Wir müssen reden, bevor es zu spät ist - Yassir Eric - E-Book

Wir müssen reden, bevor es zu spät ist E-Book

Yassir Eric

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Beschreibung

Yassir Eric war Islamist. Heute ist er Christ und engagiert sich in Integrationsprojekten. Seit über 20 Jahren lebt er in Deutschland. Als Migrant weiß er aus eigener Erfahrung: Sprachkurse allein reichen für eine gelungene Integration nicht aus. Als evangelischer Theologe möchte Yassir Eric ein Brückenbauer zwischen den Religionen und Kulturen sein. Dazu anregen, über Glauben und Werte zu sprechen, die uns wichtig sind. Auch als Messlatte für ein gelingendes Miteinander. Seit den jüngsten Entwicklungen in Afghanistan ist das Thema »Radikaler Islam« wieder verstärkt in den öffentlichen Fokus gerückt. Wächst am Hindukusch eine neue Bedrohung heran? Und ist sie nicht längst da? Auch hierzulande reißen die Nachrichten über religiös motivierte Gewalttaten nicht ab. »Wir müssen reden, bevor es zu spät ist«, sagt Yassir Eric mit Blick auf eine aus seiner Sicht dringend notwendige aber auch sachliche Islam-Debatte. Denn nur so können Islamismus und Extremismus bekämpft werden. Es darf nicht sein, dass aus religiöser Überzeugung Menschen verletzt werden oder ihr Leben lassen müssen! Und genauso wenig darf es sein, dass durch Taten einzelner Extremisten ein Fremdenhass entsteht oder verschärft wird, der unschuldigen Musliminnen und Muslimen oder Migrantinnen und Migranten allgemein schadet. Yassir Eric weiß genau, worum es geht. Als Kind wuchs er in einer strenggläubigen Familie eines führenden arabischen Clans im Sudan auf. Zwei Jahre verbrachte er in einer Koranschule, wo ihm ein tiefer Hass gegenüber Christen und Juden vermittelt wurde – dieser gipfelte in dem Versuch, mit Freunden einen christlichen Mitschüler umzubringen. Eric ist Christ geworden. Deswegen wurde er von seinem Vater verstoßen. »Das ist lange her. Ich habe seitdem viel gelernt über das Miteinander von Christen und Muslimen, aber auch über falsch verstandene Toleranz gegenüber denen, die viele Werte, die uns in der westlichen Welt wichtig sind, mit Füßen treten«, sagt Yassir Eric und ergänzt: »Glaube per se ist kein Integrationshindernis. Doch manchmal stehen religiöse Überzeugungen im Gegensatz zu unseren Werten – und darüber müssen wir reden. Alles Bemühen, damit Menschen in unserer Gesellschaft ankommen, ist nur Stückwerk, wenn wir nicht über Werte und Einstellungen ins Gespräch kommen, die eine Integration verhindern können.« Doch auch die Aufnahmegesellschaft ist gefragt: Sie muss sich auf ihre Werte und Ideale besinnen, für sie einstehen und Integration aktiv gestalten. Denn nur wer selbst Orientierung hat, kann Orientierung geben, ist Eric überzeugt. Es ist noch nicht zu spät, aufeinander zuzugehen und gemeinsam die Gesellschaft zu gestalten. Und es lohnt sich: Denn es geht um nicht weniger als um unsere gemeinsame Zukunft. »Andersgläubigen trete ich mit Wertschätzung gegenüber«, betont Eric. »Und gerade deshalb scheue ich nicht davor zurück, in diesem Buch meinen Finger in manche Wunden zu legen: Wir müssen Denkblockaden beiseiteschieben und über alles reden, was Menschen daran hindert, mental in unserem Land anzukommen. Auch wenn das bedeutet, dass manche gängige Interpretation des Islams hinterfragt wird. Wenn wir das nicht machen, scheitern alle Integrationsbemühungen – es entstehen Parallelgesellschaften, die kaum etwas miteinander zu tun haben.«

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Yassir Eric

Judith Kubitscheck

Wir müssen reden, bevor es zu spät ist

Über radikalen Islam, Integration und unsere Ideale

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Der im Sudan geborene Autor Yassir Eric – einst vom radikalen Islam zum Christentum konvertiert – fordert eine sachliche Islamdebatte in Politik und Gesellschaft, ohne jegliches Tabu. Er ist überzeugt: Integration bleibt Stückwerk, wenn wir nicht die Einstellungen und Prägungen thematisieren, die Menschen daran hindern, auch mental hier anzukommen. Dabei dürfen wir insbesondere die Rolle der Religion nicht unterschätzen. Denn manche religiösen Überzeugungen stehen im Gegensatz zu unseren Werten – und darüber müssen wir reden.

 

»Wäre ich damals als junger, radikaler Muslim nach Deutschland gekommen, wäre meine Integration gescheitert. Denn ich hätte mich überhaupt nicht integrieren wollen. Um diese Gesellschaft und ihre Werte bejahen zu können, musste ich komplett umdenken.«

 

Yassir Eric

 

 

 

Aus Verständlichkeitsgründen verwendet der Autor durchgehend das generische Maskulin bei Personenbezeichnungen. Selbstverständlich sind dabei immer auch Frauen mitgemeint.

Inhaltsübersicht

Motto

Prolog

Die unterschätzte Rolle der Religion

1. Integration ist mehr als Deutsch lernen

Es braucht Selbstreflexion im Denken der Einwanderer

Es braucht Veränderung im Denken der Einheimischen

Das Verhältnis des Staates zur Religion

2. Gesellschaftliche Polarisierung überwinden wir, indem wir sachlich und ohne jegliches Tabu miteinander reden

Diskriminierung und Rassismus

Woher kommst du?

