Wir neuen Großväter - Rainer Holbe - E-Book

Wir neuen Großväter E-Book

Rainer Holbe

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Beschreibung

Das Verhältnis zwischen Alt und Jung war noch nie so innig wie heute. Enkelkinder haben neue Großväter bekommen: toleranter, hilfsbereiter, eigenständiger und zugleich intensiver beteiligt. Rainer Holbe zeigt, wie wunderbar es ist, Großvater zu sein! Er und andere Prominente wie Jasmin Tabatabai, Gert Scobel, Elke Heidenreich, erzählen u.a. auch von eigenen Erfahrungen mit ihren Großvätern. Ein Buch voller Inspirationen rund um das Generationen-Spektakel.

  • Über die neue Rolle der Großväter
  • Rainer Holbe und seine Hymne auf alle Kinder dieser Welt

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Seitenzahl: 237

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Meinen geliebten EnkelkindernLeo, Max und Ferdinand gewidmet

Ich bedanke mich für im Buch enthaltene

Original-Zitate bei

Erich von Däniken Karl Dall Dr. Heiner Geißler Elke Heidenreich Prof. Dr. Guido Knopp Michael Krüger Dieter Kürten Frank Lehmann Wolf von Lojewski Geert Müller-Gerbes Ingrid Noll Gert Scobel Jasmin Tabatabei Jan Costin Wagner Dr. Hermann Wirtz

Inhaltsverzeichnis

WidmungDanksagungCopyright

Die Zeiten von Opa und Oma sind vorbei

Das Verhältnis zwischen Alt und Jung war noch nie so innig wie im 21. Jahrhundert

Das Kind hatte uns das Leben gelehrt.

JEAN-LUC GODARD

Weil die Menschen immer älter werden, ist die gemeinsame Lebenszeit von Großeltern und ihren Enkeln so lang wie nie zuvor. Noch nie gab es so viele Drei-Generationen-Familien wie heute, und noch nie hatten sich Enkel und Großeltern so viel zu sagen. Die ARD-Börsenexpertin Anja Kohl (*1970) sieht als ihr Vorbild das »tapfere Schneiderlein«, und meint dabei nicht die Figur aus dem Märchen der Gebrüder Grimm, sondern ihren Großvater. Dieser sei ein tapferes Schneiderlein gewesen, wie so viele Menschen nach dem Krieg im Kreis Miltenberg. Er habe sich nie unterkriegen lassen, sechs Tage pro Woche gearbeitet und immer wieder gesagt, welches Glück es sei, ein Schneider zu sein.

Auf eine besonders schöne Weise lässt sich auch das Großvater-Dasein des 63 Jahre alten Rudi Weisheit schildern: In zwölf Metern Höhe führte der Chef der berühmten Hochseiltruppe »Gebrüder Weisheit« seine sieben Jahre alte Enkelin Johanna ohne ein schützendes Netz über die Stahltrosse. Mit dem Auftritt beim Zirkusfestival von Monte Carlo über den Köpfen des Publikums beendete der Artistenchef seine Karriere, die er im Alter von fünf Jahren begonnen hatte. Jetzt war es an den Kindern und Enkeln, die 110 Jahre währende Familientradition der aus Gotha stammenden Truppe fortzuführen. Bald wird Johanna ohne die schützende Hand des Großvaters auf dem Seil balancieren. Doch unten in der Manege wird der alte Herr Weisheit – nomen est omen! – stehen und das Kind mit seinen guten Gedanken begleiten.

Für dieses Buch habe ich einige meiner Altersgenossen nach ihren Großvätern befragt. Die meisten mussten passen. Frank Elstners Großväter starben vor seiner Geburt. Roger Willemsen bekennt in einem Beitrag für Elke Heidenreichs Buch Ein Traum von Musik: »Von meinen Großeltern sind drei erschossen worden.«

Viele der heutigen Großväter haben eine schlimme Vergangenheit. Sie waren noch Kinder, als die Schrecken des Krieges sie ereilten, sind aufgewachsen inmitten von Flucht, Vertreibung, Bombennächten, Hunger und Tod. Das Elend des Krieges hat eine ganze Generation und in vielen Fällen auch deren Kinder geprägt.

Großeltern haben viel zu erzählen, man sollte sie nur lassen.

Wir heutigen Alten leben fast doppelt so lange wie unsere Vorfahren vor noch hundert Jahren. Und wir sind die Letzten, die mit den bürgerlichen Wertvorstellungen unserer eigenen Großeltern aufgewachsen sind: Ehrlichkeit, Anstand, Würde, Fleiß, Autorität, Sparsamkeit. Die Weltbilder unserer Kindheit sind von denen unserer Enkel um Lichtjahre entfernt. Meine Schulkameraden berichteten mir oft, dass sie Hunger leiden mussten, zerfetzte Kleidung trugen und arm waren wie die Kirchenmäuse. Ich erinnere mich, wie in dem kleinen Dorf in der Altmark am Abend oft der Strom abgeschaltet wurde und wir die Tür zum gusseisernen Herd öffneten, um ein wenig Licht und Wärme zu bekommen.

Dafür geht es jetzt den meisten von uns richtig gut. Wir fliegen zum Golfturnier nach Andalusien und gondeln mit dem Kreuzfahrtschiff auf dem Amazonas. Und was das Schönste ist: Das Verhältnis zwischen Alt und Jung war noch nie so innig wie im 21. Jahrhundert.

Das Leben unserer Kindeskinder prägt unser Dasein – und umgekehrt.

Die Zeiten von »Opa« und »Oma« sind vorbei. In meinem ersten Lesebuch trug Oma einen grauen Dutt und eine Nickelbrille, Opa hatte einen Bart, schmauchte seine Pfeife und hielt sich an einem Spaten fest. Im Garten mümmelten Hund und Katze gemütlich vor sich hin.

Oft dienten »Opa« und »Oma« auch als Schimpfnamen, die von jungen Leuten älteren Menschen hinterhergerufen wurden. Inzwischen haben die meisten unserer Enkel eine andere Art von Großeltern bekommen, die hilfsbereiter und toleranter sind als früher, eigenständiger und selbstbewusster. Vor allem interessieren sie sich mehr für die Belange ihrer Enkel und erzählen nicht immer nur die alten Geschichten, in denen früher alles besser war. Opa ist plötzlich »cool« – I love Opa.

Manche Großväter beklagen sich, dass ihnen trotz aller Zuneigung ihre Enkel manchmal ganz schön zusetzen. Dann mahne ich zur Geduld: Schaut unsere kleinen Buben und Mädchen nur etwas nachsichtiger an, lasst euch beglücken von ihrer Freude am Leben, von ihren offenen Gesichtern.

