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Es geht gut aus. Die Welt wird gerettet. Punkt. Vierhundert Jahre nach den Geschehnissen erzählt ein "Trans-Mensch-Wesen", das als Junge namens Pascal dabei gewesen war, wie es zur Rettung gekommen ist. Im Jahre 2125 feiert die Weltbank, genannt WB, den 75. Jahrestag ihrer globalen Herrschaft: Länder und Nationen sind vernichtet worden, die Menschen leben als Sklaven in Kasten. Doch ihre Schreckensherrschaft bekommt einen Riss, als eine unbekannte Seuche ausbricht. Zeitgleich wird ein Mädchen mit dem Namen Sophia geboren. Pascal, der unter einer tödlichen Lungenerkrankung leidet, wird zusammen mit seinen Freunden auf einer Insel nahe der Küste Frankreichs untergebracht. Sie alle gelten für die WB als "misslungene Humanprodukte", welche ausschließlich für experimentelle Zwecke am Leben gehalten werden. Doch als Sophia als Wächterin auf der Insel auftaucht, wird alles anders. Die Schauplätze der Abenteuer und Metamorphosen wechseln von der Insel erst nach Paris und schließlich nach New York. Unterwegs tauchen sowohl natürliche wie künstliche Verbündete auf. Und was rettet die Welt? Freundschaft, Gewaltlosigkeit und Musik. Denn das Böse kann man nicht besiegen, nur zu Tode lieben.
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Seitenzahl: 594
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Für meinen Enkel Anton Tuto
Zu den Guten bin ich gut,
zu den Nicht-Guten bin ich auch gut;
denn das TAO ist die Güte.
Laotse
Antigone:
Mitzulieben, nicht mitzuhassen,
bin ich da.
Sophokles
Siehe, ich mache alles neu.
Offenbarung des Johannes 21,5
Inhalt
Vorwort
Wir retten die Welt Teil 1
Wir retten die Welt Teil 2
Wir retten die Welt Finale
Danksagung
Vor dreihundert Jahren war ich ein Junge namens Pascal. Ich durfte Zeuge der Ereignisse sein, in denen die damalige Welt gerettet wurde und sich in unsere verwandelte.
Gleich der Welt bin auch ich anders geworden. Meine Geistseele ist nicht mehr an einen einzelnen Körper gebunden oder von der Materie getrennt. Das Leben heute ist geprägt von Berührung und Transformation. Alles fließt ständig ineinander. Unsere Seelen können wandern und andere organische und anorganische Gastgeber, sogenannte „Hostwirte“, besuchen. Die Zahl der Besucher bei einem Hostwirt ist nicht begrenzt. Der Gast aber ist ausschließlich im Kontakt mit dem Gastgeber und empfängt alle Information, welche der Hostwirt seit Anbeginn der Zeit angesammelt hat.
Auch ist die Kommunikation via Gedanken bei uns vollkommen ausgereift. Da ich bei den entscheidenden Veränderungen, welche unsere Zeitalter hervorgerufen haben, persönlich dabei war, hat mich das globale telepathische Netzwerk gebeten, in Form einer telepathischen Erzählung alles mitzuteilen, was geschah, als ich ein Junge war.
Schon im 20. Jahrhundert, lange vor meiner Geburt, fanden entscheidende Veränderungen in der globalen Weltordnung statt. Dieses Jahrhundert erlebte in seiner ersten Hälfte zwei Weltkriege. Nach dem zweiten Weltkrieg herrschte der sogenannte „Kalte Krieg“ zwischen den zwei Weltsystemen Kapitalismus und Sozialismus. Der Kapitalismus siegte über den Sozialismus, aber Gewinnsucht und Umweltmissbrauch gingen weiter, neue Religions- und Ressourcenkriege folgten. Allgemeines Desinteresse und Hinwendung zu Ablenkungen durch Konsum verbreiteten sich wie Seuchen in den Industrieländern, während die Unzufriedenheit in den armen Ländern zu Terrorakten und Umstürzen führte. Gegen Ende des Jahrhunderts stand die ganze Welt am Rande eines Zusammenbruchs.
Die Banken verstanden es jedoch, die globale Sehnsucht nach Erlösung von der zerrütteten kapitalistischen Weltordnung für ihre Zwecke zu nutzen. Sie schlossen sich international zu einer Institution zusammen, die sich „WB“ nannte und peu à peu mit äußerst raffinierten Methoden die Macht übernahm. Ihr ist es gelungen, sowohl die Nöte der Benachteiligten wie die Wünsche der Reichen zu instrumentalisieren. In den armen Gebieten der Welt verbesserte sie zunächst die Arbeitsbedingungen sowie die medizinische Versorgung. Neue Siedlungen wurden aber von Anfang an mit Industriezentren vernetzt und mit der Zeit in Lager umgewandelt. Jegliche Art von Familiengebilde wurde abgeschafft, und als Hauptziele der Erziehung wurden Treue und Dankbarkeit der WB gegenüber propagiert. In den Industrieländern lebten die Menschen in der Spaß-Gesellschaft mit dem Wunsch, die Probleme in anderen Teilen der Welt auszublenden. Dank diesem bereits vorhandenen materialistischen Lebensstil gelang es der WB, alle Erinnerungen an Moral oder Ethik auszumerzen und Geschichte, Religion und Bildung nach und nach aus den Köpfen der Menschen zu verdrängen.
Nach hundert Jahren waren sowohl Demokratien als auch Diktaturen abgeschafft. Weltweit herrschte nur noch das effizient durchstrukturierte Zweikastensystem der WB, bestehend aus der unteren und der oberen Kaste, deren Angehörige „UKs“ und „OKs“ genannt wurden. Für beide Kasten bildeten Hightech, Drogen und Sex die drei Säulen ihres Kontrollsystems.
Die kurze Schulbildung der UKs bestand aus Drill und Training für alle niederen Dienstleistungen. Mit vierzehn Jahren begann für sie das lebenslange Arbeiten. Das selbstständige Denken wurde mit Hilfe von Drogen und Gehirnwäsche unterdrückt und ausschließlich die Weisheit der WB verbreitet. Die UKs sollten glauben, dass alles, was sie hatten: eine Schlafstelle, Nahrung und virtuelle Unterhaltung, der WB zu verdanken war. So programmiert, lebten und arbeiteten sie weltweit in bewachten Wohn- und Arbeitslagern. Ihre Umwelt hatte sich in eine industrielle Wüste verwandelt. Die UKs bewegten sich aber nie außerhalb ihrer Kolonien, sodass Berge oder Wälder ihnen nur auf den riesigen Bildschirmen in ihren Wohneinheiten bekannt waren.
Bis zum fünften Lebensjahr waren die UKs gemeinsam in Kitas untergebracht. Danach wurden die Geschlechter getrennt. Die meisten Menschen arbeiteten in der Produktion, obwohl es auch Stellen für besser Ausgebildete sowie für Aufseher gab. Frauen bis fünfunddreißig Jahre wurden nach Bedarf abgezogen, um von zeugungsfähigen Männern gedeckt zu werden. Weder vor noch nach einer Geburt blieben sie von der Arbeit verschont. Waren die Schwangerschaften einer Frau problemlos, wurde sie wiederholte Male gedeckt und gezwungen, Kinder auszutragen. Kontakt zu den Samenspendern war strengstens untersagt, und nach der Geburt wurden die Säuglinge sofort von den Müttern getrennt und in die Kitas gebracht.
Der Alltag der UKs war berechenbar und eintönig. Sie arbeiteten täglich von 7 bis 20 Uhr. Nach der Arbeit joggten sie vier Runden im Hof. Essen wie zu früheren Zeiten mit Fleisch, Getreide sowie Obst- und Gemüseprodukten gab es nur bei den OKs. Den UKs wurde zweimal am Tag ein flüssiger Cocktail aus chemisch hergestellten Vitaminen, Mineralien und weiteren Nährstoffen verabreicht, der sie für ihre Arbeit genügend fit hielt. Abends gehörte zu diesem Gemisch eine Droge, die sie in einem tranceartigen Zustand versetzte. So vorbereitet, saßen die UKs ab 21 Uhr vor den Bildschirmen. Es wurden abwechselnd Themen wie Pornographie, Abenteuer oder Natur gezeigt, doch alle Angebote beinhalteten versteckt suggestive und manipulierende Anreize, die Fügsamkeit und Lenkbarkeit bewirkten. Nach einer Stunde Gehirnwäsche schalteten sich die Bildschirme ab und ein vibrierender Ton erklang im Raum: das Signal dafür, die kleinen Becher, die an den Stühlen befestigt waren, auszutrinken. Die Sitze klappten danach automatisch in die Horizontale, und darauf fielen alle in einen tiefen Schlaf, bis eine Sirene sie am Morgen weckte. Das Getränk vor dem Schlafengehen enthielt außer Schlafmitteln Zusätze, die alle Körperfunktionen so weit herunterfuhren, dass eine Raumtemperatur von 8 Grad Celsius völlig ausreichte.
