Wir riechen besser als wir denken - Johannes Frasnelli - E-Book

Wir riechen besser als wir denken E-Book

Johannes Frasnelli

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Beschreibung

Unter den fünf Sinnen ist der Geruchssinn am meisten unterschätzt.

Dabei hat er den größten Einfluss auf unsere Emotionen und steuert unser Verhalten mehr als wir vermuten. Der Neurowissenschaftler und Geruchsforscher Johannes Frasnelli erklärt uns, warum wir viel besser riechen als wir denken und was die neuesten Erkenntnisse der Geruchsforschung mit unserem Alltagsleben zu tun haben.

Etwa, warum wir jemanden im wahrsten Sinne des Wortes gut riechen können, was Riechtraining mit unserem Gehirn macht, wie Ängste und Depressionen unser Riechvermögen verändern und was der Verlust des Geruchssinns mit Alzheimer zu tun hat.

Mit konkreten Tipps zur Riechschulung und einem Test: Wie gut riechen Sie wirklich? Den Schnelltest gibt es auch online auf der Homepage des Verlags.

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Johannes Frasnelli

WIR RIECHEN BESSER, ALS WIR DENKEN

Wie der Geruchssinn Erinnerungen prägt, Krankheiten voraussagt und unser Liebesleben steuert

2., erweiterte Auflage

FÜR MEINE ELTERN

INHALT

Cover

Titel

1. VON DER PRAXIS ZUR THEORIE:Wie ich zur Riechforschung kam

2. WIE FUNKTIONIERT RIECHEN?Wunderwerk Nase und Co.

3. EIN DUFT LIEGT IN DER LUFT:Gute und schlechte Gerüche

4. KÖRPERGERÜCHE:Unverwechselbar und unersetzlich

5. PHEROMONE:Mythos oder Realität?

6. RIECHEN UND SCHMECKEN:Das Genuss-Dreamteam

7. DAS TRIGEMINALE SYSTEM:Der unbekannte Sinn

8. DIE WAHREN RIECHSPEZIALISTEN:Was uns Tiere voraushaben

9. ÜBUNG MACHT DEN MEISTER:Wie Riechtraining das Gehirn verändert

10. RIECHEN IN STEREO:Wozu wir zwei Nasenlöcher haben

11. ANOSMIE:Wenn die Nase nicht mehr mitmacht

12. PARKINSON UND ALZHEIMER:Kann der Geruchssinn unsere Zukunft vorhersagen?

13. COVID-19 UND RIECHEN:Wie uns ein Virus den Geruchssinn entdecken lässt

NACHWORT

Impressum

1. VON DER PRAXIS ZUR THEORIE: WIE ICH ZUR RIECHFORSCHUNG KAM

In diesem Kapitel erfahren Sie,

… wie mich Gerüche seit der Kindheit begleiten,

… wie ich über den Wein zur Geruchsforschung kam,

… wie mich Gerüche in die weite Welt lockten.

DÜFTE DER KINDHEIT

Seit früher Kindheit haben mich Gerüche geprägt. Ich wuchs in Meran in Südtirol auf und jeder Monat hatte einen besonderen Geruch, seinen „Leitduft“. Der Januar roch nach Schnee, mit grauem Himmel und weißen Bergen. Im Februar begann schon der Frühling und die ersten Blüten der Chinesischen Winterblüte dufteten noch lange bevor Blätter auf den Bäumen waren. Der Fasching schmeckte nach Marillenmarmelade in den Faschingskrapfen und stank nach dem Schwefel der Schweizerkracher. Die Fastenzeit roch am Freitag nach gebackenen Fischen und im März blühten Kirschen- und Marillenbäume und verströmten ihren Duft. Im April gab es eine Geruchsexplosion, wenn die Apfelplantagen, die das Etschtal beherrschen, gleichzeitig blühten, wenn der feine Geruch der Apfelblüte allgegenwärtig war. Ostern roch nach Weihrauch, aber auch nach Spargel, Schinken und Kren, nach Erdbeeren. Im Mai öffneten die Eisdielen und die Rosen begannen zu blühen, die Bauern sprühten Spritzmittel auf die Apfelwiesen. Im Juni duftete es nach Kirschen und nach gemähtem Gras, im Juli nach Sonnencreme und Chlor, nach Sommergewittern und immer wieder nach Eis mit Sahne. Der August roch nach Sommerfrische am Berg, nach Fichtennadeln, Heidelbeerwiesen, Alpenrosen, Kuhmist, Baumharz und nach Mückenmitteln. Der September schnupperte nach Äpfeln, nach Trauben, nach Walnüssen, nach den Dieselabgasen der Traktoren. Im Oktober stieg mir der Duft der gerösteten Kastanien, des Lagerfeuers, Susser (neuer Wein), der Würste, des Sauerkrauts und der Feigen in die Nase. Im November machten modrige Blätter und Feuchte die Nase rümpfen, bevor einem im Dezember der Duft von Vanille, Zimt, Gewürznelken und Glühwein in die Nase stieg, vermischt mit Kerzenrauch.