Es ist doch nicht zu übersehen, dass sie selbstbewusster und geistig beweglicher sind als die Kinder früherer Generationen. »Kinder haben von Anfang an eine eigene Persönlichkeit und sind damit menschlich und sozial kompetente Partner ihrer Eltern«, sagt der Familientherapeut Jesper Juul und bezieht engagierte Großeltern mit ein. »Wir Erwachsenen müssen lernen, auch störendes Verhalten in Botschaften zu übersetzen. Denn Erziehung ist ein Entwicklungsprozess – für die Eltern und für die Kinder.« Das Deutsche Jugendinstitut stellt in einer Mehrgenerationen-Studie fest: »Nicht tiefe Gräben trennen die Generationen mehr voneinander, sondern nur ein paar Türen und Straßen. Enkel und Großeltern sind in der Regel füreinander da. Darauf kann man sich verlassen, selbst wenn man sich nicht so oft sieht!«

Die gestiegene Lebenserwartung mag zwar eine Belastung für Renten – und Krankenkassen sein, für das Zusammensein von Enkeln und Großeltern bietet sie jedoch große Chancen auf eine gemeinsame lange Lebenszeit. Heutige Großväter und Großmütter leben nicht nur länger als ihre eigenen Eltern, sie sind in der Regel auch gesünder, gebildeter und wohlhabender. Und sie sind mit einer wunderbaren Gabe ausgestattet, die das Zusammenleben der Generationen erleichtert: Gelassenheit.

Von »Ruhestand« kann bei den meisten Großeltern nicht mehr die Rede sein. Ruhestand bedeutet Stillstand, ja sogar Kapitulation gegenüber dem Leben, das in jedem Alter voller Gestaltungsmöglichkeiten ist.

Außerdem sind aktive Großeltern im Besitz jenes kostbaren Gutes, das ihren berufstätigen Kindern meistens fehlt: Zeit. Genau dies ist es, was Enkel zu Recht für sich einfordern. Die Kinder des Informationszeitalters sehnen sich nach echten Menschengeschichten, nach Stories, in denen die Großeltern Helden oder Verlierer sind.

Es gibt jedoch auch das Bild der scheinbar egoistischen Großeltern, die ihre eigenen Pläne verwirklichen wollen: endlich ein Apartment im Süden, ein nachgeholtes Studium an der Uni, Überwintern auf Mallorca. Steht also dem Gewinn an Zeit, Bildung und Wohlstand ein Verlust an Fürsorge für die Enkelkinder gegenüber? »Nein«, sagen die so Gescholtenen. Aus Vater Staat ist längst ein Großvater Staat geworden, der mit einem immer dichteren Netz aus Kindergärten und Krabbelstuben für die sozialen Belange der Enkel sorgt: Kinder brauchen Kinder. Die Großeltern springen ein, wenn Not am Mann ist, und konzentrieren sich auf die wichtigen Momente im Leben ihrer Enkel: Geburtstage, Einschulungen, Familienfeste.

Auch eine immer raffiniertere Technik verhilft zu mehr Nähe. Videogespräche über Computer und über das Mobiltelefon erobern den Familienalltag. Allein der kostenlose Videodienst von Skype hat über eine halbe Milliarde angemeldeter Nutzer, darunter viele Großeltern, die per Distanz mit ihren Enkeln spielen. Kein Ort ist zu weit für eine Plauderei, kein Land zu fern für ein Lächeln.

Noch in jüngster Vergangenheit konnten unsere Vorfahren ihren Enkeln verlässliche Auskunft über deren Zukunft geben. Die ältere Generation gab guten Gewissens Erfahrungen weiter, die sie über Beruf und Familie, über Umwelt und Technik gesammelt hatte. Wissen und Erfahrung waren ein wertvoller Schatz. Heute hat dieser Schatz an Wert verloren.

»Was Gültigkeit behält, sind Erfahrungen mit dem, was dem Menschen gemäß ist: Mit dem Wert der Familie und der kleinen Lebenskreise als primären Orten menschlicher Identität und persönlicher Verantwortung«, schreibt Kurt Biedenkopf – politisches Urgestein und Großvater von zehn Enkelkindern – in seinem Buch Die Ausbeutung der Enkel. Viele Ältere hätten Schwierigkeiten, die heutige wissenschaftlich-technische Welt zu verstehen, und seien deshalb auf den Rat der Jüngeren angewiesen. Reich und mächtig seien sie, unsere Enkel, verbunden und vernetzt mit der ganzen Welt. Aber arm an Erfahrungen und an geistiger wie kultureller Sinngebung, die uns auch in Zeiten des Umbruchs die Gewissheit vermitteln könnte, Teile einer gleichgesinnten Gemeinschaft zu sein, meint Biedenkopf.

Ein besonderer Aspekt, der für das Miteinander von uns Großeltern und unseren Enkeln spricht: Wir können eine Menge voneinander lernen.

Nie zuvor ist das Wissen der Alten schneller verblasst, als in den vergangenen Generationen. Auch Berufe verschwinden wie Schnee in der Sonne. Als Redakteur hatte ich es bei der Zeitung mit Schriftsetzern zu tun, heute machen Web-Designer deren Arbeit. Enkel erklären ihren Großeltern den Umgang mit neuen Kommunikationstechniken, mit Computer, Internet und E-Mail, sie zeigen ihnen, wie man mit den Bildern der Digitalkamera ein Fotobuch anlegt und sein Bankkonto elektronisch überblickt.

Großeltern wiederum lernen von ihren Enkeln viel über die aktuelle Jugendkultur und deren eigenen Sprachstil. Im Spiegel (vom 16.8.2010) wurde der Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass gefragt, ob er denn immer alles verstehe, was seine Enkel meinen. »Aber ja«, so Grass. Und als er dann weiter gefragt wird, was denn bedeuten würde: »Chill mal – Der ist total durch – Lass mal rüberwachsen«, antwortet er: »›Entspann dich. Der ist kaputt. Gib mal her‹ – Es ist für mich ein wunderbarer Zugewinn, dass ich mithilfe meiner Enkel auf dem Laufenden darüber bin, was herrschender Jargon ist.«

Großelternschaft ist eine Strategie des Anti-Aging. Der Kopf bleibt wach, die kleinen grauen Zellen werden gefordert, seelische Gesundheit ist die Voraussetzung für körperliches Wohlbefinden.