3. Kritik am Koran und dem islamischen Propheten dürfen kein Tabu sein

Umgang mit Kritik am Koran

Umgang mit Kritik an Muhammad und Blasphemie

Islamkritik oder Islamophobie?

4. Radikalisierung und Gewalt

Heilige Schriften: Wenn Gewaltverse als ewig gültig gelten

Meine persönliche Radikalisierung

»Der Attentäter befand sich in einer psychischen Ausnahmesituation«

»Das hat doch nichts mit dem Islam zu tun«

»Gewalt gibt es in allen Religionen« – eine Anmerkung zu den Kreuzzügen

Hauptleidtragende sind die Muslime selbst

5. Alltagskonflikte, die es gar nicht geben müsste

Ramadanfasten

Islamisches Ritualgebet und Gebetsräume

Kopftuch bei Kindern

Kinderehe: Wenn kulturelle Tradition zum »Dogma« wird

6. Kulturelle Barrieren, die das Zusammenleben erschweren

Was ist uns wichtig? Individuelle Freiheit oder das Interesse der Gruppe?

Wie treffen wir Entscheidungen? Allein oder als Familie?

Wie erlangen wir gesellschaftliches Ansehen? Woran machen wir Erfolg fest?

Welchen Stellenwert haben Freundschaften?

Wie gehen wir mit Konflikten um?

Wofür nehmen wir uns Zeit?

Planen wir langfristig oder spontan?

Typisch deutsch – zentrale Kulturstandards

7. Meine Idee eines Deutschlandführerscheins

Erster Schritt: Informationskampagne bereits im Herkunftsland

Zweiter Schritt: Klare Ansagen bei der Ankunft und Rechtsstaatsunterricht

Dritter Schritt: Integrationskurse mit Hospitation, Praktikum und Ehrenamt ergänzen

Vierter Schritt: Ausbau der Kitas zu Familienzentren und verpflichtende Ganztagsschulen

8. Religiöse Absonderung, Nationalismus und Parallelgesellschaften

Religiös motivierte Abschottung: Mehr Loyalität zur muslimischen Gemeinschaft als zur nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaft

Der Clan: Mehr Loyalität zur Familie als zu staatlichen Gesetzen

Nationalismus: Größere Loyalität zum Herkunfts- als zum Aufnahmeland

Teufelskreis Parallelgesellschaften

Loyalität zu Deutschland fördern

9. Der politische Islam und sein Machtanspruch

Kriminalisierung von Homosexualität

Erniedrigung von Juden und Christen

Scharia oder Grundgesetz in Deutschland

Und täglich grüßt der Muezzin

Islamische Verbände mit Kirchen gleichstellen?

»Konferenz der Kulturen« statt Islamkonferenz

10. Die Außenpolitik und ihre Folgen

Bildung statt Radikalisierung

Tragödie in Afghanistan und Freiheitsrechte, nach denen niemand gefragt hat

Demokratie lässt sich nicht erzwingen

Es braucht eine Außenpolitik der Prinzipien

11. Grenzen der Integration

Die Grenzen des Sozialstaates

Die Grenzen innerer Sicherheit

Die Grenzen von Migration

12. Das Verhältnis von Christen und Muslimen

Den anderen in seinem Glauben verstehen wollen

Unterschiede aushalten: Abrahamische Ökumene und gemeinsames Gebet

Religionsfreiheit bei Konversion und Ehe thematisieren

Die Balance zwischen Liebe und Wahrheit

13. Muslimischer Antisemitismus

Antijudaismus im Koran

Antijudaismus in den Hadithen

Muhammads Zorn auf Juden

Der Nahostkonflikt, der den Judenhass befeuert

Antijudaismus unter christlichen Arabern

Warum sich muslimische Theologen schwertun, Antisemitismus aufzuarbeiten

14. Identität und Werte

Das Grundgesetz

Was uns zusammenhält

Reden mit Andersdenkenden

Problematisches Gruppendenken

Die Krankheit Unzufriedenheit

»Du kannst Hoffnung haben«

EpilogWir müssen reden …

Es ist nicht zu spät, …

Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland.3 Mose 19,33–34

Prolog

Anfang Oktober 2020 sticht in Dresden ein mehrfach vorbestrafter und als »Gefährder« eingestufter Syrer auf zwei Händchen haltende Touristen ein – der eine stirbt, der andere überlebt schwer verletzt. Die beiden Opfer lebten in einer eingetragenen Partnerschaft. Das Motiv des Täters, so die Anklage der Bundesanwaltschaft: Hass auf Ungläubige und Homosexuelle.1

Am 16. Oktober 2020 wird in einem Pariser Vorort der Mittelschullehrer Samuel Paty auf offener Straße enthauptet. Er hatte in seinem Unterricht Muhammad-Karikaturen gezeigt, weil er mit seinen Schülern über Meinungsfreiheit reden wollte – Grund genug für den 18-jährigen Täter, den Lehrer zu ermorden. Zwei Tage später dann eine weitere schreckliche Tat: Zwei aus Algerien stammende muslimische Frauen werden unter dem Eiffelturm niedergestochen und schwer verletzt. Sie hatten sich bei zwei Hundebesitzerinnen beschwert, dass deren Tiere nicht angeleint waren. Die mutmaßlichen französischen Täterinnen handelten wohl aus rassistischen Motiven: Sie beschimpften die beiden Frauen zuvor als »dreckige Araber«.

In Nizza wird am 29. Oktober eine Frau beim Beten in der Kirche Notre-Dame getötet, ebenso wie der Küster und eine weitere Frau. Der Täter ist ein tunesischer Migrant, der erst wenige Wochen zuvor über die italienische Insel Lampedusa nach Frankreich gekommen war.