Doch auch Orte hatten einen bestimmten Geruch. Das Elternhaus roch nach Essen, jeden Mittag, jeden Abend. Das Haus meiner Großmutter duftete nach Kernseife, die Schule nach Büchern und Putzmitteln, die Kirche nach Weihrauch. Die Garage roch nach Benzin und Gummi, der Fußballplatz nach Gras. Im Krankenhaus, in dem meine Brüder und ich regelmäßig verarztet wurden, stank es nach Desinfektionsmitteln, beim Zahnarzt lag ein Hauch von Gewürznelke in der Luft. Bei der alten Nachbarin waberte eine Wolke aus Kölnisch Wasser durch die Wohnung und bei meiner Tante duftete es nach Früchtetee und Keksen. Der Eislaufplatz roch nach Zigaretten, Glühwein und Hotdogs, der Bahnhof nach Eisenbahn.

Auch Menschen hatten bestimmte Gerüche. Die andere Großmutter duftete nach Handcreme und Rose, die Freundin meiner Mutter nach „Paris“ von Yves Saint Laurent. Die Bauern rochen nach Arbeit und irgendwann begannen die Schulfreunde Schweißgeruch zu verströmen. Ich wusste, wenn mein Vater zu Hause war, weil es nach Giorgio Armanis Aftershave roch. Sonntags rochen die Erwachsenen nach Wein. Ich liebte es, wenn sich mein Großvater eine Zigarette anzündete und ich den ersten Geruchsschwall wahrnahm, eine Mischung aus Tabak und Schwefelhölzern. Nur dieser erste Dufteindruck zog mich an, denn danach stank der Rauch. Die Klavierlehrerin roch nach Zwiebeln und der Mesner nach altem Mann.

In dieser Umgebung wuchs ich auf, immer waren da Gerüche. Meistens nahm ich sie gar nicht bewusst wahr, sie waren mehr eine Unterlage, ein Hintergrund, als tatsächliche Sinneseindrücke. Manchmal aber waren die Gerüche sehr präsent, standen im Vordergrund.

EINE NASE VOLLER ERINNERUNGEN

Als ich fünf Jahre alt war, hatte mein kleiner Bruder einen Unfall. Er stürzte vom Balkon im ersten Stock auf den Betonboden vor dem Haus. Er erlitt dabei einen Schädelbruch, einen Beckenbruch und eine Fraktur des Arms. Ich glaube, mich noch daran erinnern zu können, wie er vom Balkon fiel, vor meinem inneren Auge sehe ich eine grüne Hose über die Brüstung verschwinden, und mir kommt vor, als hörte ich noch immer den Schrei der Nachbarin, die den Sturz mitangesehen hatte. Mein Bruder wurde sofort ins Meraner Krankenhaus gebracht und dann als Notfall in die Neurochirurgie des Krankenhauses Verona verlegt. Während der ersten Tage und Wochen schwebte er zwischen Leben und Tod und meine Eltern wechselten sich an seinem Krankenbett ab. Ich wohnte während dieser Zeit bei meinen Großeltern in Littau in der Schweiz. Man kann sich vorstellen, wie während der kritischen Wochen alle bangten, und wenn ich auch nicht viel verstand, bemerkte ich die Anspannung der Erwachsenen.