Auffallend ist, dass die heutigen Großväter eher eine antiautoritäre Rolle einnehmen und besonders hilfreich agieren können, wenn ihre Enkel in der Pubertät mit den Eltern aneinandergeraten. Obwohl im Teenageralter der Kontakt zu Freunden wichtiger wird, bleiben die Großeltern oft die letzte Instanz, wenn es um Konflikte im Familienverbund geht. Früher ging in dieser Lebensphase der Kontakt zum Großvater und zur Großmutter verloren, im Zeitalter von Mobiltelefonen und E-Mail-Verbindungen ist dies kein Problem mehr.

Allerdings sind nicht alle meine Altersgenossen bereit, sich dieser Art von Verjüngungskur zu unterziehen und sich auf die Lebenswelten ihrer Kinder und Enkel einzulassen.

»Um solche Beziehungen zu gestalten, muss man soziale Fähigkeiten haben, die aber nicht in allen Milieus gleichermaßen vorhanden sind«, meint die Soziologin Cornelia Hummel von der Universität Genf. »Die neuen Großeltern sind vor allem ein Mittel – und Oberschichtenphänomen.« Davon mal abgesehen gibt es sicherlich weiterhin jene altbekannten Opas und Omas, die alles besser wissen, nicht zuhören wollen und immer die gleichen Geschichten erzählen. Vor den Preis haben auch hier die Götter den Schweiß gesetzt: Ein aufgeschlossenes Verhältnis zwischen den Generationen muss oft hart erarbeitet werden.

Egal, ob die Beziehungen nun gut oder schlecht sind, prägend sind sie allemal. Pädagogen sprechen vom »kulturellen Erbe«, das von einem Kind verinnerlicht wird.

Enkel registrieren sehr wohl, ob in der Familie Achtung und Respekt voreinander herrschen, ob die Eltern ihre Konflikte lautstark vor den anderen austragen und ob die Großeltern mit ihnen auch mal ins Konzert oder ins Kino gehen oder sie einfach vor dem Fernsehapparat absetzen. Jeder von uns ist verstrickt in machtvolle Familienstrukturen, und dieses Erbe kann niemand einfach ausschlagen. Unsere Ahnen üben – ob wir das wollen oder nicht – über die Zeiten hinweg einen großen Einfluss auf uns aus.

Umso verantwortungsvoller sind unsere Positionen als Großvater und Großmutter. Wir sind für unsere Enkel eine erste wichtige Brücke in die Welt außerhalb des Elternhauses. Wir stammen nicht nur aus verschiedenen Epochen, wir befinden uns auch an gegensätzlichen Stationen unseres Lebensweges.

Unsere Enkel stehen am Anfang ihrer Biografie, wir können am Horizont bereits den Regenbogen über der Ewigkeit ausmachen.

Vielleicht sind wir mit den Jahren ein bisschen weise geworden und können unsere Enkel mit unseren Erzählungen in die Geschichte unserer Familie einbinden. Großvater und Großmutter zu sein, ist eine ziemlich gute Rolle im Theaterstück unseres Lebens. »Großeltern«, sagt der Zürcher Soziologe François Höpflinger, »gehören zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu den wenigen positiv besetzten Altersbildern.« (NZZ v. 25.2.2007)

Als Großvater muss ich keine Karriere mehr machen, kein Haus mehr bauen und keinen Baum mehr pflanzen. Solche Ziele ersetze ich durch den Wunsch, das Leben mit den Nachkommen zu genießen. Zu geben, ohne eine Gegenleistung zu erwarten, steigert mein eigenes Wohlbefinden.

Wer sich von uns in den Disziplinen Langmut und Großzügigkeit übt, ist auf der sicheren Seite. Mit unseren weitergegebenen Erfahrungen verbindet sich auch der Wunsch, unseren Enkeln ein paar Ängste zu ersparen. Wenn es so etwas gibt wie ein genetisches Erbe, dann würden unsere Enkel zu liebevollen Großeltern werden, wenn ihre Zeit gekommen ist.

Die Publizistin Dana Horáková blickt in ihrem Buch Das Christophorus-Projekt auf Zeiten zurück, in denen Großfamilien zusammenlebten und keine Generation ausgegrenzt und abgeschoben wurde. Am Beispiel der Christophorus-Legende illustriert sie die befreiende Gemeinschaft eines Uralten und eines ungemein anziehenden Kindes. Den Jesusknaben über den Fluss tragend, bürdet sich der alte Mann das Gewicht der ganzen Welt auf und entdeckt dabei – was er lange gesucht hat – eine Aufgabe, die ihn endlich mit Freude erfüllt. »Können wir die jungen Alten dazu bewegen, in ähnlicher Weise sich der Enkelgeneration anzunehmen?«, fragt Dana Horáková. Ihre Hoffnung setzt sie dabei auch auf die »Alt-Achtundsechziger«, die in den Ruhestand gegangen sind und einst doch als engagierte Idealisten bewiesen haben, dass sie keine egoistischen Angehörigen der Spaßgesellschaft sein müssen. Horáková spricht gar »von der Pflicht der Alten, unsere Kinder zu retten«. Ein überzeugender Aufruf zu mehr Engagement.

Liberale Großeltern vermitteln mit Begriffen wie Vorbild und Autorität einen freiheitlichen und sittlich überzeugenden Sinn. »Die Pflicht der Alten, unsere Kinder zu retten« eröffnet ihnen zugleich eine Chance, selbst nachhaltig glücklich zu werden.

In der Evolutionsgeschichte spielte die Großmutter bisher die Hauptrolle. Sie war zumeist fromm, erzählte Märchen und opferte sich auf. Der Großvater war im Krieg, arbeitete auf dem Acker oder in der Fabrik. Inzwischen steht der Großvater der Großmutter in der Gunst ihrer Enkel in nichts nach. Er schiebt den Kinderwagen, wickelt das Baby, spielt mit ihm und versucht wiedergutzumachen, was er bei der Erziehung der eigenen Kinder versäumt hat.

Doch so liebevoll und verständig, so hilfsbereit und klug ein Großvater auch zu agieren vermag, letztendlich ist die Generation unserer Enkel für sich selbst verantwortlich. Die Zukunft unserer Welt liegt in ihren Händen. »Als Großvater würde ich meinen Enkelkindern gerne zwei Dinge mitgeben, dass sie auf ihren eigenen Füßen stehen und mit ihren eigenen Augen sehen können«, schreibt der israelische Staatsmann Shimon Peres. »Auf eigenen Füßen zu stehen, um den richtigen Weg zu gehen, und mit eigenen Augen das Helle und nicht nur die Schatten auf unserer Welt zu sehen.«

Um den Herausforderungen der Zukunft zu begegnen, braucht es ein größeres Verantwortungsbewusstsein. Ob unsere Buben und Mädchen bereit sind, an einer liebevolleren, freundlicheren und verständnisvolleren Menschheitsfamilie mitzuarbeiten, liegt auch an uns – den Großmüttern und Großvätern dieser Welt.