Ein Monat, der es in sich hat. Gott sei Dank sind Anschläge dieser Art bisher noch Einzelfälle.

Aber sie sind eine große Bedrohung für die innere Sicherheit: Von den 15 durchgeführten, vereitelten und gescheiterten Anschlägen in Europa im Jahr 2021 wurden laut Europol elf dem dschihadistischen Bereich zugeordnet. Von den insgesamt 388 Festnahmen mit Verdacht auf Terrorismus in Europa im Jahr 2021 sollen 260 einen dschihadistischen Bezug haben.2

Menschen, die auf Werte wie Meinungsfreiheit und Menschenwürde pfeifen, begehen diese Taten, weil sie denken, dass diese Werte ihrem Glauben widersprechen. Aber es darf nicht sein, dass deshalb andere Menschen verletzt werden oder ihr Leben lassen müssen! Genauso wenig darf es sein, dass durch Taten solcher Extremisten Fremdenhass entsteht oder verstärkt wird, der allen Muslimen und Migranten schadet und ein friedliches Zusammenleben verhindert.

Deshalb müssen wir reden, bevor es zu spät ist. Und viel früher ansetzen als bei der Suche nach potenziellen »Gefährdern«. Jede Tat beginnt im Kopf. Es ist nötig, über die ideologischen Grundlagen zu sprechen, über die scheinbar »kleinen« abwertenden Gedanken, die zu Hass und Gewalt führen können. Gedanken, die abgrenzen und abwerten, sind nicht harmlos.

Wenn wir nicht die Konflikte angehen, die bereits in unserer Gesellschaft schwelen, dann werden wir auch in Zukunft immer wieder solche erschütternden Schlagzeilen lesen müssen. Wir haben also keine Wahl: Entweder wir gehen offensichtliche Probleme an, oder lassen ihnen ihren Lauf, sodass wir spätestens dann über sie reden müssen, wenn sie sich ereignet haben.

Ich weiß, wovon ich rede. Denn ich wuchs selbst in einer strenggläubigen Familie eines führenden arabischen Clans im Sudan auf. Zwei Jahre verbrachte ich in einer Koranschule, in der ich einen tiefen Hass gegenüber Christen und Juden eingeimpft bekam. Dieser gipfelte darin, dass ich versuchte, gemeinsam mit Freunden einen christlichen Mitschüler umzubringen, nur deshalb, weil er ein Andersgläubiger war. Ich habe erlebt, wie mich mein Vater verstoßen hat, wie ich die Familie verlassen musste, nur weil ich mich später selbst für ein Leben als Christ entschieden habe. Weil ich dadurch unseren Clan entehrt und die Religion beleidigt habe. Das ist lange her. Ich habe seitdem viel gelernt über das Miteinander von Christen und Muslimen, aber auch über falsch verstandene Toleranz gegenüber denen, die unsere freiheitlichen Werte verachten.

Die unterschätzte Rolle der Religion

Seit mehr als 20 Jahren bin ich in Deutschland zu Hause. Obwohl ich mich inzwischen selbst als Leiter eines Instituts mit dem Thema Integration beschäftige, merke ich immer wieder an mir selbst: Meine kulturelle Prägung sitzt tiefer, als ich oft denke. Obwohl ich sehr gerne in Deutschland bin und dankbar, hier zu leben, fühle ich mich in meiner Wahlheimat manchmal noch immer fremd. Integration ist eben nicht erledigt, wenn ich Deutsch spreche. Nein, dann fängt Integration erst an. Wer bin ich denn nun? Ein Deutscher, der eben noch etwas Migrationsgeschichte mitbringt, oder vor allem ein eingewanderter Araber, der jetzt einen deutschen Pass besitzt?

Diese Spannung ist kein Widerspruch, sondern wird bei mir immer eine Realität bleiben, anders als bei meinem Sohn, der hier geboren und aufgewachsen ist. Es gibt Dinge in meinem Leben, die ich nicht so klar sortieren kann. Das Leben in zwei Kulturen ist eine unglaubliche Bereicherung. Aber es kann auch eine große Herausforderung sein. Das merke ich auch, wenn es um die Begleitung von Migranten geht. Mit vielen stehe ich in Kontakt und weiß: Selbst wenn man einen deutschen Pass besitzt, ist die Sache mit der Integration nicht erledigt: Manche, die bereits seit Jahrzehnten hier wohnen, sind innerlich immer noch nicht angekommen.

Wir Migranten haben zwei Dinge, die uns sehr wichtig sind: unsere Religion und unsere Kultur. Und mit Kultur meine ich nicht unser Essen oder unsere Musik, sondern das, was uns im Innersten prägt, was uns ausmacht, unsere Identität, unsere Werte und Normen. Auch wenn viele säkulare Menschen hierzulande mit Religion nur noch wenig anfangen können und diese als Privatsache gilt – für zahlreiche Migranten ist Religion nicht nur eine Facette ihres Lebens. Ihr Glaube durchdringt alle Lebensbereiche, er ist das Zentrum des Lebens. Diesen hohen Stellenwert der Religion, der oft eng mit der Kultur verbunden ist, unterschätzt die deutsche Mehrheitsgesellschaft meiner Ansicht nach häufig. Die allermeisten Migranten aus dem orientalischen Kulturkreis – egal ob Muslime oder Christen – sind religiös erzogen worden. Religiöse Prägungen sitzen sehr tief und haben starken Einfluss auf ihr Denken und Handeln. Das gilt auch für Menschen, die sich selbst als nicht allzu gläubig bezeichnen – die Prägung geschieht oft auch unterbewusst. Hinzu kommt, dass viele der Flüchtlinge hautnah religiöse Konflikte erlebt haben und für sie auch deshalb Religion eine völlig andere Rolle spielt als für jemanden aus Deutschland, der religiöse Konflikte nur aus dem Geschichtsbuch kennt. Wenn jemand aus dem Irak flieht, weil sein Vater von IS-Terroristen getötet wurde, oder wenn jemand in einer sunnitischen Widerstandsgruppe gegen Assad für seinen Glauben gekämpft hat oder vor dem türkischen Präsidenten Erdoğan geflohen ist, weil er Gülen-Anhänger ist, dann hat Religion für diesen Menschen einen großen Stellenwert und eine sprichwörtlich existenzielle Bedeutung. Das können wir als Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft zwar ignorieren, aber die damit verbundenen Themen werden unsere Gesellschaft dennoch beschäftigen.