Meine Großeltern arbeiteten damals noch in einer Kaffeerösterei. Ihr Arbeitsbeginn war um sechs Uhr morgens und so ließen sie mich ausschlafen. Ich wachte jeden Morgen auf, ging in die Küche, wo mir meine Großmutter ein „Gipfeli“ und ein „Weggli“ vorbereitet hatte. Ich frühstückte und machte mich alleine auf den Weg in die Rösterei. Ich hatte zwar ein bisschen Spielzeug, aber viel mehr interessierten mich die Maschinen. Da waren die Gabelstapler, die die Säcke mit rohen Kaffeebohnen abluden. Ich konnte schon ein bisschen lesen und „Café do Brasil“ entziffern. Die Säcke rochen nicht nach Kaffee, sondern nach Jute, und das Magazin war der einzige Ort in der Rösterei, der nicht nach Kaffee roch. Die Säcke wurden dann in den Röstraum gebracht und in große Kessel geleert, in denen sie geröstet wurden. Die Kessel drehten sich es war sehr laut und heiß und der zuständige Mitarbeiter pfiff unaufhörlich vor sich hin.

Diese Sinneseindrücke waren aber nichts gegen den Duft. Der Geruch des frisch gerösteten Kaffees war überwältigend in dem Raum, aber überwältigend schön. Die Erwachsenen hatten es nicht so gerne, wenn ich mich dort aufhielt, es war ja doch ein bisschen gefährlich, aber wann immer ich konnte und durfte, kehrte ich dorthin zurück. Meine Großeltern arbeiteten in der Halle daneben. Mein Großvater bediente eine große Maschine, die die gerösteten Kaffeebohnen verpackte, und musste die Päckchen dann in Kisten stapeln. Meine Großmutter bediente eine riesige Kaffeemühle und vakuumverpackte das Kaffeemehl mithilfe einer anderen Maschine. Auch roch ich diesen wunderbaren, komplexen, großartigen Geruch des Kaffees. Ich blieb für insgesamt sechs Wochen bei meinen Großeltern und erhielt vom Betriebsleiter sogar 15 Franken und zwei Schokoladenstengeli „Lohn“. Ich kann mich an die erste Begegnung mit meinem Bruder nach dem Unfall erinnern, der immer noch einen Turbanverband auf dem Kopf hatte. Es mochte damals wie ein Wunder erscheinen, aber er genas vollständig.

Die Geschichte des Unfalls ist heute nur noch eine Anekdote, meine beiden Großeltern sind nicht mehr am Leben. Ich aber habe seit damals eine sehr intensive Beziehung zum Kaffee und vor allem zu seinem Geruch. Ich kann an keinem Café, an keiner Rösterei, an keiner Kaffeemühle vorbeigehen, ohne an die Schweizer Rösterei, an meine Großeltern, an die Schokoladenstengeli und an meinen Bruder zu denken. Ich habe das Gefühl, dass sich das Kaffeearoma meiner bemächtigt, so intensiv ist der Eindruck, so stark sind die Assoziationen. Ich habe dieses Verhältnis zum Kaffeeduft, seit ich fünf Jahre alt bin, also seit fast 40 Jahren, und es ist immer noch gleich stark.

Erst sehr viel später lernte ich, dass ich nicht der Einzige bin, der bestimmte Gerüche mit Ereignissen assoziiert. Unzählige Bücher sind darüber geschrieben worden, das bekannteste ist wohl „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust. In diesem siebenbändigen Roman schildert der Autor, wie der Geruch eines in Tee getunkten Madeleine-Biskuits Kindheitserinnerung auslöst, die dann auf über 4000 Seiten beschrieben werden. Die Auslösung starker, emotionaler Erinnerung nach dem Wahrnehmen von Gerüchen wird daher auch „Proust-Effekt“ genannt. Er resultiert daraus, dass Riechreize in denselben Gehirnregionen des limbischen Systems verarbeitet werden, die auch für das Gedächtnis, das Lernen und für die Gefühle zuständig sind.