Da die Menschen nur zweimal innerhalb von vierundzwanzig Stunden flüssige Nahrung zu sich nahmen, reichte für ihre Ausscheidungen eine speziell entwickelte Windel, die alle sieben Tage gewechselt werden musste. Dieser Wechsel wurde beim wöchentlichen Besuch der Duschhallen vorgenommen. Dort wurden die UKs mit Wasser und Desinfektionsmittel abgespritzt und danach mit frischen Windeln und Arbeitskitteln versorgt. Dieser Säuberungsgang war die einzige Abwechslung im Alltag der UKs mit Ausnahme des Paarungsvorgangs und der Geburten bei den Frauen.
Mit siebzig wurden Männer und Frauen wieder zusammengeführt, für das sogenannte „Jahr der Verwöhnung“. In dieser letzten Phase bekamen sie einen freien Tag pro Woche und mehr Zugang zu Alkohol und anderen Drogen. Die Absicht war, sie damit so auf ihre Tötung vorzubereiten, dass diese reibungslos ablaufen konnte. Als Belohnung für ein verdienstvolles Leben wurde ihnen versprochen, ihren Lebensabend als Auserwählte verbringen zu dürfen. Die Tauglichkeit für diesen „Aufstieg“ sollte mit einer besonderen, dafür entwickelten Vitaminspritze unterstützt werden. So präpariert nahmen die UKs freudig die getarnte Todesspritze an. Mit einundsiebzig Jahren endete das Leben eines UK-Menschen, vorausgesetzt, er oder sie wurde nicht vorher arbeitsunfähig. In diesem Fall verschwand die Person von einem Tag auf den anderen und wurde nie wiedergesehen.
Die OKs stellten nur eine angereicherte Version der UKs dar. Mit Hilfe der gleichen drei Säulen Hightech, Drogen und Sex wurden sie dazu programmiert, sich für die Herrschenden zu halten.
Die OK-Kleinkinder wurden ebenfalls bis zum Alter von fünf Jahren gemeinsam in Kitas untergebracht. Dort herrschte eine strenge Überwachung und anhand von Spielen und Tests wurde entschieden, für welchen von fünf Bereichen sie am besten geeignet waren.
Die Business Class war verantwortlich für den reibungslosen Ablauf jeglicher Geschäfte der WB.
Der Wissenschaftsbetrieb war hauptsächlich beschäftigt mit der Manipulation menschlichen Genmaterials, mit der Entwicklung künstlicher Intelligenz und mit beides verbindenden Züchtungen.
Die Staatssicherheit war Augen und Ohren der WB und übte umfassende Macht und Gewalt sowohl über UKs wie auch OKs aus.
Künstler jeglicher Couleur dienten einer seichten U-Kultur und wurden früh in die Raffinessen der Gehirnwäsche eingeweiht.
Über die sogenannten Auserwählten wusste niemand wirklich Bescheid. Die WB verbreitet gezielt Gerüchte über sie, zum Beispiel, dass sie ein Luxusleben mit allen Freiheiten genössen. Doch was die Menschen am meisten faszinierte, war das Gerücht, dass die Auserwählten im engen Kontakt mit der Spitze der WB stünden. Die einzige wirkliche Funktion der Auserwählten bestand aber darin, als Köder zu fungieren. Wie erwähnt, wurde den UKs versprochen, ihren Lebensabend als Auserwählte verbringen zu dürfen. Bei den OKs wiederum hieß es, dieser Status könne für außerordentliche Leistungen verliehen werden.
In beiden Kasten wurden die gleichen strengen Regeln für die Reproduktionsvorgänge eingehalten. Nach der erfolgreichen Deckung einer Frau unterlagen die werdenden Fetusse ständigen Kontrollen, um „nicht taugliche“ schon im Mutterleib zu entsorgen. Die Neugeborenen holte man per Kaiserschnitt und unmittelbar nach der Geburt wurden sie von ihren Müttern getrennt. Jedem Säugling wurde mit Hilfe einer Kanüle eine Probe der Augenflüssigkeit entnommen, welche Auskunft über Intelligenz und Organtauglichkeit vermittelte. Auf diese Weise gezüchtet, eingeschätzt und katalogisiert, kamen die brauchbaren Exemplare, „Primärsäuglinge“ genannt, entweder in die Kitas der OKs oder die der UKs.
Die Genmanipulation machte rasende Fortschritte unter der Herrschaft der WB und spielte für sie eine zentrale Rolle. Ab dem letzten Viertel des 21. Jahrhunderts zählte ein gezieltes Sortiment von Designerbabys zu ihren größten Errungenschaften. Da Menschen der dunkelhäutigen und der asiatischen Völker dem erotischen Geschmack der Zeit am meisten entsprachen, wurden vorwiegend Mischungen aus diesen gezüchtet und verfeinert. Bei den männlichen Exemplaren stellte ein dunkelhäutiger, muskulöser Mann mit mandelförmigen Augen, zierlicher Nase, vollem Mund sowie großen Genitalien das bevorzugte Modell dar. Bei den weiblichen Designerprodukten gab es zwei Favoritinnen: eine karamellhäutige Frau mit großen Brüsten, blauen Augen und blonden Haaren sowie eine kleine, fast knabenhafte Version mit asiatischen Zügen. Mit der forcierten Hilfe von Wachstumshormonen konnten die Erzeugten schon ab dem zehnten Lebensjahr für die OKs als Sexgespielen und Diener eingesetzt werden. Um zu verhindern, dass die Reproduzierten sich zu sehr ähnelten, mischten die Wissenschaftler gelegentlich Gene von Frauen und Männer der UKs dazu. Das Erscheinungsbild der Designer-Erzeugten in den UK-Kasten war vielfältiger, weil bei ihnen nicht das Aussehen zählte, sondern Körperstärke, Ausdauer und Gefügigkeit.
Die WB blieb für die Menschen unsichtbar. Ähnlich dem Zauberer von Oz hantierte sie hinter ihrem Vorhang aus Macht und Propaganda. 2125 feierte sie das 75-jährige Jubiläum ihrer Machtübernahme in dem festen Glauben, endgültig am Ziel zu sein. Doch wie es in früheren Zeiten geheißen hat: „Hochmut kommt vor dem Fall.“ So von sich selber eingenommen, übersah sie eine heranwachsende Krise, welche eine entscheidende Rolle bei der Überwindung ihres Terrorregimes spielen sollte.
Rechtzeitig zur Feier tauchte sporadisch ein unerklärliches Krankheitsbild bei den OKs auf: Es wurden kleine Verfärbungen, Geburtsmalen ähnlich, bei einigen auf der Stirn registriert. Am Anfang fiel das Phänomen kaum auf und mit etwas Schminke konnte man die Stellen retuschieren. Doch die sichtbaren Male wucherten und die Zahl der Betroffenen stieg stetig. Da die WB fürchtete, die Epidemie könnte sich auch auf die UKs ausbreiten, trieb sie ihre Wissenschaftler an, eine Kur für die Seuche zu finden. Wie ich erklärt habe, wurden vor dieser Forschungsperiode Anomalien jeglicher Art sofort entsorgt. Doch als das Ausmaß der Malkrankheit immer bedrohlicher wurde, besann sich die Herrschaft auf die Versuche an geistig und körperlich behinderten Menschen, welche in Nazi-Deutschland durchgeführt worden waren. Angesichts der neuen Herausforderungen beschloss sie, Reservate für Menschen mit verschiedenen Abweichungen und Behinderungen anzulegen. Diese sogenannten „Zoos“ wurden streng geheim weltweit in nicht besiedelten Gegenden eingerichtet und eine spezielle Einheit für ihre Überwachung ausgebildet. Die Forschungslabors durften jederzeit aus diesem „Vorrat“ Exemplare für ihre Experimente anfordern.
Im Jubiläumsjahr 2125, als die Male auftauchten, kam ein Kind zur Welt, welches nach den Richtlinien für die UKs bestimmt war. Dieses Kind aber wich völlig von jeglicher bisherigen „Norm“ ab. Der Mann und die Frau, die zur Paarung ausgewählt worden waren, sahen sich bei der Deckung an und es war Liebe auf den ersten Blick. Bezeichnenderweise hieß die Frau Eva und der Mann Adam, wie das erste Menschenpaar nach der jüdischen Erzählung des Buches „Genesis“ aus dem Alten Testament. Ihre Herzensbindung bei der Zeugung prägte den werdenden Erdenmenschen auch weiterhin im Mutterleib. Die tiefe Zuneigung zwischen Adam und Eva erkannten die Züchter. Daher wurde Adam unmittelbar nach der Deckung entsorgt und Eva nach der Geburt. Doch das neugeborene Mädchen ließ man am Leben und gab ihm den Namen Sophia.