 

Glaube per se ist kein Integrationshindernis. Doch manche religiösen Überzeugungen stehen im Gegensatz zu unseren Werten – und darüber müssen wir reden.

Alles Bemühen darum, dass Menschen in unserer Gesellschaft ankommen, ist und bleibt Stückwerk, wenn wir nicht über die Einstellungen und Prägungen reden, die Integration erschweren oder sogar unmöglich machen.

Als evangelischer Theologe möchte ich nicht die bereits bestehenden Gräben vertiefen, sondern ein Brückenbauer zwischen den Religionen sein und zwischen den Kulturen vermitteln. Mein Ansatz gegenüber Muslimen ist Wertschätzung und nicht Abrechnung. In jeder Muslima sehe ich meine Schwester, in jedem Muslim meinen Cousin oder meinen Vater, den ich so schmerzlich vermisse.

Und gerade deshalb scheue ich nicht davor zurück, in diesem Buch meinen Finger in einige Wunden zu legen: Wir müssen Denkblockaden beiseiteschieben und über alles reden, was Menschen daran hindert, mental hier anzukommen. Auch wenn das bedeutet, dass manche gängige Interpretation des Islams hinterfragt wird.

Wenn wir das nicht machen, scheitern alle Integrationsbemühungen – aus einem Miteinander wird ein Nebeneinander. Es entstehen Parallelgesellschaften, in denen Menschen leben, die kaum etwas verbindet, außer, dass sie im selben Land wohnen.

 

Dieses Buch soll keine wissenschaftliche Abhandlung sein, sondern will anregen, sich mit religiösen und kulturellen Integrationsblockaden zu beschäftigen und dadurch einen ehrlichen und ergebnisorientierten Dialog zu beginnen – ein Gespräch über Glauben und Werte, die uns wichtig sind. Nur so kann ein Miteinander gelingen, ein »Wir-Gefühl« entstehen.

Es könnte sein, dass manche der Fragen, die ich stelle, auch von Menschen mit ausländerfeindlicher oder muslimfeindlicher Gesinnung aufgegriffen werden. Deshalb sage ich an dieser Stelle klar, dass ich mit solchen Einstellungen nichts zu tun habe – im Gegenteil! Ich distanziere mich vehement davon.

Der entscheidende Unterschied: Jene sind grundsätzlich gegen Migranten beziehungsweise gegen den Islam. Mir jedoch geht es einzig und allein um Gedankengut, das nicht mit den Menschenrechten und dem Grundgesetz vereinbar ist und das unsere Gesellschaft zu spalten droht.

Ich sehe jeden Menschen als Ebenbild Gottes an – und ich wertschätze ihn.

Integration ist nicht nur ein Thema für Experten, sondern sie betrifft uns alle: Schließlich geht es um nicht weniger als um unsere gemeinsame Zukunft. Integration ist kein Kurzstreckenlauf, sondern ein Marathon. Lassen Sie uns loslaufen!

Themen, über die wir reden müssen

1. Integration ist mehr als Deutsch lernen

»Bitte erzähl mir von Europa!« – Immer, wenn mein Onkel von einer Geschäftsreise aus England oder der ehemaligen DDR zu uns nach Khartum zurückkam, drängte ich ihn dazu, mir von seinen Erlebnissen zu berichten. »Später, später«, sagte er dann in einem vielsagenden Ton und wartete, bis mein Vater aus dem Zimmer ging und wir allein waren. Dann schloss er die Tür und erzählte mir Geschichten von der fernen westlichen Welt, die so völlig anders war als das Leben im Sudan und als alles, was ich damals als Jugendlicher für selbstverständlich hielt. Davon, dass sich dort Pärchen in aller Öffentlichkeit auf der Straße küssen, in jedem Supermarkt Alkohol verkauft wird, Männer und Frauen unbekleidet zusammen in Saunen schwitzen und es in Rotlichtvierteln ganze Straßen voller Bordelle gibt.

Durch die Erzählungen meines Onkels sowie meine religiöse und kulturelle Prägung entstand in mir ein sehr negatives Bild des »dekadenten Westens«. Ich schaute auf die westliche Gesellschaft herab und fühlte mich moralisch überlegen. Zugleich war ich von den wohlhabenden, besser entwickelten Industrieländern des Westens fasziniert und wäre gerne selbst dorthin gereist.

Wenn ich mit meiner damaligen Einstellung nach Deutschland gekommen wäre, hätte ich große Schwierigkeiten gehabt, hier anzukommen. Bereits am Anfang, wenn ich in die Flüchtlingsunterkunft gekommen wäre, hätten meine Probleme begonnen. Ich stelle mir vor, wie ich als arabischsprachiger sunnitischer Muslim vielleicht mein Zimmer mit einem schiitischen Muslim aus dem Iran hätte teilen müssen oder einem Türken, dessen Vorfahren uns Araber kolonialisiert haben. Oder noch schlimmer: einem christlichen Südsudanesen, den ich in meiner Heimat bekämpft habe. Das wäre eine enorme Zumutung und Herausforderung für mich gewesen.