Der Großvater – das erzählende Wesen

Unser Leben besteht aus einer wachsenden Zahl von Geschichten

Eine Hymne auf unsere Enkelkinder

Solange Kinder klein sind, gib ihnen Wurzeln, wenn sie groß sind, gib ihnen Flügel.

INDISCHES SPRICHWORT

Ferdinand, Leo und Max sind klug, fantasievoll, mutig, stark, tolerant, zärtlich, humorvoll und inspirierend. Sie folgen ihrem eigenen Stern, ihrer eigenen Musik und haben die Gabe, schwermütige Herzen mit Freude zu erfüllen. Es sind ausgesprochen soziale und kreative kleine Menschen. Es sind meine Enkelkinder. Ihnen sei dieses Buch gewidmet, aber auch ihren Freunden, ihren Eltern und Großeltern, ihrer Großmutter Rosi und all den wunderbaren Kindern, die auf dieser Erde leben.

In meinem über 70 Jahre währenden Leben habe ich viel erlebt, viel gesehen, viel gehört, tolle Menschen getroffen und mancherlei Enttäuschungen akzeptieren müssen. Es ist ein wunderbares Leben.

Die Zeit, die ich als Großvater erlebe, ist die bisher wichtigste, schönste und aufregendste Epoche.

Ich lerne von meinen Enkeln, die Welt vollkommen neu zu sehen, zu begreifen, sie zu verstehen. Dafür bin ich meinen Buben dankbar. Dafür schenke ich ihnen meine Erinnerungen, die ich zu kleinen Geschichten verdichtet habe.

Großväter – aber auch Großmütter – sind dazu aufgerufen, Geschichten aus ihrem Leben zu erzählen. Das war schon immer so. Was wären die Gebrüder Grimm ohne ihre Großmutter, die ihnen von Rotkäppchen, Rapunzel und den sieben Zwergen berichtete?

Das Erzählen, das dem anderen selbst etwas erzählen ist Kleinkunst im besten Sinne. Wir jedoch leben in einer Zeit, in der wir uns lieber etwas erzählen lassen: von den Leuten aus dem Fernsehen, von CDs und von Unbekannten aus dem Internet. Und die eigenen Artikulationen, die eigene Wortschöpfung fallen immer schwerer. Am Ende eines Sommers treffen Bekannte und Nachbarn wieder zu Hause ein. Sie kommen von den Inseln der Malediven und aus den Wüsten Namibias, sie haben Gewaltmärsche im Himalaja hinter sich und sind im strömenden Regen nach Machu Picchu aufgebrochen. Die Ferien waren für sie ein exotisches Abenteuer, und ihre Erfahrungen haben nichts mit dem zu tun, was sie im Alltag erwartet. Aber wenn ich sie frage, wie es denn so war in der Fremde, dann höre ich meist die gleichen Antworten: »Schön« oder »interessant« oder das alles umfassende »echt geil!«

Als ich im Alter von neunzehn Jahren zusammen mit meinem Kumpel Michael K. zu meiner ersten großen Reise aufgebrochen bin und bei Montpellier endlich das Meer sehen durfte, habe ich meinen Freunden nach der Rückkehr ein ganzes Wochenende lang davon erzählt. Jede mir in Frankreich gereichte Käseplatte beschrieb ich so ausführlich, dass den Zuhörern das Wasser im Munde zusammenlief.

Um ein guter Erzähler zu sein, bedarf es der Gabe der besonderen Wahrnehmung, meint der Schriftsteller John Irving. Denn oft sind wir mitten in einem spannenden Geschehen und nehmen es überhaupt nicht wahr. Im Erzählen werfen wir einen neugierigen Blick auf das eigene Leben. Der Inhalt eines Buches, eines Films oder eines Ferienerlebnisses erschließt sich erst richtig, wenn wir anderen davon berichten.

Der Mensch ist ein erzählendes Wesen. Zum Erzählen braucht es Fantasie, die Freude am Gestalten von Sätzen, am Platzieren von Wörtern. Je komplizierter die Welt wird, desto mehr sollten wir sie in Worte fassen.

Inzwischen fehlen einer ganzen Generation die Worte. Sprachlos hocken sie vor dem Fernsehapparat oder dem Computermonitor und lassen sich die Welt erklären, ohne selbst zu Wort zu kommen. In dieser Sprachlosigkeit sehe ich eine Gefahr für unsere Kultur. Die Bilderflut des Fernsehens drängt die Sprache an den Rand. Sprachlosigkeit ist deshalb gefährlich, weil viele Menschen nicht mehr in der Lage sind, ihre Probleme zu artikulieren, sich auszusprechen. Nicht selten greifen sie deshalb zu gewalttätigen Lösungen.

Aber was auch immer unsere Persönlichkeit prägen mag: Unser Leben besteht aus einer wachsenden Anzahl von Geschichten, an die wir glauben, und die in ihrer Summe unseren Charakter bestimmen. Erlebtes und Erinnertes in Worte zu fassen, schärft den Blick für die Einflüsse, die uns formen und zu dem machen, der wir sind.

Eigentlich sprechen wir ja gerne über uns selbst. Sobald jemand uns halbwegs interessiert zuhört, geben wir bereitwillig Auskunft über unser Leben.

Wir sind das, was andere von uns erzählen. Die eigene Lebensgeschichte ist niemals neutral oder wertfrei, wird sie doch von uns geformt und gestaltet. Wenn wir uns erinnern, erinnern wir uns nicht an tatsächliche Gegebenheiten, sondern jeweils nur an die Erinnerung daran. Als Goethe sein erstes Roman-Manuskript Die Leiden des jungen Werther seinem Verleger brachte, soll er den jungen Mann gefragt haben: »Ist denn das alles die Wahrheit?« Und Johann Wolfgang antwortete: »Es ist mehr als die Wahrheit, es ist Dichtung!«

Jeder von uns hat schon erlebt, dass bei einem wunderbaren Konzert die Gedanken abschweifen und ihre eigenen Wege gehen: Ein langsamer Satz in einer Sinfonie führt uns beharrlich in die Vergangenheit, um beim raschen, dynamischen Finale wieder in die Gegenwart zurückzukehren. Musik löst Erinnerungen aus, führt zu eigenen Bildern und Empfindungen.