Sophia wuchs also genau in der Zeit heran, in der die Malkrankheit zunahm. Im Nachhinein konnte man gewisse Parallelen dazu sehen, denn auch Sophia war auf ihre Art ansteckend. In den ersten fünf Jahren ihres Lebens übersahen die Aufpasser ihre Besonderheiten. Doch weil die Gehirnwäsche in der Kita noch nicht so ausgeprägt war, konnten die anderen Kinder durchaus ihre Ausstrahlung wahrnehmen. Intuitiv suchten sie Sophias Nähe und die Begegnung mit ihr hinterließ tiefe Spuren. Später, als Erwachsene, steckten sie ihrerseits andere mit dieser sonst längst vergessenen Freude an.
Sophias Vater war dunkelhäutig gewesen und ihre Mutter trug die Züge von Menschen aus den Südseeregionen. Im Aussehen wies sie die Vorteile von beiden Eltern auf. Sie hatte kastanienbraunes, welliges Haar, das sich um ihr ovales Gesicht lustig kringelte. Ihre Haut war olivenfarbig und die Augen tief schokoladenbraun. Sie war nicht groß von Gestalt und besaß eine leicht rundliche Figur. Doch ihr Aussehen war nicht das Entscheidende. Eher zog Sophia die Menschen in ihren Bann durch ihre anmutigen Bewegungen sowie mit dem Klang ihrer Stimme. Wer ihr einmal begegnete, wurde für immer verändert. Es war, als ob längst verschüttete Sehnsüchten nach Zärtlichkeit und Beziehung zurück ins Leben geküsst wären.
So verrucht es auch klingt, die Tatsache, dass ich als Zoo-Mensch aufwachsen dürfte, war ein echtes Privileg. Die Zoos waren die einzigen Orte auf der ganzen Welt, an denen Menschen sich frei entfalten konnten. Bei uns machte die WB sich nicht die Mühe, uns die üblichen Abläufe von Arbeit und Gehirnwäsche, die für die UKs galten, aufzuzwingen. Für sie waren wir schlichtweg Laborratten, welche nach ihrer Nutzung bei Experimenten wie Abfall entsorgt werden konnten.
Abgesehen von den wenigen Aufpassern hatten wir keine Möglichkeiten, uns mit „gesunden“ Menschen zu vergleichen. Wir erlebten unsere buntgemischte Truppe mit all ihren Eigenarten als völlig normal. Obwohl ich bei meiner Geschichte der Einfachheit halber gelegentlich diagnostische Bezeichnungen benutze, spielten diese Begriffe in unserer Welt keine Rolle. Wir schätzten unsere unterschiedlichen körperlichen und geistigen Fähigkeiten und im Alltag ergänzten wir uns gegenseitig und teilten sie alle miteinander. Die Tauben, zum Beispiel, führten die Blinden spazieren, die Schizophrenen erzählten den Gehbehinderten Geschichten und die Down- Syndrom-Betroffenen sammelten Steine und Muscheln für die aufwendigen Sandburgen der Autisten. Diese auf natürliche Weise entstandenen Soli-dargemeinschaften sollten für den weiteren Verlauf unserer Geschichte von zentraler Bedeutung sein.
Meine Kindheit spielte sich auf einer abgelegenen Insel ab. Das Klima war tropisch mild und wir lebten frei in der Natur. Geschlafen wurde in einfachen Hütten oder am Strand unter den Sternen. Wir konnten uns zum größten Teil selbst versorgen, betrieben Getreideanbau und pflegten eine große Gemüseanlage. Es gab auch Nutztiere wie Hühner, Kühe, Esel und Schweine. Im Laufe der Zeit hatten auch einige Hunde und Katzen als „blinde Passagiere“ auf Zulieferungsschiffen den Weg zu uns gefunden.
Bei mir hatte man Mukoviszidose diagnostiziert, eine Krankheit der Atemwege, welche normalerweise zu einem frühen Tod führt. Ich bekam den Namen Pascal und wurde schon in der Kita-Zeit auf unsere Insel gebracht. Ich war im Allgemeinen schwächer als die anderen Kinder und hatte oft Probleme mit der Atmung. Die durchsichtige Haut und meine großen, tiefliegenden Augen gaben mir ein etwas unheimliches Aussehen. Von allen wurde ich liebevoll akzeptiert, doch wegen der Erschöpfung, welche die Krankheit mit sich brachte, zog ich mich oft allein zurück. War aber die Inselluft mit Feuchtigkeit geladen, fiel es mir leichter zu atmen und auch ich konnte glücklich am Strand und in den Dünen mit den anderen herumstreichen. Auch besuchte ich die Tiere gerne und hatte schon eine dicke Freundschaft mit dem Hund Timi und dem Esel Matthias geschlossen. Von den Einschränkungen abgesehen, welche meine Krankheit mit sich brachte, genoss ich eine glückliche Kindheit.
Da die Praxis der Aufbewahrung von „misslungenen Subjekten“ noch relativ jung war, gab es bei uns viele Kinder. Die Erwachsenen, die auf die Insel kamen, hatten später im Leben Anomalien entwickelt. Beim Wachpersonal waren beide Geschlechter vertreten und auch sie besaßen Freiheiten, die ihre Arbeitskollegen woanders nicht genossen. Ihnen wurden erlaubt, bei Unruhen auch Drogen einzusetzen, aber es gab einfach nie bedrohliche Situationen bei uns. Daher verringerten sich mit der Zeit die Unterschiede zwischen uns und unseren Aufpassern. Oft saßen sie in ihrer Freizeit mit uns am Strand. Abends konnte es vorkommen, dass wir gemeinsam große Lagerfeuer anzündeten, die eigens geernteten Kartoffeln rösteten und frische Kokosmilch genossen. Je nach Stimmung sannen wir nach, woher wir kamen und wie die Welt vielleicht früher ausgesehen hatte.
Wir lebten alle ohne jegliches Wissen von Kalenderabläufen, aber ich muss ungefähr zehn Jahre alt gewesen sein, als ich Sophia das erste Mal sah. Sie stieg aus einem Boot mit weiterem neuem Wachpersonal. Obwohl sie in einer Traube von Menschen lief, waren alle Augen auf sie gerichtet. Von weitem konnten wir ihr ansteckendes Lachen hören. Diejenigen, die mit ihr das Boot verließen, wirkten entspannt und glücklich. Obwohl noch jung, spürte ich, dass mit Sophias Ankunft etwas sehr Wichtiges geschah.
Eine der frühen Begegnungen mit Sophia war an einem lauen Abend mit anderen Kindern am Strand. Sophia hielt ein Baby auf dem Schoss und summte leise vor sich hin, während sie es sanft wiegte. Wir lauschten ihrem Summen sowie dem Anschlagen der Wellen, das auf wunderbare Weise im Einklang mit ihrer Stimme schien. Zum ersten Mal nahmen wir etwas wahr, was es in unserem bisherigen Leben noch nie gegeben hatte: Musik.
Marie, eine kleine Autistin, fragte Sophia, was das für Geräusche waren. Dabei drängte Marie ihr Gesicht ganz nah an Sophias, während sie diese Frage stellte. Sophia spürte, dass Marie nicht berührt werden wollte. Sie blies Marie leicht an die Augenlider, worauf das Mädchen dann neben ihr Platz nahm. Mit der Zeit konnte ich beobachten, wie Sophia für die Autistin, die Taubstumme sowie auch für andere jeweils eine spezielle Art der Kommunikation erfand. Auf Marias Frage hatte Sophia aber keine Antwort. Sie meinte, die Töne kämen einfach aus ihrem Innern.
„Geräusche … schöne Geräusche“, hat ein anderer autistischer Junge gerufen, der wie ein Vogel herbeigeflattert kam und Kreise um uns gezogen hat. „Manchmal mache ich sie auch“, meinte er, „aber deine sind besonders schön.“
Sophia hatte das Baby vorsichtig hingelegt. Der Säugling zuckte, gab ungleichmäßige Laute von sich und rollte die Augen nach oben, doch der warme Sand schien ihm zu gefallen. Kurz ahmte Sophia die Laute des Kindes nach und wir konnten sehen, dass es genau hinhörte und sich noch mehr beruhigte.