Was Essen angeht, war ich als Kind ziemlich wählerisch. Besonders Grünzeug fand ich abstoßend, Fleisch war mein Gemüse. Ich aß zwar gerne grünen Salat, aber alles andere – Spinat, Brokkoli, Spargel, Rote Bete, grüne Bohnen, Rosenkohl, Rhabarber, Wirsing und dergleichen – widerte mich richtiggehend an. Ich wollte es nicht einmal probieren. Obwohl mich meine Mutter häufig mit Nachdruck dazu aufforderte, war ich nicht in der Lage, auch nur einen Bissen runterzubekommen. Ich aß einmal pro Woche bei meiner Großmutter väterlicherseits zu Mittag. Eines Tages sagte sie mir, es wäre absolut notwendig, dass ich auch Gemüse esse, ganz egal welches, ich könne es mir aussuchen, aber ich müsste es dann auch essen. Nach einigem Grübeln kam ich auf grüne Erbsen. Wahrscheinlich, weil sie den Kartoffeln am ähnlichsten waren und am wenigsten nach Gemüse schmeckten. Ausgefallenere Milchprodukte wie Mozzarella, Schafskäse und dergleichen fand ich ebenfalls abstoßend; Grießauflauf, Milchreis oder Oliven einfach nur fürchterlich. Erst als ich 15, 16 Jahre alt war, begann ich ein bisschen mehr zu experimentieren. Ich kann mich erinnern, dass ich mich eines Tages dabei ertappte, von der Roten Bete zu kosten, und sie gar nicht so übel fand. Ich ärgere mich noch heute, dass ich erst mit 16 Jahren begann, Spargel oder Steinpilze zu essen, weil ich sie davor einfach nur eklig fand. Später, als Student, hätte ich viel darum gegeben, sie genießen zu können, aber ich konnte sie mir nicht leisten. Auch hier erfuhr ich erst später, dass das, woran ich – oder eher meine Mutter – litt, als Neophobie bezeichnet wird und bei den meisten Kindern mehr oder weniger deutlich vorkommt.

„DAS ESS ICH NICHT!“ – NEOPHOBIE

Neophobie beschreibt den Umstand, dass man vor Neuem Angst hat. Sie ist besonders bei Gerüchen und hier vor allem bei Lebensmittelaromen ausgeprägt. Wir sind so programmiert, dass die meisten unbekannten Gerüche und Aromen erst einmal als negativ wahrgenommen werden. Die meisten Kinder sind deshalb neuen gastronomischen Erfahrungen gegenüber wenig aufgeschlossen. Um die Neophobie zu überwinden, müssen Gerüche und Aromen ungefähr zehn Mal wahrgenommen werden, bevor sie als angenehm empfunden und akzeptiert werden. Kinder, die keine neuen Lebensmittel essen wollen, sollten sie deshalb zumindest probieren. Mit der Zeit gewöhnen sie sich daran und sollten sie akzeptieren – so zumindest die Theorie.

Nach der Matura (Abitur) verließ ich Meran und ging zum Studium nach Wien. Und in der Großstadt entdeckte ich neue Düfte. Zuerst der Gestank der Abgase. Ganz typisch für Wien war für mich der Geruch des Kohlerauchs der Heizungen im Winter. Aber ich lernte auch angenehmere neue Gerüche kennen. Ich wohnte in der Nähe des Naschmarkts, jeden Samstag gingen wir dorthin, um uns mit billigen Lebensmitteln einzudecken. Wir entdeckten die Döner Kebabs, wir rochen die orientalischen Gewürze und die verschiedenen Früchte und Kräuter aus aller Herren Länder. Hier kaufte ich meine erste Mango, meinen ersten Fetakäse. Wir begannen mit Curry und Chili zu experimentieren. Wir aßen zwar auch Tiefkühlpizza, motzten sie aber mit Mozzarella, Tomaten und frischem Basilikum auf.

Irgendwann entdeckten wir den Wein. War er anfangs mehr Mittel zum Zweck gewesen und wir stolz, wenn wir bemerkten, dass der Wein korkte, begannen wir mit der Zeit, verschiedene Rebsorten voneinander zu unterscheiden. Wir veranstalteten Abende, an denen jeder einen Merlot mitbrachte, die wir dann miteinander verglichen, und an anderen Abenden Cabernet Sauvignon. Wir lernten dabei, wie schwierig es war, konsistent bei der Beschreibung der Weine zu sein. Manchmal stimmten wir überein, dass ein Wein ein Eichenfassaroma hatte oder der Cabernet Franc nach grünem Paprika schmeckte. Viel häufiger aber diskutierten wir, ob der Wein eher nach Vanille oder Tabak, nach Waldbeeren oder Kirschen schmeckte. Meistens beschrieben wir, woran uns der Wein erinnerte, verwendeten Assoziationen, und wenn das alles nichts half, bezeichneten wir den Wein als maskulin im Abgang. Auch wieder später erfuhr ich, warum es so schwierig ist, Gerüche zu beschreiben und warum Sommeliers und Parfümeure dazu eine jahrelange Ausbildung und Erfahrung brauchen.

