Wir sind der Sturm - Sophie Bichon - E-Book
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Wir sind der Sturm E-Book

Sophie Bichon

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Beschreibung

Sein Geheimnis könnte sie zerstören. Doch ihre Sehnsucht nach ihm ist stärker.

Louisa ist fassungslos. Mit Paul war sie so glücklich wie nie zuvor. Mit ihm konnte sie furchtlos und ganz sie selbst sein und das Leben endlich in vollen Zügen genießen. Doch jetzt will er plötzlich nichts mehr mit ihr zu tun haben. Es bricht ihr das Herz, dabei erkennt sie hinter dem Sturm in seinen Augen immer noch Zuneigung. Sie ahnt nicht, dass Paul es kaum ertragen kann, für den größten Schmerz in ihrem Leben verantwortlich zu sein. Gibt es wirklich keine Zukunft für die beiden? Oder müssen sie nur verstehen, dass es zwar viel Mut braucht, die große Liebe zu finden, aber noch mehr Mut, sie festzuhalten?

Das große Finale der Liebesgeschichte von Louisa und Paul

»Sophie Bichon schreibt voller Emotionen und ergreifender Gefühle. In diesen Zeilen stecken so viel Liebe und Poesie, dass ich jedes Wort davon festhalten und nie wieder loslassen will.« josiwismar

@wir_sind_redstone

#WirsindRedstone

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Seitenzahl: 608

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Das Buch

Louisa hält es kaum noch aus. Paul ignoriert ihre Nachrichten und will sie nie wieder sehen. Auch seine Freunde können sich nicht erklären, was plötzlich mit ihm los ist. Die vergangenen Wochen in Redstone, in denen sie nicht genug von einander bekommen konnten, erscheinen Louisa inzwischen wie ein ferner Traum.

Paul stürzt sich in das Partyleben am College, um Louisa endlich zu vergessen. Niemals darf sie erfahren, was ihm klargeworden ist: Er trägt die Schuld für die Flammen, die ihr Leben vor fünf Jahren zerstört haben. Doch Louisa will ihm einfach nicht aus dem Kopf gehen. Gibt es eine zweite Chance für die beiden? Um das herauszufinden, muss Paul ihr die Wahrheit sagen, doch damit riskiert er, sie für immer zu verlieren …

Die Autorin

Sophie Bichon wurde 1995 in Augsburg geboren und studiert Germanistik. Ihre Bachelorarbeit beschäftigt sich mit der Liebe in der Literatur, weil ihrer Meinung nach letztendlich jeder Roman von der Liebe handelt. Schon immer hat sie das Schreiben geliebt. Deswegen trägt sie auch stets ein Notizbuch bei sich, in dem sie ihre Ideen festhalten kann. Wenn sie nicht gerade schreibt, lässt sie sich von Musik und den Verrücktheiten des Lebens inspirieren, überlegt sich neue Tattoomotive und träumt von der Weltreise, die sie eines Tages machen möchte.

Instagram: @sophiebichon.autorin

Pinterest: @sophiebichon

SOPHIEBICHON

ROMAN

WILHELMHEYNEVERLAG

MÜNCHEN

Dieses Buch ist ein Werk der Fiktion. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen sowie tatsächlich existierenden Einrichtungen oder Unternehmen ist rein zufällig und in keiner Weise beabsichtigt.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Originalausgabe 06/2020

Copyright © 2020 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Steffi Korda, Büro für Kinder- & Erwachsenenliteratur, Hamburg

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München,

unter Verwendung von FinePic®, München

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-25182-6V001

www.heyne.de

Für Christian,

der mein Paul ist, und meine Louisa.

Für den Mann, der mein Herz

seit diesem einen Sommerabend

mit jedem Blick schneller schlagen lässt.

Danke für jeden einzelnen Tag,

an dem du mein Zuhause bist.

Für all die Funken zwischen uns,

für das Lachen und das Glücklichsein.

Du und ich: zusammen die beste Gang der Welt.

Storms make trees take deeper roots.

Dolly Parton

PLAYLIST

Minimum von Charlie Cunningham

Tummy von Tamino

Of my Mind von Pional

Acid Rain von Lorn

Running up that Hill von Placebo

Salt and the Sea von The Lumineers

Sadness is taking over von Flora Cash

Can I be forgiven von Highaskate

You von Brothers Moving

I am the Changer von Cotton Jones

Soul meets Body von Death Cab for Cutie

Jungle von Tash Sultana

Mt. Washington von Local Natives

Island in the Sun von Weezer

Nica Libres at Dusk von Ben Howard

A Trick of the Light von Villagers

UND ALLES WAR ANDERS

Paul

In der Sekunde, in der es krachte, war Louisa das Erste, an das ich dachte. Und die Welt hielt den Atem an. Scheiße, scheiße, mein Feuermädchen. Mein Mädchen.

Es rauchte, es brannte. Und ich drehte mich zu ihr um, viel zu langsam. Ihre Locken leuchteten in dem gleichen grellen Orange und Rot wie das Feuer, das sich von hinten durch das Auto zu fressen begann. Sie schrie meinen Namen und blickte mich an, ihre tiefblauen Augen weit aufgerissen. Und da erst sah ich das Blut, von dem ich nicht wusste, ob es ihr eigenes war oder vielleicht doch meins. Ich packte sie an der Hand, sie musste hier raus. Du kannst sie nicht retten, ertönte da plötzlich eine höhnische Stimme aus dem Nichts. Es ist zu spät! Doch verdammt nochmal, ich musste Louisa retten. Ich hatte doch gar keine andere Wahl, als alles dafür zu tun, dass sie lebte. Etwas zerbarst und explodierte dann. Ich sah nichts mehr wegen all des Rauchs, der sich schwer und dunkel vor mein Gesicht legte. Knackende Flammen und ein Feuersturm, der mir nicht nur endgültig die Sicht nahm, sondern auch meine anderen Sinne: das Fühlen, das Hören. Um mich herum waren nur noch verdammte Stille und ein unerträgliches Summen. Verzweifelt tastete ich um mich, rief immer wieder ihren Namen, leise und laut und in allen Nuancen dazwischen, Louisa aber … sie war einfach nicht mehr da. Alles, was zurückblieb, waren die Flammen, die immer höher schlugen.

Es war mein eigenes Keuchen, das mich hochschrecken ließ. Vielleicht hatte ich auch geschrien, ich konnte es nicht sagen. Ein Piepsen, unerträglich grelles Licht, das mich blendete und die Augen wieder zusammenkneifen ließ. Mein Herz schlug laut und wild, während ich versuchte, tief ein- und auszuatmen – doch ich bekam kaum Luft, jeder Atemzug brannte höllisch. Der stechende Schmerz und die Bilder des Traums beherrschten meine Gedanken, während ich mich zu orientieren versuchte: Krankenhaus, der Geruch nach Desinfektionsmittel, leise gesprochene Sätze, von denen ich nicht wusste, wer sie sagte. Und im nächsten Moment verschwand alles wieder in Dunkelheit.

Als ich das nächste Mal aufwachte, flüsterte jemand inmitten des Nebels meinen Namen. Eine helle, weiche Stimme, die ich überall erkennen würde. Es war Louisa, ausgerechnet Louisa, die neben dem Bett stand und mit vom Weinen geröteten Augen zu mir hinuntersah. Als ich ihren Blick erwiderte, sammelten sich neue Tränen in dem Blau.

Ich schluckte, und eine verdammte Ewigkeit verging.

Ich fand kaum die Kraft, zu sprechen, doch als sie ihre Finger unerträglich sanft um meine schloss, zuckte ich zusammen und tat das einzig Richtige.

Feuerherz

ZWEI WOCHEN SPÄTER

1.  KAPITEL

Louisa

Sternenstaub vor tiefem Schwarz war alles, was ich sah, als ich die Augen fest zusammenkniff.

Als hätte ich mich daran verbrannt, hatte ich das Handy wieder zurück in meinen Rucksack gleiten lassen, so weit nach unten wie nur möglich. Doch da war es bereits zu spät gewesen, da hatte ich mit dem Daumen schon auf Senden geklickt. Langsam stieß ich die Luft aus, die ich unbewusst angehalten hatte. Es war nichts Falsches daran, Paul zu schreiben.

Ich wollte unbedingt an etwas anderes denken, als ich die Augen langsam wieder öffnete und meine Finger um den heißen Kaffeebecher vor mir schloss. Ich ließ mich damit tiefer in den weichen Sessel sinken. Die Sonne schien hell durch die beschlagenen Fenster direkt auf den dunklen Holztisch mit der alten Ausgabe von Madame Bovary darauf. Ich hatte sie auf einem Flohmarkt entdeckt und beim ersten Mal Lesen mit beinahe schon unleserlichen Notizen am Rand versehen. Daneben wie immer mein Notizbuch, um die schönsten Wörter und Sätze zu sammeln, denen ich im Laufe des Tages begegnen würde. Vielleicht auch in und zwischen den Zeilen von Emmas Geschichte.

Ich leckte mir den Milchschaum von den Lippen und betrachtete die im Sonnenlicht rot schimmernden Wände und den feinen Staub, der durch die Luft tanzte. Doch keine Sekunde später sprangen meine Gedanken wieder zurück zu der gerade verschickten Nachricht, auf die Paul mir sowieso nicht antworten würde. Genauso, wie er es auch auf all die anderen nicht getan hatte, seit er mich im Krankenhaus einfach gebeten hatte, zu gehen.