Sophia bat den kleinen Flatterer, der Viktor hieß, die anderen Kinder zu holen. Sie wollte schauen, ob nicht alle zusammen Töne machen könnten. Vergnügt flatterte Viktor im Eiltempo fort. Unterwegs traf er Anton, Maries großen Bruder, und zusammen kündigten sie an, dass es ein Geräusch-Treffen bei Sophia am Strand geben sollte.
Ihr könnt euch nicht vorstellen, was für eine Freude ausgebrochen ist in dieser Nacht! Mit der Zeit kamen auch die Erwachsenen herbeigeströmt. Es wurden Lagerfeuer entlang des Strandes angezündet und dann ging es los! Sophia stand am größten Feuer, das Baby auf dem Arm, und wir Kinder um sie herum. Mit einem breiten Lächeln öffnete sie ihren Mund und sang einen lang anhaltenden Ton. Später wusste ich, dass Sophia eine Altstimme hatte, doch damals nahm ich nur das wundersame Vibrieren und die Fülle dieses Tones wahr. Der Klang schien uns alle am ganzen Körper sanft zu massieren. Just als ich glaubte, Sophia müsste unbedingt Luft holen, fingen Marie und Anton den Ton auf und führten ihn mal höher, mal tiefer in andere Lagen. Diese seltsame neue Welt der Melodien nahm uns alle Hemmungen und wir fingen an, uns um die Lagerfeuer zu bewegen. Sämtliche Verkrampfungen und Zuckungen glätteten sich, als wir uns langsam in freien Tanzbewegungen zu unseren eigenen Rhythmen drehten. So tanzten und sangen wir die ganze Nacht hindurch. Wer müde wurde, legte sich einfach in den Sand und schlief. Morgens wachten wir beim sanften Anschlagen der Wellen auf und fanden uns umringt von Tieren: Kühe, Hühner, Katzen, Hunde, Schweine, Esel, ja sogar einige aus dem Dschungel, obwohl noch scheu, wurden von der neuen Stimmung angezogen und hielten sich am Rande des Strandes auf. Die Katzen schnurrten um uns herum und die Kühe ließen uns die Milch direkt aus ihren Eutern trinken. Ich hatte damals keine Ahnung von den großen Veränderungen, die bevorstanden, aber rückblickend bin ich sicher, dass sie in dieser Nacht anfingen, Wirklichkeit zu werden.
Unser Leben veränderte sich von diesem Tag an im rasenden Tempo. Alle Schranken zwischen uns und den Aufpassern verschwanden. Wir teilten die anfallenden Arbeiten auf den Feldern und sonst wo miteinander und fingen an, eine Klippenstadt zu bauen. Die Idee dazu nahmen wir von unseren Bienenvölkern. Die neuen Wohnungen schmiegten sich an die Hänge und waren miteinander vernetzt. Die Menschen mit körperlichen Einschränkungen wohnten ganz unten, alle anderen stiegen an Lianenleitern hoch. Die Bauten waren schöner und stabiler als unsere ehemaligen Hütten am Strand. Oft saßen wir in der Frühe in den Türen unserer „Waben“, schauten, wie die Sonne als roter Ball aus dem Ozean stieg und summten Melodien. Mit der Zeit waren uns einfache Texte zu den Melodien eingefallen. Sophia klärte uns auf, dass man früher zu unseren Liedern und Kompositionen „Balladen“ gesagt hat, weil sie Geschichten erzählten. Wir aber klagten, dass wir nicht so viele Geschichten zu erzählen hatten! Daher lehrte sie uns ein tieferes Verständnis für die Natur, das Wetter, den Sternenhimmel und insbesondere für die Tiere. Bald erfanden wir Lieder über sprechende Kühe und fliegende Hunde. Das Schönste war, dass beim Singen niemand stotterte und viele unserer sonstigen Verkrampfungen sich entspannten. Daher sangen wir täglich viel und gern.
Ich habe schon erwähnt, dass die Labors der WB uns jederzeit für Experimente anfordern konnten. Selbst die Aufseher wussten nichts von dem Schicksal der Menschen, die abgeholt wurden. War ein Boot vom Festland da gewesen, wurden danach manche vermisst. Als es allen klar war, dass das Schiff sie mitgenommen hatte, sangen wir traurige Lieder und umarmten uns weinend. Allein Sophia wusste, was mit den Menschen passieren würde. Jedes Mal verhüllte sie ihr Haupt und ging in den Dschungel. Nur Timi, der Hund, durfte sie begleiten.
Eines Abends fehlten, obwohl kein Boot da gewesen war, zwei Leute. Es handelte sich um Viola, die Schweigende, und um Helene, die Vergessliche. Da Helenes Gedächtnislücken erst im höheren Alter entstanden waren, kam sie spät auf die Insel und gehörte zu den Ältesten unter uns. Viola war zu der Zeit ungefähr vierzehn Jahre alt und Helene nahm sie auf wie eine Mutter, obwohl sie vom Verstand her nicht wusste, was sie tat. Viola wiederum störte es nicht, wenn Helene zwischendurch vergaß, wer sie war. Sie stellte sich ihr einfach immer wieder neu vor und brachte Helene geduldig die Gebärdensprache bei. Mit der Zeit wurden die zwei enge Freundinnen. Oft unternahmen sie ausgedehnte Spaziergänge, waren aber gegen Sonnenuntergang immer für das Abend-Treffen zurück. An diesem Nachmittag, es war Monsunzeit, saßen wir am Strand und bewunderten das Naturereignis der Trockenblitze, die zwischen den Regengüssen am Himmel zu sehen waren. Als der Abend dämmerte, waren Helene und Viola noch nicht zurück. Es wurde beschlossen, gleich bei Tagesanbruch auf die Suche nach ihnen zu gehen.
Obwohl meine Krankheit mir gelegentlich zu schaffen machte und ich jünger wirkte als meine fünfzehn Jahre, war ich viel kräftiger, als es normalerweise von Mukoviszidose-Betroffenen in meinem Alter zu erwarten gewesen wäre. Und ich war fest entschlossen, bei der Suchtruppe dabei zu sein! Also nahm ich all meinen Mut zusammen und ging zu Sophia. Ich trug ihr mein Verlangen vor und merkte, wie sie kurz zögerte. Sofort sanken meine Hoffnungen, doch als sie sprach, konnte ich meinen Ohren kaum trauen.
„Du darfst mit, Pascal, aber nur, wenn du jetzt sofort schlafen gehst. Vor dem Aufstehen fang im Liegen schon damit an, beim Ein- und Ausatmen lange, gleichmäßige Töne zu üben. Während wir unterwegs sind, musst du summen. Immer, hörst du, bei jedem Atemzug! Nur so wirst du die nötige Kraft für die Suchpartie aufbringen“, schloss sie.
Ich versprach, mich an ihre Anweisungen zu halten, und ging glücklich schlafen. Am Morgen wurde ich von dem starken Prasseln des Regens wach. Es goss im Strömen, doch ich freute mich, weil die Feuchtigkeit mich leichter atmen ließ. Unbekümmert von dem Regen zogen wir zu fünft mit dem Hund Timi los: Sophia und Dirk, die zwei Aufseher, Viktor, der Flatterer, Frauke, die Fröhliche, und ich, Pascal, der Luftschnapper. Viktor war mit seinen vierzehn Jahren der Jüngste, aber weil er unentwegt herumrannte, war er schon sehr kräftig und einen Kopf größer als ich. Timi hatten wir vorher Kleidungsstücke von den Vermissten zum Riechen gegeben, aber eine Spur im Regen zu finden war schier unmöglich. Zuerst klapperten wir die bekannten Aufenthaltsorte der beiden ab, doch ohne Erfolg. Während des ganzen Weges summte ich vor mich hin. Es war auch wirklich hilfreich, denn sobald wir den Strand verlassen hatten, mussten wir in den Dschungel eindringen. Dort waren nicht immer erkennbare Pfade vorhanden, es war rutschig und ging auch mal bergauf.
Sophia führte uns an eine allerletzte Stelle, von der sie wusste, dass Viola und Helene gerne hingingen. Es war ein alter Baum, der so stark ausgehöhlt war, dass wir spielend darin Platz hatten. Welche Erleichterung, wieder im Trockenen zu stehen! Es war dort ziemlich düster, aber mit der Zeit gewöhnten sich unsere Augen daran und wir stellten fest, dass ein Tisch in der Ecke stand, auf dem ein Stück Papier lag. Dirk faltete das Papier auseinander. Es war eine Landkarte! Die Karte schien alt zu sein, doch ihren Inhalt konnten wir in dem trüben Licht gerade noch entziffern. Sie zeigte einen Weg von dem Baum aus an einen fremden Ort. Ein Hinweis stand auch geschrieben, dass es unterwegs Bäume mit roten Zeichen zur Orientierung geben würde.
