Wir sehen uns bestimmt wieder - Sigrid Schuster-Schmah - E-Book

Wir sehen uns bestimmt wieder E-Book

Sigrid Schuster-Schmah

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Beschreibung

"Ich suche ein kleines Mädchen. Es war damals zehn, elf und zwölf Jahre alt. Dann kam der Krieg und es ist mir verloren gegangen, weil es sofort groß und erwachsen sein musste.", erklärt Wilma der Familie ihre Reise in die alte Heimat, nach Guttentag in Oberschlesien. Fünfzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs schreibt sie ihre Erlebnisse aus den Jahren 1944 bis 1947 für ihre Enkelin Lisa auf. Sie erzählt von ihrer Familie, davon, wie der Krieg nach Guttentag kam, von den Bomben, von der Angst und vom Hunger, von der Flucht und vom Neuanfang in Westfalen - alles aus der Sicht der Elfjährigen, die sie damals war. Ein sehr persönlicher und anrührender Bericht aus einer schweren Zeit.

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ISBN 978-3-89876-812-2 (Vollständige E-Book-Version des 2004 im Husum Verlag erschienenen Originalwerkes mit der ISBN 978-3-89876-166-6) Umschlagbild von Klaus Steffens © 2015 by Husum Druck- und Verlagsgesellschaft mbH u. Co. KG, Husum Gesamtherstellung: Husum Druck- und Verlagsgesellschaft

Liebe Lisa,

du wirst heute elf Jahre alt und ich schicke dir meine allerherzlichsten Glückwünsche. Leider kann ich im Moment nicht zu euch kommen; sie wollen mich noch eine Weile hier behalten zur Erholung.

Aber ich habe fleißig geschrieben und mein Gedächtnis um- und umgestülpt und die Erinnerungsschnipsel sortiert und noch einmal geschüttelt und das Wichtige herausgesiebt. Und was dabei übrig geblieben ist, liebe Lisa, das steckt in dieser Mappe.

Es sind die Erlebnisse eines kleinen Mädchens, das genau so alt war, wie du es jetzt bist. Damals lernte es den Krieg kennen und musste lange Zeit schlimme Erfahrungen machen.

In deiner Klasse, Lisa, sind auch Kinder, die aus einem Land geflohen sind, in dem Krieg herrscht. In den Fernsehnachrichten siehst du Menschen, die aus ihrer Heimat vertrieben werden und auf langen Elendsmärschen eine neue suchen. Es gibt immer noch Krieg auf der Welt und Menschen, die unter ihm leiden müssen. Ich denke vor allem an die Kinder.

Du weißt ja, Lisa, dass ich vor meiner Krankheit nach Polen gereist bin. Was ich denn jetzt dort zu suchen hätte, bin ich gefragt worden. Auch deine Mutter, meine Tochter, hat mich das gefragt.

„Ich suche ein kleines Mädchen“, habe ich geantwortet. „Es war damals elf und zwölf Jahre alt. Dann kam der Krieg, und es ist mir verloren gegangen, weil es sofort groß und erwachsen sein musste . . .“

Ob sie das verstanden haben?

Wenn du Lust hast, liebe Lisa, lies das Aufgeschriebene. Dann wirst du es bestimmt verstehen!

Herbst 1944

Ich erinnere mich an den Tag, als ich es geschafft habe, das Haus, in dem wir damals wohnten, zehn Mal mit dem Springseil zu umrunden. Es war im Sommer 1944. Ich war elf Jahre alt und hatte in den großen Ferien fast jeden Tag trainiert. In der vorletzten Ferienwoche hatte ich es acht Mal geschafft, am Tag zuvor achteinhalb Mal und im Moment lief ich in die neunte Runde. Ich musste mich mit dem Rekord beeilen, denn nächste Woche fing die Schule wieder an, und ich war drauf und dran, es heute zehn Mal zu schaffen.

Da rief meine Mutter zum Abendbrot. Bloß nicht hinhören, dachte ich, hopste weiter in gleichmäßigen Sprüngen über die Schnur und hüpfte um die Hausecke. Da rief meine Mutter zum zweiten Mal: „Wilma!“

Ich kann doch jetzt nicht meinen Endspurt abbrechen, dachte ich und galoppierte weiter, geradewegs auf Rosel, unser Hausmädchen, zu. Sie stand auf den Eingangsstufen.