Vor einigen Jahren bin ich einem Pfarrer begegnet, der im Laufe der Jahre viele Menschen in ihren letzten Stunden begleitet hat. Wenn dann kein Gespräch mehr möglich war, sah er, wie sich die Lippen der Sterbenden bewegten, und oft hat er in diesem Flüstern hören können, was da gesprochen, ja aufgesagt wurde: die guten alten Liedertexte, Verse aus Gedichten und längst verwehte Sprüche der Großeltern.

Der Komponist Franz Liszt gab den Rat, dass man sich einen großartigen Vorrat an Erinnerungen zulegen sollte. »Liebe Erinnerungen«, wie der Maestro so schön formulierte. Solche, die uns wärmen, zu Herzen gehen und uns doppelt leben, tiefer erleben lassen. Unsere eigene, tief in uns verborgene Musik gehört zu den schönsten Erinnerungen, die man sich schaffen kann. Innere Musik bereichert unseren Lebensweg. Ob es das Schlaflied ist, das einst an unserem Kinderbett gesungen wurde, oder der Choral in der Kirche, den wir am liebsten hörten, oder die erste Opernaufführung oder die Musik, die bei einer Hochzeit gespielt wurde: Musik ist Fernweh und ein Erahnen von Zeit und Raum – Gedichte lösen ähnliche Empfindungen aus.

Wer die großen Balladen deutscher, englischer oder französischer Dichter gelesen oder vielleicht gar auswendig gelernt hat, wird ein nie geahntes Glück verspüren, wenn er irgendwo wieder ein paar Zeilen davon hört.

Die Großmutter von Max, Ferdinand und Leo deklamiert am Heiligen Abend am festlich gedeckten Tisch alle Jahre wieder die traurigen Verse von dem Bettelkind, das achtlos vorübergehenden Passanten am Weihnachtsabend vergebens ein Spielzeug zum Kauf anbietet. Es ist eines der schönsten Gedichte von Theodor Storm, das von den Buben stets sehnlichst erwartet wird.

Unsere Welt ist alles andere als ein Paradies. Doch wir haben das Recht, nach Nischen auf diesem zerrissenen Globus zu suchen, um fernab von Ungerechtigkeiten einen Zustand zu erschaffen, der nur in unserem Kopf existiert, und in dem wir ein Höchstmaß an Glück erlangen. Öffnen wir unser Herz! Erinnerungen sind tatsächlich ein Paradies, aus dem uns keiner vertreiben kann. Und geben wir unseren wunderbaren Enkeln darin den ihnen gebührenden Raum.

Das schönste Geschenk

Ich bin gern Großvater, weil ich mir das schon immer gewünscht habe. Meinen Großvater habe ich praktisch nicht gekannt – er lebt in meiner Erinnerung als ein unnahbarer alter Herr mit kleinem Bart und Brille. Vorgelesen hat er mir nie und geredet hat er auch nicht mit mir. Mein Vater, der Großvater meiner Kinder, war bereits 60 Jahre alt, als sein erster Enkel geboren wurde. Und er hat ihm und den anderen Enkeln das Schwimmen beigebracht. Das wollte ich auch. Meine sechs Enkel wollen mit mir spielen und vorgelesen bekommen. Große Freude macht mir der gerade in die Schule gekommene Sechsjährige, der nach zwei Monaten Unterricht mir vorlesen kann. Alle Enkel – bis auf die Jüngste alles Jungen – fragen mich aus, bis mir die Luft wegbleibt. Und die Kleinste lacht mich an, wenn ich mit ihr auf dem Bobbycar herumrutsche. Meine Enkel sind für meine Frau und mich das schönste Geschenk unseres Lebens. Wir freuen uns und sind dankbar, dass wir Oma und Opa sind.

Geert Müller-Gerbes, Publizist

Auf einmal sind sie da: Enkelkinder!

Ein heute geborener Mensch hat alle Chancen, hundert und mehr Jahre alt zu werden

Mit einem Paukenschlag sind viele meiner Freunde zum ersten Mal Großeltern geworden: Bei Renate und Dietrich schneite die kleine Venla ins Haus, Jean und Laure aus Rameldingen wurden mit Charlie und Luca beglückt, die nun ihr Haus abwechselnd mit fröhlichem Lärm versorgen.

Mit meinem Freund Molli hatte ich verabredet, dass wir mit seinen gerade geborenen Enkelkindern Nicolas und Ronja und mit meinem ersten Enkelsohn Leo ein paar Jahre später mit dem Kabinenboot wieder auf der bretonischen Vilaine zum Atlantik hinunterfahren, so wie wir es mit unseren eigenen Kindern viele Sommer lang getan haben. Daraus wird nun leider nichts. Molli wachte eines Tages nach seinem Mittagsschlaf auf dem Kanapee einfach nicht wieder auf. Mit der Zukunft ist eben kein Pakt zu schließen.

Dabei wäre der Mann ein prima Großvater geworden, genau wie ich es für meinen Leo sein möchte, und natürlich für Max und Ferdinand, die später in mein Leben traten. Dass mich meine Rolle total begeistert, darauf weist ja allein die Existenz dieses Buches hin.

Ein Kind aufwachsen zu sehen, ist ein großes Glück. Ein Fest des Lebens. Wir Großeltern werden noch einmal in die Lage versetzt, die Welt neu zu betrachten. Auf einmal müssen wir uns mit Dingen beschäftigen, die längst aus unserem Blickfeld geraten sind: mit dem Kindergarten, dem Hort, mit anderen Kindern und mit den anderen Großeltern. Enkelkinder sind deshalb auch eine Chance, unser eigenes Leben wieder zu öffnen.

Im Leben unserer Enkel werden wir Großeltern tiefe Spuren hinterlassen, und der Kreis des Lebens, der bisher unvollendet war, wird sich damit schließen.

Alle Mädchen und Jungen, die jetzt geboren werden, und alle die, die noch in den Startlöchern stehen, sind bereits eines: Weltenbürger. Auf sie warten unendliche Möglichkeiten sowie Stimmen, auf die sie hören müssen, und Rufe, denen es zu folgen gilt. Menschliche Geschöpfe da draußen in der Welt werden ihrer bedürfen, und sie werden letztendlich danach beurteilt, wie sie auf diese Bedürfnisse reagieren.

Bei Leo habe ich das Gefühl, dass er die gesamte technologische Welt aus den Angeln heben wird. Als er elf Monate alt war, hatten es ihm sämtliche elektronischen Schalter angetan, und er startete mühelos CD-Player und Videorekorder. Für den Brummkreisel aus dem Spielwarengeschäft hatte er nur ein müdes Lächeln. Auch Max und sein Bruder Ferdinand sind von surrenden, blinkenden und ratternden Spielzeugen umzingelt.