Viktor fing vor Aufregung an herumzuflattern, doch Sophia ließ ihre flache Hand langsam nach unten sinken und er beruhigte sich. Ich hatte in der Höhle aufgehört zu summen. Jetzt bat sie mich, einen tiefen Ton zu erzeugen. Der Ton bewirkte eine konzentrierte Stimmung in unserem kleinen Kreis, sodass in aller Ruhe die Karte studiert werden konnte. Wir hofften, Viola und Helene mit ihrer Hilfe zu finden. Da der Monsunregen leicht nachgelassen hatte, beschlossen wir weiterzugehen. Es zeichnete sich wirklich ein stark überwucherter Weg ab, aber mit Hilfe der markierten Bäume kamen wir gut vorwärts. Der Pfad führte uns in einen Teil der Insel, in dem wir bis dahin noch nie gewesen waren.
Mit der Zeit wurde der Weg besser begehbar und war teilweise sogar gepflastert. Auf einmal standen wir vor einem Torbogen, der eindeutig von Menschenhand gebaut worden war! Ich rannte voll Freude auf das Tor zu, als Sophias Warnschrei die Luft durchschnitt und ich auf der Stelle stehenblieb. Daraufhin nahm sie einen großen Stein und schmiss ihn in die Mitte des Bogens. Der Stein stieß in der Luft auf etwas und prallte zurück. Vorsichtig untersuchten wir den Raum links und rechts vom Tor und stellten fest, dass eine unsichtbare Wand uns draußen hielt. Wir befürchteten, dass Viola und Helene auf der anderen Seite der Wand gefangen sein könnten. Wenn unsere Vermutung aber stimmte, wie waren sie dort hingekommen, und noch entscheidender, wie kamen sie da wieder heraus?
Sophia schlug vor, dass wir singen sollten, so laut wir konnten. Also sangen wir uns die Kehlen aus den Leibern: alle Lieder, die wir erfunden hatten, alle Töne, ja sogar Timi stimmte mit seinem Gejaule ein. Und siehe da, es bewegte sich etwas auf der anderen Seite der Wand, und Viola und Helene traten aus dem Gebüsch! Sie machten einen erschöpften Eindruck, waren aber überglücklich, uns zu sehen. Insbesondere Helene wirkte sehr verstört und klammerte sich an Viola. Ihr graues, wirres Haar war notdürftig zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und ihre Kleider hatte sie zum Teil falsch herum an. Viola, unser „Schokoladenmädchen“, wie wir sie gerne nannten wegen ihrer Haut und der dunkelbraunen Augen, ging ebenfalls schleppend und mit mattem Blick. Doch es gelang ihr, Helene dazu zu bringen, sich uns gegenüber auf der anderen Seite der Wand hinzusetzen. Mit Hilfe der Gebärdensprache erzählte Viola von ihrem Abenteuer:
Vor ungefähr einem Jahr hatten sie den ausgehöhlten Baum entdeckt sowie die Landkarte auf dem kleinen Tisch. Sie folgten der Karte bis zum Torbogen und standen, genau wie wir jetzt, ratlos davor. Immer wieder gingen sie gemeinsam dorthin. Dirk fragte, warum sie niemandem davon erzählt hatten. Viola erklärte, dass Helene es immer wieder vergessen hatte und dass sie, Viola, vollauf damit beschäftigt gewesen war, auf Helene aufzupassen. Die beiden wurden magisch zu dem Torbogen hingezogen und saßen oft an die unsichtbare Mauer gelehnt und rätselten, was sich wohl dahinter befand. So kam es an dem Nachmittag des vorigen Tages, dass sie hier das gleiche Schauspiel der Trockenblitze am Himmel schauten wie wir am Strand. Doch plötzlich traf ein Blitz die Mauer, es krachte kurz, sie öffnete sich und schloss sich wieder, wobei Viola und Helene auf die andere Seite geschleudert wurden!
„Wir werden einen Weg finden, die Mauer zu öffnen“, sagte Sophia bestimmt, „doch erzähle uns, was ihr drüben gefunden habt!“
Viola berichtete, dass der Weg vorerst weiterging wie auf unserer Seite, aber dass sie bald auf eine offene Rodung trafen. Es sah so aus, als ob dort früher Felder bestellt wurden. Ein Stückchen weiter tauchten einzelne Häuser auf und schließlich eine richtige Siedlung. Da der Dschungel wieder vorgerückt war, schätzte sie, es musste länger her sein, dass dort Menschen lebten. Richtig untersucht hatten Viola und Helene aber bisher nur wenig. Sie hielten sich meistens in der Nähe der Mauer auf in der Hoffnung, von uns gefunden zu werden.
Mehrere Tage liefen wir die Wand entlang, um die Energie-Quelle zu finden und auszuschalten. Viola und Helene gingen auf der anderen Seite immer mit, doch unsere Suche blieb erfolglos. Und so kam es, dass wir eines Abends am Strand in einer äußerst betrüblichen Stimmung zusammensaßen. Sophia schaute lange in die Flammen des Lagerfeuers, bis sie uns endlich ihre Überlegungen mitteilte:
„Vielleicht gehen wir die Sache zu logisch an. Wir könnten stattdessen überlegen, wer von uns Begabungen besitzt, die bei der Aufgabe helfen könnten.“ Sie ließ ihren Blick in der Runde schweifen, bis er auf Zoé fiel. Zoé war in Violas Alter, dünn und schlaksig und gab sich gerne burschikos. Sie rasierte ihren Kopf und hatte aus gefundenen Knochen Schmuck geschnitzt. Ohren, Zunge und Bauchnabel hatte sie selber mit einem spitzen Stein gepierct. Das Besondere an ihr aber war ihre Stimme. Wie Viola sprach sie nie, doch sie konnte einen so hohen, schrillen Ton von sich geben, dass Glas splitterte. Es gab wenig Glas auf der Insel, doch das, was wir hatten, wurde vor Zoé sichergestellt.
Zoé trat vor. Danach bat Sophia Viktor, den phänomenalen Flatterer, auch in die Mitte zu treten. Wie gesagt, Viktor war groß und drahtig und das ständige In-Bewegung-Sein hatte ihm Schnelligkeit und Kraft verliehen. Und mit seinem Flattern konnte Viktor eine Menge Energie erzeugen. Manchmal glaubten wir, er würde irgendwann wie ein Vogel abheben. Als Dritte wählte Sophia Carolin, das neue Baby. Carolin war kein halbes Jahr alt, blind und spastisch und Sophia meinte, bei ihr sei die pure Kraft der Liebe am stärksten ausgeprägt. Als die drei „Hauptquellen“ geklärt waren, bat Sophia mich, Matthias, den Esel, sowie einige seinesgleichen zu holen.
Mit ihnen zusammen zogen wir am nächsten Tag erneut zur Mauer. Dirk führte Matthias, auf dessen Rücken Sophia saß mit Baby Carolin auf dem Arm. Links und rechts von ihnen liefen Viktor und Zoé. Frauke, Timi und ich bildeten die Nachhut mit den weiteren Eseln. Angekommen erzählten wir Viola und Helene von unserem Plan, die Mauer mit gesammelten Energien zu sprengen. Wir positionierten uns so, dass alle Menschen und Tiere in Kontakt miteinander waren und gleichzeitig Berührung mit der Mauer hatten. Viola und Helene pressten sich an die andere Seite. Viktor aber folgte Sophias Anweisungen und rannte frei herum, mal uns, mal die Mauer berührend. Auf ein Zeichen von Sophia hielten wir alle die Luft an. Nur das Flattern von Viktor war zu hören. In diese Stille hinein öffnete Zoé ihren Mund und ließ einen markerschütternden Schrei los, während Sophia vorsichtig die Mitte des unsichtbaren Tores mit Carolins Körper berührte. Es gab einen tosenden Lärm und die Mauer hörte ein für allemal auf zu existieren! Zu unserem Erstaunen rief Zoé laut: „Getan!“ und wischte sich den Staub vom Gesicht. Vor Schreck waren viele von uns umgefallen und die Tiere rannten ziellos durch die Gegend. Sophia brauchte mich nur anzuschauen und ich wusste, was zu tun war. Ich fing an, einen langen, tiefen Ton zu summen. Nach und nach stimmten die anderen mit ein und die Tiere beruhigten sich wieder. Sophia nahm unsere zwei Ausreißer in die Arme und geschafft, aber glücklich machten wir uns auf den Weg zurück in die Siedlung.