„Du sollst essen kommen! Aber gleich, bitte schön!“

Mit der letzten mir noch verbliebenen Puste brüllte ich: „Neun – ein – halb!“

Rosel klatschte in die Hände, als ich an ihr vorbeisauste, dann folgte sie mir hinter das Haus in den Hof.

„Zeeehn!“

Wieder gab es Beifall von Rosel. Ich hatte mich ins Gras geworfen und schnaufte wie eine leckgelaufene Dampflokomotive. Ich spürte, dass ich ein Herz hatte und freute mich über meinen Erfolg. Das würde dem Führer Adolf Hitler gefallen. An den Heim- und Sportnachmittagen hatten wir gelernt, dass er auch von den Jungmädeln in seiner Hitlerjugend große sportliche Leistungen erwartete. Rosel freute sich auch.

Das Haus, in dem wir wohnten, war alles andere als klein. Es war eine landwirtschaftliche Schule mit zwei Eingängen, einem Vorgarten und einem riesigen Bauerngarten. Die erwachsenen Schülerinnen und Bauerntöchter jäteten, harkten und begossen die Blumen. Sie banden große Sträuße, ernteten das Gemüse und kochten lecker riechende Mahlzeiten. Zu ihrem Unterricht gehörten auch Babypflege und Kälberfüttern. Das mussten sie alles in ihre Hefte schreiben. Nach der Prüfung konnten sie den Haushalt auf dem Bauernhof prima in Ordnung halten. Auch die jungen Männer und Bauernsöhne wurden unterrichtet, damit sie nach der Prüfung als staatlich geprüfte Landwirte einen Bauernhof bewirtschaften konnten. In den Kriegszeiten war es besonders wichtig, dass die Soldaten und alle anderen Leute genug zu essen bekamen.

Einer ihrer Lehrer war mein Vater. Deshalb hatten wir eine Wohnung im Seitenflügel des Schulgebäudes.

Ich keuchte hinter Rosel die Treppe hinauf. Bevor sie die Wohnungstür aufschloss, packte sie mich an der Schulter, presste meinen Kopf unter ihren Arm und wischte mir mit ihrer Schürze im Gesicht herum.

„Lass das!“ Ich wehrte mich gegen die Umklammerung und gegen den Stofffetzen, der nicht mein Taschentuch war. „Ich wasch mich selber!“ Die Tür zum Badezimmer knallte hinter mir zu.

Ich schloss mich ein und fuhr mir mit dem Waschlappen über das Gesicht, bis es noch röter glänzte. Das kalte Wasser auf der erhitzten Haut war angenehm. Ich kämmte rechts und links vom Scheitel die Haare glatt und zog die Zöpfe durch die feuchten Hände. Jetzt sahen sie fast wie neu geflochten aus.

Die anderen saßen schon am Abendbrottisch. Die anderen, das waren Mutter, Vater, Rosel und meine jüngere Schwester Moni. Nur Hanne, die kleinste, die noch ein Baby war, lag schon im Bett. Ich rutschte auf meinen Stuhl.

Vater legte mir eine Extra-Scheibe Leberwurst auf den Teller. „Mit einem schönen Gruß vom Bauern Kowalski. Das ist der, bei dem du vorige Woche die Fohlen und Kälber angeschaut hast.“

Während ich die Wurst auf einer Scheibe Brot glatt strich, fiel mir ein, wie sehr sich Herr Kowalski amüsiert hatte, dass ich zwar das zarte Fell der kleinen Pferde und Kühe streicheln mochte, aber nicht die blassrosa Haut der Ferkel. Sie hatten ausgesehen wie mit verlaufener Wasserfarbe angemalt, und in der Umgebung hatte es so streng gerochen. „Sie müssen Ihrer Tochter aber noch ein bisschen Liebe zu allen Tieren beibringen, Herr Opitz!“, hatte Herr Kowalski gesagt und Vater hatte gelacht. „Das wird sie schon von selber lernen.“

Vater schaltete den Rundfunkempfänger ein. Gleich würden Nachrichten kommen; vielleicht würde man die Fanfare hören, die eine Sondermeldung ankündigte: dass die siegreichen deutschen Truppen im Feindesland wieder so und so viele Städte erobert, Panzer abgeschossen und Bomber vom Himmel geholt hätten. Dann gab es das Wunschkonzert mit Schlagern, Volksliedern und unzähligen Grußmeldungen von der Heimat an die Front, von den Eltern an ihre Söhne, von den Ehefrauen an ihre Männer im Schützengraben. Diese Nachrichten waren oft schneller als die briefliche Feldpost.