Die Internetseite mit den »Geschichten von der Maus« rufen sie bereits alleine auf, um sich beim Elfmeterschießen zu vergnügen, Pfannkuchen zu backen und den einfältigen Tom auf seiner Suche nach einem Marmeladenbrot mit Honig virtuell zu begleiten.

Ich wünsche mir für meine Enkelkinder, dass sie eine neue Deutung der Welt anstreben, dass ihnen Visionen wichtiger sind als Slogans, und dass sie jede Art von Gewalt aus tiefstem Herzen verabscheuen. Ich erhoffe mir für sie eine Welt, in der niemals ein Mann oder eine Frau eine wichtige Entscheidung fällt, ohne die Folgen dieser Entscheidung für die kommenden Generationen zu bedenken. Ich bin sicher, die Kinder dieser Welt werden eines Tages den Planeten in einem besseren Zustand verlassen, als sie ihn betreten haben. Vielleicht wird es Leo, Max, Ferdinand und ihren Freunden gelingen, all die vielen Widersprüche, die mich verwirren, aufzulösen.

Aus der Art, wie ein Kleinkind eine Banane auspackt und dabei deren fantastische Konstruktion erkennt, muss ich annehmen, dass es sich so seine Gedanken über das Geniale in der Natur macht.

Noch hebt es sich seine Energie für den großen Vorstoß in das glänzende, gefährliche Leben auf. Vielleicht geht es ja in die Geschichte ein als jener Mensch, der das große Rätsel des Universums löst und herausfindet, warum wir überhaupt geboren werden und warum alles so schwierig ist, sobald wir hier angekommen sind.

Die Zukunft muss nicht düster aussehen. Nach Hochrechnungen von Altersforschern hat ein heute geborenes Kind alle Chancen, hundert und mehr Jahre alt zu werden. Bald werden alle 80.000 menschlichen Gene entschlüsselt sein, bessere Medikamente existieren und weitere Erfolge in der Krebs – und Virustherapie vorliegen. Mediziner können bereits jetzt durch ausgeklügelte Hormonbehandlungen den Alterungsprozess verlangsamen. Die Nahrungsmittellieferanten werden endlich gesündere Lebensmittel herstellen, und komplizierte Arbeitsprozesse werden sich durch den Einsatz intelligenter Roboter noch mehr vereinfachen lassen.

Die Kinder von heute sind Mitglieder der »Generation @«, die schon von klein an mit Mobiltelefonen hantieren und Laptops samt Digitalkameras bedienen. Jeder von uns kennt die Bilder von lachenden Kindern, die glücklich vor Monitoren sitzen, irgendwelche Aliens abschießen und dabei angeblich mathematische Zusammenhänge erkennen. Da frage ich mich, ob diese Kinder sich manchmal noch miteinander unterhalten, so richtig von Angesicht zu Angesicht? Oder ob sie nur noch per E-Mail oder in Facebook miteinander klarkommen?

Ich wünsche mir für meine Enkel und all die anderen Kinder ein langes, gesundes und glückliches Leben. Ich wünsche mir für sie Lehrer, die ihre Sehnsucht nach Wissen liebevoll fördern. Schlechte Lehrer verwandeln Kinder in Leute, die ein für alle Mal die Nase voll haben von Lernen und Schule. Echtes, sinnvolles Lernen hat anfangs noch nie Spaß gemacht. Es bedarf der Arbeit, der Disziplin. Bücher müssen gelesen und Hausaufgaben gemacht werden. Inspiration, Arbeit und Verantwortung sind Dinge, die man nicht aus dem Internet ziehen kann. Das lässt sich nur Menschen vermitteln, die mit den Kindern sprechen und eine Beziehung zu ihnen aufbauen.

Bereits der alte Sokrates wollte, dass Menschen denken und miteinander sprechen. Er hat einfach immer nur Fragen gestellt, statt die Antworten fertig auf den Tisch zu legen.

Computer, Fernsehen und Videospiele fördern nicht selten die Monotonie unserer Gedanken und Ideen. Das Wichtigste, was wir Menschen besitzen, ist unsere Zeit auf dieser Erde. Sie ist begrenzt. Die meisten von uns verschwenden ihre Zeit, sitzen herum, surfen durchs Netz – und Klick – sind fünf Stunden vergangen. Wer die technischen Möglichkeiten nutzt, um Außerirdische abzuschießen, verschwendet sich. Am Ende sitzt man da und fragt sich, was es einem gebracht hat. Bin ich dadurch ein besserer Mensch geworden? Hat sich dadurch meine Persönlichkeit vertieft? Wohl kaum. Eigentlich bin ich bloß fünf Stunden älter geworden.

Internet & Co sollten in erster Linie der Vermittlung von Information und Wissen dienen. Ich hoffe, dass meine Enkel das System schnell durchschauen und ihre eigenen Schlüsse ziehen werden. Weisheitslehrer raten ohnehin, den Weg der Mitte zu wählen und Extreme zu meiden.

Ganz einfach

Meine Kinder und meine Enkel sagen alle Heiner zu mir!

Dr. Heiner Geißler, Politiker

In Windeln gewickelte Genies

Babys sind begierig nach Informationen

Kommen sie mit einem »Startpaket« an Wissen auf die Welt?

Leo und Ferdinand wurden an einem kalten Wintertag geboren. Als Max in Berlin auf die Welt kam, fielen gerade die ersten welken Blätter von den Bäumen im Park. Ein kleines Bündel, aber ein großes Glück! Noch hielt er die Augen geschlossen, und manch zarter Traum zog über sein Gesicht. Es schien, als sei er noch nicht ganz angekommen in dieser Welt. Meine drei Enkel kenne ich von ihrem ersten Lebenstag an, als sie mit ihren winzigen Händen meinen Zeigefinger umklammerten. Es sind erhabene Momente, die man nicht vergisst. Babys besitzen die wunderbare Gabe, erwachsene Menschen zu verzaubern. Und wenn sie in ein Zimmer krabbeln, wird es plötzlich ganz hell.

Schade, dass viele Großeltern und Eltern das Potenzial nicht erkennen, das bereits in einem kleinen Menschen schlummert. Babys runzeln die Stirn, laufen beim Schreien krebsrot an, schnalzen behaglich mit der Zunge oder lächeln still vor sich hin. Sind dies unbewusste Reflexionen oder stecken dahinter Absicht und Strategie? »Unzählige Jahrhunderte lang trennte ein Abgrund von Unwissenheit die Neugeborenen vom Rest der Menschheit«, schreibt der Psychologe David Chamberlain in seinem Buch Woran Babys sich erinnern. So nahe wir ihnen auch waren – wir wussten dennoch nicht, um welch erstaunliche Wesen es sich handelte.