Hier im Café zu sitzen und auf Aiden zu warten war fast schon ein Déjà-vu, eine Wiederholung meines zweiten Tages auf dem Campus. Selbst die Tatsache, dass Aiden immer noch nicht aufgetaucht war, obwohl wir schon vor fünfzehn Minuten verabredet gewesen wären. Und gleichzeitig war alles anders. Dieser laue Septembertag, an dem Trish mich gefragt hatte, wann ich im Fireflyzu arbeiten anfangen könnte, erschien mir inzwischen unendlich weit weg.

Eine leichte Berührung an der Schulter riss mich aus meinen Gedanken. Aiden. Mit dem Gitarrenkoffer in der einen und einem Kaffee in der anderen Hand stand er vor mir und seine Lippen kräuselten sich zu einem entschuldigenden Lächeln, als er die Gitarre an den grünen Sessel mir gegenüber lehnte, mich kurz an sich drückte und sich dann in die Polster fallen ließ.

»Ich dachte schon, du würdest mich wieder versetzen«, sagte ich und zog bemüht ernst eine Augenbraue hoch, während ich meinen Cappuccino auf dem Tisch abstellte.

»Komm schon, Lou«, grinste Aiden, »als ob ich dich jemals versetzten würde!« Mit einem belustigten Ausdruck in den blauen Augen fuhr er sich durch die ohnehin schon zerzausten blonden Haare. Geschmolzener Schnee glänzte darin. »Hast du das nicht letztens erst gelesen?«, wollte er wissen und deutete auf das Buch, das zwischen uns auf dem Tisch lag.

Amüsiert folgte ich seinem Blick. »Na und?«

Aiden verschränkte die Arme vor der Brust. »Wird das nicht irgendwann langweilig?«

Ich schnaubte: »Wir beide sehen uns gefühlt jeden Tag zusammen Game of Thrones an. Wird das nicht langweilig?«

»Verdammt«, Aiden lachte, »du hast recht: Wird es nicht. Aber es ist eben auch Game of Thrones, also …« Er ließ den Satz in der Luft hängen und zuckte mit den Schultern.

»Beim Lesen ist es genauso. Man kennt die Geschichte zwar irgendwann in- und auswendig, weiß genau, was wann passiert«, erklärte ich dankbar für dieses unverfängliche Gesprächsthema, »aber mit jedem Mal fallen einem mehr von diesen Kleinigkeiten auf. Diese winzigen Puzzleteile, die sich nach und nach zusammensetzen. Wie viel Bedeutung in manchen Stellen steckt, wenn man das Ende erst einmal kennt. Wie perfekt alles ineinandergreift. Deshalb kann ich das gleiche Buch immer und immer wieder lesen!«

In der nächsten Stunde erzählte ich Aiden von einer Buchverfilmung, die auf Netflix gestartet war und die ich mir unbedingt ansehen wollte. Als ich erwähnte, dass es sich bei der Vorlage um einen Liebesroman handelte, stöhnte Aiden auf. Er wusste nur zu gut, dass heute Abend ich dran war, einen Film für uns herauszusuchen. Wir diskutierten über eine Serie, die wir vor wenigen Tagen beide zu Ende geschaut hatten, die Aiden jedoch deutlich besser gefallen hatte als mir. Und über die Prüfungsergebnisse der Midterms, auf die wir alle ungeduldig warteten, obwohl wir sie eigentlich doch nicht wissen wollten. Schließlich erzählte Aiden mir von den Songs, die Goodbye April aus ihrer Gig-Liste gestrichen hatte, weil sie sich als Band weiterentwickelt hatten. Und als ich ihn fragte, wie die Probe heute gelaufen war, erntete ich irgendetwas zwischen Seufzen und Lachen. Scheinbar hatten zwei der Jungs, ohne es zu wissen, etwas mit demselben Mädchen angefangen. Das Ganze war jetzt herausgekommen, und die Situation hatte sich während der Probe immer weiter verschärft, bis die beiden sich erst angebrüllt hatten und dann aufeinander losgegangen waren – Aiden und Landon hatten dazwischengehen müssen.

»Also wirklich geprobt haben wir heute auf jeden Fall nicht«, fügte Aiden hinzu. »Aber immerhin leben noch alle Bandmitglieder.« Er grinste und ließ sich tiefer in den Sessel sinken. »Ich seh das einfach mal als Erfolg an!«

»Dein Optimismus ist wirklich beneidenswert«, erwiderte ich mit einem Lächeln und strich mir meine Locken hinter die Ohren.

»Na ja, jetzt, wo Paul zurück ist, kann ich den Jungs immer noch damit drohen, dass ich ihn mit zu den Proben nehme. Und das wollen sie ganz sicher nicht, weil er das letzte Mal nämlich -«

Ich erstarrte.

Jetzt, wo Paul zurück ist.

Wo Paul zurück ist.

Paul.

Zurück.

Paul.

Aidens Worte hallten in meinem ganzen Körper nach, und ich setzte mich ruckartig auf. Der Kaffee in meiner Hand schwappte über und mein Herz, das für die Dauer dieses Satzes ausgesetzt hatte, begann nun heftiger zu schlagen als zuvor. Madame Bovary und mein Notizbuch segelten zu Boden, als ich mich leicht zu Aiden nach vorn beugte. »Er ist wieder da?«, flüsterte ich.

»Ich … ja«, sagte Aiden sichtlich verwirrt und nickte. »Seit zwei Tagen schon. Ich dachte, das wüsstest du! Verdammt, ich dachte, er hätte dir Bescheid gesagt …« Dann verstummte er und betrachtete mich stirnrunzelnd.

Bei dem Gedanken daran, dass Paul offensichtlich wieder zurück am Redstone College war, sich jedoch bisher kein einziges Mal bei mir gemeldet hatte, machte sich wieder das flaue Gefühl der letzten Tage in mir breit, das ich immer beiseitezuschieben versuchte. Warum hatte er mich einfach fortgeschickt und ignorierte seitdem meine Nachrichten? Die Nachrichten seiner Freundin. Und warum erfuhr ich als Letzte und nicht einmal von ihm persönlich von seiner Rückkehr?

»Ich …«, fing ich zögerlich an und schüttelte langsam den Kopf. »Nein, das wusste ich nicht.« Ein dumpfer Schmerz pochte in mir, während ich die Wörter zu ganzen Sätzen formte. »Ich wusste nicht einmal, dass Paul überhaupt entlassen werden sollte.«

»Er hat sich selbst entlassen«, erklärte Aiden mit dieser steilen Falte zwischen seinen Augen, die ich so selten an ihm sah. »Er meinte, er würde es da drin nicht mehr aushalten, und die Ärzte haben gesagt, dass er gehen kann, solange er es ruhig angehen lässt.«

Genauso wie die leise Musik im Hintergrund wurde auch Aidens Stimme mit jedem Wort leiser, bis ich schließlich mit dem Strudel meiner Gedanken allein war. Umherwirbelnde Erinnerungen, die ich über zwei Wochen lang so gut es ging verdrängt hatte, die jetzt aber unaufhaltsam auf mich niederprasselten.

Paul, der am 24. Dezember nicht auftauchte, obwohl der Tisch bereits gedeckt und das Essen fast fertig war. Der nicht an sein Handy ging, obwohl ich einen verpassten Anruf von ihm hatte. Stattdessen rief Trish mich an, völlig hysterisch. Und ich, die an Ort und Stelle zusammenbrach – nicht laut und schreiend, sondern ganz still und leise. Lähmende Angst um den Mann, den ich liebte. Und dann passierte alles wie in einem Film, viel zu schnell und gleichzeitig viel zu langsam: Mel, die versuchte, aus mir herauszubekommen, was passiert war, und mich dann an der Hand packte und ins New Forreston Hospital fuhr. Aiden, der plötzlich die Ruhe selbst war mit genug Energie, um Trish und mich zu beruhigen. Doch an die alles verbrennende Panik in mir war er nicht herangekommen. Nicht schon wieder, bitte nicht. Bitte nicht Paul. Der einzige flehende und durch meine Venen treibende Gedanke, als wir durch die Flure des Krankenhauses liefen und niemand uns etwas sagen konnte. Seine Eltern, die nicht auftauchten. Aiden in der Mitte, Trish und ich links und rechts von ihm. Seine Arme um uns und wir drei ein Knoten aus beruhigenden Berührungen. Weil Drei eine ungerade Zahl und Paul unsere Vier war.

Menschen in Weiß und alles monoton, jede Stimme und jeder Satz. Er ist jetzt wach, hieß es irgendwann. Seine Eltern sind auf dem Weg, hieß es auch. Endlich durften wir zu ihm. Sein Vater wirkte einfach nur gereizt. Seine Mutter war völlig versteinert. Dazwischen Luca mit verquollenen Augen, der sich kein einziges Mal beschwerte, als Trish ihn Kleiner nannte, obwohl er sie deutlich überragte. Der mich in seine Arme zog, mich mein Gesicht an seine Schulter pressen ließ. Dass er Paul in vielen Punkten so ähnlich war, machte in diesem Moment alles besser und noch tausendmal schlimmer. Das Piepsen der Geräte war unerträglich. Und als ich den Schlauch sah, der an Pauls rechter Seite zwischen seinen Rippen hervorragte, rang ich erschrocken nach Luft. Er schien Schwierigkeiten mit dem Atmen zu haben, jeder einzelne Atemzug endlos lang zu sein. Ein Keuchen.