Das Wunschkonzert interessierte mich nicht besonders.

„Darf ich noch bissel runter? Es ist ja noch ganz hell draußen.“

„Ausnahmsweise, weil Ferien sind. Nächste Woche ist sowieso Schluss damit. Aber lauf nicht . . .“

Wie ein Blitz war ich aus der Wohnung, rannte die Treppe hinunter bis in den Keller und schnappte mir den Roller. Ich trug ihn zur Garageneinfahrt hinüber; der Hof war sandig, mit Grasbüscheln bewachsen und nicht gut zum Rollern geeignet.

Und schon gar nicht für diesen kleinen Holzroller mit den winzigen, knallrot bemalten Rädchen, der eigentlich Moni gehörte. Wie oft hatte ich ihr zeigen müssen, wie man sich mit einem Bein abstößt und mit genügend Schwung beide Füße auf das Trittbrett stellt! Aber sie traute sich nicht, rollerte zu langsam und kam nie so weit, beide Füße auf dem Brett zu haben. Erst dann machte das Rollerfahren richtigen Spaß.

Ich untersuchte den Roller. Vater hatte ihn schon mehrmals reparieren müssen und gesagt, dass er ihn verschwinden lassen würde, wenn die schmalen Gummireifen völlig abgewetzt wären. Die Rädchen und mein Gewicht, das wäre gefährlich. Aber dann hatte er doch wieder alle Schrauben festgezogen und die schlimmsten Kratzer mit Bohnerwachs bearbeitet.

Einmal hatte ich gefragt, wann ich denn endlich einen Tretroller kriegte. Wenn der Krieg aus sei, hatte Vater mich vertröstet. Jetzt müssten alle Fabriken für den Endsieg arbeiten und könnten keine Spielsachen herstellen. Das wusste ich schon: Schrauben und Gummi und Scharniere würden für die Geschütze und Lastwagen und Motorräder der Soldaten gebraucht. Trotzdem könnten sie in der Fabrik zwischendurch einmal einen einzigen Tretroller zusammenbauen, der brauchte nur ein bisschen Gummi für die Räder und gar nicht viele Schrauben.

Vater hatte gelächelt, als ich das sagte, aber seine Augen hatten mich ernst angeguckt. Wann denn der Krieg endlich aus wäre, hatte ich weiter gefragt. Aber Vater hatte es wohl auch nicht gewusst, denn er hatte sich stumm am Roller zu schaffen gemacht.

Ich fasste die abschüssige Strecke fest ins Auge, schubste mich mit einem Bein kurz an und raste die Einfahrt hinunter direkt auf das Tor zu, bremste knapp vorher ab, drehte den Lenker fest in die Gegenrichtung, rollte ein Stückchen bergan und sprang von dem Rennfahrzeug, bevor es rückwärts schlingerte. Ich probierte es ein zweites und drittes Mal.

„Geschafft!“, rief mir eine Stimme vom Rand meiner Rennbahn zu.

„Josel? Guckst du mir schon lange zu? Pjerunje!“, fluchte ich auf polnisch, „das war knapp eben – aber ich bin nicht abgesprungen, kein einziges Mal!“

Josel nahm mir den Roller ab. „Komm, wir gehen zum Bernd. Vielleicht darf er noch etwas rauskommen mit seinem großen Roller.“

Bernd wohnte in der Nachbarschaft und besaß einen richtigen Tretroller. Mir hatte er ihn noch nie geliehen, aber Josel bekam ihn manchmal für eine Fahrt bis an die übernächste Straßenecke. Dort, wo es Bernd nicht sehen konnte, überließ er ihn mir für kurze Zeit.

