Wir sehen jetzt durch einen Spiegel - Helmut Holzhey - E-Book

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Helmut Holzhey

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Beschreibung

Erfahrungen, gute wie schlechte, motivieren immer wieder zum Nachdenken über die grossen Welt-rätsel. Sie erschüttern aber auch die dabei gewachsenen Einsichten. Unruhe durchzieht Philosophie, genährt von zwei Fragen: Wieviel braucht eine Philosophie, die der Sinnspur menschlichen Lebens nachgehen will? Und wieviel Erfahrung verträgt sie? (Helmut Holzhey)

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Thema des Buchs sind Erfahrungen beim Bedenken der großen Sinnfrage, der Frage nach dem Sinn des Seins und des Lebens. Millionenfach hat man sie ausdrücklich oder unausdrücklich gestellt, aber auch zurückgewiesen, weil sie ein metaphysisches Bedürfnis artikuliere, das sich nicht einlösen lasse. Immanuel Kant hat die menschliche Vernunft als Urheberin dieser Frage ausgemacht. Und im Anschluss an ihn geht es in einigen Kapiteln des Buchs um die Verstörung, die beim Absturz aus einem metaphysischen Höhenflug eintritt. Ist dann kritische Selbstbeschränkung auf rational angehbare Probleme der Weisheit letzter Schluss? Die große Sinnfrage bleibt als Frage weiter virulent: Sie kommt angesichts von Leiden und Tod oder der Einbrüche des Bösen immer wieder neu auf. Wenn es nicht gelingt, sie in dogmatischer Entschlossenheit zu beantworten oder in gewiefter Skepsis aufzulösen, könnten doch Glaube oder Hoffnung oder gar Liebe an die Stelle von rationalen Argumenten treten. Im Anschluss an Theodor W. Adorno wird gezeigt, wie bei allen kritischen Vorbehalten die Hoffnung eine unscheinbare metaphysische Erfahrung in sich bergen kann. Derlei Erfahrung vermittelt kein Trugbild, aber – mit Paulus zu sprechen – ein rätselhaftes Spiegelbild des Wahren (1. Kor 13,12). Der fragile Befund nötigt zu einer generellen Analyse von Denkerfahrungen, die bei der philosophischen Arbeit an metaphysischen Problemen zu machen sind. Unser Denken leidet daran, dass es dem metaphysischen Bedürfnis nicht Genüge zu tun vermag. Das Problem, ob es für dieses Leiden eine Therapie gibt, spitzt sich im letzten Kapitel auf die Frage zu, ob und wie sich Philosophie die biblische Deklaration, Gott habe «die Weisheit der Welt zur Torheit gemacht» (1. Kor 1, 20), selbst zu eigen machen könnte.

Helmut Holzhey, geb. 1937, Studium der ev. Theologie (1956-1962) und der Philosophie (1962-1968), emer. Professor für Philosophie an der Universität Zürich (1978-2004). Veröffentlichungen zur Philosophie des 18. Jahrhunderts, insbesondere über Kant, zum Neukantianismus und zu verschiedenen Sachproblemen in der Philosophie der Gegenwart. Begründer der neueren Hermann Cohen-Forschung. Herausgeber des Grundriss der Geschichte der Philosophie, begründet von Friedrich Ueberweg.

Helmut Holzhey

«Wir sehen jetzt durch einen Spiegel»

Erfahrungen an den Grenzen philosophischen Denkens

Schwabe Verlag Basel

Schwabe Reflexe 50

Copyright © 2017 Schwabe AG Verlag, Basel, Schweiz

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Das Werk einschließlich seiner Teile darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in keiner Form reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt, zugänglich gemacht oder verbreitet werden.

Lektorat: Barbara Handwerker Küchenhoff, Schwabe Verlag

Umschlaggestaltung: Heike Ossenkopp, h.o.pinxi // editorial design, Basel

Gesamtherstellung: Schwabe AG, Muttenz/Basel, Schweiz

ISBN Printausgabe 978-3-7965-3650-2

ISBN E-Book (ePUB) 978-3-7965-3651-9

 

E-Book: Schwabe AG, www.schwabe.ch

 

[email protected]

www.schwabeverlag.ch

Inhalt

Einleitung

I Transzendenz – wohin des Wegs?

II Kritische Vernunft angesichts der Macht des Schicksals

III Das metaphysische Bedürfnis

IV Kritik der Vernunft und Selbstzerstörung

V Das Ende bedenken

VI Die Unerklärlichkeit des Bösen

VII Hoffnung und Wahrheit

VIII Erfahrungen

IX Denken im Modus des Leidens

Textnachweise

Einleitung

In diesem kleinen Buch ist von Fragen die Rede, die sich jedem Menschen irgendwann einmal stellen. Die Geläufigkeit der Fragen konstrastiert mit der Schwierigkeit ihrer Beantwortung. Ich spreche von Sinnfragen – eine vertraute Redeweise. Es gibt die kleinen Sinnfragen, wie sie sich bei den verschiedensten Geschehnissen und Vorhaben aufdrängen; es gibt auch die große Frage nach dem Sinn des Lebens überhaupt. «Hat es überhaupt noch einen Sinn, in Buchform zu publizieren?» – so könnte eine ‘kleine’ Sinnfrage lauten. Ein bestimmtes Vorhaben wird unter dem Gesichtspunkt geprüft, ob es in einen individuellen Zeit- und Lebensplan passt, ob es allgemeine Unterstützung finden dürfte, ob es verantwortbar ist usw.