Wie Paul mich ansah mit diesem leblosen Blick, der mir noch mehr Angst machte als die Stunden, in denen ich mich so machtlos und betäubt gefühlt hatte. Ich umfasste seine große Hand mit meinen beiden kleineren. Lange, raue Finger, die mir so vertraut waren. Doch Paul zuckte unter meiner Berührung zusammen – bestimmt hatte er Schmerzen.

Spannungspneumothorax.

Thoraxdrainage.

HWS-Distorsion.

Commotio.

Fremde Wörter, die in einer Ecke des Zimmers zwischen Pauls Mutter und einem Arzt fielen. Wörter, die ich unter anderen Umständen vielleicht schön gefunden hätte. Doch so beschrieben sie nur den Zustand meines Freundes, objektiv und sachlich, während mein Herz schrie, weil er so hilf- und kraftlos wirkte. So wenig wie er selbst.

Und dann, als er wieder sprechen konnte, bat Paul mich plötzlich mit dieser Leere in den Augen, zu gehen und ihn nicht mehr zu besuchen. Irgendetwas an dem Ausdruck in diesem sonst so warmen Braun hatte mich dazu gebracht, seinen Wunsch zu respektieren, auch wenn es mir einen wahnsinnigen Stich versetzte und ich es beim besten Willen nicht verstehen konnte. Ich hatte mir eingeredet, dass Paul womöglich einfach nicht wollte, dass ich ihn auf diese Art sah. Obwohl wir so viel miteinander geteilt hatten. Letztendlich hatte ich diese Entscheidung akzeptiert. Das Wichtigste war doch sowieso, dass er lebte, sagte ich mir. Alles andere war bedeutungslos.

»Lou, er ist wirklich komisch drauf«, drang Aidens Stimme wieder zu mir durch. Er sah mich plötzlich ungewohnt ernst an und drückte für einen flüchtigen Moment meine Hand. »Mach dir bitte nicht so viele Gedanken. Paul wird sich bei dir melden, wenn er so weit ist!«

Ungläubig starrte ich Aiden an. »Er wird sich bei mir melden, wenn er so weit ist?«, echote ich hohl. In meinen Fingerspitzen kribbelte es, in mir eine Unruhe, die sich auf meiner ganzen Haut ausbreitete. Und plötzlich war da ein anderes Gefühl, das sich zu den widerstreitenden Emotionen in mir gesellte: Wut, die irgendwo zwischen Sorge, Unverständnis und Zuneigung hin und her waberte.

»Ich weiß, dass das verdammt schwer ist. Paul ist mein längster und vor allem bester Freund«, meinte Aiden und rieb sich über das Kinn. »Trish und ich kommen gerade auch nicht wirklich an ihn ran, mit Luca spricht er auch nicht. Nur das Nötigste.«

»Ich bin fast gestorben vor Sorge! Er ist doch mein Freund und ich …« Ich schluckte schwer. »Er hat mich weggeschickt, falls du das vergessen haben solltest, Aiden. Euch nicht. Und ich hab keine Ahnung, wieso. Ich habe ihn vermisst. Ich habe mir unglaubliche Sorgen gemacht. Ich hatte wahnsinnige Angst, ihn zu verlieren, als uns am Anfang niemand gesagt hat, was genau eigentlich passiert ist. Und jetzt sagt er mir nicht einmal Bescheid, dass er wieder hier ist? Das … das ist doch nicht normal. Das …« Ich stockte und biss mir auf die Unterlippe, bevor ich weitersprach. »Ich geh jetzt. Ich will wissen, was los ist! Und ich möchte mit eigenen Augen sehen, dass es ihm gut geht.«

»Lou«, sagte Aiden sanft und versuchte mich mit einem Griff an mein Handgelenk zurückzuhalten.

Doch da schnappte ich mir schon meinen Rucksack, stopfte den Roman und das Notizbuch achtlos hinein und stürmte aus dem Firefly. Ich musste Paul sehen. Ich wollte, dass er mir sagte, was ich ihm bedeutete, und dass zwischen uns alles in Ordnung war. Einfach weil wir wir waren. Dass er bei mir bleiben und nicht verschwinden würde, obwohl er gesehen hatte, wie kaputt ich tatsächlich war. Dass ich wie immer zu viel nachdachte und mir nur einbildete, dass sein Verhalten mehr als seltsam war.

Laut und bebend drang Musik aus der WG, als ich klingelte und niemand mir öffnete. Ich strich mir die von feinen Schneeflocken feuchten Haare aus dem Gesicht, holte tief Luft und presste meine zitternden Finger erneut auf die Klingel.

Meistens weiß man nicht, welche Momente das Leben in ein Vorher und Nachher einteilen. Nicht sofort und schon gar nicht in dem Augenblick selbst. Wenn überhaupt, erkennt man die Zäsur erst sehr viel später. Doch manchmal spürt man es bereits in der Sekunde, in der es passiert. So wie an dem Abend meines Geburtstags, als Paul mich festgehalten und mir tief in die Augen gesehen hatte. Nasenspitze an Nasenspitze, Herz an Herz. Da hatte ich gewusst, er würde mir sagen, dass er sich auch in mich verliebt hatte. Das hier war ebenfalls einer dieser Momente – nur dass es dieses Mal eine Vorahnung war, die mein Herz noch vor meinem Verstand begriff.

Die Musik wurde leiser gedreht, dann war das Geräusch näher kommender Schritte zu hören. Es war Isaac, der mir die Tür öffnete. Der mich ansah und anschließend einen Blick über die Schulter warf, so kurz, dass es mir fast nicht aufgefallen wäre.

Ich wippte von einem Bein auf das andere, fragte mich, wieso er mich nicht einfach vorbei ließ.

»Mann, wieso stehst du da wie festgefroren? Lass Luke doch einfach rein!« Der Klang seiner tiefen Stimme war so vertraut, und mein Herz reagierte sofort auf den dunklen Bass, mit dem er mich in so vielen Nächten Feuermädchen genannt hatte. Dann stand Paul in meinem Sichtfeld, vor der Wand mit den unzähligen Polaroid-Fotos, die eine Hand in der Hosentasche einer dunkelblauen Jogginghose vergraben.

Ich blinzelte und hatte plötzlich Angst, ihn direkt anzusehen, weil seine Blicke immer schon mehr gesagt hatten als seine Worte. Ich hatte Paul in mein Herz gelassen und jetzt das Gefühl, dort drin wäre es zu eng für uns. Und als ich schließlich doch den Blick hob, ertrank ich in dem warmen, tiefen Bernsteinton seiner Augen. Da waren nur er und ich. Und dann lächelte ich ihn an – trotz aller Vorsicht. Trotz all der Warnsignale.

Doch er rührte sich nicht von der Stelle, sah abgekämpft aus. Geschockt, beinahe schon panisch sah er mich an, den ganzen Körper angespannt. Dann verfinsterte sich sein Gesichtsausdruck, und der Blick, mit dem er mich bedachte, war so kalt und leer, dass meine Knie weich wurden. Ein Schlag in den Magen, der mich für einen kurzen Moment nach Luft ringen ließ. Ganz leise sagte ich seinen Namen und streckte instinktiv eine Hand nach ihm aus, obwohl Isaac immer noch vor mir in der Tür stand. Verunsichert blickte ich Paul über Isaacs Schulter hinweg an und suchte in seinen Augen nach einer Antwort auf die Frage, die ich mich seit sechzehn Tagen nicht zu stellen traute.

Einen Moment lang starrte er mich noch an. Etwas anderes flackerte in seinem Blick auf, als er diesen für einen winzigen Moment über mich gleiten ließ. Dann presste er seine Lippen zu einem harten, geraden Strich zusammen. Bei mir: Herzstillstand. Bei ihm: gemurmelte Flüche. Eine wirre Mischung aus Englisch und Deutsch, dann verschwand er wieder irgendwo in der Wohnung, während mir immer kälter wurde.

»Sag ihr einfach, dass sie verschwinden soll!«, drang seine Stimme gedämpft durch die geöffnete Tür. Er klang, als hätte er getrunken. Langsame und träge Worte, völlig emotionslos ausgesprochen. Den feinen Riss in meinem Herzen, den dieser Satz gefährlich mühelos verursachte, versuchte ich, mit aller Kraft zu ignorieren. Ihr? Ich schluckte schwer. Das war ich also. Vor sechzehn Tagen Baby und heute nicht mehr als ein Pronomen.

Ich begriff einfach nicht, was hier passierte. Ich wollte Paul anschreien. Gleichzeitig wollte ich mit meinen Fingerspitzen seine feinen Augenringe wegstreichen. Und ihn dann wieder anschreien, dass es doch sicher keine gute Idee war, zu trinken, wenn er erst seit zwei Tagen aus dem Krankenhaus zurück war. Ich wollte nichts mehr, als dass er seine Arme um mich schlang und mich festhielt. So viele Menschen hatten mich verlassen. Nicht auch noch er.