Josel klingelte bei Bernd. Es dauerte ziemlich lange, bis seine jüngere Schwester die Tür öffnete. Sie hatte ein rotes Gesicht und verweinte Augen.

„Darf der Bernd . . .?“

„Der Bernd kommt nie mehr raus, der will überhaupt nie mehr spielen . . . und ich auch nicht . . .“

Wir guckten das kleine Mädchen erstaunt an.

„. . . weil nämlich unser Papa gefallen ist. Im Krieg. In Russland.“ Die Wohnungstür knallte ins Schloss.

Josel und ich setzten uns ein paar Häuser weiter auf ein Mäuerchen.

„Bernds Papa ist tot. Wir müssen für ihn beten“, sagte Josel nach einer Weile.

Ich nickte. „Und welches Gebet sagen wir auf? Ich bin doch evangelisch.“

Wir fanden heraus, dass wir das Vaterunser gemeinsam beten konnten. Danach zählten wir die Namen von Männern auf, von denen wir gehört hatten, dass sie gefallen seien. Einer unserer Lehrer, der uns nur wenige Monate unterrichtet hatte, war auch darunter.

„In unserer Kirche ist eine Tafel aus schwarzem Stein, darauf sind alle Namen eingeritzt. Es werden immer mehr“, sagte Josel.

Wir mussten heim.

„Spielen wir morgen?“

Ich drehte mich noch einmal um und rief laut: „Ja, wir spielen! Bis ans Ende der Welt!“

Ich freute mich auf den ersten Schultag. Endlich würde ich Uschi, meine beste Freundin, wieder sehen. Wir hatten uns viel zu erzählen, denn sie war in den Ferien bei ihrer Großmutter gewesen. Als ich mich vor unserer Haustür umschaute, sah ich, dass Uschi mir schon vorauslief. Warum hatte sie nicht gewartet wie sonst?

„Uschi!“, rief ich laut. Sie schien mich nicht zu hören und lief weiter.

Was war mit ihr geschehen? Vielleicht hatte sie bei ihrer Großmutter eine andere Freundin gefunden und wochenlang mit ihr gespielt und mich dabei vergessen. So musste es sein!

Ich blieb stehen und ließ Uschi ein Stück vorauslaufen. „Falsche Ziege!“, sagte ich ziemlich laut. „Verräterin!“Ich würde kein Wort mehr mit ihr sprechen, kein einziges Wort. Jetzt kamen mir auch noch die Tränen. Ich merkte gar nicht, dass Uschi stehen geblieben war.

„Wilma! Du läufst hinter mir her und sagst nichts? Was ist denn los?“, hörte ich die vertraute Stimme neben mir.

„Du bist nicht mehr meine Freundin!“, fauchte ich.

„Wilma?“ Uschi sah mich erschrocken an.

Eine Verräterin macht eigentlich ein anderes Gesicht: böse und wütend und zornig. Nichts davon in Uschis Miene. Ich schaute weg und schluckte.

„Weil du eine neue Freundin hast . . . deswegen. Und weil du mich heute nicht abgeholt hast. Und weil du dich nicht umgedreht hast, als ich gerufen habe. Deswegen.“

Uschi hatte die Augen weit aufgerissen. „Waaas? Bist du verrückt geworden?“ Sie warf den Kopf so energisch zurück, als müsste sie meine Vorwürfe abschütteln. „Los, komm mit!“

Sie zog mich in die Grünanlage neben der Straße. Auf dem winzigen Steg über dem Graben blieb sie stehen. „Gib mir deine Hand“, sagte sie feierlich. „Hier schwör ich’s dir: Du bist meine beste Freundin und bleibst es auch. In Ewigkeit wird uns nichts auseinander bringen. Und wenn das eine Lüge ist, dann soll diese Brücke sofort mit uns zusammenbrechen.“

Wir hielten den Atem an und standen mindestens eine Minute über dem fast schwarzen Wasser, das sich kaum einen Meter unter uns träge bewegte.

„Siehst du“, sagte Uschi. „Und jetzt musst du schwören.“

Ich tat es und mir war, als plumpse ein Stein von meinem Herzen ins Wasser. Aber die Brücke stürzte nicht ein.

Wir rannten den Fußpfad entlang, erreichten wieder die Straße und gingen dort nebeneinander her wie immer auf unserem Schulweg. Lange sagte keine von uns ein Wort.