Die ‘große’ Sinnfrage hat, wie es zunächst scheint, eine andere Signatur. Sie stellt sich unter den Bedingungen eines gewöhnlichen Lebens nicht alle Tage; sie gehört auch nicht zu den Fragen, die sich bei den üblichen Aktivitäten wie von selbst einfinden. Sehen wir von Menschen ab, die von Natur aus zu Grübelei und Tiefsinnigkeit neigen oder unter einer permanenten Lebensangst leiden, so hat sie ihre Auslöser meist in besonderen Ereignissen: einer schweren Erkrankung, einem Unfall, dem Tod eines nahestehenden Menschen, aber auch im plötzlichen Verlust einer sicheren Weltorientierung. Es sind das Geschehnisse, die ein Gefühl der Sinnlosigkeit provozieren, weil sie nicht mehr in gewohnter Weise verarbeitet werden können. Sich dann auf die Sinnfrage einzulassen, beinhaltet den Versuch, mit dem Widerfahrnis und seinen Folgen irgendwie zu Rande zu kommen. Offensichtlich ist dabei nicht mit einer schnellen und einfachen Antwort zu rechnen. Worin könnte aber überhaupt die Antwort bestehen? Was ist gesucht, wenn wir Sinn und gar den Sinn des (eigenen) Lebens suchen?

Für gewöhnlich leben wir in einer Welt, in der wir uns auskennen. Das Vertrautsein mit Dingen und Vorgängen, das die Normalität kennzeichnet, wird zwar immer wieder durch kleinere oder größere Fraglichkeiten durchbrochen. Weit entfernt davon, uns den Boden unter den Füßen wegzuziehen, sind diese Brüche und ihre Kittung vielmehr Elemente gelingenden Lebens. Wo Unvertrautes und Problematisches auftaucht, lässt sich mehr oder minder leicht bzw. schwer die um neue Erfahrungen bereicherte Vertrautheit wiederherstellen und eine Problemlösung finden. Dazu helfen Sachkenntnisse, das soziale Netz, die institutionell geregelten Verfahren der Problemlösung.

Für die Beantwortung der großen Sinnfrage fallen diese Hilfsmittel dahin. Denn stellt sie sich jemandem ernsthaft, und das heißt: drängt sie sich zwingend auf, dann kennt sich der oder die Betroffene gerade nicht mehr aus, er oder sie versteht «die Welt» nicht mehr, er oder sie ermangelt der üblichen Problemlösungsmöglichkeiten. Die normalen Sinngebungs- und Sinnstiftungsprozesse verfangen nicht mehr. Das erschütternde Ereignis oder das seit langem nagende Übel sprengen die Zusammenhänge, statt sich in sie einzufügen und so verstehbar zu werden. Sinnbestimmung ist ja, formal betrachtet, Herstellung eines Zusammenhangs. Das gilt schon für das elementare Verstehen des Sinns von Worten und Sätzen. Ebenso gilt für die Interpretation von objektiv feststellbaren Geschehnissen wie von subjektiven Erfahrungen, dass Zusammenhangloses schlicht unverständlich und damit sinnlos ist. Nun gibt es wohl nichts schlechthin Zusammenhangloses, aber doch ein solches Aufbrechen von Zusammenhängen, ein solches Einbrechen des Bodens, dass das Gefühl eines gänzlichen Weltverlustes und Verlorenseins entstehen kann. Dagegen hilft es nicht, dass irgendein Zusammenhang und damit ‘Sinn’ hergestellt wird. Das gelingt übrigens immer. Die Statistik etwa sagt, dass ein bestimmter Prozentsatz der Bevölkerung mit Erbkrankheiten geschlagen ist, dass der Straßenverkehr in einem Land jährlich so und so viele Opfer fordert usw. – die Betroffenen können demgemäß in der statistischen Ordnung geortet, ihr Schicksal kann an einem Punkt der Kurve, welche die Häufigkeitsverteilung von Krankheiten, Unfällen usw. veranschaulicht, abgelesen werden. Aber damit ist die Frage nach dem Sinn ihres Leidens und Betroffenseins nicht schon beantwortet. Denn die Sinnsuche erfüllt sich nicht im Wissen um eine unpersönliche Gesetzmäßigkeit, der ein Mensch wie alles natürliche Seiende unterworfen ist. Ich will und kann mein Leben nicht mit dem Weg des Kiesels im Gebirgsbach vergleichen.