Isaac räusperte sich, als er da zwischen mir und dieser Wohnung stand. Seine Augen hinter den Brillengläsern sagten: Sorry! Ich hab echt keine Ahnung, was los ist. Und ich stand dort wie festgefroren. »Paul, bitte. Ich …«, startete ich einen letzten verzweifelten Versuch, weil ich nur noch Gefühle und Gedanken und Emotionen war. Alles, was an mir sonst so vernünftig und bedacht war, war wie weggeblasen.

»Gott, sie soll einfach gehen!« Seine Stimme klang wieder näher. Ein genervtes Murmeln. Diese tiefe Stimme, die ich eigentlich so liebte, deren Klang mir jetzt aber einfach nur wehtat. Sie. Beliebigkeit statt Bedeutsamkeit. Nicht nur austauschbar, sondern ausgetauscht. Ich straffte die Schultern und gab mir alle Mühe, mir nicht anmerken zu lassen, wie da etwas in mir zerbrach.

Dann verschwand ich im Treppenhaus. Ein Schritt nach dem nächsten. Ein Fuß vor den anderen und Stufe für Stufe. Eine Stimme in mir flüsterte mir zu, dass ich nicht so leicht hätte aufgeben sollen. Dass ich Isaac zur Seite schieben und Paul mit seinem Verhalten hätte konfrontieren müssen.

Letzten Monat noch hatte er mir versprochen, nicht zu gehen und bei mir zu bleiben, denn er kannte meine größte Angst, mein Herz an andere Menschen zu hängen und dann verlassen zu werden. Und ich hatte ihm geglaubt. Er hatte mich öfter festgehalten, als ich zählen konnte – in seinen Armen, wo ich nicht auseinanderfallen konnte. Ich hatte um Paul kämpfen müssen, weil er nicht hatte verstehen wollen, dass man kaputt sein und trotzdem lieben konnte. Und dass er das war, was ich wollte. Das, was ich brauchte.

Sag ihr einfach, dass sie verschwinden soll, hallten seine Worte überall in mir wider. Ich war ein Kompass ohne Norden, eine Kriegerin, die nicht wusste, welchen Kampf sie eigentlich ausfocht.

Als ich aus dem Wohnheim in die Sonne trat, fühlte es sich so an, als wäre das alles, was Paul und ich jemals sein würden: ein unvollendeter Satz, eine halb geschriebene Geschichte, fertig erzählt und doch ohne Ende.

2.  KAPITEL

Paul

Die Sache mit dem Glück ist schon seltsam: Dass man so richtig glücklich war, merkt man meist erst, wenn es einem längst wieder abhandengekommen ist. Doch obwohl ich mir darüber im Klaren gewesen war, dass ich weder dieses Gefühl noch dieses besondere Mädchen verdient hatte, hatte ich in jeder Sekunde gewusst, was mir das mit ihr bedeutete: echtes, unfassbares Glück. Und plötzlich war da nur noch finstere Nacht.

»Alter, Berger, willst du jetzt oder nicht?«

Kopfschüttelnd blickte Taylor mich an und wedelte mit einem Joint vor meiner Nase herum. Sein Tonfall ließ darauf schließen, dass er mir diese Frage nicht zum ersten Mal stellte. Der wie vielte Joint war das? Der fünfte? Der sechste? Ehrlich gesagt, hatte ich längst den Überblick verloren. Letztendlich war es mir aber auch egal. Hauptsache, das Gras tat seinen Zweck und dämpfte meine Gefühle, dämpfte diesen unerträglichen Schmerz in mir. Das Brennen in meiner Lunge, das Knistern des glühenden Papiers zwischen meinen Fingern. Und schließlich der Nebel, der sich in meinem Kopf breit machte, sich auf all meine Gedanken legte und die Stiche jeder einzelnen Erinnerung zumindest für den Augenblick abschwächte.

Wenn nur dieses beschissene tiefe Stechen auf der rechten Seite meines Brustkorbs nicht wäre! Noch immer spürte ich es beim Ein- und Ausatmen. Eine Erinnerung an den Unfall, daran, dass eine Rippe sich in meine Lunge gebohrt hatte. Daran, dass ich an Weihnachten verdammt nochmal hätte sterben können. Eine Erinnerung an die Atemnot, daran, wie ich keine Luft mehr bekommen hatte. Verschwommene Bilder von Sirenen, eine Kanüle an meinem Brustkorb und entweichende Luft. Und letztendlich die Erinnerung an Louisa, an die Wahrheit, die mir dieser Moment so schonungslos offenbart hatte.

Mit einem Seufzen reichte ich den Joint an Isaac weiter. Er griff danach, ohne den Blick von der Konsole und dem gerade gestarteten Spiel zu lösen. Routiniert schob er ihn sich zwischen die Lippen, während sein Avatar unter Taylors Anfeuerungsrufen auf die Gegner zustürmte.

Ich war so benebelt! Ich hatte absolut keine Ahnung, wie die beiden sich noch auf das Spiel vor uns konzentrieren konnten, geschweige denn wie sie es schaffen wollten, sich gleich über den Campus Richtung Hörsäle zu schleppen.

Ich rieb mir über den Bart und ließ mich tiefer in das Sofa sinken. Andererseits hatte ich meinen Mitbewohnern auch schon einige Joints voraus, weil die Albträume wieder angefangen hatten und ich deshalb lieber wach geblieben war. Gedankenspiralen in der Dunkelheit waren immer noch besser als die Bilder aus meinem Unterbewusstsein.

Der Joint wieder zwischen meinen Fingern. Ein Zug. Noch einer. Ein Verglühen. Ich drückte ihn in dem provisorischen Aschenbecher auf dem kleinen Tisch aus – das Startzeichen für Taylor und Isaac, ihren Unikram zusammenzupacken und mit einem knappen Nicken durch die Tür zu verschwinden. Ich blieb irgendwo zwischen abgestandenem Rauch und meinen Gedanken zurück.

Ich dachte an sie. Gott, woran auch sonst. Als ich Louisa gestern so unerwartet in der Tür hatte stehen sehen, hätte ich sie am liebsten an mich gerissen, ihr die vom Schnee feuchten Feuerlocken aus dem Gesicht gestrichen und ihr gesagt, dass alles wieder gut werden würde. Ich wollte ihr sagen, dass es mir leidtat, dass ich sie im Krankenhaus davongeschickt und verletzt, mich anschließend kein einziges Mal gemeldet hatte. Und alles in mir hatte danach geschrien, meine Lippen auf ihre weichen zu pressen und ihr zu sagen, wie sehr ich sie liebte – weil ich wusste, wie unfassbar schnell das Leben vorbei sein konnte.

Doch ich durfte dieses Mädchen aus Feuer nicht lieben. Nicht das Mädchen, das ausgerechnet in dem Auto gesessen hatte, in das Heather und ich vor fünf Jahren hineingekracht waren. Nicht das Mädchen, dessen Dad wegen mir auf der Stelle tot gewesen ist. Nicht das Mädchen, dessen ganzes Leben sich nach dieser Nacht verändert und die dadurch gewissermaßen auch ihre Mom verloren hatte. Nicht Louisa, nicht jetzt und nicht später. Niemals.

Sie hatte so zerbrechlich und verloren ausgesehen, wie sie da halb von Isaac verdeckt gestanden hatte, und irgendwo dahinter wütend und enttäuscht. Natürlich wusste ich, dass ich dieser Begegnung nicht ewig aus dem Weg gehen konnte – und trotzdem hatten sie und die Intensität ihres Blicks mich völlig unvorbereitet getroffen. Bei dieser Flut an Gefühlen in ihren Ozeanaugen war erneut etwas in mir kaputtgegangen. Und ich hatte tatsächlich noch gedacht, dass mein abgefucktes Herz mit dem Wissen, das ich seit Weihnachten mit mir herumschleppte, nicht noch mehr auseinanderreißen konnte.

Ein plötzliches Klingeln ließ mich zusammenfahren. Langsam und träge kämpfte ich mich durch den Nebel zurück in das Hier und Jetzt. Es klingelte noch einmal. Wahrscheinlich hatte Isaac wieder einmal seinen Schlüssel liegen lassen. Langsam bewegte ich mich vom Sofa Richtung Tür, öffnete sie einen Spalt breit und … da schob Aiden sich schon an mir vorbei in die WG und ließ seinen Blick erst über mich, dann durch das Wohnzimmer gleiten. Das Gras auf dem Tisch, der volle Aschenbecher, die leeren Bierflaschen von gestern, die Jogginghose, die ich schon viel zu lange trug.

»Alter, ist das dein scheiß Ernst? So sieht das also aus, wenn du aus dem Krankenhaus kommst und dich erholen sollst?«

»Dir auch einen guten Morgen«, murmelte ich und schloss die Tür hinter Aiden. Mit großen Schritten durchquerte er das Wohnzimmer und riss die Fenster auf. Eisige Luft, die den Rauch nur langsam ablöste, drang herein.

Aiden drehte sich wieder zu mir um und musterte mich mit gefurchter Stirn und schien mehr zu sehen, als mir lieb war. Sorge stand in seinen blauen Augen, und aus irgendeinem Grund machte mich das wahnsinnig wütend.