RIECHEN ALS WISSENSCHAFT

Natürlich brachte ich die Zeit in Wien nicht nur damit zu, neue Gerüche kennenzulernen und Wein zu trinken, ich studierte ja auch Medizin. Gegen Ende des Studiums verbrachte ich sehr viel Zeit mit einem Kommilitonen, mit dem ich auch eine gemeinsame Famulatur in Meran machte. Dieser Kollege hatte sich zu einer Doktorarbeit entschlossen und berichtete mir von seinen Experimenten und Studien. Ich war immer schon fasziniert von der Wissenschaft gewesen und so reifte in mir der Wunsch, auch eine Doktorarbeit zu verfassen. Aber ich hatte weder Thema noch Betreuer. Und dann kam der Zufall ins Spiel. Die Universitäts-HNO-Klinik hatte als Einzige eine Homepage mit Informationen für die Studenten, und das auch nur, weil diese ein engagierter Sekretär programmiert hatte. Eines Tages war ich auf der Suche nach Informationen zu einem Praktikum auf die Homepage gelangt und sah, dass verschiedene Themen für Doktorarbeiten angeboten wurden. Und nicht nur das, es wurden Studenten gesucht, die eine Dissertation zum Thema „Riechen und Schmecken“ verfassen wollten. Ich war wie elektrisiert.

Nach kurzem Zögern kontaktierte ich meinen späteren Doktorvater und nach zwei Treffen hatte ich mein Thema: „Riechen und Schmecken bei chronischer Niereninsuffizienz“. Zuerst ging es darum zu verstehen, welche neurologischen Veränderungen mit einer Niereninsuffizienz einhergehen. Aber ich musste auch verstehen, wie der Geruchssinn funktioniert. Ich begann mit der Suche in Lehrbüchern, bemerkte aber bald, dass gar nicht so viel bekannt war, dass der Geruchssinn oft lediglich oberflächlich auf einer halben Seite abgehandelt wurde. Ich las aktuelle Fachzeitschriften und sah, dass man gerade erst entdeckt hatte, wie die Rezeptoren für das Riechen überhaupt funktionieren. Für diese Arbeiten erhielten die US-amerikanischen Forscher Linda Buck und Richard Axel dann 2004 den Medizin-Nobelpreis. Auch erst seit Kurzem wusste man, wo im Gehirn Riechreize überhaupt verarbeitet werden, was von Forschern in Montreal am dortigen Neurologischen Institut entdeckt worden war.

Ich war verblüfft, hatte ich doch erwartet, dass das Riechen – ähnlich dem Hören und Sehen – schon gut erforscht wäre. Ich suchte ältere Artikel und las Arbeiten aus den 1920er- bis 1950er-Jahren und wurde immer mehr von diesem „unbekannten Sinn“ fasziniert. Wie lange hatte man versucht, analog zu den Grundfarben Rot, Gelb und Blau, Grundgerüche zu finden, aus denen alle Gerüche gemischt werden können. Wie viele Grundgerüche es gäbe, wie viele Gerüche man denn voneinander unterscheiden kann. Heute wissen wir, dass der Geruchssinn nicht wie das Hören und das Sehen funktioniert, dass wir hundertmal mehr Rezeptoren für das Riechen haben als für das Sehen, dass wir wahrscheinlich Milliarden von Gerüchen voneinander unterscheiden könnten, wenn es denn so viele gäbe. Aber all das war damals erst seit Kurzem bekannt oder noch gar nicht.