Plötzlich sprach Uschi. „Der Clemens ist jetzt auch bei den Soldaten.“

„Dein Bruder? Der geht doch noch in die Schule.“

„Egal. Er muss zur Flak und zu den Kanonen mit den riesigen Scheinwerfern. Sie strahlen nachts die feindlichen Bomber an und schießen sie ab.“ Uschi machte eine Pause. „Gestern ist er abgefahren in die Kaserne. Mama hat die ganze Nacht geheult, und Papa ist aus der Praxis gar nicht nach Hause gekommen. Jetzt bin ich allein mit meinen Eltern.“ Sie hatte immer leiser gesprochen.

Uschis Vater war Zahnarzt, sie hatte drei große Brüder. Die beiden ältesten waren über zwanzig Jahre alt und schon längst im Krieg. Aber Clemens war höchstens sechzehn. Er half Uschi manchmal bei den Textaufgaben für Rechnen, und ich durfte dann bei ihr abschreiben. Ab und zu hatte er Halma mit uns gespielt, weil es zu dritt spannender war. Clemens ein Soldat? Clemens in einer Uniform?

Kurz bevor wir in den Schulhof einbogen, zog ich Uschis Ohr nahe an meinen Mund. „Sei mir nicht böse wegen vorhin“, flüsterte ich.

Uschi nickte ernst.

Unsere Klassenlehrerin, Fräulein Konopka, kam zum Glück auch zu spät. Als sie das Klassenzimmer betrat, brachte sie eine Neue mit. Sie hieß Gerda und war „fliegergeschädigt“. Feindliche Flieger hatten das Haus ihrer Eltern im Ruhrgebiet zerbombt. Nun wohnte sie mit ihrer Mutter bei Verwandten hier in unserem Städtchen, das den freundlichen Namen Guttentag trug.

In der großen Pause scharten sich alle um Gerda auf dem Schulhof. Uschi und ich waren auch dabei und mehrere Jungen.

„Was, ihr glaubt mir nicht? Glühende Bomben kommen herunter, wenn die feindlichen Geschwader anrücken. Wirklich knallrot glühend; ich hab sie selbst gesehen! Sie öffnen in der Luft eine Klappe am Flugzeug, dazu braucht einer von der Besatzung bloß auf einen roten Knopf zu drücken. Die Dinger heulen entsetzlich, wenn sie der Erde näher kommen. Da muss man sich die Ohren zuhalten. Aber wenn sie aufprallen, kann man es überhaupt nicht mehr aushalten. Sie zerkrachen mit einem Donnergetöse! Da nützen die Hände auf den Ohren gar nichts mehr. Und dann brennen die Häuser, und es qualmt und stinkt grässlich, und die Menschen laufen herum und halten sich Tücher vor die Nase und schreien . . .“

Rudi, der mit offenem Mund zugehört hatte, nickte eifrig. Peter stieß ihn an. „Als ob du das schon mal gesehen hättest . . .!“

Rudi nickte noch eifriger. „Hab ich doch, letzte Woche im Kino. In der Wochenschau zeigen sie alles.“

„Aber bestimmt nicht die feindlichen Bomber.“ Peter schien Bescheid zu wissen. „Sie zeigen immer, wie unsere Soldaten sich andauernd verteidigen müssen, weil sie angegriffen werden, und wie sie Kanonen abschießen und Munition nachladen und Bomben runterschmeißen. Auf die Franzosen und die Engländer . . .“

„. . . und auf die Russen!“, brüllte Horst wie ein Verrückter, bevor er davonstürmte, Motorengeräusche nachmachte und die Arme wie Tragflächen ausbreitete. Er wackelte mit den Schultern und kurvte mit den Fingerspitzen immer haarscharf an den Köpfen der anderen vorbei.

Plötzlich mischte sich in sein Kreischen der aufheulende Ton der Sirene auf dem Schuldach. Fliegeralarm! Probealarm? Aber niemand hatte ihn angekündigt, und an den erschrockenen Gesichtern der Lehrer war abzulesen, dass auch sie keine Anweisungen bekommen hatten. In Windeseile scheuchten sie uns ins Schulhaus und versperrten die Treppen nach oben. Wir wurden alle in den abgedunkelten Luftschutzkeller geschoben. Angstvolles Murmeln rund herum, keine dummen und vorlauten Bemerkungen mehr, kein Gebrüll.