»Warst du eigentlich immer schon so scheiß nervig, Cassel?«, meinte ich schroff und ließ mich wieder auf das Sofa in der Mitte des Raumes fallen. Doch Aiden zuckte ungerührt mit den Schultern. »Kann sein, Berger. Ist mir ehrlich gesagt ziemlich egal. Du hörst jetzt auf, dir das Hirn wegzukiffen, gehst unter die Dusche, ziehst dir was anderes an, und dann gehen wir zusammen raus an die frische Luft.«

»Ganz ehrlich? Einen Scheiß werde ich tun!«, knurrte ich.

Aiden verschränkte die Arme vor der Brust, die hellen Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen. Wir starrten einander an, doch keiner sagte ein Wort.

Bis ich schließlich das Schweigen brach. »Isaac und Taylor scheinen kein Problem damit zu haben, wie ich meine Zeit verbringe.«

»Weil die beiden nicht dein bester Freund sind. Und dich längst nicht so gut kennen wie ich!«

Laut lachte ich auf. »Du denkst also wirklich, du würdest mich kennen, Cassel?«

»Du kannst meinetwegen gern weiter deine Arschlochnummer abziehen, du beeindruckst mich damit leider nur null«, erwiderte Aiden ungerührt. »Mit siebzehn warst du ein richtiger Wichser und bist mich auch nicht losgeworden. Also beweg jetzt endlich deinen Arsch, bevor ich Trish anrufe, damit sie mir hilft! Und du weißt, dass sie im Gegensatz zu mir ununterbrochen reden wird.«

Gott, es war wirklich zum Lachen. Aiden, der als einziger Mensch wusste, was tatsächlich passiert war, als ich mit Heather auf dem Rückweg von Sacramento gewesen war … Dem ich ein einziges Mal erzählt hatte, was sich in dieser schrecklichen Nacht abgespielt hatte, dem gegenüber ich mich wie ein riesiges Arschloch benommen hatte und der trotzdem immer für mich da gewesen war – so lange, bis ich den Anblick meines Spiegelbildes wieder hatte ertragen können. Ausgerechnet er war es, der jetzt wieder versuchte, mich aus dem Loch zu holen; dabei hatte er ja keine Vorstellung davon, wie schlimm es dieses Mal tatsächlich war.

»Außerdem könntest du dich mal wieder rasieren. Du siehst aus wie eine komische Hipster-Version von dir selbst!«, rief Aiden mir hinterher, als ich mich fluchend Richtung Bad in Bewegung setzte. Ich hielt meinen Mittelfinger in die Höhe, doch er lachte nur.

Mit jeweils einem Becher Kaffee in der Hand stiegen wir Stufe für Stufe nach oben. Aiden entschlossen, ich widerwillig. Meine ungesagten Worte hallten als Stille von den Wänden des Treppenhauses wider. Wenn man Glück hatte, war die Tür zum Dach nicht abgesperrt – so wie heute. Ein Schritt nach draußen. Kalter Wind zerrte an meiner Jacke. Noch ein Schritt. Ich atmete tief ein und aus. Dank des endlosen Himmels über mir fühlte ich mich für einen Moment frei, dank der Höhe des Wohnheimgebäudes klein, doch meine Fehler waren es nicht.

Schweigend setzten wir uns nebeneinander direkt an die Kante des flachen Daches. Unsere Beine ließen wir vom Rand baumeln. Schwarze, zerschlissene Jeans an ausgewaschener blauer. Ich würde verflucht tief fallen, sollte ich ein Stück nach vorn rutschen. Es würde aussehen wie ein tragischer Unfall: Ein Kerl, der sich selbst überschätzt hatte und zu risikobereit gewesen war. Seit fünf Jahren balancierte ich ohnehin am Rande des Abgrunds, doch in diesem Augenblick dachte ich zum ersten Mal daran, mich selbst hineinzustürzen.

Aiden zog sein Handy aus der Hosentasche und legte es mit dem Display nach oben zwischen uns. Aus dem Lautsprecher drangen die ersten Takte von Minimum von Charlie Cunningham. How should I walk this Earth. Ich schluckte, weil das eine verflucht gute Frage war. Und dennoch schafften es die weichen Beats, meine düsteren Gedanken zusammen mit dem eisigen Wind ein Stückchen davonzuwehen. Das war einer dieser Songs, die begannen einen davonzutragen mit Flügeln aus Rhythmus und Noten. Immer höher, immer weiter, mitten hinein in die undurchdringliche Wolkendecke, näher heran an die Unendlichkeit des Himmels. Für einen Moment schloss ich die Augen, spürte den Wind durch meine Jacke dringen, dann sah ich mich da oben zwischen den Wolken. Sie zogen vorbei, und ich wollte die nächste fangen. Gott, Aiden hatte recht: Ich war wirklich ziemlich stoned.

Die Musik breitete sich zwischen uns aus, während ich meinen Blick über den schneeweißen Campus unter uns schweifen ließ: Die anderen Wohnheimgebäude und Studenten, die mit Kaffeebechern zu ihren Vorlesungen eilten, in denen Aiden und ich eigentlich auch bald sitzen sollten. Bunte Farbkleckse, Punkte, die allein oder in Gruppen auf die einzelnen Fakultäten und die Bibliothek zuströmten. Es hatte etwas Friedliches, wie alles in dieses sanfte Weiß gehüllt unter unseren Füßen dalag. Aiden und ich so weit über dem Campus, dem Himmel so nah, doch verschwindend klein und unbedeutend – das perfekte Motiv für ein Foto, doch selbst das war mir in diesem Moment egal.

»Haben Lou und du gestern eigentlich geredet?«, wollte Aiden plötzlich wissen.

Ich nickte. Louisa und ich hatten geredet, wenn auch nicht miteinander. Sie hatte etwas gesagt, ich hatte etwas gesagt. Es war eine Wahrheit mit Leerstellen, die Aiden wohl erahnte, denn es bildete sich diese feine Falte zwischen seinen blauen Augen.

»Wieso hast du Lou nicht gesagt, dass du wieder hier bist?«, hakte er nach. Unnachgiebig.

Ich schluckte schwer. »Ich will wirklich nicht drüber sprechen, Cassel!«, wich ich meinem besten Freund aus. »Ich kann gerade einfach nicht, okay?«, schob ich hinterher, weil ich mich ihm gegenüber wieder einmal so ungerecht verhielt. Aiden griff nach seinem Kaffee und, obwohl verdammt offensichtlich war, dass das nicht die Antwort war, die er hatte hören wollen, gab er sich mit einem Seufzen geschlagen. Er erzählte mir von dem Zoff bei Goodbye April – natürlich wegen einer Frau, weshalb auch sonst, von seiner Schwester Ally, die scheinbar das erste Mal so richtig verliebt war, und ihrem Freund, dem Aiden als großer Bruder natürlich erst mal wahnsinnig skeptisch gegenüberstand, bevor er mich an Bowies Geburtstag übernächste Woche erinnerte. Mit einem belustigten Blitzen in den Augen erwähnte er, dass Trish angekündigt hatte, mir höchstpersönlich den Kopf abzureißen, sollte ich mich weiter verkriechen, statt im Heaven aufzutauchen. Und bei dem Gedanken an den blonden Zwerg schlich sich das seit Tagen erste ehrliche Lächeln auf meine Lippen. Nicht eines von den Falschen, hinter denen ich inzwischen so viel verborgen hielt.

»Auch wenn du dir das wahrscheinlich noch die nächsten fünf Jahre einreden wirst«, sagte Aiden schließlich wieder ernst, »du trägst keine Schuld an diesem Autounfall in Kalifornien. Niemand trägt wirklich die Schuld daran. Du hast mir alles bis ins kleinste Detail erzählt. Das hast du zwar nur ein einziges Mal getan, aber ich erinnere mich an alles. Und so wie ich das sehe, ist das nur eine beschissene Aneinanderreihung noch beschissenerer Umstände gewesen. Du bist doch nicht einmal selbst gefahren, das war immer noch Heather am Steuer. Du kannst dich also unmöglich den Rest deines Lebens damit fertig machen, dass du versucht hast, das Richtige zu tun!«

Überrascht blickte ich ihn an. Es war unsere stille Übereinkunft, nicht über diese Nacht zu sprechen. Niemals. Mein Herz hämmerte wild gegen meine Rippen. Natürlich war es meine Schuld gewesen. Ich hatte in diesem Auto gesessen, hatte Heather mit meinen Worten fertig gemacht. So, wie sie geweint hatte, lag es doch ziemlich nah, dass sie wegen mir die Kontrolle über den Wagen verloren hatte, weil sie zu aufgebracht gewesen war – nicht wegen des unablässigen Regens und sich anbahnenden Sturms. Und der Moment, in dem ich ihr ins Lenkrad gegriffen hatte, war der Anfang vom Ende gewesen. So oder so: Die Verantwortung für diese Nacht musste ich ganz allein übernehmen. Im Gegensatz zu Aiden glaubte ich nicht immer an das Gute in jedem Menschen, nicht seit ich wusste, wie schief das bei mir selbst gelaufen war.