Lange saß ich an diesem Abend in der Dunkelheit am Strand und sann nach über die erlebten Ereignisse. Es war aufregend, sich vorzustellen, dass uns große Abenteuer bevorstanden! Doch wie groß sie in Wirklichkeit sein würden, hätte ich mir in meinen kühnsten Träumen nie ausmalen können.
Am nächsten Tag hatte der Monsunregen nachgelassen. Sophia war vor Sonnenaufgang aufgestanden, um mit Dirks Hilfe am Strand einen großen Kreis in den Sand zu zeichnen und ein Treffen aller Siedlungsmenschen vorzubereiten. Unsere Plätze waren mit unseren persönlichen Zeichen, wie Sonne, Mond, Stern, Baum oder Pflanze, markiert. Wer ein Tier betreute, bekam ein zweites Zeichen, welches besagte, dass das Tier mitgebracht werden sollte. Insgesamt waren wir vierundvierzig Leute. Wir alle spürten die Anspannung, als wir unsere Stellungen einnahmen.
Vor jedem von uns lag eine Frucht. Als Erste nahm Sophia ihre Frucht und brach sie in drei Teile. Carolin, die bei ihr auf dem Schoss lag, gab sie einen winzigen Bissen von dem ersten Stück und aß den Rest. Danach legte sie das zweite auf die Palmenblätter, welche die Mitte des Kreises markierten, und reichte Zoé, die links von ihr saß, das dritte Stück. Zoé aß das geschenkte Stück von Sophia und brach ihre Frucht in zwei Teile. Einen Teil legte sie ebenfalls in die Mitte und reichte mir den zweiten. Das Teilen wurde vollzogen, bis Dirk, rechts von Sophia, ihr das letzte Stück Frucht gab und sie es stellvertretend für uns alle auf die Palmenblätter legte. Danach erzählte Sophia von der verlassenen Siedlung hinter der Mauer. Sie schlug vor, dass die Beteiligten beim Öffnen der Mauer, mit Ausnahme von Carolin, mit weiteren von uns eine neue Expedition bilden sollten, um diese Siedlung zu untersuchen. Sophias Vorschlag fand allgemeine Zustimmung.
Auf die Frage, wie die Verbindung zwischen der Expedition und dem Lager aufrechterhalten werden könnte, bot Alice, die Hinkende, folgenden Vorschlag an: Sie hatte einen großen schwarzen Vogel gezähmt und war sicher, dass er lernen könnte, Botschaften hin und her zu fliegen. Daher wurden Alice und Tutz, der Vogel, als weitere Mitglieder der Expedition aufgenommen. Auch Matthias, der Esel, sollte mitgehen und helfen, das Gepäck zu tragen.
Nacheinander wurden die weiteren Namen der Expedition feierlich aufgerufen. Wir standen auf und platzierten uns innerhalb des Symbols. Es waren:
Sophia, die Schenkende
Dirk, der Inselführer
Frauke, die Fröhliche
Zoé, die Wilde
Viktor, der Flatterer
Helene, die Vergessliche
Viola, die Schweigende
Alice, die Hinkende
Tutz, der Vogel
Timi, der Hund
Matthias, der Esel
ich, Pascal, der Luftschnapper
Schwieriger war es, der Gefahr von außen zu begegnen. Jederzeit konnte ein Schiff auftauchen und dann durfte nicht auffallen, dass einige von uns fehlten beziehungsweise etwas Unerlaubtes taten. Wir entwickelten folgenden Plan: Ankömmlinge sollten vom Anlegen abgehalten werden mit der Begründung, auf der Insel herrsche eine Typhusepidemie. Anton, genannt „der Hellhörige“ wegen seiner Gabe, Ereignisse weit im Voraus wahrzunehmen, sollte mit seiner Schwester Marie und dem Aufpasser Herbert Ausschau nach Schiffen halten. Anton konnte ein Schiff aufspüren, lange bevor es am Horizont erschien. So würden die Inselbewohner Zeit haben, eine schwarze Flagge zu hissen und ein Krankenlager am Strand vorzutäuschen.
Am Ende der Besprechung baten wir das herzschwache Ehepaar Susanne und Rainer, in unserer Abwesenheit für die Leitung der Siedlung zu sorgen.
Auf den Palmenblättern lagen die Gaben, die unseren ersten Proviant darstellten. Wir verbeugten uns vor den Siedlungsmenschen und dankten ihnen für ihr Vertrauen. In die Abenddämmerung hinein ließen wir den Strand mit mächtigen Lagerfeuern leuchten und tanzten und sangen bis nach Mitternacht. Der strahlende Vollmond schien sich über unser Vorhaben zu freuen
Am nächsten Morgen war unsere Truppe hochgradig motiviert und in Bewegung. Der Vormittag diente allen weiteren Vorbereitungen. Endlich war das Gepäck verteilt und Matthias nahm den Rest freiwillig auf seinen Rücken. Nur Marie war untröstlich und nicht in der Lage, sich von ihrem liebsten Freund Matthias zu trennen. Sie hielt ihre Arme fest um seinen Hals geschlungen und ihre Tränen befeuchteten sein weiches Fell. Matthias war zutiefst gerührt und gleichzeitig verwirrt, denn er wusste nicht, wem seine Loyalität in der Situation gebührte. Doch dann übernahm Herbert die Initiative. Sanft löste er Marias Griff von dem Esel und trug sie zu ihrem Bruder Anton, der schon seine Stelle am Strand als Wächter eingenommen hatte. Unterwegs küsste Herbert Maries Tränen weg und versicherte ihr, dass es Matthias unterwegs sicherlich gut gehen würde und dass sie jetzt mit ihm und mit Anton eine wichtige Verantwortung trug: die Insel zu bewachen.
Wir zogen los. Auf dem Marsch zu der ehemaligen Mauer half uns das Singen, die inneren Spannungen vor den kommenden Ereignissen abzubauen. Ab dem Torbogen überließ Sophia Viola die Führung und gegen Abend kamen wir an die ehemaligen Felder. Wir hatten es eilig, vor Einbruch der Dunkelheit die Siedlung zu erreichen, als Helene plötzlich den Pfad verließ und in den Dschungel rannte, die besorgte Viola hinterher. Die Zeit schien still zu stehen, bis Viola endlich auftauchte und uns mitteilte, dass Helene ein Flugzeug entdeckt hatte und stur darauf bestand, bei dem Wrack zu bleiben. Viola wollte dort mit ihr übernachten und versprach, uns in der Frühe zu holen, damit wir zusammen das Flugzeug untersuchen konnten. Sophia meinte, es wäre wegen der Verbindung besser, wenn Alice und Tutz ebenfalls bei der Absturzstelle blieben und Timi als Schutz mitnähmen. So entschieden, eilten die zwei Teile der Expedition zu ihren Schlaflagern. In der Siedlung fanden wir ein Haus mit einem intakten Dach und breiteten unsere Decken aus. Vorsichtshalber zündete Dirk noch kein Feuer an und er und Sophia übernahmen abwechselnd die Nachtwache. Wir Jüngeren schmiegten uns an Matthias’ weiches Fell und schliefen selig ein.