Ich erkannte Fräulein Konopka neben mir. „Ist das echter Alarm?“, fragte ich leise und wunderte mich, wie zitterig meine Stimme klang.

Die Lehrerin legte mir die Hand auf die Schulter und schob mich vorwärts. Dann rief sie so laut, dass es der ganze Keller hören konnte: „Das ist nur eine Übung für den Ernstfall! Keiner braucht Angst zu haben!“

Hunderte von Füßen scharrten unruhig und ebenso viele Ohren warteten auf das erlösende Entwarnungssignal der Sirene. Die Schüler zankten sich um die wenigen Plätze auf den rundum an den Wänden verlaufenden Brettern. Uschi hatte sich einen Sitzplatz erkämpft und winkte mich neben sich.

Da fiel die erste Bombe.

Mit einem schrecklich durchdringenden Heulen hatte sie sich angekündigt, immer schriller war dieser grauenhafte Höllenlärm geworden, immer enger waren wir zusammengerückt, Uschis Kopf stieß an meinen, als wir uns duckten.

Dann die Detonation.

Danach eine Stille, die in den Ohren dröhnte. Ich wartete auf einen weiteren Einschlag, aber es blieb still. Langsam traute ich mich, meine Füße zu bewegen. Sie stießen an etwas Weiches.

Das war kein Schulranzen, das war Gerda, lautlos auf den Boden gerutscht und liegen geblieben. Ich schrie auf.

Fräulein Konopka leuchtete mit der Taschenlampe herüber, gleich darauf kniete sie neben Gerda, hob ihren Kopf an, klopfte ihr leicht auf die Wange und rief ihren Namen.

„Ist sie . . .?“ Mir blieb der Satz im Halse stecken.

„Sie ist ohnmächtig geworden, wahrscheinlich vor Schreck.“

Da drängte sich eine andere Lehrerin herbei, öffnete ihren Erste-Hilfe-Koffer und hielt Gerda ein Tuch unter die Nase. Gerda schlug die Augen auf, schaute verwirrt um sich und begann zu weinen. „Mutti! Wo ist meine Mutti?“, schluchzte sie, als man sie auf eine Trage legte. Wir starrten sie an.

Uschi fasste mich am Arm. „So bringen sie immer die Verwundeten weg“, flüsterte sie. „Wenn die Soldaten im Krieg verletzt werden, kommen die Sanitäter auch mit solchen Bahren und bringen sie ins Feldlazarett. Mein Bruder hat es mir erzählt.“

Auf einmal winkte Gerda mit der Hand. „Glaubt ihr mir’s jetzt?“ Sie konnte nur mit Mühe sprechen.

Uschi zog die Schultern hoch, als ob sie fröre. Ich klapperte mit den Zähnen und hätte mir am liebsten eine der Luftschutzdecken über den Kopf gezogen. Ich hatte Angst.

Draußen war ein wolkenloser sonniger Herbsttag. Später stand in der Zeitung, dass die Bombe in einem Acker in der Nähe des Feuerwehrhauses explodiert war und einen mehrere Meter breiten Trichter hinterlassen hatte, fast so groß wie der Teich in der Grünanlage, nur ohne Wasser.

Eines Morgens sah ich die Jungen in unserem Schulhof nicht wie sonst übermütig herumrennen. Sie standen in Gruppen zusammen, redeten schreiend miteinander und fuchtelten wild mit den Armen. Während ich mich verwundert dem wuselnden Haufen von Mädchen aus meiner Klasse näherte, schnappte ich einige Wörter auf: „. . . Lazarett . . .,“ „. . . Schule räumen . . .,“ „. . . Einquartierung . . .,“ „Verwundete kommen !“

Ich stellte mich neben Uschi. „Was ist denn hier los?“, fragte ich.