Abwartend sah mein bester Freund mich an. Ahnte er, wer seine Mitbewohnerin tatsächlich war? Wieso sollte er? Die Wahrheit war doch beinahe schon absurd. Ich hatte mich an die Hoffnung geklammert, mein Verstand hätte mir in diesem Moment auf dem Highway lediglich einen Streich gespielt. Mir Erinnerungen vorgespielt, die keine waren. Dass das Mädchen mit den blauen Augen unmöglich Louisa gewesen sein konnte. Auch wenn ich im Gegensatz zu ihr an Schicksal glaubte: Wie groß musste ein Zufall sein, um das Mädchen von damals und mich ausgerechnet am RSC zusammenzubringen? Das war unrealistisch, der Stoff aus Filmen – und zwar denen ohne Happy End.

Während mein Vater im Krankenhaus hauptsächlich genervt gewirkt hatte, weil der Unfall seines Sohnes sein Weihnachtsfest ruiniert hatte, und nach wenigen leeren Worthülsen wieder verschwunden war, war die Maske meiner Mutter wie bereits wenige Stunden zuvor ein Stück verrutscht. Da waren zwar die blonden, akkurat in Wellen gelegten Haare gewesen, das perfekt sitzende Kostüm und der unbewegte Gesichtsausdruck – doch mit geröteten Augen hatte sie ununterbrochen an meinem Bett gesessen, sogar noch mehr als Luca, den ich irgendwann nach Hause geschickt hatte. Ich glaube, das war das erste Mal, dass sie sich gegen den Willen meines Vaters stellte, um bei mir bleiben zu können. Für gestohlene Momente war sie einfach meine Mom gewesen. Und da hatte ich gewusst: Wenn ich jemanden nach dem Namen des Mannes, der damals gestorben war, fragen konnte, dann sie. Ich wollte verdammt nochmal sichergehen.

Michael Davis, hatte sie gesagt.

Davis.

Ich hatte Louisas Dad getötet. Allein diesen Satz zu denken, schien unwirklich, und trotzdem trieb er diesen alles verzerrenden Schmerz durch meinen ganzen Körper.

»Wieso sagst du mir das alles, Cassel?«, fragte ich betont gelassen, konnte die Unruhe in meiner Stimme aber nicht verbergen.

»Weil ich das Gefühl nicht loswerde, dass du seit Weihnachten nicht mehr du selbst bist, seit diesem Unfall. Ehrlich gesagt, bist du genauso wie vor fünf Jahren, als Heather sich von dir getrennt hat!« Aiden rieb sich zögernd über das Kinn und fuhr dann etwas leiser fort: »Ich befürchte einfach, dass das alles jetzt bei dir wieder hochgekommen ist, und möchte vermeiden, dass sich dieser ganze Scheiß wiederholt …«

Stille. Weil er recht hatte. Meine Dämonen waren präsenter als jemals zuvor.

Stille. Weil die Wahrheit so erschreckend war, dass mir selbst die Worte dafür fehlten.

Ich steckte mir also eine Zigarette an, statt in meinem leeren Inneren nach verfluchten Sätzen suchen zu müssen, und blies den Rauch Richtung Himmel, zusammen mit meinem Atem, der wegen der eisigen Luft in kleinen Wölkchen aus mir herausströmte.

»Was, wenn ich dir sage, dass ich das Mädchen gefunden habe?«, fragte ich mit kratziger Stimme.

»Welches Mädchen?« Aiden drehte sich zu mir und blickte mich verständnislos an.

»Dieses Mädchen von damals«, erklärte ich und rieb mir über den Bart. »Das in dem anderen Auto saß und das ich aus dem Wagen gezogen habe. Das Mädchen, das …« Ich schluckte, und die Worte verloren sich genau wie der Rauch meiner Zigarette in der kalten Luft.

»Wie –«, setzte Aiden gerade an, doch da schüttelte ich schon den Kopf.

»Okay«, sagte Aiden gedehnt und zögerte. »Krass!«

Ich ließ mich nach hinten fallen und schloss die Augen. Alles drehte sich. Meine Gedanken, meine noch beschisseneren Gefühle.

Ein leises Rascheln, und ich hörte, wie Aiden sich neben mir ebenfalls auf den Rücken sinken ließ.

»Was soll ich jetzt tun?«, fragte ich mehr mich selbst als ihn. Ich klang so furchtbar verloren, und ich hasste mich dafür. Aber dafür, dass ich genau in diesem Moment Louisa mit zerzausten Feuerlocken vor mir sah, wie sie mich mit ihren vollen Lippen erst anlächelte und mit diesen dann ein Ich liebe dich formte … dafür hasste ich mich sogar noch mehr.

»Gar nichts!«, sagte Aiden schließlich bestimmt.

Ich öffnete blinzelnd die Augen: Über mir nichts als grelles Weiß und graue Wolken. »Gar nichts?«, wiederholte ich überrascht und drehte den Kopf zu Aiden. Gerade noch hatte mir eine sarkastische Bemerkung auf der Zunge gelegen, doch es war nicht fair, Aiden anzufahren. Das war mir sogar in meinem benebelten Zustand nur allzu bewusst.

»Genau. Du sollst gar nichts tun, außer dich auf dein eigenes Leben zu konzentrieren. Du hättest an Weihnachten sterben können, bist du aber nicht. Also sieh es als zweite Chance, als Neuanfang oder sonst etwas. Was willst du tun, Berger? Dich bei diesem Mädchen melden? Ihr von dieser Nacht erzählen? Alte Wunden aufreißen? Sie aus ihrem Leben reißen? Was auch immer du dir überlegt hast, zu tun: Lass es und konzentriere dich auf dich selbst!«

Langsam nickte ich. Und in diesem Augenblick, mit dem Campus unter meinen Füßen und den dichten Wolken über mir, wurde mir eine Sache bewusst: Aiden hatte recht. Louisa durfte die Wahrheit niemals erfahren. Es würde sie zerstören und dieses Feuer in ihr erneut zum Brennen bringen. Ich musste sie loslassen. Und wenn ich ein noch größeres Arschloch sein musste, damit sie kapierte, dass ich nicht gut für sie war, dann würde ich das ihr gegenüber eben sein. Nur so würde sie wieder frei sein können.

Louisa

Sehnsucht, Wut, Traurigkeit und Verwirrung. Dieses Durcheinander an Gefühlen war es, das mich unablässig in Gedanken begleitete. Die schmerzhafte Erinnerung an den ausdruckslosen Blick in Pauls sonst so warmen Augen versteckte ich dabei tief hinter all meinen Mauern, wo sie hoffentlich niemand sehen würde. Ich besuchte meine Vorlesungen und Kurse, arbeitete im Firefly und hatte wieder angefangen, regelmäßig laufen zu gehen, weil ich zwischen dem Grün der Tannen, Kies und vom Schnee aufgeweichten Waldboden einfach nur sein konnte – doch die Strecke, die Paul so oft mit mir gelaufen war, mied ich. Genau wie die Lichtung, auf der wir Tausend stille und laute Momente erlebt hatten.

Am Wochenende waren Trish, Bowie und ich bei Mel zum Essen eingeladen gewesen. Robbie war für ein paar Tage mit seinen Freunden weggefahren, und Mel hatte sich einen Mädelsabend mit uns gewünscht. Selbst gemachte Pizza, verführerisch duftendes Karamellpopcorn und Marys süßes Glucksen, als wir uns die Realverfilmung von Cinderella ansahen. Und während ich mich darüber beschwerte, dass ich in Richard Madden einfach niemals jemand anderen als Robb Stark sehen würde, erklärte Bowie Mary, dass ein Mädchen im echten Leben keinen Prinzen bräuchte, der sie rettete. Ein aufgeregtes Blitzen in Marys grünen Kulleraugen, ein Klatschen mit ihren Patschehänden, und Bowie lehnte sich wieder zufrieden zurück. Ich hatte ihr nicht gesagt, dass die Kleine nur deshalb so begeistert war, weil Trish ihr hinter Bowies Rücken Grimassen schnitt. Ein Augenzwinkern von Trish, ein leichtes Lächeln auf meinen Lippen und für einen kurzen Moment dachte ich nicht an Paul.

Am Sonntag begleitete ich Aiden zu seiner Bandprobe. Die Stimmung bei Goodbye April schien zwischendurch zwar immer noch etwas angespannt zu sein, doch so wie sich die Jungs am Ende lachend alle ein High Five gaben, waren sie mit dem Ergebnis zufrieden. Und ich hatte eine Gänsehaut auf meinen Armen, weil Aiden zum ersten Mal den neuen Text, den wir zusammen geschrieben hatten, gesungen hatte.