Sehr früh erschienen Alice, Tutz, Timi und Viola mit Helene an der Hand bei uns in der neuen Siedlung. Sie alle sahen übernächtigt aus und Alice erklärte, dass sie versucht hatten, an der Absturzstelle zu schlafen, aber dass ein Piepsen aus dem Flugzeug sie die ganze Nacht wachhielt. Helene hatte weder ihr noch Viola erlaubt, nach der Ursache des Geräusches im Innern des Flugzeugs zu schauen. Vereint marschierten wir los zur Absturzstelle. Das Piepsen wurde deutlicher, je näher wir ihr kamen. Dirk meinte, das Flugzeug sei ein uraltes Modell, doch wir Jüngeren freuten uns einfach, eine Flugmaschine, egal wie alt, aus der Nähe zu betrachten. Dass etwas Technisches noch aktiviert zu sein schien, erhöhte die Spannung erheblich. Dirk konnte sofort das Geheimnis lüften. Er sagte, dass ein Funkradio im Flugzeug noch von irgendwo auf der Insel Signale empfing. Doch als er in das Cockpit steigen wollte, blockierte ihm Helene den Weg. Zu unserer Verwunderung sprach sie plötzlich klar und deutlich in einer tiefen, fremden Stimme:
„Du darfst hier nicht hineingehen. In einem Traum sprach der Pilot zu mir. Er sagte, dass ich euch hierherführen sollte, aber dass ich zuerst allein in das Cockpit steigen müsste, um mit ihm zu reden.“
Ungewöhnlich ernst schaute Helene uns alle an. Dann drückte sie die Cockpit-Tür auf und stieg in das Flugzeug. Es dauerte nicht lange, bis sie strahlend wiedererschien. Vom Inneren des Cockpits reichte sie uns nach und nach eine Unzahl menschlicher Knochen. Zum Schluss kam ein Schädel zum Vorschein. Weiterhin mit der fremden Stimme erklärte sie, dass die Knochen über viele Geheimnisse der Insel Bescheid wüssten und dass wir sie unbedingt in die verlassene Siedlung bringen sollten. Doch als Helene das Flugzeug verließ, hatte sie alles vergessen: den Traum, die Botschaft und die geheimnisvollen Knochen. Sie war wieder sie selbst und wollte nur mit Viola ein Stück Obst essen. Daher konnte Dirk ungehindert in das Cockpit steigen. Nach einer gewissen Zeit kam er wieder heraus und meinte, irgendwo auf der Insel müsse ein großer Sender sein, mit dem das Flugzeug noch aktiv in Kontakt sei. Doch das Radio ließ nur ein Rauschen hören und er konnte nichts Genaueres einstellen. In dem Wrack fanden wir Dosen mit Fleisch und Gemüse und weitere Vorräte. Dirk entdeckte auch einen viereckigen Gegenstand, den er „Black Box“ nannte. Er erklärte uns, dass eine solche Box normalerweise Informationen über das Flugzeug enthielt, zum Beispiel, woher es kam und warum es abgestürzt war, aber dass die Box leider kaputt zu sein schien. Trotzdem nahmen wir sie zusammen mit den Knochen und den Vorräten mit in die Siedlung.
In der Siedlung fingen wir dann an, alles zu untersuchen. Mit Hilfe von Timis Spürnase, die Einsturzgefahr wittern konnte, war es möglich, mehrere Häuser sowie ein großes Gebäude zu betreten. Wir schätzten, dass das Gebäude für Gemeindeversammlungen benutzt worden war. Innen fanden wir einen runden Saal mit zwölf Türen, die anscheinend in unterirdische Räume führten. Im Fußboden zwischen den Türen waren große, runde Löcher. Vorerst ließen wir Timi herumrennen und an allen Türen und Löchern riechen. Nachdem er sich zufrieden hingelegt hatte, fühlten wir uns sicher genug, um näher zu treten. Obwohl der Dschungel sich bis ins Innere mächtig ausgebreitet hatte, sahen wir noch abgesägte Baumstümpfe in den Löchern, und in einer Ecke entdeckten wir abmontierte Schaukeln. Wir Kinder kannten keine Spielplätze, doch am Strand hatten wir Schaukeln aus Lianen gebastelt. Frauke setzte sich plötzlich auf einen der Baumstümpfe und schloss die Augen. Dann erlebten wir eine Premiere: Der große Viktor, der Körperkontakt mit anderen vermied, krabbelte auf ihren Schoß. Ohne den Grund zu wissen, begann sie, ihn wie ein Kleinkind sanft hin und her zu wiegen. Es funkte bei allen sofort: Die Schaukeln waren früher an mächtigen Bäumen befestigt! Wahrscheinlich durften die Kinder schaukeln, wenn die Erwachsenen hier versammelt waren. Doch wer die Erwachsenen waren und was sie in diesem merkwürdigen Saal getan hatten, blieb geheim.
„Lass mich was mit Tutz probieren“, schlug Alice vor. Tutz war groß und pechschwarz, vermutlich eine Kreuzung zwischen Krähe und Rabe. Seine kleinen wachen Augen strahlten so viel Intelligenz aus, dass es einem unheimlich vorkommen konnte. Alice betete er an und ihre Beziehung zueinander war fast wie zwischen zwei Menschen. Alice nahm Tutz in beide Hände und schaute ihm direkt in die Augen.
„Tutz“, sagte sie dann, „welche Tür sollen wir als Erste öffnen?“ Danach ließ sie ihn im Saal frei herumfliegen. Dreimal kreiste er, landete dann wieder auf Alice’ Schulter und deutete auf die nächste Tür in ihrer Nähe. Ohne zu zögern, ging Alice zur Tür und öffnete sie. Es zeigten sich ein Vorhang und dahinter eine zweite Tür, welche nicht nach unten, sondern nach außen führte. Plötzlich rannte Helene aus dem Saal. Sie kam zurück mit dem Schädel des Piloten und legte ihn vor den Vorhang. In der klaren, fremden Stimme sagte sie dann:
„Diese Tür war für die Toten. Die Ehemaligen dieser Siedlung feierten hier Abschied. Die Verstorbenen wurden durch den Vorhang nach draußen getragen und dem Dschungel als Opfernahrung geschenkt.“
Wieder ließ Alice Tutz fliegen. Er landete vor einer verwitterten Tür mit Resten von blauer Farbe. Zoé untersuchte die Tür vergeblich nach einem Griff. Vorausahnend hielten wir alle schnell die Ohren zu, bevor ihr Schrei die Luft durchschnitt. Mit einem „Klack!“ öffnete sich die Tür. Dahinter war eine Treppe, die in die Tiefe führte und deren Ende nicht auszumachen war. Weder Tutz noch Timi waren bereit, durch diese Tür zu gehen. Daher haben Sophia und Dirk sie vorerst wieder zugemacht und uns verboten, sie zu berühren, bis es an der Zeit sei. Frauke fragte, wann das wäre, und Sophia meinte, wir alle sollten nach einem Zeichen Ausschau halten.
Tutz flog eine neue Runde, doch diesmal konnte er sich nicht entscheiden. Timi kam ihm zur Hilfe und bellte vor einer Tür, welche Reste von gelber Farbe trug. Einverstanden landete Tutz auf Timis Rücken und auch wir sammelten uns hinter den zweien. Die Tür war beschädigt und Dirk brauchte seine ganze Kraft, um sie aufzuzwingen. Wir sahen einen tiefer gelegenen Raum, dessen einzige Besonderheit darin bestand, komplett in schrillen Rosatönen gemalt zu sein. Viola rannte wie ein Blitz hinein und legte sich auf den Rücken. Wir folgten, Helene voran, und alle nahmen sofort wahr, warum Viola so von dem Zimmer angezogen wurde. Dort summte es wie ein atmendes Wesen und die Farben leuchteten mal heller, mal gedämpfter, mal röter, mal violetter. Auch wir streckten uns glücklich auf den Boden hin und ließen unseren Körper die Vibrationen wie Liebkosungen spüren. Bei mir entspannten die Schwingungen meine Lungen und ich konnte viel freier atmen. Es war ein wunderbarer Raum und der Aufenthalt dort war so wohltuend, dass wir nicht merkten, wie es draußen dunkel wurde. Sophia und Dirk standen als Erste auf und zogen uns behutsam zurück ins Freie und zu den Schlafstätten. Nur Viola und Helene durften bleiben und Timi bekam den Auftrag, vor der gelben Tür zu wachen.
Am nächsten Morgen kamen Viola, Helene und Timi aus dem Saal zum Frühstück. Matthias spürte, dass Helene noch müde war. Daher legte er sich hin und erlaubte ihr, sich an ihn zu kuscheln und eine Runde zu schlafen. Viola blieb bei ihnen. Wir anderen beschlossen, weiter die Wohnlage der Siedlung zu untersuchen. Die Häuser waren alle gleich: zweistöckig und aus Ziegelstein gebaut. Unten befand sich eine Küche und zwei weitere Zimmer. Schlafräume, Toilette und Bad waren in den oberen Stockwerken. Ein paar alte Möbelstücke standen herum, doch persönliche Gegenstände wie Kleider, Spielzeug oder elektronische Geräte waren keine zu finden. Nichts war noch da, was uns Auskunft über die ehemaligen Bewohner gegeben hätte. Als wir dabei waren, das letzte Haus zu durchforschen, kam Matthias, gefolgt von Viola und Helene. Viola berichtete, dass der Pilot via Helene gesagt hatte, dass wir gerade an seinem Haus stünden, in dem wichtige Gegenstände versteckt seien. Plötzlich fing Matthias an, aufgeregt herumzutänzeln. Zielbewusst trabte er dann hinter das Haus und schubste mit seiner Schnauze einen lockeren Ziegelstein beiseite. In einer Vertiefung dahinter entdeckten wir ein fremdartiges Etwas, ungefähr handgroß, eine viereckige Batterie und eine Spiegelscherbe, deren Rückseite mit Drähten und winzigen gelöteten Metallstückchen überzogen war.