Damit ist die menschliche Grundsituation angesprochen. Wir stehen schon immer in ihr, werden aber, wie vielfach bezeugt, durch die angeführten Geschehnisse, durch schlimme Widerwärtigkeiten, aber vor allem in der Erfahrung von Leid und in der Konfrontation mit dem Tod, ganz ausdrücklich mit ihr konfrontiert und damit vor die Sinnfrage gestellt. Letzteres scheint allerdings heute manchem Beobachter in unseren Breiten bestreitbar: Es gibt neben den Theorien über die Sinnlosigkeit der Frage nach dem Sinn und jedweder Antwort auf sie auch zahlreiche Hinweise darauf, dass praktische Lebens- und Todestechniken vermehrten Zuspruch finden, dank denen man sich um Grund- oder Wesensfragen des Menschseins nicht mehr kümmern zu müssen glaubt. Überdies geht das diskursive Interesse an diesen Fragen, die als «uncool» disqualifiziert werden, leicht im globalen Gemurmel auf Facebook oder Twitter unter, und «selbst die Sehnsucht nach Transzendenz kann zu einem Teil der Unterhaltungsindustrie werden» (Lászlo F. Földényi).

Vergegenwärtigen wir uns gegenüber solchen zeitgenössischen Tendenzen, was in der philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts an Einsichten erarbeitet worden ist. Der Mensch ist, so deren Ausgangspunkt, dasjenige Lebewesen, das um sich weiß. In diesem elementaren Wissen wurzeln sowohl die Möglichkeiten zu einer aktiven Lebensgestaltung als auch die Erfahrung, sich nicht selbst hervorgebracht zu haben, mit dem Mangel konfrontiert zu sein und immer wieder gegen den eigenen Willen auf sich zurückgeworfen zu werden. Beides macht den Überschuss über das pure Leben aus. Dieser Überschuss bildet die Basis sowohl für Offenheit und Fülle des Menschseins als auch für die von ihm unabtrennbaren Ängste, unerfüllten Wünsche und anderen Erleidnisse seiner Endlichkeit. Die große Sinnfrage führt mitten in diese Wahrheit des Menschseins. Wem sie sich stellt, der hat bereits, zumeist leidvoll, im drohenden Sinnverlust die eigene Endlichkeit erfahren.

Wie lässt sich der Bedrohung durch Sinnverlust begegnen? Wo schweres Leiden die Sinnfrage auslöst, ist der betroffene Mensch wohl vieler, aber in den meisten Fällen doch nicht aller Möglichkeiten normaler Lebensgestaltung und damit der Sinngewinnung beraubt. So ist ihm durchaus die Beantwortung von Sinnfragen möglich. Da er dabei nicht aus dem Schatten der ‘großen’ Frage nach einer Sinnbestimmung seines Leidens heraustreten kann, erlebt der leidende Mensch in besonderer Weise das Band, das zwischen dem fundamentalen und dem gewohnten Sinngebungs- und Sinnfindungsprozess besteht: Der Schatten eines letzten Sinnmangels, repräsentiert im unerklärlichen Leiden, liegt unvermeidlich auf den gelingenden Sinnstiftungen des beschädigten Alltags. Umgekehrt machen die positiven Erfahrungen das Leben im Schatten wärmer. Lässt sich aber dem Leiden überhaupt ein anderer Sinn einlegen, als der, den man ihm – und sei es durch eine neue Auslegeordnung der verbliebenen Gestaltungsmöglichkeiten eigenen Lebens – abringt? Der christliche Glaube, religiös motivierte Praktiken und weltanschauliche Überzeugungen kennen Alternativen. Sie bringen die Idee eines umfassenden Zusammenhangs bei, in dem das individuelle Leben und Leiden aufgehoben sind. Für den religiösen Menschen hat dieser Zusammenhang, gedacht etwa im Begriff der Vorsehung, seinen Garanten in Gott. Und der einzelne Mensch findet in ihm seinen Platz, ohne auf einen namenlosen Fall reduziert zu werden.

Philosophisch betrachtet handelt es sich bei der christlichen Gesamtsicht um eine durch Offenbarung und Vernunft gestiftete und als Glaube praktizierte Weltauslegung, mit der – im Schatten des großen Sinnmangels – ein Leben ins Licht der Sinnfülle gesetzt wird. Akteur eines philosophischen Umgangs mit der großen Sinnfrage ist demgegenüber nach verbreiteter heutiger Auffassung ausschließlich der als autonom verstandene menschliche Geist, der auf den autonomen Gebrauch der Vernunft abstellt. Die geistige Herausforderung durch die große Sinnfrage wird im vernünftigen Nachdenken angenommen. Das heißt nun allerdings nicht, dass sie der Wissenschaft, allgemeiner gesagt: der rationalen Argumentation, überlassen wird. Vernunft – so soll der Terminus hier verstanden werden – hat es mit metaphysischen Fragen und ihrer Beantwortung zu tun, d.h. mit Problemen, die sich wohl aus unserem Erfahrungswissen heraus ergeben, etwa im Blick auf dessen Lücken, aber über es hinausreichen. Sprechende Beispiele metaphysischen Denkens bieten Theorien zur Rechtfertigung Gottes angesichts von Leiden und Tod in der von ihm geschaffenen Welt oder materialistische Konzepte der Weltgeschichte oder Unsterblichkeitsbeweise. Insgesamt dokumentieren sie, dass und wie wir das empirisch Belegbare mit Hilfe unserer Vernunft transzendieren.