Ich versuchte, mich mit dem Leben abzulenken, mit der Welt außerhalb meines Kopfes. Dass der Poetry Slam, für den Trish mir an meinem Geburtstag Karten geschenkt hatte, heute Abend im Book Nookstattfand, erleichterte mich. Und weil wir auf der Suche nach einer Geburtstagskarte für Bowie waren, gingen wir schon nachmittags in die Buchhandlung mit den dunkelgrünen Fensterrahmen. Am Ende waren es drei Romane, die ich mir kaufte, mit drei verschiedenen Welten, in die ich so schnell wie möglich eintauchen wollte. Ganz unten im Queeren Beet empfahl Trish mir Call Me By Your Name, die Geschichte von Elio, Oliver und einem italienischen Sommer in den 80er-Jahren. Sie machte einen Witz, den ich nicht verstand. Irgendetwas über Pfirsiche, zu denen sie nie wieder ein normales Verhältnis haben würde. Ich hatte schon viel von der Verfilmung gehört, wollte vorher aber unbedingt das Buch lesen. In dem Regal Liebe, die dem Tod geweihtist griff ich nach Du neben mir, aus dem mit Klassiker, die es immer noch wert sind beschrifteten Regal wanderte eine mit wunderschönen Ornamenten verzierte Ausgabe von Sinn und Sinnlichkeit in meine Hände.

»Denkst du, die wird ihr gefallen?«, wollte Trish wissen und hielt eine Karte in die Höhe. Sie war aus dem Ständer neben dem Holztresen mit der altmodischen Kasse. Eine Sammlung liebevoll bedruckter und bunter Rechtecke. In dem zwischen Trishs Fingern war in sanften Farbtupfen ein hellblauer Himmel zu sehen, der mit bunten Luftballons voll hing. Don’t be scared to fly high, because it will inspire others stand darunter.

Zustimmend nickte ich. »Die ist perfekt für Bowie!«, sagte ich und strich mir die Locken nach hinten. Zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag hatten Aiden, Trish, Paul und ich ihr vor einer gefühlten Ewigkeit einen Gutschein für einen Fallschirmsprung gekauft. Das perfekte Geschenk für das Mädchen mit den bunten Röcken, das Abenteuer liebte wie sonst nichts auf der Welt.

The Bean stand in geraden Buchstaben über dem neuen Café am Ende der Straße, das wir durch die vom Himmel fallenden Flocken zielstrebig ansteuerten, um dort bis zum Beginn des Poetry Slams noch zu lernen. Darunter war das Bild einer stilisierten Kaffeebohne. Beim Eintreten begannen meine Finger sofort zu kribbeln. Es war die plötzliche Wärme, die mir wohltuend unter die Jacke kroch. Zwar waren es vom Book Nookhierher zu Fuß nur ein paar Minuten, der Januar war aber doch ziemlich kalt. Diese Art Kälte, die durch jede Schicht Kleidung zu dringen schien.

Als uns neben der Wärme auch noch der Geruch frisch gemahlener Kaffeebohnen umwehte, seufzte ich laut auf. Trish tat es mir gleich. Ihre Wangen waren vom eisigen Wind gerötet. Ein Blick auf die breite schwarze Tafel hinter dem Tresen, auf der in einer geschwungenen Schrift die Getränke aufgelistet waren, und Trish suchte sich einen Matcha Latte, ich mir einen White Chocolate Mocha aus. Mit unseren Getränken steuerten wir wenige Minuten später zwei Plätze direkt an dem breiten Fenster an, um möglichst viel Licht zum Lernen zu haben.

The Beanwar nicht gemütlich auf eine klassische Art wie das Firefly, sondern auf diese moderne Hipster-Art. Zum einen waren da die geometrischen Formen und geraden Linien, viel Schwarz und Grau. Glänzendes Metall. Aber gleichzeitig viele Holzelemente, liebevolle Details und wahnsinnig viel Grün. Auf jedem Tisch standen frische Blumen, und von den Decken hingen in unterschiedlichen Höhen Hängepflanzen. Ein leuchtender Himmel aus hellem und dunklem Grün, der mich an den Wald und das Gefühl von Freiheit erinnerte.

»Ahnt Bowie eigentlich irgendetwas?«, fragte ich Trish, als wir uns setzten. Sie organisierte die Überraschungsparty im Heaven, doch ich wusste, dass es ihr bei keinem Menschen so schwerfiel, ein Geheimnis für sich zu behalten, wie bei Bowie.

Ein zufriedenes Grinsen umspielte ihre Lippen. »Natürlich nicht, Lou!«, erwiderte sie fast schon beleidigt und spielte mit dem Ende des dicken Zopfes, zu dem ihre Haare heute geflochten waren. »Sie denkt, wir würden abends erst zu zweit essen gehen und uns dann nur in kleiner Runde mit Aiden, Paul und dir treffen. Eigentlich ist inzwischen auch fast alles fertig: Wir haben das Geschenk und jetzt auch die Karte dazu, die Leute sind eingeladen, und die meisten haben auch schon zugesagt. Aiden hat irgendwas mit dem Besitzer vom Heaven ausgehandelt, dass wir den Club an dem Abend fast für lau haben können, wenn Goodbye April an zwei Wochenenden ohne Gage auftritt. Getränke müssen natürlich trotzdem alle selbst zahlen. Auf Spotify habe ich auch schon eine Playlist für den Abend erstellt, die schicke ich euch aber auch noch einmal, falls ihr gerne irgendetwas hinzufügen wollt.« Trish hielt kurz inne und schien nachzudenken. »Also eigentlich ist alles geregelt. Aiden scheint noch irgendetwas zu planen, aber er will einfach nicht damit rausrücken. Und du kennst mich: Ich platze vor Neugier!«

Während Trish erzählte, waren ihre Hände wild gestikulierend durch die Luft geflogen, ein begeistertes Blitzen in den grauen Augen. Und unwillkürlich entwich mir ein leises Lachen, als mir die Ähnlichkeit auffiel: »Oh. Mein. Gott. Du bist wie Caroline Forbes aus Vampire Diaries. Du bist zwar nicht so ein krasser Kontrollfreak wie sie, aber blond, wahnsinnig hübsch und organisierst gefühlt jede Party und jedes Event, planst jeden gemeinsamen Trip. Denk nur an Thanksgiving oder meinen Geburtstag. Oder als du dieses Jahrestagsding für Bowie geplant hast«, zählte ich nach und nach auf.

»Ähm … danke?«

»Das war ein Kompliment«, erklärte ich und trank einen Schluck von meinem White Chocolate Mocha. »Ich liebe Caroline!«

»Dann bin ich gern so«, sagte Trish und strahlte mich an. »Aber nochmal wegen dieser Sache, die Aiden da offensichtlich plant …« Sie warf mir einen flehenden Blick zu.

»Vergiss es!«, sagte ich und schüttelte den Kopf. »Ich werde Aiden nicht für dich ausquetschen und versuchen, etwas aus ihm herauszukriegen. Da musst du schon selbst mit ihm reden.«

Schmollend schob Trish ihre Unterlippe nach vorn. »Das hab ich schon versucht, aber du kennst das doch. Wenn er will, kann er schweigen wie –«

»Ich bin kurz davor, das mit dem Kontrollfreak wieder zurückzunehmen«, zog ich sie auf. »Was auch immer Aiden vorhat, so wie ich ihn kenne, wird es super. Denkst du echt, er würde irgendwas planen, was Bowie nicht mega cool finden würde?«

»Ich wollte ja auch schon Paul darauf ansetzen, aber der hat scheinbar vergessen, wie man ans Handy geht, geschweige denn auf Nachrichten antwortet. Ich hab also einen besten Freund, der ein Geheimnis vor mir hat, und einen, der untergetaucht ist«, beschwerte Trish sich theatralisch.

Mein Herz stolperte bei der Erwähnung seines Namens.

Es war zwar nicht das erste Mal, dass jemand in meinem Beisein von Paul sprach, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte – das ließ sich einfach nicht vermeiden, wenn ich Zeit mit Trish und Aiden verbringen wollte. Aber es war das erste Mal, dass es keine Fluchtmöglichkeit gab. Hier waren nur Trish und ich und meine Mauern, die Paul mit seinem tiefen, ehrlichen Lachen, seinem Weltschmerz-Herzen und seiner wilden und zugleich sanften Art niedergerissen hatte und die ich erst wieder aufbauen musste. Zögerlich öffnete ich den Mund, nur um ihn sofort wieder zu schließen. Kurzerhand hob ich das hohe Glas mit dem White Chocolate Mocha an meine Lippen. Wenn ich etwas trank, konnte ich schließlich nicht reden.

»Sag mal, Lou«, fing Trish plötzlich ungewohnt vorsichtig an, »ich wollte mich wirklich zusammenreißen und warten, bis du es von selbst ansprichst, aber …« Sie musterte mich nachdenklich, und ich hielt ihrem Blick stand. »Ich hab Paul und dich kein einziges Mal zusammen gesehen, seit er wieder auf dem Campus ist. Also nicht, dass ich ihn groß zu Gesicht bekommen hätte.« Trish verdrehte die Augen. »Aber … gerade eben hast du schon wieder so seltsam geschaut, als ich ihn erwähnt habe. Ist alles in Ordnung bei euch?«

Ich blinzelte, strich mir unruhig eine meiner Locken hinters Ohr und schwieg. Es gab nichts zu sagen und gleichzeitig so unglaublich viel.