„Ja, weißt du denn nichts?“, fuhr sie mich an. „Das weiß doch jeder! Die Schule wird als Lazarett gebraucht.“ Sie beschrieb mit ihrem Arm einen großen Kreis, der Schulhof und Schulgebäude einschloss. „Alles gehört jetzt den Soldaten und den Ärzten und den Krankenschwestern . . .“

  Die Schulglocke läutete. Wir drängelten in unseren Klassenraum. Herr Beierlein saß schon an seinem Katheder. Das kannten wir. Wir wussten auch, dass er Wein- oder Schnapsflaschen unter dem Pult neben seinen Füßen stehen hatte und wohl meistens in den Pausen trank. Gelegentlich nahm er auch einen tiefen Schluck, während wir einen Aufsatz schrieben. Herr Beierlein lebte eigentlich schon lange im Ruhestand, aber man hatte ihn wieder in die Schule geholt, weil die jungen Lehrer an der Front waren.

Er erhob sich schwerfällig, nachdem wir ungewöhnlich schnell in unsere Bänke geflitzt waren. „Befehl von . . . von . . . ähm, also von unserem Führer Adolf Hitler, dass diese Schule von verwundeten Soldaten . . . ähm . . . besetzt . . . nein, ähm – belegt wird. Und zwar sofort.“

Er fiel auf seinen Stuhl und begann, seinen Schreibtisch auszuräumen.

„Die Flaschen! Vergessen Sie nicht Ihre Flaschen, Herr Beierlein.“ Wir waren so albern und aufgedreht, dass wir die wichtige Nachricht erst einmal überhörten. Doch dann drang sie in unsere Köpfe. Das Kichern verstummte. Wir starrten Herrn Beierlein an.

Er schaute eine Weile vor sich hin, als dächte er nach, dann sprang er wieder auf. „Diese Schule . . . diese höhere Schule zieht sofort zu Jagodka um. Ihr wisst schon, diese – ähm – Kneipe am Ring, ich meine – ähm – diese Gastwirtschaft. Herr Jagodka ist sowieso an der Front, und seine Frau ist froh, wenn sie Miete kriegt . . . ähm – entschädigt wird.“

Herr Beierlein versank wieder hinter seinem Lehrerpult.

„Bestimmt denkt er nach, wie er sich jetzt den nächsten Schluck reinschütten kann. Das viele Reden macht ja Durst.“ Das war Rudis freche Gosche aus der Bank neben mir, getrennt durch den breiten Mittelgang. Rudi schien noch immer nichts begriffen zu haben.

Da wurde die Tür aufgerissen. „Heil Hitler!“, grüßte der Schulleiter zackig.

Wir waren aus unseren Bänken aufgesprungen und antworteten: „Heil Hitler, Herr Direktor!“

„Ihr begebt euch sofort zur Gaststätte Jagodka. Aber bitte nicht einzeln, ihr werdet geführt. Diese Klasse . . .“ Er machte eine Pause und blätterte in den Papieren, die er in der Hand hielt, „. . . also diese Sexta begibt sich unter der Führung von Fräulein Friedrich zum Ring in die betreffende Gastwirtschaft und nimmt dort ihre neuen Räume ein.“ Wieder ein Blick in die wichtigen Papiere. „Die Sexta wird in den ehemaligen Schankraum eingewiesen.“

Der Herr Direktor hob kurz den rechten Arm zum Hitlergruß und verließ im Eilschritt unser Klassenzimmer.

Kurze Zeit später versammelten wir uns im Hof, wurden von Fräulein Friedrich zur Aufstellung in ordentlichen Zweierreihen angetrieben und marschierten – längst nicht so stramm wie bei unseren Hitlerjugend-Märschen – zum Ring.

Keiner guckte. Die Leute hasteten an uns vorüber, als hätten sie Wichtigeres zu tun und zu denken. Wir hatten ja keine Uniformen an, nur Fräulein Friedrich trug wie immer ihre Arbeitsdienstkleidung, die anzeigte, dass sie sich im Arbeitseinsatz für Führer, Volk und Vaterland befand. Und wir schmetterten auch keines unserer Marschlieder in die klare Luft, auch nicht das von den zitternden morschen Knochen, das ich so schön gruselig fand.