Was es mit einem solchen «Überschritt» auf sich hat, soll zunächst hinsichtlich seiner formalen Struktur am Gedanken der Transzendenz erörtert werden (Kap. I). Ursprünglich zur Beschreibung metaphysischen Denkens verwendet, wird er in der Neuzeit auf die Beziehung von Subjekt und Objekt in der Erkenntnis appliziert oder in der Philosophie des 20. Jahrhunderts anthropologisch auf den Welt- und Selbstbezug des Menschen eingeschränkt. Am metaphysischen Begriff der Transzendenz gemessen geht der Gedanke damit ins Leere. Ist die Preisgabe transzendenter Wirklichkeit und der damit verbundene Verlust – die große Sinnfrage bliebe letztlich ohne Antwort – ein geistiges Schicksal, das hinzunehmen ist? Bloße Hinnahme wäre nicht Aneignung. Solche versucht, wer sich auf die Erfahrung des Transzendenzverlustes einlässt. Ich skizziere im Folgenden einige Aspekte dieser unserer Erfahrung. Sich auf sie einzulassen, läuft zunächst einmal auf ein geistiges Ausleben des «Scheiterns» hinaus. Dieses erscheint, geschichtlich betrachtet, als ein Schicksal der menschlichen Vernunft. Aber ist es nicht widersinnig, der Vernunft ein Schicksal zuzusprechen?

Die Frage wird in Kap. II durchdacht. Den Bezugspunkt bildet der erste Satz von Kants Kritik der reinen Vernunft: «Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: dass sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.» Ich versuche zu zeigen, dass die Rede vom Schicksal auch und gerade an dieser Stelle keine bloße façon de parler ist, sondern tatsächlich ein der menschlichen Vernunft von der Natur zugeteiltes, unerklärliches Los meint, sich um rational vertretbare Antworten auf die große Sinnfrage, wie sie sich in Gestalt «metaphysischer» Fragen immer und immer wieder stellt, bemühen zu müssen.

Für Kant wurzelt dieser Zwang in einem metaphysischen Bedürfnis des Menschen, das ihm schicksalhaft eingeschrieben ist. Lässt sich dieses Bedürfnis einlösen? Für Kant ist das nur im Glauben möglich. Ein Glaube, mit dem das metaphysische Bedürfnis seine Erfüllung findet, ist allerdings kein bloß subjektives theoretisches Für-wahr-Halten, sondern ein «praktischer Vernunftglaube». Darunter versteht Kant die auf moralischer Gesinnung beruhende «moralische Gewissheit», dass es einen Gott und ein künftiges Leben nach dem Tod gibt (Kap. III).

Was heißt es nun aber für die menschliche Vernunft, dass sie mit Fragen zu tun hat, die sie nicht beantworten kann? Es heißt für sie, dass es Grenzen der Einsicht gibt, zu deren Bestimmung sie herausgefordert ist. Das ins Metaphysische ausgreifende Denken wird angesichts der Zweifelhaftigkeit seines Erfolgs zur eigenständigen Prüfung seiner Reichweite veranlasst. Als Resultat dieser Selbstkritik könnte die Meinung aufkommen, dass jene Fragen – weil unbeantwortbar und deshalb sinnlos – zu verabschieden seien, statt sich weiterhin mit fragwürdigen Antwortversuchen abzuquälen. Da das Überschreiten der Empirie auf ein Absolutes hin aber das Kerngeschäft der Vernunft (im Unterschied zum Verstand) bildet, liefe ein derartiger Verzicht auf den Suizid der Vernunft hinaus. Um ihn zu vermeiden, muss der Arbeit an den metaphysischen Fragen ein Ort zwischen ihrer dogmatischen Beantwortung und ihrer skeptischen Destruktion gesichert werden. Für Kant leistet das «Kritik», verstanden als Prüfung metaphysischer Erkenntnisansprüche, wie sie im Umgang mit der menschlichen Grundsituation immer wieder erhoben werden. Solche Kritik ist deshalb eine Daueraufgabe. Dieses erste, für Kant nur «propädeutische» Resultat der Auseinandersetzung mit der ins Metaphysische transzendierenden Vernunft wird in Kap. IV in der Anmutung des physischen Suizids und ihrer Bewältigung gespiegelt.

Das sich der großen Sinnfrage stellende philosophische Denken siedelt sich am Ort der «Kritik» an. Anders als Kant verstehe ich diesen Ort in Anlehnung an Walter Schulz als einen Ort des Schwebens zwischen der seit jeher ersehnten metaphysischen Gewissheit und deren sie negierender Problematisierung. Vielleicht wird dieser Ausdruck dem Ernst der kritischen Situation nicht gerecht, weil er zu stark eine harmonische seelische Bewegung assoziieren lässt, aus der das Hin-und-her-Gerissen-Werden getilgt ist. Platon bringt das Hin und Her durch den Gegensatz zwischen dem Zug der Seele nach oben und ihrem Fall nach unten zur Sprache. Insbesondere am Bedenken des Endes im Tod wird die Härte spürbar, mit der sich die Frage stellt, ob der Tod als unüberschreitbare Schranke oder als Grenze zu verstehen ist, an der sich eine Sinngebung ansiedeln kann (Kap. V). Ebenso viel Schwanken zeigt der intellektuelle Umgang mit dem Bösen, oszilliert doch die philosophische Tradition zwischen der Bestreitung seiner Existenz und der meist resultatlosen Bemühung um eine Erklärung seines Ursprungs. Hilflosigkeit dringt in den Ort der Kritik ein, wenn sich unsere Begrifflichkeit der Erfahrung des Bösen nicht gewachsen zeigt, von dessen faktischem Auftreten die theoretische Erklärung immer wieder überrannt wird (Kap. VI).