Meine ersten Kontakte mit der Mehrheitsgesellschaft wären mir wohl auch nicht leichtgefallen: Sehr gewöhnungsbedürftig wäre für mich als streng konservativ sozialisierter, muslimischer Mann ein Integrationskurs gewesen, in dem eine Frau unterrichtet.

Wahrscheinlich hätte ich mich innerlich, aber auch äußerlich von der deutschen Gesellschaft abgegrenzt und mir eine arabischsprachige Moschee gesucht, mit einem Imam, der eine ähnliche Prägung hat wie ich. Diese hätte ich so oft wie möglich besucht und mich dort mit meinen Glaubensgeschwistern getroffen. Der Weg in die Parallelgesellschaft wäre einfach der bequemste gewesen. Berührungspunkte mit der Mehrheitsgesellschaft hätte es kaum gegeben.

Außerdem hätte meine Familie, die keine Ahnung von dieser Gesellschaft und diesem Leben hat, mich durch Videoanrufe kontrolliert. Die arabischsprachigen Satellitenfernsehsender hätten das Ihre dazu beigetragen, dass ich mental in meiner ursprünglichen Welt geblieben wäre.

Eine Einladung der deutschen Nachbarsfamilie hätte mich verunsichert und auch etwas gestresst, weil ich nicht gewusst hätte, was mich erwartet: Sind die Wohnzimmer geschlechtergetrennt? Ist das Essen halal, also nach islamischen Vorgaben zubereitet? Soll ich bei der Begrüßung tatsächlich einer Frau die Hand geben und ihr dabei in die Augen schauen? Ist es in Deutschland üblich, die Schuhe vor der Tür auszuziehen? Und: Gibt es auf der Toilette nur Klopapier oder auch Wasser, das ich zur Reinigung verwenden kann?

Nicht jeder Migrant ist so sozialisiert, wie ich es damals war. Aber zahlreiche Zugewanderte bringen ebenfalls kulturell-religiöse Hürden unterschiedlichster Art mit, die einer gelungenen Integration im Weg stehen. Diese kann man überwinden oder mit ihnen umgehen lernen – wenn man es will.

Wenn manche Deutsche denken, dass alle Migranten, die hierherkommen, viel aufzuholen und zu lernen haben, was die Emanzipation der Frau, den ungezwungenen Umgang der Geschlechter oder die Akzeptanz von Homosexualität angeht, irren sie sich. Erstens gibt es sehr wohl Menschen aus dem islamischen Kulturkreis, die mit diesen Themen überhaupt kein Problem und keinen »Aufholbedarf« haben. Andere sind genau deshalb nach Europa geflohen, weil sie diese Werte in ihrem Heimatland vermisst haben. Andererseits gibt es auch diejenigen, die ihre Einstellungen gar nicht ändern wollen. Aus meiner damaligen Sicht als konservativer Muslim und Anhänger der Muslimbrüder wäre es sogar andersherum gewesen: Ich wäre überzeugt gewesen, dass die Menschen hier von Werten des Islams und seiner Ethik profitieren können und deshalb nicht ich mich zu verändern habe, sondern diese Gesellschaft.

Obwohl Integration keine Assimilation ist und kaum jemand erwartet, dass alle Einwanderer Spätzle, Karneval oder Weizenbier mögen müssen: Jede Integration erfordert eine gewisse Anpassung. Und dieses kleine Maß an Assimilation sorgt bei vielen Menschen, die hierherkommen, für Bauchschmerzen. Ich bedauere, dass manche meiner muslimischen Freunde bei einigen Alltagsfragen in diesem Konflikt stehen – mein Glaube oder diese Kultur? Dies gilt es zu thematisieren.

 

Es braucht Selbstreflexion im Denken der Einwanderer

Viele Migranten haben sich ausgiebig darüber informiert, was die beste Route ist, um nach Deutschland zu kommen. Auch wenn sie gezwungen waren zu fliehen, haben sie sich bewusst dafür entschieden, nach Europa zu ziehen und dafür oft ihren gesamten Besitz Schleppern überlassen. Für viele war Deutschland das Traumland, das Ziel ihrer Reise. Aber nun, da sie hier wohnen, müssen sie sich darüber Gedanken machen, wie sie innerlich ankommen. In diese Überlegungen schließe ich mich ein: Wir selbst sind gefragt. Ein Integrationskurs bringt nichts, wenn die Bereitschaft fehlt, sich auch mental ganz auf die neue Umgebung einstellen und eigene Prägungen hinterfragen zu wollen. Jede Veränderung ist anstrengend, aber ich weiß: Der Aufwand, sich auf die neue Kultur einzulassen, lohnt sich.

Aber er verlangt ein hohes Maß an Selbstreflexion: Zwar verließen viele von uns ihre Heimat auch deshalb, weil sie sich in ihrem Land nicht entfalten konnten. Aber hier angekommen halten sie an manchen Verengungen und religiösen Denkweisen fest, die – wenn sie ehrlich sind – damals ein Fluchtgrund für sie waren. Sie litten zum Beispiel darunter, dass es keine Meinungsfreiheit gab – und fühlen sich nun verletzt, wenn ihre Kinder ihnen auch einmal widersprechen oder mit ihnen diskutieren. Statt dadurch die eigene Autorität infrage gestellt zu sehen, könnten sich Väter in solchen Situationen auch freuen, dass ihre Töchter und Söhne sich ihre eigenen Gedanken machen und eine eigene Meinung entwickeln. Sie beschwerten sich vielleicht, dass sie keine Chance hatten, sich in ihrem Herkunftsland politisch zu entfalten – aber anstatt in Deutschland politisch oder gesellschaftlich aktiv zu werden, diskutieren sie nur weiter über die politische Situation in Kairo oder Kabul, die sie hinter sich gelassen haben.

