mit pathetischen, quasi patriotischen Ausrufen), lässt den Sinn jedoch immer wieder ins Absurde abgleiten: »lebt aber doch verkehrt herum« (»stremitsja žit’ naoborot«) oder: »will ich weiter werden sein« (»Tem i dal’še budu byt’«).
so ein Mensch ist aus drei Teilen gemacht
drei Teilen gemacht
drei Teilen gemacht
he ullalah
drümm drümm tu tu
drei Teile und schon ein Mensch
ein Bart ein Aug fünfzehnmal die Hand
fünfzehnmal die Hand
fünfzehnmal die Hand
he ullalah
drümm drümm tu tu
und eine Rippe dazu
von wegen die Hand gleich fünfzehnmal
gleich fünfzehnmal
gleich fünfzehnmal
he ullalah
drümm drümm tu tu
fünfzehnmal aber nicht die Hand
<1930>
[Menü]
<Gestrichene Strophen>
*
und vor und zurück auf der Stelle stopp
auf der Stelle stopp
auf der Stelle stopp
he ullalah
drümm drümm tu tu
auf der Stelle Stopp so ein Mensch
aus drei Teilen ist der Kaspar gemacht
der Kaspar gemacht
der Kaspar gemacht
he ullalah
drümm drümm tu tu
der Kaspar gemacht so ein Mensch
*
dabei geht es mir um was anderes
um was anderes
um was anderes
he ullalah
drümm drümm tu tu
es geht um was anderes
von wegen die Rippe gleich fünfzehnmal
gleich fünfzehnmal
gleich fünfzehnmal
he ullalah
drümm drümm tu tu
fünfzehnmal aber die hier nicht
sie zu brechen ist doch ein Kinderspiel
ein Kinderspiel
ein Kinderspiel
he ullalah
drümm drümm tu tu
ein Kinderspiel mit der Axt
sondern jene die nicht zu brechen ist
zu brechen ist
zu brechen ist
he ullalah
drümm drümm tu tu
zu brechen ist mit der Axt
Teile, die in der ursprünglichen Fassung des vorigen Gedichts zwischen der ersten und der zweiten beziehungsweise der zweiten und der dritten Strophe stehen.
Einst planten drei Architekten
einen Tempel, der lustig ist.
Es sammelten vier Architekten
Klötzchen und sonstigen Mist.
Den Architekten umgaben fünf zerstreute
Wasser schleppende Zimmerleute.
<1930>
im Holzschrank meine Mutter stand
darauf hing ein Jackett
ich aber hockte wie gebannt
und barg im Geist ein Bett
mit einem Mal das Neujahr kommt
der erste Januar auch
schon legt sich mir ich fühl es prompt
ein Ruder auf den Bauch
<1930>
Fischardt sagt: Ich bin kein Wal,
bitte dies zu respektieren.
Liegt am Ofen. Lasst mich mal,
denkt er knarrend, kurz krepieren.
Liegt und stirbt. Und Schlatter schreit:
Fischardt ist ein Stuhl. Und Velten
zetert laut und klagt sein Leid
vor dem Leichnam. Das ist selten.
Viele lange Nächte liegen
Witwen schlaflos ohne Mann.
Schädel neigen nicht zur Wiege,
heitre Launen treiben an.
Die Laune einer Witwe:
Tja Leute,
war eben beim Standesamt,
landete jedoch durch den Hintereingang
in der Küche.
In der Küche weißer Tank
hat geköchelt pank pank.
<1930>
ist das wirklich nur ein Plan
sagte Cyprianus traurig
ist das wirklich nur ein θlan
Schustermann der sagte ops
über seinen Schultern schwebten
sieben Zehntel eines Kopfs
Cyprianus brummte stracks
diesen Schneeglock sollt ihr schonen
bin ein Sohn des Siegellacks
an die Bullen vor dem Kai
wurde ich einst festgenagelt
plötzlich brach das Blech entzwei
Schustermann bemerkte o
schob die Lampe unters Bett
ich bin ganz gewiss nicht so
Plapperei Komplott komplett
alles gleich dem Steppenkraut
schrie die Mutter im Falsett
Schustermann der sagte ops
über seinen Schultern schwebten
sieben Zehntel eines Kopfs
seine Gattin kam herein
unter ihrem Kinn ein Gockel
Stiefel kleideten das Bein
Schustermann der sprach gi gi
achte bloß auf die Gesundheit
denk an Badetücher nie
vor dem Fenster klatschten Winde Musselin
doch schon trat aus der Kommode
das Karnickel Kerosin
Cyprianus sprach pu pu
und auf einmal sahen alle
Weizenmehl an seinem Schuh
Schustermann der sagte ops
über seinen Schultern schwebten
sieben Zehntel eines Kopfs
und die Mutter sprach wa wa
doch statt ihrer beiden Arme
hingen blaue Ärmel da
und die Gattin sagte min
und auf einmal sahen alle
diesen Gockel unterm Kinn
<1930>
»vor dem Fenster klatschten Winde Musselin« (»za okoškom chlopal veter parusin«): Auch im Original wechselt das Metrum kurzfristig zum sechshebigen Trochäus.
[Menü]
Das Dampfbad
Das Dampfbad ist ein widerlicher Ort.
Im Dampfbad laufen Menschen ohne Kleidung.
Und ohne Kleidung laufen, ist für Menschen
ungewohnt.
Doch haben sie im Dampfbad keine Zeit, dies zu
bedenken:
Sie müssen sich beeilen, mit dem Bastwisch ihre
Bäuche abzureiben,
ihre Achseln einzuseifen.
Überall nackte Fersen,
nasse Haare.
Im Dampfbad riecht es nach Urin.
Die Besen peitschen die poröse Haut.
Der Bottich mit dem Seifenwasser
ist Gegenstand des kollektiven Neides.
Ganz nackte Menschen treten sich mit Füßen,
bemüht, dem Nachbarn ihre Ferse gegen das Kinn
zu rammen.
Im Dampfbad kennen Menschen keine Scham,
und keiner wünscht, dem anderen zu gefallen.
Und alles schaut heraus:
der fette Wanst genauso
wie die krummen Beine.
Und Menschen huschen vorgebeugt,
glauben, es hätte irgendwie mehr Anstand.
Aus gutem Grund hielt man in früheren Zeiten
das Dampfbad für ein Bethaus finstrer Mächte.
Auch mag ich keine öffentlichen Plätze,
wo Mann und Frau getrennt sind.
Selbst eine Straßenbahn ist besser als ein Dampfbad.
<1934>
Der Weinpokal erschallt,