Halten die christlichen «Tugenden» von Glaube, Hoffnung und Liebe für das im Raum der Metaphysik von logischen Prinzipien gesteuerte Nachdenken eine Antwort auf die große Sinnfrage bereit? Vom Glauben war bereits bei der Thematisierung des metaphysischen Bedürfnisses in Kap. III die Rede gewesen. Der philosophische Glaube, wie ihn Karl Jaspers beschrieben hat, läuft auf eine existenzielle Haltung hinaus, die aus dem «Umgreifenden» lebt, aber nie zu objektiven, Wahrheit beanspruchenden Festlegungen von Glaubensinhalten gelangt. Ist das Verhältnis der Hoffnung zu gesuchten Wahrheiten noch subjektiver? Ich verfolge das mittels der Interpretation eines Aphorismus von Theodor W. Adorno. Wieder ist zunächst zu beobachten, dass in der kulturellen und insbesondere in der philosophischen Überlieferung der Wahrheitszugang durch Hoffnung in der Schwebe gehalten wird. Über die existenzielle Verknüpfung von Hoffnung und Erkenntnis hinaus macht Adorno Hoffnung «am Ende» als «die einzige Gestalt» aus, «in der Wahrheit erscheint». Als legitimierende Basis solcher Hoffnung, die jeder Stütze in der «Wirklichkeit» entbehren muss, führt er Spuren metaphysischer Erfahrungen an (Kap. VII).

Das wirft das Problem auf, ob (metaphysische) Erfahrungen namhaft zu machen sind, aufgrund derer die Sinnfrage, vor allem angesichts des Todes, positiv beantwortet werden könnte. Ohne Zweifel gibt es derartige Erfahrungen, aber ihre Jemeinigkeit lässt es fraglich erscheinen, ob aus ihnen zu «lernen», d.h. eine allgemeinere Einsicht abzuleiten ist. Zeugnisse gewonnener Einsicht kommen zwar anderen Menschen zur Kenntnis, ohne dass die Basiserfahrungen damit jedoch wieder eintreten würden – höchstens wächst die Bereitschaft, sich für sie zu öffnen. Aber ein Rezept für die Beantwortung letzter Fragen lieferte auch das authentischste Zeugnis nicht (Kap. VIII). So bleiben Menschen in «Grenzsituationen» doppelt in Leiden verstrickt: in das Leiden an Angst, Krankheit, Schuld und das Leiden an der Vergeblichkeit von Bemühungen, ihrer Situation einen haltgebenden Sinn zuschreiben zu können. Mit der Erörterung möglicher Therapien des letzteren Leidens schließen Kap. IX und das Buch. Am Ende ist davon die Rede, ob und wie es dem Philosophen möglich sein könnte, sich durch das «Wort vom Kreuz» Jesu Christi (1 Kor 1,18) zu einem schwachen Denken bewegen zu lassen, das eine Antwort auf die Sinnfrage nicht mehr von der «großen» Erfüllung des metaphysischen Bedürfnisses abhängig macht.

«Wir sehen jetzt durch einen Spiegel» (1 Kor 13,12; Paulus fügt hinzu: «in einem Rätsel»). Die Wahl dieses Titels mag verwundern. Auf den Unterschied zwischen «jetzt» und «dann» lege ich in meinem Buch nicht den Ton; «jetzt» – das ist auch die Zeit der Philosophie. Die Metapher des Spiegelbilds selbst macht den Kern des Gedankengangs sichtbar, denn sie stellt ins Licht, wie verständlich-unverständlich es ist, dass menschliche Vernunft in der Erfahrung des Scheiterns bei all ihren Versuchen, die Sinnfrage letztgültig zu beantworten, an dieser Frage festhält. Spiegel reflektieren, d.h. sie lassen etwas erscheinen, und sei es unter Umständen nur verzerrt, und lassen es auch wieder nicht erscheinen. Gerade das gilt für den «großen» Sinn in unserem schwachen Denken.

Ich danke dem Verlag Schwabe für die Aufnahme des Textes in einen Band der Reihe Schwabe reflexe und insbesondere Frau Dr. Barbara Handwerker Küchenhoff für die in formaler und inhaltlicher Hinsicht so sorgfältige wie engagierte Lektorierung.

Zürich, Februar 2017 Helmut Holzhey

I Transzendenz – wohin des Wegs?