Vor Jagodkas Gasthof stauten sich die Klassen. Würden sie überhaupt hineinpassen? Es gab Durcheinander, falsche Informationen, wir landeten im Gartensaal und wurden dort von der Quarta lautstark vertrieben. Endlich: Der Schankraum mit Theke und kupfernem Aufsatz, mit Bierhähnen, zwei großen Wasserbecken und einem wandhohen Regal für Flaschen war gefunden.

„Hier sind wir richtig!“, grölten die Jungen. „Frollein, ein Helles, bitte schön!“

Es waren noch keine Bänke da, die würden erst am Nachmittag hertransportiert werden. Fräulein Friedrich schickte uns nach Hause, nicht ohne uns vorher zu ermahnen, ordentlich und wie der Führer es wünscht mit diesen neuen Schulräumen umzugehen.

Am folgenden Morgen war es sehr spannend. Die Bänke hatte man herbeigebracht, Schränke und Garderobenhaken fehlten. Die würden von den Verwundeten gebraucht, hieß es.

Wir Mädchen beschäftigten uns mit der Frage, ob wir uns anders setzen sollten. Wir beratschlagten, probierten neue Nachbarschaften aus, kamen aber schließlich wieder auf unsere alten Sitzfreundschaften zurück. Neben wem hätte ich lieber sitzen mögen als neben Uschi?

Währenddessen untersuchten die Jungen das interessante Innenleben des Schankraums. Sie krochen hinter die Theke. Unter den Zapfhähnen gab es zwei riesige Fächer, in denen früher die Bierfässer Platz gehabt hatten. Rudi zwängte sich hinein. Die anderen machten die Schiebetüren dicht, bis er laut rief.

Peter versuchte es ebenfalls. Als sie die Türen losließen, kugelte er unter riesigem Gelächter aus dem Bierfassschrank. Dann verschwand Horst im Schrank.

Im gleichen Augenblick erschienen Fräulein Friedrich und eine andere junge Frau in Uniform, die wir nicht kannten. Außer Horst waren alle ehrfürchtig verstummt.

„Das ist eure neue Deutschlehrerin, Fräulein Marwitz. Sie studiert deutsche Sprache und wird vor allem darauf achten, dass eure Diktate besser werden.“

Das neue Fräulein lächelte uns fröhlich zu.

In diesem Moment purzelte Horst aus dem Schrank. Er hatte endlich die Tür von innen aufgekriegt. Wütend rappelte er sich auf. „Pjerunje, ihr Mistkerle! Ich war ganz lange drin.“

Da sah er Fräulein Friedrich und die Neue, die ihn sprachlos anstarrten. Wie ein geölter Blitz verschwand er wieder in den großen Bierfassfächern.

Fräulein Friedrich wechselte einen kurzen Blick mit Fräulein Marwitz, zuckte die Achseln und lief so schnell hinaus, dass sich der dicke grüne Vorhang an der Tür schwerfällig im Luftzug bauschte.

Die neue Lehrerin ging langsam hinter die Theke, öffnete die Schiebetür und zog Horst heraus. „Komm, du wirst es in deiner Bank bequemer haben. Setz dich auf deinen Platz.“

Horst hatte einen hochroten Kopf. Es war nicht klar, ob er sich das Weinen oder das Lachen verbeißen musste. Als Fräulein Marwitz sein Kinn ein bisschen anhob und ihm zulächelte, platzte er heraus. Mit ihm lachte die ganze Klasse.

Bei Fräulein Konopka hätte es das alles nicht gegeben. Aber Fräulein Konopka war ein paar Monate zuvor aus kriegswichtigen Gründen in eine andere Stadt dienstverpflichtet worden.

Auch in der landwirtschaftlichen Schule hatte man ein Soldatenkrankenhaus eingerichtet. Es musste viele Verwundete geben in diesem Krieg, viele Opfer von Maschinengewehrpatronen und Handgranaten, von Artilleriegeschossen und Panzerminen, von Brand-, Spreng- und sonstigen Bomben. Ich machte mir Gedanken und bekam es doch nicht heraus, weshalb sie aufeinander schießen mussten und das schon seit vielen Jahren. Der Führer Adolf Hitler hatte oft gesagt, dass die tapferen Deutschen sich verteidigen müssten, weil sie von allen Seiten angegriffen würden. Aber warum nur? Was wollten diese Feinde alle von uns? Was hatten wir ihnen getan?