Am Abend riskierten wir es, ein Lagerfeuer anzuzünden. Sophia legte den unbekannten Gegenstand, die Spiegelscherbe und die Batterie in ihren Schoss, beugte sich darüber und sang einen lang anhaltenden Ton. Dann reichte sie die drei Dinge im Kreis herum und bat uns zu spüren, ob sie auf irgendeine Weise eine Resonanz in uns auslösten. Timi schleckte alle ab, Matthias roch lange daran, Tutz stieß sie mit seinem Schnabel hin und her und gab sie weiter an Alice. Alice platzierte sie auf ihrem lahmen Bein, Viola hielt sie an ihr Ohr und Helene wollte sie zweimal bekommen, weil sie das erste Mal wieder vergessen hatte. Viktor berührte sie nur leicht mit seinen Fingern, während Zoé jedes Ding an ihren Mund hielt und kurze, schrille Töne erzeugte. Frauke spielte vergnügt mit ihnen, stieß mich anschließend hin und legte sie mir auf die Brust. Ich atmete einige Male tief durch und gab sie dann an Dirk weiter. Er stand auf, verbeugte sich tief vor jedem und reichte sie an Sophia zurück. So beschnüffelt, beleckt, betastet, bespielt und besungen, legte Sophia die gefundenen Objekte ins Gras. Sie bat uns, geführt von dem, was wir gespürt hatten, eines auszuwählen. Die Entscheidungen fielen so aus:
Scherbe
Batterie
Unbekannter Gegenstand
Sophia
Dirk
Pascal
Timi
Zoé
Viktor
Alice
Viola
Tutz
Helene
Frauke
Matthias
Überraschend war, dass nur ich von dem merkwürdigen Gegenstand angezogen war. Einer Eingebung folgend, schnappte ich ihn und schmiss ihn ins Feuer. Gespannt beobachteten wir, wie er glühend heiß wurde und anfing zu schmelzen. Plötzlich flatterte Viktor an das Feuer und stieß ihn mit einer flinken Handbewegung aus den Flammen. Das Ding landete zischend in einer Pfütze. Zoé nahm es heraus und tat es wieder ganz nah an ihren Mund. Ihr Schrei hallte durch den Dschungel und hatte die erhoffte Wirkung: Die Form brach in Stücke und gab ihren Innenraum frei. Dort kam etwas zum Vorschein, das aussah wie ein dicker, schwarzer Nagel.
„Ein USB-Stick!“, rief Dirk aufgeregt.
„Und was ist ein USB-Stick?“, habe ich, im Namen fast aller Anwesenden, gefragt.
„Eine Art Schlüssel, der benutzt wird, um Information zu speichern“, antwortete er. In einfachen Worten versuchte er uns zu erklären, wie der Stick mit einem Gerät namens „Computer“ oder „Rechner“ verbunden werden konnte.
Helene und Matthias waren eingeschlafen und hatten wenig von Dirks Einführung mitgekriegt. Ohne Vorwarnung aber spannte sich Matthias’ Körper aufs Neue und Helene setzte sich mit einer ruckartigen Bewegung wieder aufrecht hin. Sie hatte die Augen geschlossen und die fremde Stimme sprach aus ihr:
„Nehmt den Stick, die Batterie und die Scherbe und steigt die Treppe an der blauen Tür hinab. Dort werdet ihr einen Pfad finden, auf dem viele Hindernisse zu überwinden sind. Schafft ihr es, werdet ihr zu einem Rechenzentrum gelangen. Das Rechenzentrum stellt die Funkverbindung zum Flugzeug her und ist gleichzeitig die Energiequelle für alle weiteren Arten der digitalen Kommunikation auf der Insel. Die Gegenstände werden euch unterwegs helfen, das Zentrum zu finden.“
Die Abenddämmerung war angebrochen. Plötzlich merkten wir, wie die vielen Ereignisse der letzten Tage uns übermannten. Kaum noch in der Lage, Helenes neue Mitteilung aufzunehmen, rückten wir zusammen und schliefen an der Feuerstelle im Freien ein.
Am nächsten Morgen gingen Sophia und ich frisches Obst für das Frühstück sammeln. Unsere Suche führte uns in die Nähe des Flugzeugs. Andächtig standen wir vor dem Wrack, als mir plötzlich einfiel, dass wir noch nicht entschieden hatten, was mit den Knochen des Piloten passieren sollte. Der Schädel lag vor dem Vorhang im Saal, aber das Skelett? Sophia wurde ganz aufgeregt. Sie gab mir einen flüchtigen Kuss für den Hinweis und zusammen eilten wir in die Siedlung zurück. „Besprechung“, rief sie wiederholt den schlafenden Gefährten zu.
Verwundert tauchten die müden Gesichter auf und wir sammelten uns um die erkaltete Feuerstelle. Sophia und Dirk verteilten die Knochen. Sie waren von den Dschungelbewohnern glatt genagt und hatten eine cremefarbige Oberfläche. Es waren die ersten Menschenknochen, die wir je gesehen hatten, und wir fanden sie wunderschön. Am Strand hatten wir mit Stöcken oft Musik gemacht, doch die Knochen waren etwas ganz Besonderes. Sofort fingen wir an, sie aneinander oder auf Baumstämme zu schlagen. Zoé kreischte einen langen Schrei und alle außer Viola folgten ihrem Beispiel. Viola wiederum tanzte los und führte uns im Kreis um die Feuerstelle herum. Doch plötzlich zog Timi, einen mächtigen Oberschenkelknochen im Mund, Richtung Saal los. In Schlangenlinie folgten wir ihm, singend und tanzend, in den Saal hinein. Dort aber kippte die Stimmung schlagartig um. Unsere Schritte verlangsamten sich und der Gesang bekam leise, tiefe, Töne. Nach und nach hörten wir auf zu singen und blieben stehen. Eine Ruhe stellte sich ein, begleitet von einer überwältigenden Stille. Auch draußen: Vögel, Tiere und Wind schienen ebenfalls den Atem anzuhalten. Intuitiv spürten wir, was es zu tun gab. Schweigend lösten wir die Formation auf und bauten einen Knochenmenschen vor der blauen Tür. Wir besaßen keine anatomischen Kenntnisse, sodass unser Ergebnis merkwürdig und lustig zugleich aussah. Feierlich holte Helene den Schädel und platzierte ihn an der höchsten Stelle des Knochengebildes. Links vom Skelett legte sich Matthias hin mit Tutz auf seinem Rücken und rechts fand Timi seinen Platz. Dirk gab dem Knochenmann den Stick in die rechte Hand und Sophia legte die Scherbe auf seine Stirn. Die Batterie kam an seine Füße. Danach verließen wir Menschen den Saal. Die Tiere blieben den restlichen Tag und die Nacht bis zum Morgengrauen dort.
Von da an schlich sich eine feine Veränderung in unsere Gruppe ein. Ich merkte sie gleich am nächsten Morgen. Es war, als ob ein gedehntes Tempo herrschte. Nicht nur bei uns, auch die Natur schien davon beeinflusst zu sein. Im Nachhinein kann ich die neue Art, wie wir uns bewegten, höchstens mit asiatischen Wahrnehmungstraditionen wie Tai-Chi oder Qi Gong vergleichen. Viktor flatterte wie gewohnt herum, doch eine gewisse Grazie gesellte sich dazu. Ich hatte noch Atembeschwerden, aber ihre Bedeutung nahm ab, weil ich bei jedem Atemzug eine innige Dankbarkeit der Luft gegenüber spürte. Aber unsere Frauke zeigte die auffälligsten Veränderungen. Ich erfuhr erst später, dass Menschen wie sie eine Fehlbildung der Chromosomen haben, die zum sogenannten „Down-Syndrom“ führte. Auf unserer Insel gab es einige, die davon betroffen waren. Frauke selber besaß einen rundlichen, gemütlichen Körper und ein Gesicht voll Lachfalten. Jetzt schien es, als ob ihre natürliche Fröhlichkeit sich in eine tiefere Freude verwandelt hätte. Wir alle fühlten uns stärker zu ihr hingezogen, und bei den späteren Abenteuern spielte ihr aufheiterndes Wesen eine unschätzbare Rolle.
Faszinierend waren auch die Veränderungen in unserer Kommunikation. Neben Reden und Singen nahmen Körpersprache und Mimik an Bedeutung zu. Die Verständigung mit den Tieren fiel leichter. Rückblickend kann ich sagen, dass alle Beziehungen ab diesem Zeitpunkt inniger und vertrauter wurden. Auch hier spielte Sophias Ausstrahlung eine zentrale Rolle, und das Legen des Knochenmanns schien ebenfalls ein Auslöser der erweiterten Wahrnehmung zu sein.