Extra- und Intratranszendenz

Wer der großen Sinnfrage nachdenkt, transzendiert, das bedeutet: er überschreitet die Grenzen oder verlässt den Boden seiner Erfahrungswelt. Er sucht – weiterhin bildlich gesprochen – Höhe oder Tiefe zu gewinnen; er fliegt nach oben, dem Himmel zu, oder bohrt in die Tiefen seines Inneren. Doch da jede Frage nach einer Antwort sucht, kann es nicht beim transzendierenden Fragen nach Sinn bleiben. Der Akt des Fragens ist auf den Gewinn von Sinn ausgerichtet, einen Sinn, der nicht im Akt des Fragens bestehen kann, sondern sich im Akt als ein Transzendentes erschließen soll. Wie immer man dieses Transzendente philosophisch fasst – als Gott, als das Eine und Höchste, als das Sein selbst –, es bleibt umgekehrt aufs engste ans Transzendieren gebunden, die Verbürgung von Sinn an die Frage nach dem Sinn. Im 3. nachchristlichen Jahrhundert ordnet der Philosoph Plotin, ein eminenter Denker der Transzendenz avant la lettre, beispielhaft dem Einen und Höchsten die ekstatisch-punktuelle Erfahrung eines «geistigen Berührens» zu, eines augenblicklichen Sehens, «wo die Seele jählings von Licht erfüllt wird».1

Das Transzendieren im Verfolg der großen Sinnfrage besteht in einem radikalen Hinaus- bzw. Hineingehen, das sowohl alle weltliche Wirklichkeit wie auch die gängigen Weisen der Welthabe und Wirklichkeitserfassung übersteigt. Überstiegen wird das Diesseits auf einen wesensverschiedenen Bereich hin. Die «transzendentale» Grenze trennt nicht bloß Verschiedenes, sondern Verschiedenartiges: das Undenkbare und Unsagbare vom Denk- und Sagbaren, das Unendliche vom Endlichen, das Sein vom Seienden, den Grund von den Gründen, das umfassende Ganze vom Teilhaften. Anschaulich formuliert zielt der Transzendenzgedanke auf eine in räumlichem Sinne über oder jenseits der Welt liegende Wirklichkeit, eine andere, «höhere» Welt. Das bezeugen jene Gottes- oder Weltbilder, die eine schlechthin weltjenseitige Gottheit kennen, und ebenso die Mythenkritik, die dem Glauben an weltimmanente Götter entgegentritt. Eine Transzendenz nach innen, in den menschlichen «Seelengrund», lässt sich demgegenüber nicht in ein Bild bringen; die Rede von Transzendenz ist hier nur metaphorisch zu lesen, wie ja auch die von einer Transzendenz im wörtlichen Sinne des räumlichen über etwas hinaus für den Philosophen immer eine metaphorische war. Nach innen zu transzendieren heißt nicht, eine diesseitige Sphäre der Immanenz der jenseitigen der Transzendenz vorzuziehen. Es geht bei der Intratranszendenz vielmehr wie bei der «(Extra-)Transzendenz» um eine Bewegung: Auch in der Innenrichtung wird eine Grenze überschritten; spekulativer formuliert: das innerlichere transcendens liegt über das (seelische) Innere hinaus.

Augustinus verknüpft in einem Bericht über eine Vision ewigen Lebens, die er gemeinsam mit seiner Mutter hatte, den Weg von Extra- und Intratranszendenz aufs eindrücklichste:

[...] da erhoben wir uns mit heißer Inbrunst nach ‘jenem Selben’ [Gott] und durchwanderten stufenweise die ganze Körperwelt, auch den Himmel, von dem herab Sonne, Mond und Sterne leuchten über die Erde. Und weiter stiegen wir innerlich [zugleich: tiefergehend] an im Betrachten, Bereden, Bewundern Deiner Werke, und wir gelangten zu unserer Geisteswelt und schritten hinaus über sie, um die Gefilde unerschöpflicher Fülle zu erreichen, auf denen Du Israel auf ewig weidest mit der Speise der Wahrheit [...].2

Wo die Intratranszendenz radikal gedacht bzw. erlebt wird, fällt sie mit der Extratranszendenz zusammen, weil im Ziel (dem Einen) alle Differenzierungen (auch die raumzeitlichen und damit die der Richtung) überwunden sind. Dennoch ist die Bindung von Transzendenz an die Bewegung nach innen folgenreich, weil in ihr der anthropologische und fernerhin der erkenntnistheoretische Transzendenzbegriff ihre Wurzel haben. Nicht über die Welt hinaus durch Ausbildung einer zweiten Physik («Metaphysik»), sondern in die Tiefe des menschlichen Inneren hinein, also auf dem Weg einer «transzendentalen Psychologie», ist das Transcendens, der göttliche «Seelengrund», zu suchen.