Parallel dazu begann ich in der HNO-Klinik zu famulieren. Wir untersuchten Patienten, die den Geruchssinn verloren hatten. Ich hatte mir nie besonders viele Gedanken darüber gemacht und war erstaunt zu hören, dass das relativ häufig vorkommt. Ich lernte die verschiedenen Messmethoden zur Erfassung des Geruchssinns kennen, Methoden, die mir im Vergleich zu den Untersuchungen beim Optiker roh und ungenau vorkamen. Wir untersuchten, wie gut die Patienten Gerüche erkennen konnten, wie gut sie Gerüche voneinander unterscheiden konnten. Ich lernte, dass die genaueren Methoden, die EEG und Magnetresonanztomografie verwendeten, nur in spezialisierten Forschungslabors zur Anwendung kamen und nicht routinemäßig in der Klinik.

Nach Abschluss meiner Doktorarbeit bekam ich die Möglichkeit, in einem spezialisierten Forschungslabor in Dresden zu arbeiten, wo wir versuchten, Patienten mit Riechstörung zu helfen, aber erst einmal verstehen mussten, wie der Geruchssinn überhaupt funktioniert. So begann ich, mich in Spezialmethoden einzuarbeiten. Wir leiteten Gehirnströme ab, während Patienten und gesunde Vergleichsprobanden Gerüche wahrnahmen, und wir untersuchten, welche Regionen des Gehirns besonders aktiv sind, während wir verschiedene Gerüche wahrnehmen. Ich lernte mit Faszination, wie das Gehirn auf Gerüche antwortet, wie es Gerüche verarbeitet, wie der Kontext unsere Geruchsempfindung verändern kann. In Dresden traf ich dann auch die Entscheidung, meine berufliche Weiterentwicklung in der Grundlagenforschung zu suchen, anstatt eine Laufbahn als Arzt anzustreben.

Nach einigen Jahren ergab sich die Gelegenheit, mich einem Team am Neurologischen Institut Montreal anzuschließen. Diese Institution ist fast mythisch. An den Berg Mont Royal – der für einen Südtiroler eher ein Hügel ist – geschmiegt, thront das Gebäude über der Stadt. Das Institut war in den 1930er-Jahren von Wilder Penfield, einem Pionier der Neurochirurgie, als ein Ort gegründet worden, an dem sich neurologische Grundlagenforschung und Klinik gegenseitig befruchten sollten. Hier wurde die Epilepsiechirurgie entwickelt, hier wurde unser Verständnis von der Funktionsweise unseres Gedächtnisses geprägt, hier wurden bildgebende Verfahren erfunden. Wegen der bildgebenden Verfahren wagte ich den Schritt über den Großen Teich. Ich wollte verstehen, was im Gehirn vor sich geht, während wir riechen, aber auch wie sich die Struktur des Gehirns auf unser Riechvermögen auswirkt.

Nach einigen Jahren in Montreal bekam ich das Angebot, für einige Monate das „Monell Chemical Senses Center“ als Gastwissenschaftler zu besuchen. Dieses Zentrum, das sich in Philadelphia im US-Bundesstaat Pennsylvania befindet, ist die weltweit führende Forschungseinrichtung zum Thema Riechen und Schmecken. Über 20 Forschungsgruppen versuchen, den Geruchs- und Geschmackssinn zu verstehen, wie die Rezeptoren funktionieren, wie die Reizweiterleitung geschieht, wie das Gehirn die Reize verarbeitet, was bei Verlust von Geruchs- und Geschmackssinn geschieht. Die Forschung ist nicht auf den Menschen beschränkt, es werden Fruchtfliegen, Moskitos, Ratten, Mäuse und viele andere Spezies untersucht. Während meines Aufenthalts hatte ich eine besondere Mission. Die Verarbeitung eines einzelnen Dufts wird immer besser verstanden, aber normalerweise sind wir nicht einzelnen flüchtigen Stoffen ausgesetzt, sondern einem Cocktail von Duftstoffen. Wir interessierten uns dafür, wie Gerüche zusammenwirken, und verglichen getrennte und gemeinsame Reizung. Wir begannen, die komplexe Wechselwirkung zwischen Gerüchen besser zu verstehen, und sahen, dass manche Düfte andere unterdrücken und wieder andere verstärken.