Viele bleiben in der Vergangenheit stecken, statt die Gegenwart anzugehen. Doch so werden sie keine bessere Zukunft gestalten.

Ich selbst komme aus einer Tradition, in der Frauen nur mit männlichen Verwandten das Haus verlassen dürfen und in der eine Frau die Ehre der Familie hochhalten muss. Ich habe mich von diesen Ansichten schon längst bewusst verabschiedet, aber ich muss immer wieder aufpassen, dass ich meine Töchter nicht überbeschütze, sondern ihnen die Freiheit gebe, die sie brauchen – auch wenn das vielleicht bedeutet, dass meine Zwillinge nach dem Abitur ein Jahr im Ausland ohne mich verbringen –, eine Vorstellung, die mir ehrlich gesagt immer noch schwerfällt. Mir ist wichtig, dass ich ihnen beibringe, wie sie verantwortungsvoll mit ihrer Freiheit als junge Erwachsene umgehen. Der Rest liegt sowieso nicht mehr in meiner, sondern in Gottes Hand.

Nur wenn ich selbstkritisch meine Werte hinterfrage, kann ich entscheiden, was ich meinen Kindern an Werten mitgeben will und wo ich in der Erziehung bewusst einen anderen Weg einschlage, als ich es selbst erlebt habe. Eine solche Reflexion ist für alle Eltern wichtig – aber besonders für Mütter und Väter, die zwischen zwei Kulturen vermitteln müssen.

Es braucht Veränderung im Denken der Einheimischen

Deutschland ist ein Einwanderungsland. Mehr als ein Viertel der Menschen in Deutschland – rund 22,3 Millionen – haben einen sogenannten Migrationshintergrund. Das bedeutet, sie selbst oder mindestens ein Elternteil besaßen nicht von Geburt an die deutsche Staatsangehörigkeit.3

Wenn eine Gesellschaft »Ja« zur Einwanderung sagt, bedeutet dies auch immer ein »Ja« zur Veränderung. In den 1960er-Jahren hat die damalige Bundesregierung Anwerbeabkommen vereinbart und sich damit bewusst entschieden, Gastarbeiter ins Land zu holen, was bis heute gesellschaftliche Konsequenzen hat. Migranten sind keine unbeschriebenen Blätter, sondern Menschen mit einer Geschichte und einer Prägung. Wenn sich ein Land dazu entscheidet, sie aus wirtschaftlichen oder humanitären Gründen aufzunehmen, ist damit auch die Pflicht verbunden, sich um die eingewanderten Menschen und ihre Bedürfnisse zu kümmern und klar zu kommunizieren, was man unter einer gelungenen Integration versteht.

Manche Einheimische fühlen sich überrumpelt von den fast zwei Millionen Migranten, die seit 2015 hierherkamen.

Eine Versicherungsgesellschaft hat 2021 Deutsche gefragt, was ihnen Angst macht. 43 Prozent der Befragten haben Angst vor »Spannungen durch Zuzug von Ausländern« und 45 Prozent vor »Überforderung des Staates durch Flüchtlinge«.4 Diese Ängste dürfen Politiker nicht ignorieren oder sie als unbegründet abwiegeln. Sie müssen ernst genommen werden, denn sie stehen dem entgegen, dass Migranten und die Mehrheitsgesellschaft zu einem Ganzen zusammenfinden.

Das Verhältnis des Staates zur Religion

Wenn ich mit Bundestagsabgeordneten über die Rolle der Religion bei Integrationsfragen rede, verweisen diese oft auf die Neutralität des Staates gegenüber der Religion nach dem Motto: Da dürfen wir uns als Politiker nicht einmischen.

Natürlich bin ich auch dafür, dass der Staat sich den Religionen gegenüber neutral verhält. Aber der Staat trägt auch eine Verantwortung für ein friedliches Zusammenleben. Spätestens wenn es zu religiös legitimierten Straftaten kommt oder die Ausübung der Religionsfreiheit mit anderen Grundrechten kollidiert – beispielsweise, wenn ein strenges Ramadanfasten von jüngeren Schülern das Kindeswohl verletzen kann und negative Auswirkungen auf deren Konzentration und Gesundheit hat –, kann und darf der Staat die Rolle der Religion nicht mehr ignorieren.

Ich bin froh, dass der deutsche Staat ein positives Verhältnis zur Religion hat und nicht wie Frankreich als laizistischer Staat diese aus dem öffentlichen Leben verbannt. Denn Religion ist ein Grundbedürfnis des Menschen, das nicht unterdrückt werden darf. Wenn der Staat sich in einer positiven Form einmischt und beispielsweise Religionsunterricht an Schulen und eine Ausbildung von Theologen an Universitäten erlaubt, erhält Religion ihren Platz in der Öffentlichkeit. Wo Religion aus der Öffentlichkeit verdrängt wird, hat der Staat keinen Einfluss mehr auf die religiösen Akteure, das religiöse Leben spielt sich in Hinterhöfen ab. Parallelgesellschaften werden befördert.

Alles, was zu einem guten Zusammenleben beiträgt, wie das soziale Engagement und das friedensfördernde Potenzial von Religion, sollten Regierungen unterstützen. Auf der anderen Seite sollten aber da klare Grenzen gezogen werden, wo religiöse Ansichten einem guten Miteinander im Wege stehen.