Die transzendente «Wirklichkeit»3

Nicht nur das Geschehen der Bezugnahme auf eine «jenseitige» Wirklichkeit, sondern auch diese selbst wird als «Transzendenz» aufgefasst, sei es als (göttliche) Aktivität, die dem Transzendieren entgegenkommt, sei es als Woraufhin menschlichen Transzendierens. So oder so verstanden ist Transzendenz, obwohl sie sprachlich vergegenständlicht scheint, nie Ding oder Gegenstand, sondern viel eher – wenn überhaupt eine positive Bestimmung angebracht ist – nach aristotelischer und scholastischer Lehre reines Wirken (actus purus). Als ein Widerschein dieser Bestimmung kann die formale Charakteristik gelesen werden, dass «Ursprung und Ausgang der Transzendenzbewegung [...] nicht beim Transzendierenden, sondern stets beim Transzendenten liegen».4

Diesem radikalen Verständnis von Transzendenz steht das «säkularisierte» gegenüber, das an die Bewegung des transzendierenden Menschen gebunden ist, d.h. an die Bewegung auf eine andere, «absolute» Wirklichkeit hin. Indem auf eine «andere», d.h. nicht auf «diese» unsere Wirklichkeit Bezug genommen wird, ist zwar Transzendenz angemessen als transempirische Wirklichkeit definiert. Ob aber Wirklichkeit eine angemessene Bestimmung des Transzendenten abgeben kann, erweist sich als fragwürdig, weil die Kategorie des Wirklichen auf die Existenz eines Gegenstandes bzw. gegenständlichen Sachverhalts abzielt. Ebenso ist es nicht harmlos, das Transzendente als absolute Wirklichkeit zu charakterisieren. Denn «das Absolute ist seinem Begriffe nach dasjenige, was abgelöst und unabhängig von jedwedem denkbaren Anderen besteht und restlos sich selbst genügt».5 Vom radikalen Transzendenzgedanken her beurteilt, geht die Kennzeichnung «absolut», wenn sie nicht bloß negativ (in der Bedeutung «abgelöst», «unabhängig»), sondern positiv (im Sinne von «vollkommen») verwendet wird, in die Irre. Plotin begründet das so:

Nein, so wie der, welcher die geistige Wesenheit erblicken will, keine Vorstellung von etwas Sinnlichem in sich tragen darf, um zu erschauen, was jenseits des Sinnlichen ist, so muss auch der, der das jenseits des Geistigen Liegende erschauen will, bei seiner Schau jeglichen geistigen Inhalt forttun; dass Jenes ist, das erkennt er durch das Geistige, welcher Art es aber ist, nur dadurch, dass er das Geistige forttut. Dies ‘welcher Art’ dürfte aber wohl bedeuten ‘keiner Art’; denn es gibt ein ‘welcher Art’ nicht bei einem Dinge, für das auch das Etwas nicht gilt. Sondern wir sind es, die in unseren Geburtsnöten nicht wissen, wie wir es bezeichnen sollen.6

Wo sich philosophisches Denken den Gedanken radikaler Transzendenz zumutet, setzt es sich, beirrt durch die Unmöglichkeit einer positiven Aussage über das Transzendente, dem eigenen Scheitern aus. Das gilt auch vom Weg nach innen, der Intratranszendenz, einem Weg, der nicht mit der psychologischen Beschreibung religiöser Erlebnisse zu verwechseln ist. Streng genommen ist ein Begriff des Transzendenten nur formulierbar, wenn von der Relationalität von Transzendenz ausgegangen wird. Das bedeutet, dass Transzendenz weder als Akt des Überstiegs noch in ihrem Woraus und Woraufhin absolut genannt werden darf.

Bezugspunkt Mensch

Die These, dass für die begriffliche Rede von Transzendenz eine Beziehung konstitutiv ist, beinhaltet noch keine anthropologische Engführung des Begriffs. Transzendenz als Vollzug des Überstiegs durch den Menschen gewinnt erst damit eine eigenständige begriffliche Gestalt, dass die Bindung an den Menschen ausschließlich wird. Geschieht das, so wird Transzendenz nicht mehr auf eine schlechthin «andere» Wirklichkeit bezogen. Der Mensch in seiner Endlichkeit bildet vielmehr die Bedingung, an die jedes Transzendieren seiner Möglichkeit nach geknüpft erscheint.

Einen anderen Transzendenzbegriff als den auf einen menschlichen Akteur bezüglichen scheint der aufgeklärte Zeitgeist nicht mehr zuzulassen. Das zeigt sich am Schicksal der Gottesbeweise. Der für ihr Gelingen letztverantwortliche ontologische Beweis des Daseins Gottes geht vom Begriff eines an und für sich bestimmten Wesens aus, das nicht durch seine «Beziehung zu einem denkenden Subjekt» definiert ist. Gerade diese Abhängigkeit von einem Subjekt aber ist Bestandteil der philosophischen Grundüberzeugung nach dem Ende der hegelschen Schule.7 Die Möglichkeit metaphysischen Transzendierens wird, wie Jaspers diagnostiziert,8 durch den philosophischen Satz des Bewusstseins verneint, dass alles, was ist, als einem Bewusstsein gegenwärtig (immanent) gedacht werden muss, wenn immer es überhaupt gedacht werden will. Auch die Verdammung zur Sinnlosigkeit, die metaphysischen Sätzen mit der Anwendung eines enggefassten Kriteriums sinnvoller Sätze im Neopositivismus widerfährt, unterstreicht diese zeitgenössische Grundeinstellung.