Zurück in Montreal schloss ich mich als Postdoc einem Forschungsteam an der Universität Montreal an. Es spezialisierte sich auf die intermodale sensorische Plastizität oder einfacher gesagt, wie sich das Gehirn verändert, wenn auf einmal ein Sinnessystem ausfällt, wie es bei Blinden, Gehörlosen, aber auch bei Menschen mit Anosmie der Fall ist. Hatte sich das Labor bislang auf das Sehen, Hören und Fühlen beschränkt, konnte ich mit meiner Erfahrung nun auch die chemischen Sinne einbringen.

DIE CHEMISCHEN SINNE

Sie funktionieren anders als der Seh-, Tast- oder Gehörsinn. Blinde, vor allem jene, die den Sehsinn bereits bei ihrer Geburt oder kurz danach verloren haben, entwickeln typischerweise eine erhöhte Sensibilität fürs Hören und Fühlen und können aus diesen Sinnen mehr Information extrahieren. Analoges kann man bei Gehörlosen finden. Die chemischen Sinne aber scheinen nicht diesem Muster zu folgen. Blinde und Gehörlose verfügen nicht über einen verschärften Geruchssinn, wie man erwarten würde, sondern schneiden darin eher schwächer ab, wie unter anderem unsere Studien zeigten. Es gibt dementsprechend auch viele bekannte blinde Spitzenmusiker – Ray Charles, Stevie Wonder und Andrea Bocelli sind bekannte Beispiele –, aber keine bekannten blinden Parfümeure oder Sommeliers. Die Besonderheit der chemischen Sinne zeigt sich auch daran, dass Patienten, die den Geruchssinn verlieren, auch eine Tendenz zu einem schwächeren Geschmackssinn aufweisen. Der Geschmackssinn kann also den reduzierten oder gar fehlenden Geruchssinn nicht kompensieren, sondern diese chemischen Sinne scheinen sich bei Beschädigung eines unter ihnen gegenseitig abzuschwächen.

2013/14 machte ich dann endlich den Schritt zum eigenständigen Forscher und baute meine eigene Forschungsgruppe auf. Zunächst am Forschungszentrum des Sacré-Coeur-Krankenhauses in Montreal und dann mit der Berufung an eine Anatomieprofessur an der Universität Québec in Trois-Rivières, einer Kleinstadt außerhalb von Montreal. Unser Team beschäftigt sich seither mit zwei großen Forschungsachsen, die einer zentralen Frage entstammen: „Wie hängt unser Geruchssinn mit unserem Gehirn zusammen?“ Wir untersuchen zum einen bestimmte Erkrankungen des Gehirns, die sich auch auf den Geruchssinn auswirken. Dazu gehören neurodegenerative Erkrankungen wie Parkinson und Alzheimer, aber auch Schädel-Hirn-Traumen wie Gehirnerschütterungen. Zum anderen versuchen wir zu verstehen, wie Gehirn und Geruchssinn bei Gesunden zusammenhängen. Wo im Gehirn werden Riechreize verarbeitet, welche Faktoren beeinflussen unsere Riechwahrnehmung, wie wird die Riechinformation durch simultane Begleitreizung, beispielsweise durch den Geschmackssinn, verändert? Wir wollen auch wissen, inwiefern wir den Geruchssinn trainieren können und ob ein solches Training auch das Gehirn verändert. Und sollte das so sein, möchten wir auch untersuchen, ob uns ein Riechtraining auch mehr Gehirnreserven geben und uns so gewissermaßen sogar vor den neurodegenerativen Erkrankungen schützen kann.