2. Gesellschaftliche Polarisierung überwinden wir, indem wir sachlich und ohne jegliches Tabu miteinander reden

Vor einiger Zeit hielt ich einen Vortrag vor europäischen Abgeordneten. Als Leiter eines Instituts für Islamfragen und Integration lag es nahe, dass ich genau über diese Themen sprach. Ich begann meine Rede damit, dass es meiner Erfahrung nach für Migranten nicht immer leicht ist, sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren – vor allem für Menschen, die aus mehrheitlich muslimischen Ländern kommen. Dies liege auch an den religiösen und kulturellen Unterschieden, sagte ich. Aber bevor ich überhaupt näher auf diese Unterschiede eingehen konnte, rief mir eine Abgeordnete zu: »Wir wussten gar nicht, dass wir einen Rechtspopulisten eingeladen haben!«

Durch diese Äußerung hatte ich den Eindruck, dass mich diese Parlamentarierin kurzerhand in eine Schublade gesteckt hatte. Es schien so, als würde ihre Meinung bereits feststehen. Eine sachliche Auseinandersetzung mit meinen Argumenten war für sie wohl nicht mehr nötig. Dürfen wir religiös oder kulturell begründete Probleme bei der Integration nicht ansprechen, weil das nicht in unser Weltbild passt? Das fände ich sehr bedenklich. Abgesehen davon ist es geradezu ironisch, mich als Migranten mit Fluchterfahrung als Rechtspopulisten zu bezeichnen. Ich, der ich tagtäglich kaum etwas anderes mache, als mich für die Integration von anderen Migranten einzusetzen. Aber dieses Erlebnis zeigt, wie sehr unsere Debattenkultur durch Denkverbote eingeschränkt wird.

Die Frage, wie man zum Islam steht, scheint die neue Gretchenfrage Europas zu sein. Dabei scheint es nur zwei Extreme zu geben: Entweder man hält alles, was mit dieser Religion zu tun hat, für bereichernd und gut. Oder man sieht im Islam ausschließlich eine Bedrohung der eigenen Kultur und Werte und ist überzeugt, dass sich der Islam nicht mit westlichen Werten vereinbaren lässt. Ich habe den Eindruck: Eine vermittelnde Position, wie ich sie versuche einzunehmen, die sich um das friedliche Zusammenleben der Kulturen und Religionen bemüht und sich dabei nicht scheut, problematische Dinge anzusprechen, ist bei Vorträgen und in Diskussionen oft nicht gefragt.

Wer den Islam kritisiert, auch wenn er dies auf eine konstruktive und respektvolle Weise macht, wird häufig als islamfeindlich, »islamophob«, oder – noch schärfer – als »antimuslimischer Rassist« bezeichnet. Anscheinend ein effektives Mittel, um Vertreter unliebsamer Meinungen zum Schweigen zu bringen. Dadurch wird der Spielraum für das, was öffentlich gesagt werden darf, eingeschränkt. Laut einer Allensbach-Umfrage sind 59 Prozent der Befragten der Meinung, dass es heikel sei, über Muslime beziehungsweise den Islam zu sprechen.5 Doch wenn man in der Öffentlichkeit nicht über heikle Themen spricht, heißt das nicht, dass die Probleme gelöst sind – sie gären im Verborgenen weiter. Und darüber gesprochen wird dennoch – wenn nicht offen, dann eben an Stammtischen oder in der Anonymität des Internets.

Ich finde es tragisch, dass wir in dieser Gesellschaft, die durch ihre Aufklärung und ihre Denker berühmt geworden ist, beim Islam und Integrationsfragen eine Tabuzone betreten und sachliche Diskussionen nur selten möglich sind. Es geht anscheinend nicht mehr um gute Argumente und um den Wunsch, Lösungen für Probleme zu finden, sondern allein um das Aufrechterhalten des eigenen Weltbildes.

Oft höre ich von Herkunftsdeutschen: »Du hast es gut, du kannst kritisch über Islamthemen reden, uns ist das nicht möglich.« Sie spielen damit auf meine Hautfarbe und meine sudanesische Herkunft an. Darf ich über bestimmte Themen nur sprechen, wenn ich dazu farblich und von meinem »Migrationshintergrund« her qualifiziert bin? Das wäre eine Katastrophe – und gegenüber allen anderen Menschen, die keinen Migrationshintergrund haben, sehr diskriminierend.

Einige Bundespolitiker sagten mir: »Mit Ihren Argumenten haben Sie ja recht, aber das können wir so nicht öffentlich sagen, diese Position vertreten auch Rechtspopulisten.« Heißt das, dass man Probleme nicht mehr ansprechen darf, aus Angst, dass man Beifall von der »falschen« Seite bekommt?

Ich bin mir sicher: Rechtspopulisten würden nicht so viel Zulauf erhalten, wenn sich die Politik und die Gesellschaft intensiver den Problemen widmen würde, die mit einem konservativen oder politischen Islam verbunden sind, statt diese kleinzureden oder als nicht existent darzustellen.

Deshalb: Faire und sachliche Islamkritik muss möglich sein. Lasst uns Probleme offen und ehrlich ansprechen. Nur so können wir sie angehen.

Diskriminierung und Rassismus

Seit vielen Jahren gibt es eine breite Diskussion über Rassismus in unserer Gesellschaft. Ich persönlich habe seit meiner Ankunft in Deutschland im Jahr 1999 noch nie direkten Rassismus erlebt. Dies liegt auch daran, dass ich in ein generell wohlwollendes Umfeld kam: Meine deutsche Frau, viele Freunde und die arabisch-evangelische Gemeinde in Stuttgart erleichterten mir den Start in der neuen Kultur immens. Auch mein Theologiestudium in Korntal und der dortige freundschaftliche Umgang, den ich mit meinen Dozenten und Kommilitonen hatte, halfen mir, hier Fuß zu fassen.