Babys sind schlau. Sie wissen viel mehr, als man ihnen gemeinhin zutraut. Vom ersten Tag ihres Lebens an sind sie begierig nach Informationen. Manche ihrer Fähigkeiten bringen sie bereits mit. Eine Grundregel der Evolution, dass jedes komplexe Verhalten als einfache Struktur beginnt und sich mit der Zeit entwickeln muss, ist inzwischen veraltet. Der Intellekt von Neugeborenen ist oft von Anfang an ausgebildet.

Babys kennen physikalische Gesetze, erkennen Stimmen, haben ein gutes Gedächtnis und eine genaue Vorstellung von der Welt in ihrem Kopf.

»Babys besitzen unerwartete Fähigkeiten«, findet David Chamberlain. »Sie kommen geheimnisumwoben bei uns an, in Windeln gewickelte Genies, die sich als Baby ›verkleidet‹ haben.«

Das Wissen der Kleinkinder erforschte bereits 1998 eine psychologische Arbeitsgruppe an der Frankfurter Johann-Wolfgang-Goethe-Universität, unter Leitung der Kinderpsychologin Monika Knopf. Weil die sechs bis fünfzehn Monate alten Mädchen und Jungen noch nicht mit Worten sagen, was sie so alles umtreibt, griffen die Wissenschaftler zu speziell ausgeklügelten Methoden: Mikrofone und Kameras zeichneten die kleinsten Bewegungen und die Blickkontakte auf und werteten sie im Computer aus. Mit Greifbewegungen, Gesichtsausdrücken und Kopfdrehungen gewährten die Kleinen genaue Einsichten in ihren Wissenskosmos.

So wollten die Experten von mehr als hundert Babys wissen, wie lange ihnen bestimmte Situationen und Gegenstände im Gedächtnis bleiben. Die Versuchsreihe hat gezeigt, dass sich auch ganz kleine Kinder noch lange danach an Spielzeug erinnern, das sie zuvor nur etwa dreißig Sekunden angefasst hatten. »Die Kleinen konnten sich an komplexe Handlungen mit verschiedenen Spielzeugen, die sie zuvor nie gesehen hatten, nach einer halben Stunde erinnern.« Für Kinder in dem Alter eine lange Zeit. Erstaunlich – so die Expertin –, dass die Babys sogleich Spiele beherrschten, die sie nur vom Zuschauen kannten.

Mit Geduld und Erfindungsgabe haben die Psychologen etwas Licht in das Dunkel des bisher wenig erforschten Weltbildes unserer Kleinsten gebracht.

Selbst halbjährige Babys scheinen schon physikalische Abläufe wie die Schwerkraft oder die Undurchdringlichkeit fester Körper zu verstehen. Wie dies herausgefunden wurde? Die Tester in der Arbeitsgruppe nahmen einen Ball in die Hand, klebten ihn an der Innenfläche fest und öffneten dann die Hand. Der Ball folgte nicht den Regeln der Schwerkraft; er fiel also nicht herunter. Verdutzt schauten die Babys hin. Bis auf die fünfundzwanzigste Sekunde genau wurde ihre Blickdauer gemessen.

Nach Ansicht von Monika Knopf können vier Monate alte Säuglinge sogar schon zählen. Denn ihr Gehirn ist bereits so weit entwickelt, dass sie simple Mengenunterschiede erkennen. »Säuglinge haben bereits einfache mathematische Fähigkeiten, die sehr früh vorhanden sind und nicht – wie bisher vermutet – erst erlernt werden müssen«, meint die Wissenschaftlerin.

Kommen also Neugeborene mit einem »Startpaket« an Wissen auf die Welt oder – wie bisher angenommen – als ein unbeschriebenes Blatt? Augenscheinlich werden Säuglinge bereits mit einer Menge vorgeburtlicher Erinnerungen geboren. So erkannten sie beispielsweise Geschichten, die sie im Mutterleib gehört hatten, und die ihnen die Mutter während der letzten Schwangerschaftswochen vorlas. Auch die Stimme der Mutter konnten sie bei den Frankfurter Untersuchungen deutlich von den Stimmen anderer Frauen unterscheiden. Bei Fremdsprachen gaben sich die Babys gelangweilt, bei der Muttersprache hingegen spitzten sie die Ohren.

Tanten, Onkel und die übrige Verwandtschaft werden nicht müde, die Physiognomie von Neugeborenen mit der von Eltern und Großeltern zu vergleichen. Wenn auch die Funktion von genetischer Vererbung längst nicht ausreichend geklärt ist, so stellt die Volksmedizin doch gewisse körperliche Ähnlichkeiten zwischen Großeltern, Eltern und Kindern fest: Die Nase von Tante Erna geerbt zu haben, muss jedoch nicht unbedingt von Vorteil sein. Wenn also körperliche Merkmale – wie Augenfarbe, die Form der Ohren, die Ausprägung des Kinns – von den Vorfahren vererbt werden, warum übernehmen wir dann nicht auch Teile ihrer intellektuellen Fertigkeiten, ihres angesammelten Wissens, ihrer Erfahrungen und ihres Charakters?

Kein Geld von den Patienten

Mein persischer Großvater ist 1939 gestorben, lange vor meiner Geburt. Ich hätte ihn sehr gerne kennengelernt. Es muss ein unglaublich faszinierender Mann gewesen sein, mit hohem moralischem Standard: ein Arzt, der sich weigerte, Geld von seinen Patienten zu nehmen, egal ob sie arm oder wohlhabend waren. Er wollte sich mit dem Leid der Menschen nicht bereichern. Später hat er dann beim Finanzamt eine zweite Arbeitsstelle angenommen, damit er die Familie ernähren konnte. Mein Vater hatte ähnliche moralische Grundsätze. Da liegt es nahe, dass auch Eigenschaften vererbbar sind.

Jasmin Tabatabai, Schauspielerin

Um in unserer Gesellschaft bestehen zu können, müssen wir in der Lage sein, andere einzuschätzen: Wer ist mir freundlich gesinnt, wer eher feindlich? Dass uns diese Fähigkeiten quasi schon in die Wiege gelegt werden, zeigen Untersuchungen an der amerikanischen Yale-Universität: Es stellte sich heraus, dass Babys über soziale Kompetenz verfügen, ohne sie speziell gelernt zu haben. Früher als bisher gedacht entwickeln sie zudem komplexe Fähigkeiten. Die Grundlagen dafür gestalten sich dabei erstaunlich früh im Gehirn. »Es hat sich erwiesen, dass viele unserer gängigen Meinungen über Babys falsch sind«, schreibt David Chamberlain. »Wir haben ihre Fähigkeiten missverstanden und unterschätzt. Sie sind keine simplen Wesen, sondern komplex und alterslos – kleine Geschöpfe mit unerwartet großen Gedanken.« Begegnen wir ihnen also mit Achtung und Respekt.