Trish lächelte mich entschuldigend an. »Ich weiß, ich hätte noch ein bisschen abwarten sollen, weil du nicht wirklich gern über so etwas redest. Ich will eigentlich auch nur, dass du weißt, dass du es mir sagen kannst, falls etwas ist!«

Und in diesem Augenblick merkte ich, dass ich meine echten Gefühle, all die Risse und Splitter in mir nicht verstecken musste, zumindest nicht vor Trish. Ich erkannte die Sorge in ihren grauen Augen, das ehrliche Interesse und den Wunsch, für mich da zu sein, sollte es irgendein Problem geben. Mit dem wärmenden Gefühl meines Mochas zwischen den Fingern begann ich ganz langsam, von der Wut zu erzählen. Von der Sehnsucht, der Traurigkeit und Verwirrung, von meiner letzten Begegnung mit Paul – angefangen bei der Tatsache, dass er mir mit keinem Wort Bescheid gegeben hatte, dass er wieder zurück war, bis hin zu der kalten Art, mit der er mich weggeschickt hatte, als ich ihn in seiner WG zur Rede hatte stellen wollen. Ich vermisste Paul, brachte unsere Tage vor Weihnachten, in denen ich mich ihm so unendlich nah gefühlt und er so befreit von seinen Schatten gewirkt hatte, nicht mit seinem wahnsinnig abweisendem Verhalten zusammen.

Trish unterbrach mich kein einziges Mal, riss nur ungläubig die Augen auf, als ich fertig war. »Er hat was gesagt?«, hakte sie empört nach.

Und weil die Erinnerung genauso wehtat wie der Moment selbst, musste ich schwer schlucken, bevor ich ihr antworten konnte. »Paul hat gesagt, dass ich verschwinden soll«, wiederholte ich seine Worte leise und blickte Trish fest in die Augen. »Wobei das nicht einmal wirklich stimmt«, gab ich schließlich noch leiser zu, »eigentlich hat er mir über Isaac ausrichten lassen, dass ich verschwinden soll, obwohl ich nur ein paar Meter von ihm entfernt stand.«

Mit zusammengekniffenen Augen musterte Trish mich, bis ihr schließlich ein langes Seufzen entwich. Ein Kopfschütteln. Sie wusste nur zu gut, wie ich mir nach dem Unfall nächtelang die Augen aus dem Kopf geweint hatte, weil ich mir so große Sorgen um Paul gemacht hatte. Weil er gestorben wäre, wenn der Krankenwagen nicht so schnell da gewesen wäre. Weil ich den Fehler bei mir selbst gesucht hatte, den Grund, wieso er mich nicht bei sich haben wollte. Trish hatte die ersten beide Nächte bei mir im Bett geschlafen. Ich in Pauls Redstone-College-Hoodie, den ich getragen hatte, als er mich kurz vor Weihnachten zurück in die WG gebracht hatte. Der Geruch nach Wald und ihm hing immer noch darin. Trish und ich, wir beide in der Dunkelheit, die Gesichter einander zugewandt. Und mit leiser Stimme hatte sie mir immer wieder versichert, dass alles gut werden würde. Dass Paul sich erholen würde. Dass er vor einigen Jahren schon einmal einen Autounfall gehabt hatte und ihm das alles vielleicht schlimmer erschien und er deshalb so seltsam reagierte.

»Ich kapier echt nicht, was jetzt plötzlich sein scheiß Problem ist«, sagte sie frustriert und knallte ihren Matcha Latte auf den Tisch. Klirren von Glas auf Holz. »Mir ist selbst schon aufgefallen, dass er richtig seltsam drauf ist. Am Dienstag hab ich ihn kurz gesehen, und da war er super mürrisch und wortkarg. Mann, hätte ich irgendeine Ahnung, was los ist, würde ich es dir sofort sagen, Lou!«

»Mürrisch ist eine wirklich nette Umschreibung«, murmelte ich. Der Gedanke an seinen emotionslosen Gesichtsausdruck versetzte mir auch jetzt einen schmerzhaften Stich.

»Ich hoffe, du hast ihm gesagt, dass er sich wie ein verdammtes Arschloch aufführt!«, erwiderte Trish, die von Minute zu Minute aufgebrachter aussah.

Ich schüttelte den Kopf. »Wie denn?«, sagte ich leise. »Er geht mir aus dem Weg, er ignoriert mich. Und das alles völlig aus dem Nichts.« Ich schluckte. »Ich bin so wahnsinnig wütend, weil ich das alles einfach nicht verstehe. Vielleicht will auch ein Teil von mir es einfach nicht verstehen, weil die Wahrheit zu sehr wehtun würde …« Ich zögerte und sprach anschließend weiter: »Und ich bin einfach so enttäuscht, weil ich das Gefühl habe, mich wahnsinnig in Paul geirrt zu haben.«

Nachdenklich spielte Trish mit einer Strähne, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte, den Blick ihrer grauen Augen für einen Moment in die Ferne gerichtet, als gäbe es da etwas, das sie mir gerne mitteilen wollte, jedoch nicht konnte.

»Du musst gar nichts dazu sagen«, meinte ich vorsichtig. »Ich weiß, wie eng ihr zwei befreundet seid, und ich will wirklich nicht, dass du dadurch in eine komische Situation gebracht wirst und am Ende zwischen den Stühlen stehst.« Und auch wenn das Gesagte wahr und mir scheinbar so leicht über die Lippen gekommen war, befürchtete ich doch, dass sie und Aiden am Ende doch zu Paul halten würden – schließlich waren die zwei schon seit Ewigkeiten mit ihm befreundet. Mich kannten sie hingegen noch nicht einmal ein halbes Jahr.

Doch Trish lehnte sich nach vorn und drückte meine Hand. Ihre lackierten Nägel ein helles Pink, meine ein dunkles Blau. »Hör mal, Süße: Erstens kann ich durchaus mit euch beiden befreundet sein. Und zweitens: Wenn Paul sich mal wieder wie ein Arschloch benimmt und nicht damit rausrückt, was gerade eigentlich sein dummes Problem ist, dann werde ich ihm genau das sagen. Klar hast du recht, und ich sollte mich da so gut es geht raushalten, weil das eine Sache zwischen euch beiden ist, aber …«, Trish holte Luft und kniff ihre Augen gefährlich zusammen, »… sollte Paul dir das Herz brechen, dann kann er sich echt was von mir anhören! Dann ist es mir wirklich egal, wie lange wir schon befreundet sind, weil du mir genauso wichtig bist. Und so oder so kannst du mir immer alles erzählen! Dafür hat man doch eine beste Freundin, oder?«

Sie zwinkerte mir zu, und all den negativen Gefühlen zum Trotz brachte Trish mich damit zum Lächeln: mit ihrer Ehrlichkeit, ihrer Direktheit und ihrer Inbrunst. So lange hatte ich geglaubt, einsam zu sein, und in diesem Moment merkte ich wieder einmal, wie wenig das stimmte. Tatsächlich einsam war man erst, wenn es niemanden mehr gab, mit dem man seine Gedanken teilen konnte.

»Danke«, sagte ich schlicht. Ein Wort und tausend Bedeutungen.

»Ich bin dein Sam, und du bist mein Frodo!«, erklärte Trish da. Und sie klang feierlich, als sie das sagte und dabei ihre Schultern straffte.

»Ähm«, ich räusperte mich, »ich will unter gar keinen Umständen dein Frodo sein. So sehr ich Herr der Ringe liebe, Frodo ist einfach nur furchtbar nervig!«

Trishs Mundwinkel zuckten, und ich erahnte das Grinsen, das sie hinter dem Matcha Latte in ihren Händen zu versteckten versuchte.

»Lass mich Sam sein«, meinte ich.

Einen Moment noch versuchte Trish, ernst zu schauen, dann schüttelte sie lachend den Kopf. Der blonde Zopf rutschte ihr dabei von der Schulter. »Sorry, Lou, aber ich will auch kein Frodo sein!«

»Dann sind wir eben zwei Sams. Das ist sowieso viel cooler«, schlug ich vor und lächelte das Mädchen an, das so bedingungslos zu mir zu halten schien.

Eine halbe Stunde alberten wir noch herum, beobachteten die Leute, die vor dem Fenster an uns vorbeiliefen. Ein Stummfilm, dessen Untermalung unsere Gespräche waren. Dann holte Trish erst ihren Laptop, dann ihre Bücher heraus, legte eins nach dem anderen auf den Tisch, um sich an den ersten von zwei Essays zu setzen, die sie nächste Woche abgeben musste. Staubige Seiten aus der Bibliothek kitzelten mich für Sekunden in der Nase. Daneben meine eigenen dicht beschriebenen Seiten. Zahlen über Zahlen.

Inzwischen waren die Ergebnisse der Midterms online. Leider hatte ich Probability Theory wie befürchtet nicht bestanden und deshalb jetzt einiges nachzuholen. Und auch wenn ich ansonsten zufrieden mit meinen Ergebnissen war, nahm dieser eine Gedanke immer mehr Raum in mir ein. Der Gedanke, vielleicht doch mein Hauptfach zu wechseln, mich zumindest umzusehen. Denn inzwischen war mir klar, dass ich Literatur als Rettungsanker nicht verlieren würde, sollte ich es studieren. Es wäre nur anders, nicht unbedingt schlechter. Ich dachte an den Tag, an dem Paul und ich uns im Magic Ink hatten tätowieren lassen und er mir danach beim Essen erzählt hatte, dass ich einen eigenen Gesichtsausdruck hatte, wenn ich über Literatur sprach. Als er mir gesagt hatte, dass er an mich glauben und ich meinen Weg finden würde.