Die Krise des metaphysischen Transzendenzgedankens hat zu verschiedenen Versuchen geführt, in Berücksichtigung der Kritik eine neue Problemstellung zu formulieren. Den Ausgangspunkt bildet immer die Bindung des Transzendenzgeschehens an den endlichen Menschen. Der Terminus «Transzendenz» erinnert dabei aus seiner Geschichte an das metaphysische Interesse des Denkenden. Sei es also, dass er pointiert erkenntnistheoretisch reformuliert wird, sei es, dass er zum Grundbegriff einer existenzialen Anthropologie avanciert: «das Wort ist hier nur ein Name für einen allgemeinen, wenn auch erstaunlichen und in aller Alltäglichkeit gar nicht selbstverständlichen Tatbestand des Daseins», der unterscheidend zu beziehen bleibt auf das, was «wir meinen, wenn das Wort sein eigentliches Gewicht hat, ja den Glanz, als ob in ihm das Geheimnis des Seins offenbar werden könnte».9

Transzendenz in der Erkenntnistheorie

Die Erkenntnis eines gegenständlichen Sachverhalts lässt sich nur dadurch mit Transzendenz in Verbindung bringen, dass zwischen Subjekt und Objekt der Erkenntnis eine im Erkennen vom Subjekt zu überwindende Grenze angenommen wird. Zum Gegenstand scheint ein Überschritt nötig, weil sich – gemäß einer geläufigen Interpretation der Subjekt-Objekt-Differenz – das Subjekt als Bewusstsein vom Gegenstand, der nicht Bewusstsein ist, unterschieden weiß. Dieses Wissen artikuliert sich im Gegensatz von Bewusstseinsimmanenz und -transzendenz. Auf ihn bezogen bedeutet der Überschritt, einen Weg aus der Bewusstseinsimmanenz heraus zu finden. Transzendent sind also solche Objekte intentionaler Erlebnisse (z.B. von Wahrnehmungen), die mit diesen Erlebnissen keine seinsmäßige Einheit bilden: Das Wahrnehmungsding ist nicht Bestandteil des Wahrnehmungserlebnisses, obwohl es in ihm samt seinem transzendenten Seinscharakter vermeint wird.10

Es stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang dieses erkenntnistheoretischen mit dem metaphysischen Transzendenzproblem. Formal ergibt sich ein einleuchtender Zusammenhang dann, wenn auch das Letztere als Erkenntnis(grenz)problem aufgefasst wird, dessen Lösung unter Anerkennung des mit der Erkenntnisrelation unaufhebbar gesetzten Gegenübers von Subjekt und Objekt gesucht werden muss. Geschieht das, so ist die dem Erkennen als solchem zugesprochene Transzendenzrelation auch für das ideenhafte Bewusstsein eines «jenseitigen» An-sich, also eines Transobjektiven und Transintelligiblen konstitutiv. Das heißt: Für das Transintelligible kann im Verhältnis zu seiner Idee im Bewusstsein kein höherer Transzendenzanspruch geltend gemacht werden als für das empirische Objekt gegenüber seinem Bewusstseinsbild.11

Eine alternative Verbindung zwischen der erkenntnistheoretischen Aufgabe und dem metaphysischen Transzendenzproblem ergibt sich, wenn die Erstere ohne Voraussetzung einer Subjekt-Objekt-Transzendenz und das Letztere primär gerade nicht als Erkenntnisproblem in Angriff genommen werden. Wenn Erkenntnis nämlich als unendlicher Prozess der Gegenstandsbestimmung gedacht wird, dann ist mit dem Begriff der Unendlichkeit bzw. der Idee der Totalität, auf welche die Erkenntnisarbeit ewig zustrebt, in der endlichen Erkenntnis immer schon eine Brücke zum ihr Transzendenten geschlagen. Gegenstand wird das Unendliche aber erst in der Religion, und erst indem es das wird, entsteht auch «die Gefahr der Transzendenz».12 Transzendenz bedeutet dann, den schlechthin unverantwortlichen Schritt der gegenständlichen Setzung des Unendlichen zu vollziehen, einen Schritt, der auch als unzulässiger Übergang vom religiösen Gefühl zum objektivierenden Erkennen beschrieben werden kann. Jede Vergegenständlichung ist an die Gesetze des Erkenntnisprozesses gebunden, also auch die gegenständlich gemeinte Rede von Gott. «Es ist nicht durchführbar, den Zentralbegriff der Religion, den Begriff des wirklichen, lebendigen, transzendenten Gottes seinem Vollsinn nach festzuhalten, zugleich aber auf jeden objektiven Geltungsanspruch dieses Begriffs verzichten zu wollen.» Paul Natorp zieht daraus die Konsequenz: «Das Transzendente also als Gegenstand [...] muss fallen».13 Es bleibt aber ungegenständlich im psychischen Leben als ungestaltetes, grenzenloses Gefühl repräsentiert, das «die ursprüngliche Konkretion des unmittelbaren Erlebens» bedeutet.14