Die kleinen Stars aus Garching und Namibia

Babys sind schlau und wissen mehr, als man ihnen zutraut

Wir kennen die Szene: Eine Mutter sitzt mit ihrem Baby im Café, und augenblicklich erhellen sich die Mienen der Gäste an den Nachbartischen. Durch seine bedingungslose Freundlichkeit und seine scheinbare Hilflosigkeit spricht ein Kleinkind alle Menschen an. Nicht von ungefähr lautet ja die Botschaft aus der Weihnachtsgeschichte, dass ein Säugling den Frieden auf Erden bringt.

Forscher der Uniklinik München fanden bestätigt, dass es uns generell friedlich macht, eine Mutter mit ihrem Baby zu betrachten. Bekannte aus Gilching bei München erzählten mir, dass im Kindergarten ihres Sohnes Noah regelmäßig »Babywatching« betrieben würde, was bedeutet: Mütter kommen mit ihren Winzlingen zu Besuch. Allein der Anblick von Babys entspanne die Kindergartenkinder. Ein Arzt trainiere dann zusammen mit der Erzieherin die Fähigkeit der Kinder zu Mitgefühl und Anteilnahme.

Die Besuche der Babys mit ihren Müttern erzeugen neben besserem Sozialverhalten noch andere positive Aspekte: Die Drei – bis Fünfjährigen schulen ihre Konzentrationsfähigkeit und sind weniger hyperaktiv. Auch ängstliche, introvertierte Kinder profitieren. Sie können sich oft besonders gut in ein Baby hineinversetzen und so Erfolgserlebnisse verbuchen, die sie langfristig offener stimmen. Inzwischen scheint das Münchner Beispiel Schule zu machen.

Ärzte werben für die Verbreitung des »Babywatching« in Kinderkrippen und Tagesstätten.

Auch anderswo wäre dies eine wunderbare Vorbeugung gegen das in allen Menschen vorhandene Aggressionspotenzial, sagen die Forscher aus Bayern.

Bei einer Reise mit Freunden durch die gelbrote Wüste von Namibia kam ich an einem Lager der Himba vorbei, das sie in den Sanddünen aufgeschlagen hatten. Um ein glimmendes Feuer tobten kleine Kinder herum, die nur mit einem Lendenschurz bekleidet waren. Frauen drückten ihre Babys an die Brust, und um den Platz hechelten ein paar Hunde. Ein friedliches Bild.

Total erstaunt war ich dann, als ich eines Tages die Himba-Familien in meinem kleinen Stammkino »wiedertraf«: Denn der französische Dokumentarfilm Babys war lange Zeit der Hit in den Lichtspieltheatern. Hauptdarsteller ist unter anderen der drei Jahre alte Ponijao vom Stamm der Himba in Namibia. Die weiteren Rollen sind mit Bayar, Mari und Hattie besetzt, die in der Mongolei, in Tokio und in San Francisco geboren wurden. Vom ersten Atemzug bis zum ersten Schritt beobachten die Filmemacher das Leben dieser kleinen Menschen, von denen zwei fernab jeder Zivilisation zu Hause sind.

Es gibt ein paar witzige Momente, wenn zum Beispiel eine Ziege aus einer Schüssel säuft, in der das Baby Bayar gerade ein Bad nimmt. In den Steppen der Mongolei wie auch in den Wüsten von Namibia wachsen die Kinder inmitten von Tieren auf, lassen sich von Ziegen, Hunden und Kühen küssen und trinken schon mal das Wasser aus demselben Fluss, in dem sie sich gerade tummeln.

Und wir Zuschauer in dem dunklen Kinosaal erleben beglückt, wie die vier Hauptdarsteller sich im Laufe eines Jahres vom hilflosen Säugling zum selbstbewussten Individuum entwickeln, das sich im Leben behauptet. Hattie erhält Applaus, als sie eine Musikgruppe mit all den fröhlichen Müttern und Vätern entnervt verlässt und nach dem Ausgang sucht. Und als sie das erste Mal eine Banane schält, erkennt sie beglückt deren raffinierten Konstruktionsplan.

Auch dieser Film zeigt, was wir alle zur Kenntnis nehmen sollten: Babys sind schlau und wissen mehr, als man ihnen zutraut. Sie haben ein gutes Gedächtnis und ein genaues Vorstellungsvermögen. Wir sollten sie nicht unterschätzen.

So unterschiedlich die Herkunft von Babys ist und so verschieden die Kulturen sind, in denen sie leben: Wenn sie glucksen und lachen, brabbeln und krabbeln, sind sie sich überall auf der Welt gleich.

Kinder lernen nur von anderen Kindern

Der Kindergarten – von der Betreuungsstätte zur Bildungsanstalt

Madame Chua – die Mutter des Erfolgs?

Leo ist ein Erwachsenen-Kind. Er hat keine Geschwister, und seine Eltern samt den Großeltern kümmern sich seit seiner Geburt mit großem Eifer um ihn. In Leos Zimmer stapeln sich nicht nur die Bücher von Astrid Lindgren und Die Raupe Nimmersatt, auch Geschichten über das alte Rom, die mittelalterlichen Ritter und die ägyptischen Pyramiden sind darunter. Leo ist außerdem bestens informiert über den Herrn der Ringe, über den noch immer verschollenen Kirchenschatz von Lima und die Entdeckung Amerikas.

Doch was Leo vor allem braucht, sind andere Kinder. Kinder lernen nur von Kindern. Kinder brauchen Spielkameraden, um sich sozial zu entwickeln. Wir gehen immer noch davon aus, dass nur wir Erwachsene unseren Kindern etwas beibringen können.

»Die Erwachsenen funktionieren zwar als Vorbilder, aber das Verinnerlichen und Einüben von Fähigkeiten erlernen Kinder nur mit anderen Kindern«, sagt der Schweizer Kinderarzt Remo Largo.

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in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlag: fuchs_design, München Umschlagmotiv: iStockphoto (Button, unbeschriftet) Umschlagfotos: Stefan Gelberg, Frankfurt

eISBN 978-3-641-06125-8

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