Aber das bedeutet nicht, dass andere Migranten Diskriminierung nicht hautnah und bitter erlebt haben und erleben! Freunde von mir mit fremd klingenden türkischen oder arabischen Namen haben die Erfahrung gemacht, dass sie bei der Wohnungssuche benachteiligt werden. Und sie sind damit nicht allein, wie Studien zeigen.6

 

Warum wirken fremd klingende Namen scheinbar abschreckend und führen zu Diskriminierung? Zuerst einmal scheint es ein Reflex zu sein, dass Fremdes oft als Bedrohung wahrgenommen wird, oder zumindest ein Unwohlsein hervorruft. Zusätzlich dazu glaube ich, eine große Rolle spielen auf der einen Seite negative Erfahrungen, die Deutsche mit Zuwanderern gemacht haben, und kulturelle Unwissenheit auf der anderen Seite. Wenn ein Migrant, der in einer Flüchtlingsunterkunft lebt, in den Nachbargarten geht und sich dort mit seinen Freunden auf die Wiese setzt, hat er – möglicherweise ohne es zu wissen – bereits eine Grenze überschritten und es kommt zu Ärger. Hier braucht es eine kulturelle Sensibilisierung, damit es zu solchen alltäglichen Konflikten gar nicht erst kommt. Ein weiteres Problem ist die Sprachbarriere, durch die Missverständnisse schon vorprogrammiert sind. Und Vorurteile oder Pauschalisierungen wie: »Alle Ausländer sind kriminell.« Ja, in den Gefängnissen ist der Prozentsatz von Menschen ohne deutschen Pass überdurchschnittlich hoch. Aber dennoch lebt die überwältigende Zahl der Migranten gesetzeskonform.

Ich plädiere dafür, bei der eigenen Wortwahl immer zu überprüfen, ob der Begriff »Diskriminierung« die Situation nicht besser trifft als »Rassismus«. Rassismus ist ein starker Begriff. Wir sollten vorsichtig mit ihm umgehen. Mit Blick auf unsere Geschichte gibt es kaum etwas Schlimmeres, als jemanden als Rassisten zu bezeichnen. Man sollte sich solche Verurteilungen für tatsächliche rassistische Einstellungen aufheben, statt vorschnell und inflationär vieles als »rassistisch« zu brandmarken.

 

Immer wieder, wenn ich in einem Zug nach Paris oder Zürich sitze, kommt die Grenzpolizei und will von mir als Einzigem im Abteil den Pass sehen. Fühle ich mich in solchen Situationen unwohl? Absolut! Sehe ich hinter dem Verhalten der Kontrolleure latenten Rassismus? Nein.

Wenn Polizisten auf der Suche sind nach Menschen, die illegal einreisen, liegt es aus ihrer Sicht nahe, aus Zeitgründen nur die Menschen zu kontrollieren, die offensichtlich einen Migrationshintergrund haben und die europäisch aussehenden Reisenden außen vor zu lassen. Ich mache mir klar, dass die Beamten auch nur ihren Job erledigen müssen und entscheide mich bewusst, mich nicht zu schnell als Opfer zu sehen. Von einer Passkontrolle lasse ich mir nicht den Tag verderben.

Woher kommst du?

Ich lebe seit 20 Jahren in Deutschland und werde dennoch regelmäßig gefragt, woher ich komme. Ich kann verstehen, dass vor allem junge Menschen, die hier geboren wurden, aber nicht danach aussehen, von dieser Frage genervt sein können – wenn sie immer erklären müssen, dass ihre Mutter aus dem Senegal oder ihr Vater aus dem Sudan kommt. Für sie entsteht der Eindruck, dass sie – bloß, weil sie ein anderes Aussehen haben – von manchen Deutschen nicht als ebenbürtig wahrgenommen werden. Ich kann das verstehen. Aber ich bin total dagegen, die Frage nach der Herkunft zu tabuisieren. Wichtiger ist, WIE man nach der Herkunft gefragt wird. Nur äußerst selten kommt es vor, dass mir mit dieser Frage eine Welle von Ablehnung entgegenschwappt und ich vermuten muss, dass tatsächlich eine rassistische Motivation hinter der Frage steckt. Wenn mich zum Beispiel eine ältere Frau im Gespräch irgendwann fragt, aus welchem Land ich komme, dann ist das für mich ein Zeichen von Interesse, ja sogar Wertschätzung, und ich antworte ihr sehr gerne. Mir ist es lieber, dass ich angesprochen werde und Fragen beantworten kann, als dass jemand mit tausend offenen Fragen im Kopf nach Hause geht und sich seine eigenen Gedanken macht. Denn wenn wir schweigen und nur übereinander statt miteinander reden, dann entsteht er tatsächlich: der Eindruck, sich fremd zu fühlen, und eine Chance der Begegnung ist vertan. Bei einem Herkunftsdeutschen macht sich dann vielleicht die Angst vor Überfremdung breit. Ein Migrant fühlt sich wahrscheinlich unwohl, wenn er auch noch nach Jahrzehnten als Fremder wahrgenommen wird.

 

Ich bin fest davon überzeugt: Vor Rassismus ist niemand sicher. Rassistische Denkweisen können in jedem Menschen vorhanden sein. Als gebürtiger Nordsudanese habe ich früher die Südsudanesen gehasst, und auf andere sudanesische Volksgruppen wie die Dinka herabgeschaut, die schwärzere Haut hatten als ich.