Zur beruflichen Tätigkeit eines Wissenschaftlers gehört nicht nur das Erstellen neuer Hypothesen, die Durchführung von Experimenten, die Integration der erhobenen Daten in die bestehende Literatur und somit die Schaffung neuen Wissens, sondern auch die Verbreitung dieses Wissens. Verschiedene Kanäle stehen dafür zur Verfügung. So veröffentlichen Forscher Artikel in Fachzeitschriften und präsentieren ihre Daten und Ergebnisse an Fachkongressen, typischerweise als Poster oder als Vortrag. Aber mit diesen Kanälen erreichen wir nur Fachpublikum, andere Wissenschaftler und Spezialisten. Ich bin davon überzeugt, dass es gerade heute, in einer wissenschaftlichen Ergebnissen gegenüber immer kritischer eingestellten Gesellschaft, immer wichtiger wird, als Wissenschaftler den Elfenbeinturm zu verlassen und Daten, Ergebnisse und sein Wissen mit allen zu teilen. Ich arbeite nicht an den großen Problemen der Menschheit, an Klimaveränderung, Infektionskrankheiten oder neuen Agrartechniken. Allerdings kann man über die Fragen des Geruchssinns das Interesse an der Wissenschaft wecken, riechen wir doch alle mit jedem Atemzug und oft mit Freude und Leidenschaft. Ich habe es mir daher zur Aufgabe gemacht, wenn immer es möglich ist, meine Erkenntnisse mit der Öffentlichkeit zu teilen, sei es als Vortrag, als Interview für Fernsehen, Radio und Print oder im vorliegenden Buch. In den kommenden Kapiteln nehme ich Sie mit auf eine Reise durch die Welt des Riechens und des Geruchssinns und ich hoffe, dass ich meine Faszination für diesen alten Sinn teilen kann. Lassen Sie sich auch beim Lesen auf die am jeweiligen Kapitelende vorgeschlagenen „Übungen“ ein. Aha-Erlebnisse sind garantiert.

MEIN PLUS FÜR DEN ALLTAG

Machen Sie eine gedankliche Reise in Ihre Kindheit: Welche Gerüche waren prägend und welche Erinnerungen und Geschichten fallen Ihnen dazu ein? Welche Gerüche Ihrer Kindheit gibt es heute nicht mehr, welche haben die Zeit überdauert?

2. WIE FUNKTIONIERT RIECHEN? WUNDERWERK NASE UND CO.

In diesem Kapitel erfahren Sie,

… dass beim Riechen kleine Mengen der Geruchsquelle in die Nase eindringen,

… dass wir hundertmal mehr Riech- als Sehrezeptoren haben,

… dass Riechreize in den Gefühlszentren des Gehirns verarbeitet werden.

PHYSIKALISCHE UND CHEMISCHE SINNE

Der Geruchssinn gehört zu den klassischen fünf Sinnen. Neben Sehen und Hören, Schmecken und Tasten erlaubt er, unsere Umgebung wahrzunehmen und adäquat auf Reize zu reagieren. Sehen, Hören und Tasten sind physikalische Sinne, bei denen es zum Sinneseindruck kommt, indem die Reizquelle physikalisch mit den Sinnesorganen interagiert. Werfen wir einen kurzen Blick auf die Funktionsweise: Beim Sehen werden Photonen, die von der Sonne stammen oder mittels einer künstlichen Lichtquelle erzeugt werden, von Oberflächen reflektiert. Bei hellen Oberflächen sind das mehr, bei dunklen Oberflächen weniger. Die Photonen gelangen durch die Hornhaut in unser Auge, werden von der Pupille gebündelt und durchdringen den Glaskörper. In der Netzhaut an der Hinterwand des Auges durchdringen sie noch einige Zellschichten, bevor sie auf die Rezeptorzellen treffen. Davon gibt es zwei Arten: die Stäbchen, die ziemlich empfindlich sind und das Schwarz-Weiß-Sehen erlauben, was auch mit wenig Licht, zum Beispiel in der Nacht, funktioniert, und Zapfen, die für das Farbsehen verantwortlich sind und für die wir ziemlich viel Licht benötigen. Diese Rezeptorzellen „übersetzen“ den physikalischen Reiz in die Sprache des Nervensystems, in einen elektrischen Reiz. Dieser elektrische Reiz wird dann über die Nervenfasern des Sehnervs in das Gehirn geleitet und dort weiterverarbeitet.

Das Hören wiederum basiert auf der Wahrnehmung von Schallwellen, die von schwingenden Strukturen erzeugt werden. Das kann die Membran eines Lautsprechers sein, die Stimmbänder der Kollegin mit der nervigen Stimme oder der Motor eines Autos. Die Schallwellen werden über ein Medium, typischerweise die Luft, weitergeleitet, indem sie in derselben Frequenz zu schwingen beginnt. Sie treffen dann auf unser Trommelfell, das ebenfalls zu schwingen beginnt